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Den flüchtigen Moment einfangen

Andrea Nottaris realisierte erst spät, dass sie Künstlerin ist – dann aber so richtig. Ein Besuch in ihrem Atelier, in dem sie die meiste Zeit ihres Lebens verbringt. Auch dann, wenn gerade Krise ist.
4. Mai 2021
Text: Isabel Hempen, Fotografie: Timo Orubolo

Das Telefon klingelt im Atelier am Rötzmattweg 17. Andrea Nottaris hebt ab, zieht den Bürostuhl an den Tisch und setzt sich, während sie den Hörer zwischen Schulter und Ohr klemmt. Durch die offene Tür ist der Verkehr zu hören, der draussen durch den Rötzmatttunnel rauscht, und ihre Stirn legt sich unter dem kurzen blondierten Haar in Falten. Das Gespräch wird länger dauern.

Das grosse Atelier wirkt aufgeräumt und luftig, doch bei näherem Hinsehen wird die strukturierte Ordnung von viel Kleinzeug und Krimskrams durchbrochen. Der Raum öffnet sich zu einer verglasten Kabine, in dem auf einem Kubus die Kaffeemaschine thront. Ein Tischchen, ein schwarzer Designersessel und weitere Sitzgelegenheiten, Bücher und ein paar Bilder an der Wand laden zum Verweilen ein. Tritt man heraus, steht man in Andrea Nottaris’ Werkstatt: Hier ihr Bürotisch, wo sie gerade mit kritischem Blick telefoniert, da ein weiterer Arbeitstisch und einige Werkstattmöbel, auf der gegenüberliegenden Seite ein Zeichentisch, ein Beistelltisch, auf dem ein Kartonmodell aufgebaut ist, ein Regal voller Farbtuben und zwei Wände, an denen Entwürfe und Notizen haften. Hinter einer von ihnen verbirgt sich ihr Lager. Leinwände reihen sich in einem Metallregal aneinander, zahllose Papierrollen sind in Kisten verstaut. Kartonboxen voller Postkarten, in Folie verpackte Taburettli, alles Mögliche hat sich hier angesammelt.

Andrea Nottaris (rechts) und Rita Weder teilen sich das Atelier am Rötzmattweg 17. Und das sehr gerne, wie man sieht.

Vorne beim Eingang sägt Rita Weder an ihrer Werkbank Styropor für ein Modell. Eine Sitzbank soll daraus werden, sie entwirft gerade Stadtmobiliar. Auch ihr Reich ist ein Sammelsurium aus Werkzeug, Materialien und Modellen. Sie habe sich das Atelier ursprünglich mit einem Architekten geteilt, erzählt die Industriedesignerin. Über ihre neue Partnerin ist sie sehr glücklich, «mit Andrea passt es einfach super», sagt sie. «Und seit Neustem haben wir hier einen Flügel», bemerkt sie lachend und deutet auf das abgedeckte Instrument, das an der Wand steht. «Ein Amateur-Pianist hat sich bei uns eingemietet, er kommt jeweils abends spielen.»

Am anderen Ende des Raums legt Andrea Nottaris den Hörer auf die Gabel und atmet hörbar aus. «Macht es dir was aus, wenn ich schnell eine Zigi rauche?», fragt sie, und verschwindet nach draussen. An diesem Montagmorgen ist Baustart in Zürich, und mit solchen Anrufen hat sie gerechnet. Irgendetwas läuft gerade nicht, wie es sollte, irgendwelche Unterlagen, die nicht angekommen sind, erklärt sie, als sie nach einer Weile wieder hereinkommt. Und jetzt muss sie sich damit herumschlagen. «Solche Kunst-und-Bau-Projekte gleichen oft einem Eiertanz. Am Schluss bist du nur noch E-Mails am Hin- und Herschreiben, das ist nicht gerade meine Stärke.»

Kunst am Fluss

Dass sie Künstlerin ist, wurde Andrea Nottaris erst spät bewusst. Und das, obwohl sie schon als Kind lieber malte, während ihre Freunde draussen spielten. Nach Abschluss der Rudolf-Steiner-Schule bestand sie mit 16 die Aufnahmeprüfung für die Fachklasse Keramik-Design an der Schule für Gestaltung in Bern. Eigentlich hatte sie sich nur angemeldet, um Prüfungserfahrung zu sammeln. Die Ausbildung dauerte vier Jahre, sie habe Modellieren, Zeichnen, Kunstgeschichte gelernt, «den ganzen Prozess von der Skizze bis zum Endprodukt». Als sie mit 21 schwanger wurde, heuerte sie wegen fehlender Jobperspektiven in der Papeterie und der zugehörigen Druckerei ihrer Eltern an – der Papeterie Köpfli in der Oltner Altstadt. Sie machte Grafik, Druckvorstufe, alles, was anfiel. Learning by doing, mehrere Jahre lang.

Ihren ersten Atelierplatz fand sie in einem Gemeinschaftsatelier in der Berna, da war sie 27. Sie packte jeweils ihre beiden Buben ein und verbrachte die Abende und Wochenenden im Atelier. Das meiste von dem, was sie heute tut, habe sie sich selbst beigebracht. «Ich habe mich anfangs so geniert. Deshalb fing ich erst spät an, mich Künstlerin zu nennen, das hörte sich lange komisch an», sagt die heute 51-Jährige. Vor 13 Jahren beschloss sie schliesslich, sich selbständig zu machen und ganz auf Kunst zu setzen.

An ihrer Projektwand sind Notizen, Skizzen, Entwürfe und eine aus Draht gebogene Äsche mit Klebeband befestigt. Andrea Nottaris postiert sich an ihrem Zeichentisch, knipst ein langes Stück von einer Drahtrolle und formt dieses mit einer Zange und geübten Handgriffen zu einem Flussläufer. Über 90 Tiere hat sie aus Draht gefertigt, einige davon liegen vor ihr auf der Arbeitsfläche. Die Motive sollen bald die Markisen und eine Betonrampe am Zürcher Einkaufszentrum Sihlcity zieren. Zusammen mit anderen Künstlerinnen war sie vergangenen November zu einem Gestaltungswettbewerb eingeladen worden. Ihr Projekt «Wasserzeichen – die Wildtiere der Sihl» überzeugte die Jury. «Und dann habe ich den Zuschlag bekommen.»

Deswegen also der Stress heute Morgen. Der vielleicht auch ihrer Arbeitsweise geschuldet ist: «Ich mache immer Dinge, die ich vorher noch nie gemacht habe», sagt sie, während sie ihr Kartonmodell des Sihlcity in Augenschein nimmt. Mit seiner Hilfe entscheidet sie, ob ihr Konzept aufgeht. Kunst-und-Bau-Projekte hat sie schon mehrere ausgeführt: am Metallsteg im Trimbacher Dellenpark etwa, für die Migros in Solothurn oder die Justizvollzugsanstalt in Deitingen. Aber mit Textilien hat sie noch nie gearbeitet. Mit Beton auch nicht. «Ich verfluche mich dann und denke: Es wäre einfacher, wenn du das schon mal gemacht hättest. Der Ertrag wäre besser und die schlaflosen Nächte weniger. Ich weiss auch nicht. Ich will halt Neues herausfinden.»

Einen grossen Teil ihrer Zeit verbringt sie mit Recherchieren, muss sie doch jeweils erst eine geeignete Arbeitstechnik und nicht zuletzt die Unternehmen finden, die ihre Entwürfe umsetzen – und während der Produktion hoffentlich nicht kurzfristig abspringen. Für das Sihlcity-Projekt studierte sie den Ort, seine Geschichte, die Nutzung des Gebäudes und seine Architektur. Ihr wurde schnell klar, dass der Fluss als Lebensraum eine Rolle spielen müsse. Und dass sie auch die ehemalige Papierfabrik an der Sihl miteinbeziehen wollte. So entschied sie, verschiedene Flussbewohner als Wasserzeichen – die der Papierherstellung entlehnt sind – auf die Markisen zu drucken und als Motive in die Betonrampe eingiessen zu lassen.

Das sei typisch für ihre Arbeiten, sagt sie, dass sie verschiedene Dinge in einen Kontext stelle und zusammenführe. Darum habe sie wohl keinen wiedererkennbaren Stil. Ihre Kunst sehe immer wieder ganz anders aus.

Reise in die Erinnerung

In der aufgezogenen Schublade eines Planschranks liegt Filmstill an Filmstill, körnige Lichtbilder in matten Farben. Im Kartenständer daneben stapeln sich Postkarten in derselben träumerischen Retro-Optik. Die Bilder hat sie von alten Super-8-Filmspuren abfotografiert. Anfangs von solchen, die ihr Vater gedreht hatte. Als er starb, habe sie plötzlich das Bedürfnis verspürt, Momente ihrer Familiengeschichte festzuhalten. Die digitalen Kompositionen, die sie mittels verschiedener Techniken schafft, leben von Konturen, Farben, Andeutungen, Überlagerungen. «Sie knüpfen bei den Betrachtern an die eigenen Erinnerungen an. Ich nehme die Leute ausgehend von meiner eigenen Geschichte mit auf eine Reise, das gefällt mir.»

Inzwischen verwendet sie oft 8-Millimeter-Filmmaterial anderer Leute. Auch kurze Filmchen kreiert sie daraus, Sequenzen in Zeitlupe. Einmal schuf sie aus stehenden Bildern einen Animationsfilm. Durch aufwändiges Ausprobieren musste sie erst einen Rhythmus und eine Bildsprache finden. Ein befreundeter Regisseur, der ihr das dafür benötigte Computerprogramm erklärte, war perplex: Was sie gemacht habe, schaffe er mit seinem Team zu fünft.

Wenn eine Arbeit beendet ist, räumt sie diese beiseite. Sie hat keine Probleme, sich von ihren Werken zu trennen – nur zwei Bilder gebe es, die könne sie nicht verkaufen. «Weil ich sie so wahnsinnig gelungen finde», sagt sie, und geht nach hinten ins Lager. Eines der beiden Gemälde hänge bei ihr zu Hause, aber sie habe ein zweites, ganz ähnliches gemalt. Sie sucht eine Leinwand heraus, eine Muttersau mit ihrem herumwuselnden Wurf in Acryl. Eine Szene, die sich ihr als kleines Kind auf einem Spaziergang einbrannte. «Eine starke Erinnerung.» Sie zieht eine weitere Leinwand aus dem Regal, leuchtend rote Geranien vor einem Fenster in Italien, über die sich ein Vorhang blasser Fäden gelegt hat. «Kurz vor dem Gewitter leuchteten die Farben so intensiv. Und dann kam der Regen.» Wenn etwas zu schön sei, glaubt sie, müsse man es brechen. Auch die dunkle Seite hervorheben.

Corona, und was dann kommt

Mit der Corona-Pandemie begann Anfang des vergangenen Jahres für viele Künstlerinnen und Kulturschaffende eine lange Durststrecke. Auch für Andrea Nottaris war es anfangs schwierig.

Ich hatte schon vorher eine künstlerische Krise, aber der Lockdown gab mir den Rest. Es löschte mir total ab, als ich meine Ausstellung im Mokka-Rubin in Olten verschieben musste und es hiess, dass gewisse Berufe jetzt systemrelevant seien und andere nicht. Da dachte ich, es ist eh alles für die Katz’, was ich mache. Ich hinterfrage mich ja ständig: Braucht es mich überhaupt, was mache ich da eigentlich, es ist ein ständiges Rauf und Runter. Erst als klar war, dass meine Ausstellung doch noch stattfindet, konnte ich wieder arbeiten. Da hatte ich wieder ein Ziel.

Die Vernissage sei dann gut gelaufen, sagt sie.

Über 50 Leute kamen, die waren überglücklich, dass sie etwas anschauen durften. Da habe ich gemerkt, dass meine Arbeit doch wichtig ist. Ich weiss aber nicht, wie es gewesen wäre, wenn ich nichts verkauft hätte. Früher habe ich es noch besser ausgehalten, wenn ich nicht wusste, ob Geld hereinkommt.

Eine der Unwägbarkeiten, mit welchen sie in ihrem Beruf leben muss.

Es gibt finanziell gute und schlechte Jahre. Wenn es gut läuft, gebe ich das Geld auch aus, dann kaufe ich mir die coolen Schuhe im Schaufenster eben. Unsichere Zeiten bin ich gewohnt. Ich habe aber auch einen Partner, der mir aushelfen kann, er ist selbständiger Bauingenieur. Es gab auch schon Situationen, in denen ich meine Rechnungen nicht bezahlen konnte. Eigentlich lebe ich von der Hand in den Mund, ich habe nie eine Reserve.


Meine Ausgaben sind aber auch nicht dieselben wie jene von Leuten, die angestellt sind oder in ihrer Freizeit in die Ferien fahren. Ausser ich versaufe das Geld in der Vario Bar (lacht). Die ist direkt bei mir um die Ecke. Da kannst du einfach reinlatschen und triffst immer wen. Das entspricht mir.

Besonders viel Freizeit gönnt sie sich aber nicht. Eigentlich arbeitet sie ständig.

Mit Ferien habe ich mich immer schwergetan, ich bin völlig sesshaft. Zum Reisen fehlten mir immer die Zeit und das Geld, und irgendwie interessiert es mich auch zu wenig. Es kann vorkommen, dass ich drei Jahre einfach durcharbeite. Ich gehe meist nahtlos von einem Projekt zum nächsten und vertiefe mich völlig darin. Das ist gut, weil ich mich so intensiv damit beschäftige, das braucht es auch. Aber langsam spüre ich ein Bedürfnis nach Pause. Mal sein können, nicht im Hinterkopf noch E-Mails schreiben und liefern müssen.

Verglichen mit anderen Künstlern, so scheint es, läuft es jedoch gut für sie in dieser schwierigen Zeit.

Es gab schon Momente, in denen mich die Angst überkam. Ich hatte weniger Grafikaufträge und die Ausstellung war erst einmal abgesagt. Aber dann bekam ich zum Glück den Zuschlag für die Kunst-und-Bau-Arbeit in Zürich, das liess mich aufatmen. Im Herbst habe ich noch ein Kurzfilm-Projekt mit der Kulturstiftung Starrkirch-Wil und eine Ausstellung im Strandbad Thun. Ich bin seit August am Durcharbeiten, für dieses Jahr bin ich ausgebucht. Wie es nächstes Jahr aussieht, weiss ich aber nicht. Das weiss ich nie.

Das verunsichert sie bisweilen.

Es kann sein, dass ich deswegen Panik schieben werde. Es hat immer wieder Jahre gegeben, in denen ich anfing, die Stelleninserate zu lesen, und mir Gedanken machte, wo ich mich bewerben könnte. Aber ich habe es dann immer wieder gelassen, weil ich merkte: Ich habe den EFZ für Keramik-Design und sonst keine Zertifikate vorzuweisen. Ich kann mich gar nirgends bewerben. Dabei bin ich mir für Arbeit nicht zu schade.

Als Rita Weder vor zwei Jahren anrief und sagte, dass sie einen freien Atelierplatz habe, winkte Andrea Nottaris ab: Sie brauche keinen. Nach einem Abstecher in eine Ateliergemeinschaft in Trimbach hatte sie sich vor Jahren wieder in der Berna eingerichtet. Dann schaute sie sich das Studio aber doch an. «Da habe ich gemerkt, es liegt näher, ist komfortabler, und ich bin nicht mehr allein. Es ist zermürbend, sich immer nur mit sich selbst und dem eigenen Zeug auseinanderzusetzen.» Die Entscheidung war schnell getroffen: Sie zog um. Rita, sagt sie, habe ein Gefühl für Farbe und Form. «Es hilft, wenn du das Gspänli fragen kannst. Umgekehrt kann ich auch ihre Sachen anschauen.»

Von ihrem Zeichentisch greift Andrea Nottaris ein Heft mit schwarzem Einband, ein Tagebuch aus ihrer Jugend, jede Seite ist bemalt, viele davon mit dickem schwarzem Filzstift, einige mit Farbe. Schriftzüge, Figuren, Sprechblasen, Muster. Wenn sie Zeit hätte, würde sie gerne wieder mal hinsitzen und zeichnen, einfach aus dem Gefühl heraus. «Aber ich habe es total verlernt, weil ich vieles nur noch am Computer mache. Und ich habe den Kopf nicht frei dafür.» Vor zwei Jahren kaufte ihr Mann ein Haus, in das sie im Moment ihre freie Zeit steckt. «Da gibt es immer irgendwas zu werkeln, das entspannt mich», sagt sie. Und sie kocht sehr gern für Gäste. Bald möchte sie auch wieder einmal mit Freunden essen gehen. Das hat ihr gefehlt.


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