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«Wänn ich öppis mache, dänn richtig»

Wie viele Oltnerinnen schwärmte Carla Opetnik im Erwachsenenalter aus. Sie verfiel der Grossstadt und auch Zürich verliebte sich ein bisschen in sie. Nach schwerelosen Jahren krempelte Carla ihr Leben um. Heute arbeitet sie an einer Zukunft, in der die Menschen verschenken statt entsorgen.
10. Dezember 2021
Text: Yann Schlegel, Fotografie: zvg

Wie ein Gespräch mit einer alten Kollegin fühlt es sich an, als mich Carla Opetnik Ende November anruft. Ihre Stimme löst lose Bildfetzen in meinem Kopf aus. Das Sälischulhaus. Eine Herbstnacht. Ein paar Freunde. Der Vögeligarten?

Vielmehr ist da nicht. Zu einem Film werden sich die Bilder nie mehr zusammenfügen. Aber geblieben sind ein paar Eindrücke, ihr Wesen bleibt unvergessen. Irgendwie wollte sie damals schon anders sein. Und sie konnte die Menschen um sich beeinflussen, sie für kleine Dinge begeistern und mitreissen.

Item. Abgesehen davon erinnert eigentlich nichts mehr an Carlas Jugendjahre in Olten. Breites Züridütsch spricht sie. «Wänn ich öppis mache, dänn richtig.» Schon ihre Mutter habe ihr immer gesagt, sie gehe mit dem Kopf durch die Wand. «Ein typischer Stier eben», sagt sie. Ihr Leben kennt keine Kompromisse. Wäre sie eine Romanfigur, so wäre sie die rote Zora. Aber mit blauen Haaren. Denn diese trug sie, als sie nach Zürich kam. Nach der Schneiderinnenlehre verliebte sie sich mit 19 Jahren in einen Zürcher. Und auch gleich in die Stadt. «Meine Grosseltern wohnten in Zürich, es hat mich wie in diese Richtung gezogen.» Sie tauchte ein und genoss das pulsierende Grossstadtleben. «Ich machte mir nicht viel Gedanken über meinen Konsum und Lebensstil», sagt Carla.

Hey Züri, do bini

Mit 25 Jahren änderte sich dies. Ziemlich radikal, wie es Carla entspricht. Sie las ein Buch darüber, wie sie Ordnung in ihr Leben bringen kann. «The life-changing magic of tidying up» («Die lebensverändernde Magie des Aufräumens») von Marie Kondo half ihr, sich mit all ihrem Besitz auseinanderzusetzen. Carla begann ihre Wohnung aufzuräumen und wollte sich nachhaltig verändern. Sie merkte, wie nach jedem Einkauf sich ein Abfallsack füllte. In dieser Zeit ging in Zürich der erste Zerowaste-Laden auf, wo Nahrungsmittel ganz ohne Verpackung über die Theke gehen. «Dort konnte ich andocken», erzählt Carla. Und eben, wenn sie mal etwas macht, dann richtig.

Erst wollte sie einen Monat lang ohne Müll auskommen. Mit ihrem Freund startete Carla eine Challenge. Wer kann weniger verschwenden? «Es wurde zu einem Spiel, bei welchem wir zugleich die Stadt entdeckten», sagt Carla. Immer auf der Suche nach ökologischen Produkten, die möglichst keinen Abfall verursachen. Sie putzte sich mit Aktivkohle und Kokosnussöl die Zähne. Füllte im Monat nur noch ein Konfitüreglas mit Abfall. Carla traf damit den Nerv der Zeit. Obendrauf erst noch in der Konsumhochburg Zürich. Einer Stadt, in welcher viel Geld fliesst. In welcher Kleiderketten etliche Male im Jahr die Kollektion auswechseln.

Alle wollen sie vor der Linse haben

«Ich versuche dagegen zu halten, die Menschen um mich zu begeistern, dass Secondhand und nachhaltig produzierte Ware genauso glücklich machen.» Mit ihrem Charisma und der kompromisslosen Art war sie bald bei den Medien beliebt. Schweiz aktuell, die SRF-Doku «Die Selbstoptimierer», der Tagesanzeiger, die NZZ – sie alle interessierten sich für ihren radikalen Lebenswandel. Und machten sie zu einem Gesicht der Zerowaste-Bewegung Zürichs. Carla scheute sich nicht vor dem Blitzlicht, auch wenn sie es nicht bewusst suchte. Die provokative Rolle gefällt ihr und findet in der Grossstadt nahrhaften Boden. Zürich ist eben nicht nur Konsumhochburg, sondern gerade auch ein Daheim für viele Subkulturen. Die Zerowaste-Bewegung wuchs rapide, ist fast schon massentauglich geworden. Mittlerweile gäbe es allein in Zürich fünf Läden mit unverpackter Ware, zählt Carla auf. Die Migros hat am Limmatplatz einen neuen Alnatura-Laden mit Offenverkauf eröffnet. «Es ist mega schön, den Wandel zu beobachten», sagt Carla in ihrem authentischen Züridütsch.

Sie auferlegt sich als Minimal-Wasterin selbst nicht mehr ganz so strikte Spielregeln wie vor fünf Jahren, als sie den eigenen Lebensstil auf den Kopf stellte. Statt sich ein verpacktes Sandwich zu kaufen, hätte sie damals noch lieber gehungert. «Jetzt finde ich, dass es etwas Menschenverstand braucht. Dogmatisch zu sein, lohnt sich nicht, denn es geht um mehr als um Plastik. Zum Beispiel: Wie reise ich in die Ferien?»

Rastlos radelt sie durch die Stadt

Ihren Prinzipien ist sie treu geblieben. Die Kreislaufwirtschaft bestimmt ihren Rhythmus, ihre Ideen und Projekte. Mittlerweile studiert Carla Art Education (Kunstvermittlung) an der Hochschule der Künste in Zürich. Auf dem Weg dorthin lebte sie ihre kreative Ader mit einer Liebeserklärung an die Limmatstadt aus und publizierte zwei Stadtführer. In «Geliebtes Zürich» liess sich Carla von Zürchern Stadtgeschichten erzählen, die an einen speziellen Ort gekoppelt sind. Das Produkt ist – wie könnte es anders sein – lokal gedruckt, Cradle-to-Cradle-zertifiziert (Material wird ohne Qualitätsverlust wiederverwendet) und erschien bloss in limitierter Auflage. «Auch um zu zeigen, dass nicht alles endlos verfügbar sein muss», sagt Carla.

Ein anderes Projekt, das sie vor ein paar Jahren auf der sozialen Medienplattform Facebook anriss, entwickelte rasch eine grosse Eigendynamik. «Will öpper» heisst die Gruppe, in welcher sich mehr als 10’000 Menschen gefunden haben, die sich gegenseitig gebrauchte Gegenstände schenken, die sie nicht mehr brauchen. Von der Zahnpasta bis zum Klavier oder einem VW-Bus: Pro Tag werden rund 100 Objekte angeboten.

Haben und Wollen neu gedacht

Die Idee einer solchen Gruppe kam Carla eher zufällig. Eine Freundin nervte sich, dass in ihrer Gruppe «Hät öper» immer wieder Dinge angeboten wurden. Also gründete Carla mit «Will öpper» kurzerhand das Gegenstück. In mehreren weiteren Schweizer Städten klonten andere Menschen die Idee, womit es fast schon zu einer Bewegung heranwuchs. Die Nachfrage an diesem Kreislauf sei immens, sagt Carla. «Die häufigste Rückmeldung, die wir kriegen, ist: ‹Scheisse, ich war nicht schnell genug, jetzt ist alles schon wieder weg.›»

Dass die Bewegung auf Facebook gross wurde, stört Carla heute. «Weil Facebook nicht die netteste Partnerin ist», sagt die 30-Jährige diplomatisch. Die Social-Media-Gigantin könnte die Gruppe jederzeit löschen. Zudem seien sie mit «Will öpper» ein Datengenerator für Facebook. Darum soll «Will öpper» ein eigenes Zuhause kriegen. Dafür gründete Carla mit Freunden den Verein WOP. Ihr Ziel: eine eigene App, die langfristig den schweizweiten Austausch ermöglichen soll. Eben hat der Verein eine erfolgreiche Crowdfunding-Kampagne hinter sich gebracht, mit welcher das Projekt voll lanciert ist. Für Carla scheint der Erfolg fast courant normal zu sein. Angetrieben vom Ideal, eine gerechtere Zukunft zu schaffen, in der wir verschenken statt entsorgen, treibt es sie durch die Stadt.

Übrigens: Fürs Zähneputzen hat sie eine valable Alternative zur Aktivkohle gefunden. In ihrem Heimatdorf Poschiavo entdeckte sie eine unverpackte En-bloc-Seifenzahnpasta.


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