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Wie viel Wiese kann man essen?

Wo die Laiin Gras sieht, so weit das Auge reicht, verbirgt sich das Geheimnis des Gierschs und von anderem gesunden Superfood.
26. April 2022
Text: Rebekka Salm, Fotografie: Timo Orubolo

Weisst du, woher der Ausdruck «ins Gras beissen» kommt? Diese Redewendung taucht schon in der Bibel auf. Jemand, der «ins Gras beisst», stirbt unfreiwillig. Auf den Feldern grosser Kriege kam es immer schon vor, dass Verwundete am Boden liegend zurückgelassen wurden. Während sie ihren Schmerzen erlagen, bissen sie wortwörtlich ins Gras.

Ums Sterben soll es in dieser Kolumne aber nicht gehen. Im Gegenteil: Der Verzehr von Gras – beziehungsweise der für mich wie Gras aussehenden Wildkräuter – soll einem langen Leben zuträglich sein. Dies zumindest versichern mir Anna-Lena Holm und Celina Schärli vom Verein «Kraut & Wiese».

Gemeinsam mit den beiden kräuterkundigen Frauen stehe ich vor dem unscheinbaren Streifen Wiese, der sich zwischen der Rückseite der Oltner Badi und dem ein gutes Stück höher liegenden Hausmattrain entlangzieht. Was ich sehe, wenn ich auf die grüne Fläche blicke: Gras und Löwenzahn. Was Anna-Lena und Celina sehen: Wiesenschaumkraut, Löwenzahn, Brennnesseln, Gefleckte Taubnesseln, Spitzwegerich, Knoblauchsrauke, Giersch, Scharbockskraut, Ehrenpreis, Gundelrebe und Bärlauch. Und all das, versichern mir die beiden, kann man essen. Mehr noch: All das soll man essen. Es ist gratis, in grossen Mengen vorhanden und viel gesünder als handelsübliches Gemüse wie Grünkohl oder Karotten.

Wildkräuter wachsen überall auf Wiesen, an Waldrändern und in Gärten. Beim Sammeln sollte man darauf achten, dass man sich ein gutes Stück vom Weg entfernt (Achtung Hundepipi) und gedüngte Weiden meidet (Achtung Pipi aller Art). Was aber nun mit dem gesammelten Grünzeug anfangen? Drei Pflanzen – drei Rezeptvorschläge:

Nur schon beim Gedanken daran, mir Brennnesseln in den Mund zu schieben, wirft meine Zunge schmerzhafte Blasen. Tatsächlich aber ist das wehrhafte Kraut eine alte Gemüsepflanze, deren Blätter wie Spinat zubereitet gegessen wurden. Gekocht oder im Mixer verarbeitet verlieren sie ihre Brennhaare. Besonders empfehlenswert sind auch die Samen, die ab Sommer gesammelt werden können. Sie enthalten viel Eiweiss, gesunde Fettsäuren, Vitamin E und Mineralien wie Magnesium und Kieselsäure – ein heimischer Superfood also. Man kann sie frisch oder getrocknet als schmackhafte Beigabe für Salat und Müsli verwenden oder damit Suppen und Gemüsegerichte verfeinern. (Es gibt weibliche und männliche Brennnesseln. Als Superfood eignen sich eher die Samen der weiblichen Pflanzen. Das lässt sich ganz einfach googeln. Go for it!)

Als Nächstes macht mir Celina die Gundelrebe schmackhaft. Die kleine Pflanze mit den fingernagelgrossen, dunkelgrünen Blättern und den violetten Blüten wächst gefühlt überall. Zerreibt man die Blätter zwischen den Fingern, riecht man einen herb-würzigen Duft, der an Sommernachmittage in Grossmutters Garten erinnert. Die Gundelrebe kann man nicht «hampfelweise» essen, dafür hat sie einen zu starken Eigengeschmack. Sie macht sich aber prima als Dessert. Und das geht so: Gundelrebenblätter sammeln. Schokolade im Wasserbad schmelzen. Die Blätter einzeln durch die flüssige Schokolade ziehen und auf einem Backpapier im Kühlschrank auskühlen lassen. Fertig ist das sogenannte «Wiesen-After-Eight».

Die Gefühle gegenüber der dritten Pflanze sind kontrovers. Wildkräuterköchinnen lieben sie. Hobbygärtner hingegen beschimpfen sie als schlimmes Unkraut. Die Rede ist vom Giersch. Geschmacklich erinnert er an Möhren, Petersilie oder Sellerie. Der milde Giersch macht sich wunderbar in einer Gemüsepfanne oder auf einem Gemüsequiche. Oder man verarbeitet ihn zu Pesto. Dafür röstet man 60 Gramm Pinienkerne und wirft diese mit zwei Handvoll frisch gepflückten und gewaschenen Gierschblättern, 100 Gramm Parmesan und einer Knoblauchzehe in den Mixer. Anschliessend füllt man die Mischung mit etwa eineinhalb Deziliter Olivenöl auf. Mit Salz und Pfeffer abschmecken, fertig. Das Pesto hält sich im Kühlschrank eine gute Woche.

Aber Achtung, was für alle Wildkräuter gilt, gilt für den Giersch ganz besonders. Nur essen, was man wirklich kennt. Eine Bauernregel hilft, den Giersch sicher zu identifizieren: Drei, drei, drei – bist beim Giersch dabei. Soll bedeuten: Der Giersch hat einen dreieckigen Stängel und an jedem Stängel drei dreiteilige Blätter. Wer den Giersch dummerweise mit dem ihm verwandten (aber sehr seltenen) gefleckten Schierling verwechselt, ja, der könnte tatsächlich Gefahr laufen, ins Gras zu beissen.

*Rebekka Salm (42) wohnt seit einigen Jahren in Olten, arbeitet in Zürich im Asyl- und Flüchtlingsbereich, ist Autorin und Mutter einer Tochter. 


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