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wild world

Die Schweiz ist vielleicht das sicherste Land der Welt. Schade eigentlich.
13. August 2021
Text: Jana Schmid*, Fotografie: Benjamin Herren

Ich mag Sätze meistens nicht, die mit «Wir Schweizer sind …» oder «Die Georgierinnen mögen …» beginnen. Das scheint mir oft alles zu generalisierend und überhaupt zu nationalistisch. Aber okay, ich bringe jetzt trotzdem eine dieser Verallgemeinerungen: Die Schweiz, das ist die Nation der doppelt versicherten Funktionswäscheträger*innen.

Wir mögen kein Risiko. Ja, wenn ich es mir genauer überlege, ist ein enorm grosser Teil unseres Lebens eigentlich darauf ausgerichtet, jedwede Risiken zu minimieren. Leuchtwesten, dritte Säulen, auf Stromer ausgerichtete Spezial-Velohelme mit Sicherheitsvisier, Vorsorgeuntersuchungen, Sparkonti und Strassenverkehrsämter gehören zur Schweiz wie der Fünfliber auf der Schoggitafel vom Grosi.

Wie tief uns die «Safety-First-Mentalität» in den Knochen sitzt, merke ich meistens beim Reisen. Ich merke es, wenn ich an die etwas rostige Bremsscheibe unseres Wagens denke, zu deren Auswechslung uns ein gewissenhafter Beamter des Strassenverkehrsamtes Bern vor der Abreise dringend geraten hat, während mir in Georgien ein Lieferwagen entgegenfährt, dessen gesamte vordere Karosserie fehlt. Ich merke es auch, wenn ich mir beim Klettern überlege, wie lange ich mein Gstältli eigentlich schon habe und was die Hersteller für eine Nutzungsdauer empfehlen, und ein (nicht schweizerischer!) Freund dann darüber mutmasst, wie Highlinen auf LSD wohl wäre. Oder, wenn ich in Rumänien einen Mann am Strassenrand stehen sehe, der seine frisch gefangenen Fische feilbietet, indem er sie am Maul haltend durch die Luft schwingt, und ich mir dabei die Schweizer Lebensmittelkontrolle vorstelle. Und auch, wenn ich mich in den kaukasischen Bergen mit einem temperaturregulierenden Merinowolle-Shirt in meinen ultralighten Daunenschlafsack kuschle und am nächsten Morgen sehe, wie der benachbarte ukrainische Bergsteiger eine alte deutsche Militäruniform trägt.

Ich muss mich dann regelmässig selbst belächeln und mich manchmal fragen, ob bei all dem Sicherheitsbewusstsein, dieser schweizerischen Nationaltugend, der Spass nicht etwas auf der Strecke bleibt. Weil unser Wohlstand es uns erlaubt, immer auf Nummer sicher zu gehen, sind wir mitunter auch schrecklich unkreativ. Oft stimmt es mich beim Reisen deshalb wehmütig, wenn ich Dinge beobachte und tue, die zu Hause inexistent, ja undenkbar sind: Kleine Lebensmittelläden an den unvorstellbarsten Orten anstelle immergleicher Volg-Filialen, die Möglichkeit, ein spontanes Dorffest zu feiern ohne vorgängiges Planungs- und Bewilligungsverfahren, nicht genormte (und vielleicht auch nicht ganz so gut befestigte), dafür kreative Ladenschilder und Leuchtreklamen, das Mitfahren auf Busdächern.

Wenn wir schon die vielleicht beste Gesundheitsversorgung der Welt haben und dann auch noch gegen jedes erdenkliche Risiko versichert sind – warum gehen wir dann eigentlich nicht mehr, sondern trotzdem viel weniger Risiken ein als alle anderen? Ich finde ein langes Leben ja eine gute Sache, aber ein bisschen Spass sollte halt schon auch sein. Dazu lässt sich ausserhalb der Schweiz wunderbare Inspiration sammeln. Und wenn es nur ein selbstfrisiertes Velo anstelle eines Marken-Stromers ist.

* Jana Schmid (27) ist in Aarburg aufgewachsen und lebt seit vergangenem Winter in ihrem ausgebauten Lieferwagen, unter anderem in Griechenland, wo sie rund drei Monate für zwei Nichtregierungsorganisationen arbeitete. Aktuell ist sie in Georgien unterwegs.


Wann störst du dich am Schweizer “Sicherheitsdenken”?

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