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Zehn Mal das 1000er-Stägeli hoch – oder: die Suche nach der eigenen Grenze

Verrückte Sportziele sind was für die Brüder David und Philipp von Arx. Vor fünf Jahren kam ihnen eine neue Idee. Seither gehen sie jeweils im November an ihr Leistungslimit und erklimmen virtuell den Titlis.
3. Dezember 2021
Text: Yann Schlegel, Fotografie: Timo Orubolo

An der weit über die Region hinaus berühmten Treppe am Born ist übers ganze Jahr hinweg Betrieb. Ob mit Wanderschuhen, einfachen Sneakers oder sportlichen Laufschuhen, alle, die unten loslaufen, vereint ein Ziel: Sie wollen die 1150 Treppenstufen erklimmen.

Wir suchen Herausforderungen, wie sie das 1000er-Stägeli bietet. Wer die Treppe schon mal überwunden hat, weiss, was ihn erwartet. Auch wenn sie von unten unendlich erscheint, endet die Himmelsleiter, wie sie auch genannt wird, – vor dem Himmelszelt – abrupt zwischen den Felsen der Bornkrete. Wer zum ersten Mal nach oben unterwegs ist, wird über das gut schweizerische Diminutiv des Stägeli fluchen. Bloss die schmalen Stufen mögen die verniedlichende Form der Monstertreppe rechtfertigen. Aber wer mal oben angelangt ist, wird die Treppe immer wieder bezwingen wollen. Menschen sind Gewohnheitstiere.

Andere loten die Grenzen neu aus. «Zehn Mal?! Zehn Mal?!», wiederholt ein Mann ungläubig, als ein paar Mitglieder der OL Regio Olten ihm erklären, was die Verrückten unter ihnen vorhaben. Warum tut sich der Mensch dies an?

Ist es das Ziel vor Augen, die Suche nach dem eigenen Limit oder die Faszination für das Stägeli?

Ich wollte es selbst herausfinden und hab mich ans Experiment gewagt. Fünfmal genügten mir, um zu fühlen, was die Von-Arx-Brüder erfahren haben dürften. Ein Protokoll.

Zum 4. Mal …

… haben die Gebrüder von Arx dieses Jahr das 1000er-Stägeli zehn Mal hintereinander erklommen. «Nachdem ich in einem Training mehrmals die Treppe hochgestiegen war, sagte mir jemand: ‹Wieso machst du’s nicht mal zehn Mal hintereinander?›», erzählt David, wie er und sein Bruder auf die verrückte Idee kamen. Den Anlass tauften die beiden Orientierungsläufer Tio-Tuusiger – Tio steht für zehn auf Schwedisch. Der Name ist an eine der grössten OL-Staffeln in Schweden angelehnt, die Tiomila.

«Mich fasziniert die Treppe, gerade weil sie ein Anziehungspunkt für alle ist», sagt Philipp. «Von jener, die vielleicht sonst kaum Sport treibt, bis zum Profisportler tummeln sich hier alle.» Auch für David macht dies die Magie der Treppe aus. «Egal ob die nimmermüde Seniorin, der Handwerker, welcher nach dem Feierabend noch kurz in den Arbeitskleidern hochsteigt, oder eine Familie auf dem Sonntagsspaziergang», sagt er, «am Ende kommen alle oben an und sind erschöpft und glücklich.»

  • Laura Ramstein macht sich auf, das Tuusiger-Stägeli zu bezwingen.
  • Start am frühen Morgen bei Kälte und Nebel.
  • Los geht's ...
  • Alle Wege führen ans ...
  • Laura Ramstein macht sich auf, das Tuusiger-Stägeli zu bezwingen.

  • Start am frühen Morgen bei Kälte und Nebel.

  • Los geht's ...

  • Alle Wege führen ans ...

10 Minuten

Was ihnen durch den Kopf gehe, während sie die Treppe bezwingen, will ich wissen. «Ich wollte einfach immer unter 10 Minuten bleiben», antwortet Philipp, als die zehn Aufstiege geschafft sind. Ganz hat er es nicht erreicht: Beim letzten Mal stoppte er die Zeit bei 10 Minuten und 5 Sekunden. Zum Vergleich: Der aktuelle Rekord liegt bei 6 Minuten und 37 Sekunden, gelaufen am offiziellen 1000er-Stägeli-Lauf. Wer auf dem Geoportal des Bundes nachmisst, dem werden als Marschzeit für die gemessene Strecke 41 Minuten angegeben.

Ich muss bei Philipps Antwort an ein Interview in der NZZ am Sonntag denken, das ich nach unserem Lauf las. Darin sagt der Mentaltrainer Ray Popoola: «Profis können generell recht gut abschalten, sie sind vielleicht zu 98 Prozent bei der Sache. Hobbysportlern schwirren oft sehr viel mehr Dinge durch den Kopf.»

Mit dieser Aussage kann ich mich gut identifizieren, denn im Vergleich zu Philipp und David bin ich der Hobbysportler – sie die Profis. Bei mir schweifen die Gedanken ab, während ich mich in 12 bis 14 Minuten hoch quäle. «Die Treppe ist wie das Leben. Jeder Tritt ist anders», spreche ich auf mein Tonband, als ich ein erstes Mal oben angelangt bin.

11 Mal

Vor zwei Jahren übertrafen Philipp und David mit ein paar Freunden das eigene Ziel bei der dritten Ausgabe des Tio-Tuusigers und stiegen ein elftes Mal hoch. Damals nahmen sie noch den kurzen Weg runter über die Treppe. Das war in diesem Jahr wegen des pandemiebedingten Einbahnregimes beim Stägeli nicht mehr möglich. «Der direkte Rückweg über die Treppe sparte uns zwar Zeit, aber der Muskelkater danach war umso heftiger», sagt Philipp.

22 Teilnehmende …

… sind zum vierten Tio-Tuusiger gekommen, den die Brüder von Arx für die OL Regio Olten durchführen. Das sei ein Teilnehmerrekord, versichert David. Die Zehn zu vollbringen, ist für die wenigsten das Ziel. «Ich mach’s nur einmal», sagt der kleine Mats, als er bei der 700. Stufe angelangt ist. «Ach komm schon, später sehen wir, wie es ausgeht», antwortet die Mutter. Das Stängeli schaffen am Ende drei Läufer: Philipp, David und Joël Morgenthaler.

Bei 27,65 Kilometer …

… hält die GPS-Uhr von Philipp nach gut vier Stunden Laufzeit. Die durchschnittliche Herzfrequenz: 147 Herzschläge pro Minute. Verbrannte Kilokalorien: 2855. «Die alljährliche Unvernunft», kommentiert er später seinen Lauf auf der Plattform Strava, dem Facebook der Sportverrückten. Anzahl Kudos (Likes): 119.

244 Höhenmeter auf gut 500 Metern Luftlinie

Beim vierten Aufstieg pumpt das Herz gewaltig, ich versuche auf den letzten Stufen so viel Sauerstoff wie möglich in die Lungen aufzusaugen. Je länger je mehr kommt mir das gewölbte Laubdach wie ein Tunnel vor. Ich fühle mich ausgelaugt wie die Herbstblätter, die mich umgeben und ich nur noch verschwommen wahrnehme. «Hab ich nur das Gefühl, dass es hier oben immer heller wird, oder ist es nur die Sauerstoffknappheit?», witzelt mein Begleiter Andreas. Das Nirwana ist nah. Erste Sonnenstrahlen durchdringen den dichten Nebel. Ganz wird die Sonne ihn heute aber nicht verbannen können.

Auf zwei Meter Distanz führt das 1000er-Stägeli durchschnittlich fast einen Meter den Born hoch, der an der Südflanke übrigens den Flurnamen «Oltnerberg» trägt. Nach vier Stunden haben die Von-Arx-Brüder über 2400 Höhenmeter – und logischerweise ebenso viele Meter abwärts – hinter sich gebracht. Dies entspricht ungefähr den Höhenmetern, die zwischen Engelberg und dem Gipfel des Titlis liegen. «Mein Bein zittert einfach so. Ich glaube, das sind die Muskeln», sagt ein erschöpfter David, als er nach dem zehnten Aufstieg wieder unten angelangt ist. Beim letzten Mal kamen die Krämpfe.

1150 Stufen

Aller Anfang ist schwer. Das gilt auch für das 1000er-Stägeli. Die ersten 300 Stufen steigen steil an. Danach kommt die erholende Phase. Bis zur 800. Stufe sind die Tritte vergleichsweise leicht zu erklimmen. Allein, beim fünften Mal ist jeder schwer. Die Beine heben sich nur noch so in einem Rhythmus, der sich gerade ergibt. Der Verstand lässt nach, wird immer nebulöser und gleicht sich der Umgebung an. Die 800. Stufe führt in den Felsgrat, der ein nahes Ende mit Schrecken ankündigt: die steile Wand. «Die letzten 100 sind nur noch Genuss und Leiden. Genuss und Leiden gepaart», spreche ich auf mein Tonband.


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