Skip to main content

Was macht die Wildsau an der Aare?

Auf Antwortsuche via oberste Fasnächtler, einen Fischreiherpopo und den falschen Namen der Steinskulptur.
28. März 2022
Text: Rebekka Salm, Fotografie: Timo Orubolo

Um die Frage gleich zu beantworten: Die Wildsau «macht» – im eigentlichen Wortsinn – rein gar nichts. Sie ist ja aus Stein. Seit über sechzig Jahren steht sie an der Aare beim Eingang in die Winkelunterführung und lädt vor allem zwei Sorten Mensch ein, auf ihren Rücken zu klettern. Zur ersten Sorte gehören die Obernaaren. Jedes Jahr werden sie rittlings auf dem steinernen Tier sitzend fürs Fasnachtsarchiv abgelichtet. Vermutlich um ihren Willen zu verdeutlichen, während der fünften Jahreszeit so richtig die Sau rauszulassen.

Die zweite Sorte Mensch sind Kinder. Wer auf der rechten Aareseite wohnt und Nachwuchs hat, kennt folgende Rechnung: Von der Friedenskirche bis zur Stadtbibliothek braucht man zu Fuss 13 Minuten. Multipliziert mit dem Faktor Kinderbeine gibt das eine Wegzeit von gut 20 Minuten. Dazu addiere man zwingend und bei jedem Wetter mindestens 5 Minuten, wo das Kind auf der Wildsau rumturnt, bevor an ein Weitergehen überhaupt zu denken ist. Und voilà, schon ist man völlig entnervt in der Stadtbibliothek.

Aber zurück zum Kunstwerk und zu seinem Erschaffer: Jakob Probst. Der 1880 in Reigoldswil (BL) geborene und 1966 in Gambarone (TI) verstorbene Bildhauer ist mit gleich fünf Kunstwerken – darunter der zweieinhalb Meter hohe «Krieger» im Stadtpark – so prominent im öffentlichen Raum Oltens vertreten wie kein anderer Künstler. Dabei hat er nie hier gelebt. Er bezeichnete Olten jedoch stets als seine zweite Heimat. Grund dafür war unter anderem die enge Freundschaft zu den hiesigen Architekten Emil Frey und dessen Sohn Hermann. Letzterer war übrigens entscheidend am Bau der Kanti und der Badi beteiligt.

Für die Wildsau hat Probst einen vom Wallis ins Tessin geratenen Urgestein-Findling bearbeitet. Fünfzig Jahre lang war dieser Brocken aus vulkanischem Gestein im Besitz des Bildhauers Remo Rossi, der die Reliefplastik an der Fassade des Alpiq-Gebäudes am Bahnhofsquai schuf. Rossi wusste mit dem harten Stein nichts anzufangen und überliess ihn Probst. Dieser rang dem Findling mit viel Kraft die Wildsau ab. Probst, so verriet mir die Oltner Stadtführerin Emma Anna Studer, sei seinen Kunstwerken nicht unähnlich gewesen: kantig, kraftvoll, klobig.

1960 kaufte die Stadt Olten die Wildsau für CHF 30’000. Die Neuanschaffung gab in den Medien und an den Stammtischen viel zu reden. «Ganz bös entgleist» sei der Gemeinderat mit der Anschaffung der Wildsau, so der Leserbriefschreiber W. L. Das Kunstwerk sei zwar solide Bildhauerkunst, aber das Sujet eine Zumutung. Was bitte schön sei dessen tiefere Bedeutung? Auf wen spiele es an? Etwa auf die Oltner Bürger? Schöner wäre es gewesen, so W. L. weiter, man hätte sich für eine filigranere Figur entschieden, ein Reh oder einen Fischreiher.

Allen «Hatern» zum Trotz blieb die Steinplastik, was sie war – eine Wildsau. Stellte sich nun noch die Frage, wie diese platziert werden sollte. Jakob Probst hatte die Vorstellung, das Tier so auszurichten, als wolle es von der Aare her auf die Aarburgerstrasse hinaufpreschen. Der Wunsch des Künstlers war den Oltnern Befehl. Dann aber fiel den Stadtoberen auf, dass die Wildsau in dieser Position der Stadt Olten und in der Verlängerung auch der Kantonshauptstadt Solothurn den Hintern zuwandte. Ein No-Go.

Also liessen sie die Stadtarbeiter nochmals antreten und die Steinplastik um neunzig Grad drehen, so dass sie jetzt ihr Gesäss dem Bezirk Gösgen hinhält. Dies wiederum gefiel den Gösgerinnen ganz und gar nicht. Und vor allem gefiel es dem Künstler nicht. Er fand diese Neuausrichtung seines Werks wortwörtlich eine Sauerei und blieb der Einweihungsfeier 1961 fern. Diese Geschichte wäre vermutlich anders verlaufen, hätte Leserbriefschreiber W. L. Gehör gefunden. Niemand, so vermute ich, hätte sich an einem Reh- oder Fischreiherpopo gestört.

Die Gemüter haben sich längst beruhigt. Heute gehört die Wildsau zu Olten wie die Holzbrücke und der Stadtturm. Der Autor Franz Hohler hat ihr eine Geschichte gewidmet und Christian Schenker, der vor knapp einem Jahr verstorbene Liedermacher, hat ihr ein musikalisches Denkmal gesetzt. Nur einen Fehler machen alle, die über die Wildsau schreiben, singen oder sprechen: Die Wildsau heisst gar nicht Wildsau. Eine Sau ist nämlich ein Weibchen. Jakob Probst hat aber explizit ein männliches Tier geschaffen. Deshalb heisst das Kunstwerk korrekterweise «Eber». Das interessiert in Olten allerdings kein Schwein.

*Rebekka Salm (42) wohnt seit einigen Jahren in Olten, arbeitet in Zürich im Asyl- und Flüchtlingsbereich, ist Autorin und Mutter einer Tochter. 


Schreiben Sie einen Kommentar