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Die ungefragten Landschaftsarchitekten im tiefen Jura

Mal war er ganz ausgerottet – jetzt dringt er wieder an die kleinen Bäche vor, wie in Rohr. Wo der Biber ist, erquickt die Natur meist von heute auf morgen. Ein Umsturz, der manchmal die menschgemachte Ordnung stört.
3. April 2022
Text: Yann Schlegel, Fotografie: Timo Orubolo

Irgendwann in einer Nacht müssen sie gekommen sein, die neusten Bewohner von Rohr. Ein 100-Seelen-Dorf, das eben erst mit dem grossen Nachbarn Stüsslingen fusionierte. Kleiner Dorfkern mit historischer Kapelle in altem Steingemäuer. Die Bauernhöfe liegen zerstreut an den steilen Jurahängen, die einen Trichter bilden. Einzig der Dorfbach und die Strasse weisen den Weg hinaus und schlängeln sich durch die schmale Klus. Ängi nennen sie die Menschen von hier.

Trotz stotzigen Strässchen vom einen ans andere Eck des Dorfes wissen die Bauern immer ungefähr Bescheid, was beim andern gerade ansteht. Im November muss es gewesen sein. Ein Video ging im Dorf um. Bei Landwirt Gysi watschelte ein Biber über den Hausplatz. Im Dorf erzählen sich die Leute, er sei schon im September erstmals bemerkt worden. Wann genau der Biber kam, bleibt sein Geheimnis.

«Das zeigt, dass etliche Biber völlig unbemerkt ihr Revier aufbauen. Ohne dass Konflikte entstehen», sagt Katrin Schäfer*. Ein Märztag, der sich wie ein Maitag anfühlt. Nach sonnenlosen Wintermonaten schaffen es die wärmenden Strahlen wieder über die schroffen Hügel bis auf den Dorfkern hinab. Die Leiterin der kantonalen Biberfachstelle steht an der überdimensional gross scheinenden Bushaltestelle. Ihr zurückhaltendes Lächeln beim Gruss sagt so viel wie: Mit Ihnen hab ich also zwei Monate lang über den Biberbesuch verhandelt.

Katrin Schäfer ist beim Kanton sowas wie die Anwältin des geschützten Tieres. In ihrer Position vermittelt sie zwischen Schutz- und Nutzungsinteressen. Entsprechend wählt sie ihre Worte mit Bedacht, wenn sie mit den Medien spricht. Als ich im Januar eine erste Anfrage an den Kanton schicke, bittet die Biberfachfrau, mit einer Reportage zuzuwarten. Alle betroffenen Parteien müssten zuerst informiert sein, bevor die Öffentlichkeit davon erfährt. Erstmals höre ich das geflügelte Wort «Konfliktpotenzial» im Zusammenhang mit Bibern. Was das genau bedeutet, kann ich mir zunächst nicht ausmalen.

Kaum ein Rohr ist ihm zu klein

«Jetzt hab ich mal die Offerte eingeholt, um alle Rohre von hier bis zur Gemeindegrenze Lostorf zu vergittern», sagt Christoph Hümbelin zu Katrin Schäfer, während sie die Strasse queren und zum Bach hinüberlaufen. Der Rohrer Landwirt ist seit einem halben Jahr für den Bachunterhalt der neu fusionierten Gemeinden zuständig. Dass ihm hier oben ein Biber in diesem Amt so viel Arbeit bescheren würde, damit hatte er nicht gerechnet.

Unscheinbar hat sich das Fliessgewässer unterhalb vom Dorfkern in den Boden gefressen. Oberhalb davon hat der Mensch stark eingegriffen und den Bach unter dem Boden gebändigt. Zwei Rohre führen das Jurawasser von den Hängen runter durch das Dorf. Trotz dürrem Monat März plätschert der Bach überraschend lebendig.

«Wenn er einen dieser Schächte verstopft und ein Gewitter kommt, läuft das ganze Wasser durch die Häuser», sagt Christoph und zeigt an die Westflanke hoch. Vor gut einem Monat entdeckte er erstmals dort oben die unverkennbaren Spuren des Bibers. Von unten ist nur die Baumkrone der eineinhalb Meter dicken Eiche zu sehen. Um sie herum nährte der Biber sich an Haselsträuchern und kleinen Bäumen. Mehr Sorgen bereiteten dem Landwirt aber die abgenagten Äste, die am Rohreingang lagen. Bald dürften als Sofortmassnahme die Rohre unten am Bach darum vergittert werden.

Der Rückkehrer

Wo ein Biber ist, verändert er die Landschaft oft grundlegend. Und manchmal ist das Tier auch die Initialzündung, dass der Mensch Veränderungen angeht. In Rohr hat er die Debatte ausgelöst, ob die Gemeinde die im Untergrund liegenden Bachzuflüsse längerfristig öffnen soll. «Planen wir langfristig nicht mit dem Biber, rennen wir immer hinterher. Denn er ist da, er wird immer da sein. Wandert ein Biber nämlich doch einmal aus einem Revier ab, so dauert es meist nicht lange, bis Neuzuwanderer den freigewordenen Platz einnehmen», sagt Katrin Schäfer.

Das war allerdings nicht immer so. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts galt das grösste Nagetier in der Schweiz als ausgerottet. Erst 1956 kehrte er zurück. Bis 1977 setzte der Bund – vor allem im Wasserkanton Aargau – 141 Biber aus. Anfänglich vermehrten sie sich sehr zögerlich, seit den Nullerjahren nimmt die Population aber stark zu. Beim Bundesmonitoring 2008 zählten die Experten im Kanton Solothurn 93 Tiere – verteilt auf 27 Reviere. Schweizweit wurde der Biberbestand 2019 auf 3500 Individuen geschätzt.

Am Bachufer in Rohr wird unübersehbar, dass hier der Biber daheim ist. Überall ist Gehölz angenagt – entweder hat er sich die Rinde und Knospen nur als Frass genommen oder aber das Holz gleich auch noch in seine Dämme verbaut. Wenn er Bäume fällt, tut er dies immer im doppelten Interesse: Um an Nahrung und Baumaterial zu kommen. Im 45-Grad-Winkel nagt der hungrige Bewohner die Sträucher und Äste ab. «Daran lässt sich die Zahngrösse sehen – und ablesen, ob es sich um erwachsene Tiere handelt», erklärt Schäfer, während sie sich zu einem Strunk beugt. An einem übriggebliebenen Haselstrauch ist das Gehölz bereits dunkel verfärbt. «Die Biber könnten schon vor einem Jahr hier gewesen sein, wer weiss.»

Warum aber drangen die Nagetiere bis nach Rohr vor an diesen kleinen Nebenfluss? «Die Biber wandern einfach», sagt die Umweltwissenschaftlerin. Mit der wachsenden Population sind die Reviere an den grossen Flüssen wie der Aare abgedeckt. Deshalb breiten sich die Tiere vermehrt in die Nebengewässer aus. Speziell sei aber, dass er erst rund sieben Kilometer von der Aaremündung oben in Rohr wahrgenommen worden sei, so Schäfer. Die Distanz per se ist nicht aussergewöhnlich. In der Schweiz legen Biber auf der Suche nach einem Revier durchschnittlich 20 Kilometer zurück.

Bequem erlangter Biberbau

Für die Rohrer Biber hat sich der weite Weg gelohnt. Wie Katrin Schäfer und Christoph Hümbelin ihren Spuren entlang dem Bach folgen, wird die ganze Schönheit der kleinen Oase sichtbar. Auf der Suche nach ihrer Wohnung waren die neusten Bewohner pragmatisch. Mitten auf dem Feld lugt ein Schachtdeckel aus dem Grün hervor. Unter diesem fand der Landwirt im Dezember den Biberbau. Als er den Deckel abgehoben hatte, sah er gerade noch den Schwanz in der Röhre verschwinden. Mit seinem Bruder brachte er eine Wildtierkamera an. Sie lieferte bald die Antwort auf die letzte übriggebliebene Frage: Ein Biberpaar hat sich in einem Notschacht der Kanalisationsleitung eingerichtet.

«Der Biber nimmt so ein Angebot gerne an», sagt Katrin Schäfer. «Er ist ein Wildtier und muss seine Energie gezielt einsetzen. Schächte nutzt der Biber häufig als Bau, da er dann seinen Wohnkessel nicht extra graben muss.»

An den Nebenbächen muss der Biber stärker arbeiten, um den für ihn passenden Wohnraum zu bilden. «Er ist extrem anpassungsfähig und macht sein Ding», sagt Schäfer und lacht. «Er muss nicht eine revitalisierte Landschaft vorfinden, er macht sie sich selbst. Es gibt in Europa keine Tierart, die den Lebensraum so gestalten kann, wie der Biber.» Schäfer begann sich in ihrem Studium eingehend mit dem Nagetier auseinanderzusetzen. In ihrer Masterarbeit untersuchte sie im Nationalpark Bayerischer Wald die Vogelvorkommen an Biberteichen.

Wo die Röhre, die zum Notschacht führt, in den Bach mündet, ist das Hauptbauwerk des Biberpaars zu bestaunen. Fast eineinhalb Meter hoch ist der sogenannte Hauptdamm. Das perfekte Chaos aus Laub und kreuz und quer geschichteten, abgenagten Ästen. «Darum sag ich gern: Der Biber ist extrem nachhaltig. Meist nagt er selbst sein Baumaterial noch ab», sagt Schäfer. Da er sich vegan ernährt, sind die Baumrinden in den Wintermonaten seine wichtigste Nahrungsgrundlage. Unter dem Damm plätschert das Wasser langsam aus dem grossen Biberteich. Mit dem Hauptdamm hat das Paar den Eingang zum Biberbau unter Wasser gelegt. Der Teich schützt die Biber vor möglichen Feinden und vor den schwankenden Aussentemperaturen.

Freund und Helfer?

Biodiversitäter, Landschaftsarchitekt – mit seinem Wirken hat der Biber sich in der Fachliteratur viele Spitznamen gesichert. «Wenn man es zulassen kann, arbeitet der Biber für uns», sagt Schäfer. Nach dem zweiten Weltkrieg und der Anbauschlacht kamen die grossen Gewässerkorrekturen, die Flüsse waren begradigt. Heute versucht die Gesellschaft, vieles wieder rückgängig zu machen. Was die Kantone Millionen kostet, macht der Biber umsonst: Er revitalisiert und renaturiert. «Nur kommt er von heute auf morgen und unser System ist oft nicht darauf angelegt», sagt Katrin Schäfer.

Rücksicht nimmt der Biber nicht. Und Gefahrenherde gäbe es viele. Deshalb musste die Gemeinde alle in Rohr betroffenen Infrastrukturbetreiber über das Biberrevier informieren. Würde der als Biberbau genutzte Notschacht bei Hochwasser verstopfen, könnte das Abwasser zurückstauen und die Haushalte schwemmen.

Am beschaulichen Bach in Rohr haben die Biber über eine Strecke von rund hundert Metern Damm an Damm gebaut und so eine kleine Kaskade geschaffen. Die Teiche führen oft zu höheren Grundwasserspiegeln – das kann bei trockenen Böden willkommen sein. Im Ackerbau droht dadurch manchmal aber das Kulturland vernässt zu werden.

«Viele wissen nicht, dass der Biber auch buddeln kann», sagt Schäfer. Ein Hermelin huscht mit seinem langen Schwanz dem Bachufer entlang. Weil das Biberpaar im Notschacht Unterschlupf fand, sah es bisher von einem Erdbau ab. Dennoch musste die Gemeinde vorsorglich die Gasnetzbetreiberin informieren, da beidseitig des Bachs eine internationale Gasleitung durchführt.

Und zu guter Letzt sind da die grossen Bäume in Strassennähe, für deren Schutz das kantonale Tiefbauamt sorgt, damit der Biber sie nicht abnagt und sie auf die Kantonsstrasse fallen.

Katrin Schäfer und Christoph Hümbelin steigen wieder hoch zur Bushaltestelle, über den Biberbau hinweg, wo das Paar vermutlich noch ein paar Stunden eng beisammen schlummert. Erst wenn die Nacht kommt, wagen sich die beiden wieder nach draussen. Begeben sich auf Nahrungssuche und bauen weiter an ihrem Revier.

«Ein Biberrevier ist extrem dynamisch», sagt Katrin Schäfer. Ein wachsames Auge ist deshalb gefragt. «Eine erhebliche Gefahr müssen wir unbedingt vermeiden», sagt sie. Der Kanton Solothurn musste jedoch noch nie einen Biber aus seinem Bau holen. Würde es jemals so weit kommen, würde der Bund miteinbezogen. Denn sowohl der Biber als auch sein Lebensraum sind bundesrechtlich streng geschützt. Mensch und Tier kamen sich in Rohr bislang nicht in die Quere. Der anwohnende Landwirt im Dorf hätte sich gar über die Biberankunft gefreut, erzählt Christoph Hümbelin.

Im Frühling dürfte aus dem Paar eine Familie werden. Zwei bis vier Jungtiere würden am Dorfbach heranwachsen, sofern sie nicht vorher weiterziehen. In zwei Jahren wird der Nachwuchs, wenn alles nach Plan verläuft, mit der Schneeschmelze seinen eigenen Weg suchen. Er wird die Tiere zwangsläufig bachabwärts führen. Durch die Ängi ins weite Mittelland, wo sie ihr eigenes Revier und die Partnerin fürs Leben suchen müssen.

*Katrin Schäfer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Amt für Wald, Jagd und Fischerei. Sie ist für den Vollzug der Jagdgesetzgebung im Fachbereich Biber zuständig – dem Bibermanagement.


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