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Zum Erfolg verdammt

Wer einmal den Winter in Norwegen verbracht hat, weiss, warum das Land die Olympischen Winterspiele auch dieses Jahr dominierte.
2. März 2022
Text: Marius Kaiser*

Und bereits sind die Olympischen Winterspiele in Peking wieder Geschichte. Sie mögen in vielerlei Hinsicht etwas speziellere Spiele gewesen sein. Lange standen vor allem das strenge Corona-Regime sowie die Menschenrechtslage (Unterdrückung der Uiguren) in der Volksrepublik im Vordergrund. Am Ende obsiegte der mächtige Sport, die Spiele fanden «normal» statt.

Wie sehr werden wir uns an die sportlichen Erfolge erinnern? Darauf haben wir noch keine Antwort. Zumindest war die Schweizer Delegation abermals überaus erfolgreich. Eines blieb ebenfalls unverändert: Die Norweger dominierten den Medaillenspiegel nach Belieben. Sie sahnten in fast allen Sportarten Medaillen ab. So resultierten am Schluss 37 Auszeichnungen, davon 16 goldene. Seit den Winterspielen 1992 in Albertville klassierte sich Norwegen nur einmal ausserhalb der Top 4 des Medaillenspiegels. Eine beeindruckende Serie für ein 5-Millionen-Menschen-Land.

Spät, aber er kam

Seit es um Weihnachten herum zum ersten Mal richtig geschneit hat in Trondheim, ist diese Dominanz für mich persönlich etwas verständlicher geworden. Trondheim ist die drittgrösste Stadt Norwegens und ich wohne zehn Velominuten vom Zentrum entfernt. Die Langlaufloipe wiederum ist gerade einmal hundert Meter von meiner WG entfernt. Diese erschliesst ein Loipennetz von ungefähr 60 bis 80 Kilometern Länge. Hinzu kommen nochmals rund 100 bis 150 Kilometer Langlaufloipe auf der anderen Stadtseite. Für Osloer wird dieses für Schweizer Verhältnisse immense Angebot an Loipen aber immer noch als «spärlich» bezeichnet. Und dass die Benützung sämtlicher Loipen in ganz Norwegen kostenfrei ist, wird als selbstverständlich angesehen.

Das Loipennetz um Trondheim ist nicht nur gross, es wird auch rege genutzt. Wenn ich an einem Mittwochnachmittag langlaufen gehe, muss ich mich nicht nur von Leistungssportlern überholen lassen (auch gegen Leistungssportlerinnen habe ich nicht den Hauch einer Chance …), sondern ich treffe auch auf Familien mit Klein- und Kleinstkindern, die gerade den Wald erkunden, sowie auf rüstige Senioren, bei denen man sich fast Sorgen machen muss, ob sie die Abfahrt auch heil überstehen.

Nebst Langlaufloipen sind auf dem ganzen Stadtgebiet Freilufteisflächen verteilt. Meist sind dies Flächen, die im Sommer als Parkplätze dienen. Bei genug kalten Temperaturen werden diese nicht gesalzen, wie sich dies Automobilistinnen wohl wünschen würden, sondern – im Gegenteil – gewässert. So kann sich ein Eisfeld bilden, das zum Eisskaten und Hockeyspielen einlädt. Auch hier gilt: Dass die Benutzung kostenlos ist, versteht sich von selbst.

Alles läuft

Sport scheint allgemein einen höheren Stellenwert zu haben als in der Schweiz. Schon im Sommer staunte ich nicht schlecht über grosse Laufgruppen bestehend aus Männern und Frauen mittleren Alters. Da rannten gerne mal rund vierzig zwischen 45 und 55 Jahren alte Sportbegeisterte knallharte Intervallsequenzen mit ansehnlicher Geschwindigkeit. In der Schweiz überhole ich Gruppen in Joggingschuhen normalerweise locker. Plump gesagt: In Norwegen gehen die Menschen nicht raus, um frische Luft zu schnappen, sondern vielmehr um zu schwitzen.

Schweissperlen braucht es viele, um der enormen Erwartungshaltung gerecht zu werden. Dass beim verkürzten 50-Kilometer-Langlaufrennen an Olympia nur eine Bronzemedaille herausschaute, war bereits eine leise Enttäuschung. Die regelmässigen Topplatzierungen in den Medaillenspiegeln werden beinahe als selbstverständlich angesehen. Verpatzte Medaillenchancen werden mehr diskutiert als Erfolge.

Wenn in vier Jahren wieder Norwegen am meisten Medaillen sammeln sollte, wird mich das nicht mehr verwundern. Ausgezeichnete Wintersportbedingungen, selbst in der Nähe der grossen Städte, und ein ausgeprägtes Bewusstsein für Sport sorgen dafür, dass kaum ein Talent unentdeckt bleibt. All diese Gegebenheiten erklären, warum Norwegen quasi zum Erfolg verdammt ist.

*Marius Kaiser (22) kommt aus Starrkirch-Wil und lebt seit vergangenem Sommer für ein Jahr in Norwegen, wo er Bauingenieurswesen studiert.


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