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Gesegnet mit einer Stimme zum Aufwärmen

Ihre Stimme gehört zur Stadt wie der Duft von frischer Schokolade. Nathalie Wenger spielt Gitarre und singt auf der Strasse, auch wenn es sie manchmal Überwindung kostet.
11. Januar 2021
Text: Adrian Portmann, Fotografie/Video: Timo Orubolo

Während die Bise bläst und auf dem Giebel der alten Holzbrücke die Wintergäste aus der Nordsee sich dicht an dicht zu einer Möwenkette versammeln und den Tauben keinen Platz lassen, zieht Nathalie Wenger ihre braune Akustikgitarre aus der Tasche. Man sieht dem Instrument an, dass es nicht nur als Deko in der Wohnung rumsteht. «Ein Geschenk zu meinem elften Geburtstag», sagt Wenger, bevor sie sich in Position bringt und einen ersten Song anstimmt. «The First Cut Is The Deepest» von Cat Stevens. Wengers warme, volle Stimme übertönt den Klang der Gitarre locker. Sie trotzt dem eisigen Wind und wird von den heimwehklagenden Rufen der Möwen begleitet. Während Wenger singt, bleibt hin und wieder jemand stehen, um zuzuhören, andere verlangsamen die Schritte, als wollten sie sich an ihrer Stimme aufwärmen.

«Sie ist besser als Helene Fischer. Von ihr würde ich mir eine CD kaufen.»

Begeisterter Passant beim Vorbeihören

Immer mal wieder zwinkert ihr jemand beim Vorbeigehen zu oder grüsst sie freundlich mit Namen. Wenger, die bis zum Alter von acht Jahren in Olten aufgewachsen war und mit 21 wieder zurück in die Stadt zog, kennt viele Leute hier. Sie sei ein kontaktfreudiger Mensch und mit ihren beiden Kindern lerne sie sowieso ständig neue Leute kennen. Dass man sich kennt in der kleinen Stadt, macht den Auftritt als Strassenmusikerin nicht immer einfacher, sagt sie und schaut dem älteren Herrn auf seinem Rollator hinterher, der zuvor einen kurzen Halt eingelegt hatte, um Wenger ein Kompliment für ihre Stimme zuzurufen. «Sie ist besser als Helene Fischer. Von ihr würde ich mir eine CD kaufen», meint er noch, bevor er sich wieder auf den Weg macht.

Premiere in der Westschweiz

Das erste Mal vor einem öffentlichen Publikum trat Wenger vor fünf Jahren auf. Weg von heimischen Gefilden, in den Sommerferien in der Westschweiz. Im Städtchen von Yverdon-les-Bains setzt sie sich aus einer Laune heraus an einen belebten Platz, beginnt zu singen und verdient sich im Handumdrehen ein paar Franken für die Ferienkasse. «Von dem verdienten Geld konnten wir ein paar Tage überleben. Das fand ich super und es hat mich gepackt.» Zurück in ihrer Heimat wird sie bei ihren ersten Auftritten von einer Kollegin begleitet. «Ich war zu Beginn etwas scheu und kam mir richtig ausgestellt vor», erzählt Wenger, nachdem sie ihren ersten Song auf der Holzbrücke beendet hat und die Gitarre in ihrem Schoss ruht. Mittlerweile hat sie keine Mühe mehr, sich in der Oltner Öffentlichkeit zu präsentieren. «Nur wenn die Leute stehen bleiben und länger zuhören, werde ich noch ein bisschen nervös.»

Meist nimmt die 35-Jährige zum Singen auf der rechten Stadtseite beim Eingang zur Winkelunterführung Platz. «Oft ist meine kleine Tochter dabei und singt ab und zu auch mit. Nach einer Stunde reicht es der Kleinen aber dann auch schon wieder.» Vom Winkel ist es nicht weit bis zum Vögeligarten, in dessen Nähe sie mit ihren beiden Kindern in einer Wohnung lebt. Der kurze Fussweg schont ihre Knie, die sie nicht mehr allzu weit tragen. Wenger hat mit Arthrose in ihren Kniegelenken zu kämpfen. Eine Auswirkung ihres Übergewichts, welches das Leben der freiheitsliebenden Frau zunehmend einschränkt. Deshalb wird sie sich im Februar einer Magenbypass-Operation unterziehen lassen. Die Nahrung gelangt damit nicht mehr durch den Magen, sondern direkt in den Dünndarm. «Das verhindert, dass du zu viel auf einmal isst. Wenn du es trotzdem tust, wird dir schlecht.»

«Mein grösstes Problem ist die Schokolade.»

Nathalie Wenger

Bis sie 24 Jahre alt war, sei sie eine schlanke Frau gewesen, erinnert sich Wenger. Die Gründe für ihr Übergewicht haben mit der Psyche zu tun und mit den Medikamenten, die sie deswegen nehme. Über die Jahre habe sich das Essen zudem zu einer Sucht entwickelt. «Ich habe in meinem Leben nie geraucht, Alkohol getrunken oder Drogen genommen. Mein grösstes Problem ist die Schokolade.» Möglichkeiten, um Gewicht zu verlieren, kennt Wenger einige. Mit unzähligen Diäten habe sie es schon versucht. Vorübergehend habe sie damit auch Erfolg gehabt, anschliessend aber immer wieder an Gewicht zugenommen.

Ebenfalls wegen Wengers lädierten Knien hat sie im vergangenen Jahr zum ersten Mal seit fünf Jahren auf abenteuerliche Sommerferien verzichtet. Normalerweise geht es einmal im Jahr für eine Woche zu Fuss auf Reisen. Zusammen mit Sohn und Tochter sowie der besten Freundin und deren Kindern. Meist ist das Ziel eine Region und nicht ein bestimmter Ort. Die selbstauferlegte Herausforderung: Die Reiselustigen sollen jedes Jahr weniger Gepäck auf ihre Wanderung mitnehmen. «Als wir damit begonnen haben, nahmen wir noch Zelte mit», erinnert sich Wenger an ihre erste Fussreise, die sie von Aarburg an den Neuenburgersee führte. Weil die Zelte zu schwer waren, müssen mittlerweile Schlafsäcke reichen, die es erlauben, irgendwo draussen zu übernachten. «Wenn das Wetter uns einen Strich durch die Rechnung macht, fragen wir bei Leuten am Weg, ob wir den Unterstand in ihrem Garten zum Übernachten nutzen dürfen.» Nicht selten reagierten die Menschen offenherzig und würden die lustige Reisetruppe bei sich im Haus übernachten lassen. Ein stärkendes Nachtessen und eine spannende Begegnung sind dann meist inklusive. Eine Nacht in einer Jugi oder in einem Hotel gab es nie, zumal das Geld dafür ohnehin fehlen würde.

Die USA-Connection

Wenger liebt die Freiheit. «Wenn ich die Wahl hätte, wäre ich immer unterwegs.» Ohne irgendwo angemeldet zu sein, völlig unabhängig, ohne viele Besitztümer, nur mit ihrer Stimme und der Gitarre im Gepäck um die Welt zu tingeln, so liesse es sich nach Wengers Geschmack gut leben. Als die junge Frau aus dem Elternhaus in Neuendorf auszog, erschien ihr Olten, mit dem sie schöne Kindheitserinnerungen verbindet, als idealer Wohnort, um mobil zu sein. Sie besass kein Auto und war ausserdem hochschwanger mit ihrem Sohn. Als sie 21 war, kam er zur Welt. «Ich hatte nie das Gefühl, dass ich zu jung war, als mein erstes Kind geboren wurde. Als junge Mutter hast du noch mehr Nerven, kannst dich besser einfühlen, weil du noch viel näher am Kindsalter bist.» Wengers Tochter kam zehn Jahre später zur Welt und ist heute vier.

Wengers Grossvater war Afroamerikaner. Davon zeugen ihre gekrausten Haare, die «recht mühsam zum Pflegen sind, weil es eine Mischung aus europäischem und afrikanischem Haar ist». Als amerikanischer Soldat lernte ihr Grossvater seine Frau in Deutschland kennen. Die beiden lebten anschliessend in den USA, wo Wengers Mutter zur Welt kam. «Als junge Frau reiste meine Mutter nach Europa, um ihren Wurzeln nachzugehen.» Mit 23 kam sie in die Schweiz und lernte Wengers Vater kennen. Weshalb es die amerikanische Touristin ausgerechnet nach Olten verschlagen hat, weiss Wenger nicht.

«Nun ist meine Grossmutter im September verstorben, und wir haben die Chance verpasst, sie nochmals zu sehen.»

Nathalie Wenger

Letztmals besuchte Wenger ihre Verwandtschaft in den USA vor zehn Jahren. Im Juli 2020 wäre ein Besuch in New Jersey geplant gewesen. Wegen Corona änderte die Familie ihre Pläne und blieb in der Schweiz. «Nun ist meine Grossmutter im September verstorben, und wir haben die Chance verpasst, sie nochmals zu sehen.» Sobald das Reisen wieder möglich ist, möchte Wenger mit ihren Kindern nach Virginia fliegen, wo Onkel und Tanten ihrer Mutter leben. Was Wenger bedauert: Zuhause wurde nur selten Englisch geredet. Sie hat die Sprache nie richtig gelernt. «Meine Mutter ist sprachbegabt, sie hat innerhalb eines Jahres Schweizerdeutsch gelernt. Sie gab sich Mühe, Englisch mit uns zu sprechen, fiel aber immer wieder ins Schweizerdeutsche zurück.»

Gott ist ihr Star

Wenger wurde in die Freie Christengemeinde «hineingeboren», wie sie sagt. Während sich der Vater in der Zwischenzeit abgewandt habe, seien Mutter, Schwester und sie Mitglieder geblieben. Am Sonntag um 10 Uhr besucht sie in der Regel die Messe an der Leberngasse. Zusätzlich werden Hauskreise veranstaltet, wozu sich Mütter und ihre Kinder in der Gemeinde treffen. «Wir reden, beten und singen gemeinsam.» Auch auf der Strasse streut Wenger hin und wieder christliche Lieder in ihr Set. «Mit diesen Liedern kann ich etwas weitergeben. Ich bin nicht jemand, der die Leute auf der Strasse überreden will, gläubig zu sein, aber meine Musik kann manchmal ein Schlüssel sein zu einem Gespräch über Gott und die Welt.»

Im Unterschied zu anderen christlichen Kirchen wird bei der Freien Christengemeinde Maria, die Mutter Jesu, nicht als Heilige angebetet. «In der Bibel heisst es, dass sie zwar auserlesen ist von Gott, sie aber eine normale, irdische Frau sei», erklärt Wenger. Auf die Frage, ob sie denn regelmässig in der Bibel lese, muss sie lauthals lachen. Niemand schreibe ihr vor, wie oft sie das zu tun habe. Die Bibel liege zu Hause aber immer in Griffweite und der Glaube gebe ihr sehr viel. «Ich merke, dass vieles einfacher ist, wenn man eine tiefe Beziehung mit Gott hat.» Wenn man einen Menschen um Rat fragt, sei man nie sicher, ob er recht habe. «Bei Gott weiss ich, dass er immer recht hat. Er ist wie ein guter Freund, der möchte, dass es mir gut geht.» Auch Zeiten des Zweifels kennt Wenger. Ein solcher Moment erlebte sie vor einigen Jahren, als der Sohn ihrer Schwester bei der Geburt verstarb. «Auf gewisse Fragen finden wir als Menschen keine Antworten, das gehört zum Leben wohl dazu.» Die Kirche ist ein beständiger Teil in Wengers Leben. Als 19-Jährige habe sie sich aber kurzzeitig von der Gemeinschaft entfernt, weil sie damals ein Leben führte, dass mit den Grundsätzen der christlichen Gemeinde nicht viel zu tun gehabt habe. «Zu dieser Zeit hielt ich mich nicht dafür, die Gottesdienste weiter zu besuchen.» Eine falsche Hemmung, wie sie im Rückblick findet.

«Damals war mir klar, dass ich meine Lehre abbrechen muss, wenn ich für mein Kind da sein will.»

Nathalie Wenger

Wenn Wenger auf der Strasse singt, verdient sie damit immer auch etwas Geld. «Es läuft ganz gut.» Ein kleiner finanzieller Zustupf zum schmalen Budget. Als junge Frau absolvierte Wenger zwei Praktika und begann anschliessend eine Lehre als Kleinkindererzieherin. Eineinhalb Jahre später wurde sie schwanger. «Damals war mir klar, dass ich meine Lehre abbrechen muss, wenn ich für mein Kind da sein will.» Diesen Entscheid habe sie nie bereut, obwohl sie es heute bedauere, keinen Lehrabschluss gemacht zu haben. Als ihr Sohn ein bisschen älter war, besuchte sie eine Ausbildung zur Spielgruppenleiterin. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin leitete sie anschliessend während fünf Jahren eine Spielgruppe in Olten und Zofingen, später kümmerte sie sich als Tagesmutter um die Betreuung von Kindern. Wengers Plan: Sobald sie gesundheitlich wieder fitter ist, möchte sie wieder mit Kindern arbeiten und eine neue Spielgruppe eröffnen.

Wengers Stimme werden wir dann hoffentlich immer noch vernehmen dürfen. Sie mache Musik, seit sie sich erinnern könne. Nur einmal in ihrem Leben sei ihre Stimme verstummt. «Nach der Geburt meiner Tochter fiel ich in eine postnatale Depression. In dieser Zeit fehlte mir die Kraft für die Musik.» Heute geht es Wenger gut und in Zukunft will sie noch häufiger vor Oltner Strassenpublikum auftreten. Sängerin einer Band zu sein, das kann sie sich dagegen nicht vorstellen. «Ich mach gern mein eigenes Ding und bin lieber alleine beim Singen.» Auftritte an Hochzeiten hatte sie bereits – etwas, das sie gerne öfters machen würde. Bei einer Talentshow im Fernsehen würde sie sich aber «nie im Leben» anmelden. «Ich bin viel zu schüchtern für die grosse Bühne.» Ob sie sich denn eine Teilnahme vorstellen könne, wenn jemand anders für sie die Anmeldung übernähme? Schwierig zu beantworten, meint sie zögernd. Womöglich sollte das einfach jemand für sie erledigen, denkt man sich, während die Frau mit der wunderbaren Stimme das nächste Stück anstimmt und den Vorübergehenden mit «I Swear» einen zwischenzeitlich in Vergessenheit geratenen Ohrwurm aus den 90er-Jahren mit auf den Weg gibt.


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