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Falsch verbunden

In Olten Südwest wurden Hunderte Wohnungen gebaut, Platz gibt es für 4000 Menschen. Doch die Retortensiedlung ist noch immer nicht an den Langsamverkehr angebunden. Was wurde da eigentlich geplant? Über eine Stadt, deren Rechnung bisher nicht aufging, und einen Investor, dessen Zürcher Methoden in der Dreitannenstadt wie gewünscht nicht greifen.
26. Juni 2020
Text: Christof Ramser, Fotografie: Christian Grund

Wer mit dem Zug vom Bahnhof Olten dem Jurafuss entlang Richtung Solothurn fährt, erblickt kurz nach der Überquerung der Aare, links vom Bahnhof Hammer, eine biedere Landschaft. Da wurden eierschalenfarbene Wohnkästen in den Raum gedrückt wie Bauklötze in einen Sandkasten – oder genauer: in die alte Kiesgrube, die von der stillgelegten Oltner Zementindustrie übriggeblieben ist. Die fünfstöckigen Gebäude, die dort nun stehen, sehen aus wie schlecht ausgelastete Gewerbeliegenschaften am Stadtrand. Doch hinter den Fassaden arbeiten nicht etwa VermittlerInnen von Temporärjobs, da wohnen Menschen.

Hunderte sind seit der Aufrichte vor gut vier Jahren nach Olten Südwest gezogen. Tausende sollen es laut dem Investor werden. Von der übrigen Stadt abgetrennt durch den Bahndamm und eine relativ neue, aber bereits jetzt stark ausgelastete Strasse, gleicht die Neubausiedlung einer Insel, die nur erreicht, wer ein Auto besitzt. Zwar gibt es einen Bus, doch der fährt nur alle halbe Stunde und kurz nach 20 Uhr überhaupt nicht mehr. FussgängerInnen und VelofahrerInnen schauen beim Rötzmatttunnel in die Röhre, wo es für sie eng wird. Trottoirs und Fussgängerstreifen wurden teilweise einfach vergessen. Eine Verkehrspolitik, die tief aus dem letzten Jahrhundert stammt.

Dieser Beitrag stammt aus der Kolt-Ausgabe 108, Sommer 2020

Zwar bemühen sich die Behörden seit vielen Jahren um einen direkten und sicheren Weg für jene, die in Olten ohne Motor unterwegs sind. 2006 taucht „die Schaffung einer städtebaulich bedeutsamen Verbindung für den Langsamverkehr von der Hammerallee in das Entwicklungsgebiet Olten SüdWest“ in den Protokollen der Stadtregierung auf. 2011 machte die Immobilienfirma, die das Areal überbaute, den geplanten „direkten Zugang zum Bahnhof Olten-Hammer“ für künftige Bewohnende schmackhaft. Dass von der sogenannten Stadtteilverbindung kein Meter gebaut ist und noch immer nicht klar ist, wer diese bezahlen soll, wirft auf beiden Seiten der Geleise Fragen auf.

Es ist Mittwoch, kurz nach Mittag. Vor dem Eingang der Erfinderstrasse 3 wischt Jasmina Milutinovic mit dem Besen. Ein Paketbote fragt nach einer Adresse, sie zeigt ihm diese, hebt einen Papierfetzen vom Boden auf und stopft ihn zum Wegwerfen in die Jackentasche, grüsst einen vorbeieilenden Bewohner mit Namen. Wohl niemand kennt sich in Olten SüdWest besser aus als die Hauswartin. Sie weiss: „Alle hier im Quartier wünschen sich diese Unterführung. Damit wäre man zum Beispiel schneller in der Hammer-Migros oder in der Altstadt.“ Zwar gebe es Richtung Norden an der Solothurnerstrasse einen Aldi, doch der sei schwer zu erreichen. Immerhin: Werde die nächste Bauetappe realisiert, könnte es einen Kiosk oder einen Einkaufsladen geben. In anderen Siedlungen des Investors gebe es zum Beispiel Filialen des Grossverteilers Spar, weiss sie. Grosse Überbauungen gehören diesem Immobilienbesitzer etwa in Winterthur, Zürich-Affoltern oder Zürich-Seebach.

Ob es an der ungenügenden Erschliessung, der spärlichen öffentlichen Nutzung oder an der günstigen Bauweise liegt, Fakt ist: In Olten SüdWest standen Ende Januar 2020 gemäss Internetseite 168 von 420 Wohnungen leer. Zwar relativiert die Bauherrin Terrana AG diese Zahl auf Anfrage: Aufgeführt seien auch Wohnungen, die derzeit noch vermietet seien und auf ein späteres Datum hin frei würden. In Wahrheit seien aktuell 310 Wohnungen vermietet. Doch die Zahl bleibt unbefriedigend. „In Zürich würde das nicht passieren“, sagte Sigmund Bachmann, Geschäftsführer der Terrana AG 2018 im „Tages-Anzeiger“. „Dort hätten wir eine solche Siedlung schon vor der Fertigstellung komplett vermietet.“ Bachmanns Vater Leopold hatte das Areal in Olten SüdWest vor über zehn Jahren von der Aktiengesellschaft Hunziker & Cie., einer Tochter des Zementherstellers Holcim, gekauft. Als der Spatenstich erfolgt war, wurden die Bauten im Eiltempo hochgezogen.

Entsprechend ist die Ausführung: Statt Balkonen gibts ein so genanntes Jahreszeitenzimmer, statt ökologischer Energieversorgung wird Erdöl verheizt (dies in einer Stadt, die bis 2030 unter dem Strich keine Treibhausgase mehr in die Luft blasen will), statt attraktiven Aussenräumen bieten sich dem Auge gerade Formen und wenig Abwechslung. Immerhin sind die Mietzinsen moderat: dreieinhalb Zimmer gibt es ab 1570 Franken, inklusive Nebenkosten. Ein Blick in eine Wohnung zeigt: Der Standard entspricht dem Durchschnitt. Der Eingangsbereich ist geräumig, Zimmer und Küche bieten angemessenen Platz, im Badezimmer hat es Waschmaschine und Trockner. Studenten haben den Wintergarten zur Schlafstätte umfunktioniert. Fast sämtliche Parterrewohnungen sind vermietet, hauptsächlich sind Singles oder junge Paare eingezogen. Familien mit mehr als zwei Kindern, weiss die Abwartin, sind an einer Hand abzuzählen.

Leben in die Siedlung bringt immerhin eine Kindertagesstätte, die vor zweieinhalb Jahren eröffnet wurde. Und auch im Café Bloomell geht es aktiv zu und her. Kleinkinder wirbeln in Socken über den Boden, zwei Frauen trinken Espresso und beraten über ein Geschäft, drei Mütter mit Babytragen und Kinderwagen treten ein. Auch für sie wäre eine Verbindung ins Hammerquartier ein Vorteil. Damit sprechen sie Sigmund Bachmann aus dem Herzen: „Eine einladende FussgängerInnen- und Veloverbindung zur Altstadt würde die Siedlung, die heute etwas abgeschnitten ist, aufwerten. Die MieterInnen müssten dann nicht mehr für jede Besorgung ins Auto steigen.“

Doch bereits zweimal hat das Stadtparlament den Projektierungskredit für ein Verbindungsprojekt abgelehnt. Zu teuer, zu früh. Nun nimmt die Exekutive nochmals einen Anlauf: Via Brücke über die Gäustrasse und anschliessend per Passage unter den Gleisen soll es für den Langsamverkehr ins Hammerquartier gehen. Kostenpunkt: rund 20 Millionen Franken. Ob das Vorhaben diesmal gelingt, ist unsicher: Viele in der Stadt finden, es sei schlecht verhandelt und der Investor zu wenig in die Pflicht genommen worden. Für andere ist die Verbindung noch nicht oder überhaupt nicht nötig. Und schliesslich verwirrte in jüngster Zeit die Finanzierungsfrage, wie Diskussionen auf Facebook zeigen.

Stadtpräsident Martin Wey, der bereits als früherer Vorsteher der Oltner Baudirektion in das Projekt involviert war, weiss um die Brisanz des Geschäfts. Dass Olten SüdWest in den Augen mancher Alteingesessener aufgrund des Investors ein „Zürcher Gesicht“ habe, helfe nicht gerade weiter. Doch für die Entwicklung des Quartiers sei die Verbindung essenziell. „Dafür kämpfen wir.“ Zum Zeitpunkt der Recherchen für diesen Artikel steckte die Stadt mit der Terrana AG in intensiven Verhandlungen. Ursprünglich hatte Bachmann 2,5 Millionen Franken als freiwilligen Beitrag zugesichert. Doch bevor die Stadt das Geld in Anspruch nahm, setzte der Kanton Solothurn 2019 ein neues Gesetz in Kraft: Wird Industrieland zur Wohnzone, müssen jene, die von der Wertsteigerung profitieren, zum Zeitpunkt des Baus einen guten Teil davon abgeben.

Auch in Olten Südwest werden künftig noch mehrere Hektaren zur Wohnzone, was für den Eigentümer äusserst lukrativ ist. Ob dieser, wie das „Oltner Tagblatt“ schrieb, tatsächlich 16 Millionen Franken abgeben wird, steht laut Wey noch nicht fest: „Es ist Verhandlungssache.“ Tatsache ist: Bachmann wird der Gemeinde Geld abtreten müssen, das sie in der Stadtteilverbindung verbauen will. Für die Exekutive eine konsequente Investition: Das Geld würde bezahlt, bevor es fällig ist und flösse in die Erschliessung jenes Gebietes, aus dem die Mittel aufgrund der Umzonung stammen. Überdies könnte die Stadt auf 3 Millionen Franken Bundesgelder aus dem Agglomerationsprogramm zurückgreifen.

Etwas anders sieht es Urs Knapp, der seit 2003 für die FDP im Oltner Parlament sitzt. In der Stadt gebe es wichtigere Projekte als die Stadtteilverbindung. Ausserdem sei der Eindruck erweckt worden, Olten könne diese fast gratis haben. „Das ist nicht korrekt.“ Das Geld aus der Mehrwertabschöpfung könnte für andere Zwecke eingesetzt werden. Knapp ist der Meinung, Olten SüdWest sei erschlossen. Dass Bachmann nun Gelder beitragen soll, die er sowieso bezahlen muss, stösst manchen im Gemeindeparlament sauer auf, so zum Beispiel Christian Ginsig (GLP). Auch er kritisiert, dass das Geschäft im Stadtrat jüngst so verkauft worden sei, dass die SteuerzahlerInnen nur eine Million an die Verbindung zahlen müssen.

„Diese Rechnung stimmt aber nicht. Sie zahlen heute die Zeche dafür, dass ursprünglich schlecht verhandelt wurde. Man hätte den Investor von Anfang an dazu verpflichten müssen, die Erschliessung selber zu berappen“, sagt Ginsig. Nun finanzierten die Oltnerinnen und Oltner mittels Gebühren eine Unterführung, statt die Millionen anderweitig in die Arealentwicklung von Olten SüdWest zu investieren. „Diese Kröte müssen wir jetzt schlucken.“ Viel lieber würde er das Geld dort einsetzen, wo es der ganzen Oltner Bevölkerung den grössten Nutzen bringe. Zum Beispiel in den Bildungsbereich. Ausserdem hätte, im Sinne eines früheren Vorstosses eines damaligen SVP-Parlamentariers, schon längst der Rötzmattunnel als günstigere Sofortmassnahme ausgebaut und das Trottoir auf die andere Seite verschoben werden sollen, findet der Kommunalpolitiker, der sich auch auf seinem privaten Blog Olteneinfach.ch mehrfach mit dem Thema beschäftigte.

Verkompliziert wird die Ausgangslage durch einen weiteren Akteur: Auch die SBB sind in das Projekt einbezogen, wie Mediensprecher Martin Meier sagt. Von der Unterführung seien Aufgänge auf das Perron des Bahnhofs Hammer vorgesehen. „Die Gleiszugänge müssten entsprechend angepasst werden.“ Stadt und SBB hätten die Machbarkeit bereits überprüft, doch für eine abschliessende Beurteilung müsse der Personenfluss langfristig analysiert werden. Verglichen mit dem Bahnhof Olten sind die Frequenzen der Bahnpassagiere verschwindend klein: Während ennet der Aare jeden Tag 83000 Personen ein- und aussteigen, sind es beim Bahnhof Hammer nur gerade 530. Hinzu kommt, dass der Bahnhof nicht behindertengerecht ist. Zwar können handicapierte Personen teilweise selber ein- und aussteigen, doch im Gleisbereich seien Anpassungen nötig, die laut Meier bis voraussichtlich 2026 vorgenommen werden. Ob dieser Ausbau des Bahnhofs Hammer angesichts der Passagierzahlen verhältnismässig ist, wird im Gemeindeparlament bestritten, zumindest hinter vorgehaltener Hand.

Doch bevor es soweit sein dürfte, möchte Sigmund Bachmann längst weitere Parzellen überbaut haben. Sein Vater habe das Land nicht gekauft, um es brachliegen zu lassen. „Wir wollen vorwärts machen.“ Er hofft, dass die bestehenden Wohnungen dann nicht mehr so allein auf weiter Flur stehen. Zudem könnten etwa ein Coiffeursalon, eine Bäckerei oder eine Zahnarztpraxis als Parterrenutzungen helfen, das Quartier attraktiver zu machen. Die Stadt, findet der Terrana-Chef, sei mit dem nahen Jura und der Aare nämlich sehr schön gelegen und für den Verkehr ausgezeichnet erschlossen. „Viele Menschen haben dies nur noch nicht erkannt“, sagt Bachmann.

„Und mehr Nebel als in Zürich gibt es in Olten auch nicht.“

Er hofft zudem, dass sich das Altersheim Haus zur Heimat, das neue Pflegeplätze braucht, in Olten SüdWest ansiedelt. „Dies würde das Quartier durchmischen und beleben.“ Dass der Kanton Solothurn gemäss Bundesamt für Statistik den höchsten Leerwohnungsbestand im ganzen Land aufweist und auch in Olten das Angebot die Nachfrage deutlich übersteigt, scheint die Expansionspläne des Investors nicht zu bremsen. Bis zu 4000 Menschen, so sagt er, könnten einst auf seinem Land in Olten SüdWest leben. Dass das Neubaugebiet attraktiver werden müsse, fordert auch Martin Wey. Deshalb pocht er darauf, dass bei einem Weiterbau öffentliche Bauten entstehen. So könnte in Olten SüdWest unter anderem eine neue Schule gebaut werden.

Als Übergangslösung saniert die Stadt ein ehemaliges Bürogebäude am Rand der Siedlung, wo die Kinder ab nächstem Sommer zur Schule gehen. Ein neuer Gestaltungsplan, der derzeit ausgearbeitet wird, soll der anonymen Überbauung also ein „Oltner Gesicht“ verleihen. Ziel ist laut dem Stadtpräsidenten auch, dass Bachmann Teile seiner Parzellen an lokale Investorinnen und Investoren verkauft. Das soll mithelfen, nicht bloss die räumliche, sondern auch die emotionale Distanz zwischen den BewohnerInnen hüben wie drüben des Bahndamms zu verkleinern. Mit 20 Millionen Franken geht die Stadt eine teure Wette auf die Zukunft ein. Nämlich darauf, dass Olten SüdWest, wo heute auf jedem dritten Klingelschild eine Wohnungsnummer statt ein Name steht, einst zu einem Stadtteil wird, der diesen Namen auch verdient.


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