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«S Lotti ghört eifach ine Bar!»

Wer «chez Lotti» im Café Vaudois einkehrt, kommt in den Genuss des angeblich besten Tatars in Olten. Und trifft auf eine Frau, die für ihre Bar und ihre Gäste alles gibt. Liselotte Scognamiglio, kurz Lotti, zelebriert die italienische Gastfreundschaft.
3. Juni 2021
Text: Isabel Hempen, Fotografie: Timo Orubolo

Aus dem Radio dudelt «Listen to your heart» von Roxette und Lotti bereitet hinter dem Tresen ihr stadtbekanntes Tatar zu. «Jetzt habe ich das erste Mal seit Tagen wieder warm bekommen», sagt sie mit Blick nach draussen. Es ist halb vier Uhr nachmittags, die Sonne scheint und es verspricht ein wunderbarer Nachmittag zu werden. Noch sind die Terrasse und der darunterliegende Garten des Café Vaudois menschenleer. «Willst du auch einen Waadtländer?», fragt Lotti, greift eine Flasche aus der Getränkelade und giesst Weisswein in ein Glas. «Auf bessere Zeiten, auf den Juni!», ruft sie aus und hebt ihr Glas in die Höhe. «Der Kontakt mit den Menschen hat mir so gefehlt während Corona.»

Liselotte Scognamiglio, die von allen einfach Lotti genannt wird, ist in ihrem schwarzen Kleid, der transparenten Bluse mit Leopardenmuster, den schicken silbernen Sandalen mit Absatz und dem Make-up bestehend aus rotem Lippenstift und Mascara eine Erscheinung wie aus den 1980er Jahren. Als gelernte Service-Fachfrau bediente sie über 30 Jahre lang die Gäste in der legendären «Felsenburg» in Olten, bevor sie sich vor acht Jahren mit dem Café Vaudois selbständig machte. Später an diesem Nachmittag wird sie nebenbei bemerken, dass sie dieses Jahr 60 wird. 

Paul Zorzin, Schwiegersohn des verstorbenen «Tigers», dem das Café Vaudois und die darüberliegende Waadtländerhalle gehörte, hatte sie angefragt, ob sie die Bar übernehmen wolle. Wer es nicht probiert, kann nicht auf die Nase fallen, dachte sie und sagte nach einigem Überlegen zu. Als sie am 13. Januar 2013 startete, sei gerade Hilari und die Bar «prätschvoll» gewesen, erzählt Lotti. So habe sie gleich von Anfang an erlebt, was es bedeute, eine Bar zu führen – ihre eigene Bar. Und sie liebt ihn, diesen Stress, wenn das Lokal voll ist. Wenn wenig los ist, wird sie nervös.

«Ich gehe mal eins rauchen, hier drin darf ich ja nicht», sagt Lotti, stellt sich draussen ans Geländer und blickt hinab auf die Aare und in das Gärtchen, das sie selbst angelegt hat. Es ist nicht bedient, aber Lotti ruft jeweils von der Terrasse herunter, ob jemand noch etwas möchte. Oder aber die Gäste kommen hinauf in die Bar zum Bestellen. Kurz nach vier Uhr werden die ersten von ihnen auftauchen, hungrig nach lang ersehnter Gesellschaft, nach Gesprächen und Tatarbrötchen.

Thierry vom Schweizer Fernsehen tritt ebenfalls auf die Terrasse. Er hat Lotti in der Bar gefilmt und bittet sie nun ins obere Stockwerk. Die Aufnahmen werden in der Sendung «Geboren am … » zu sehen sein, für die jeweils drei Menschen porträtiert werden, einer davon eine prominente Schweizer Persönlichkeit, die am selben Datum geboren wurden. Lottis Lebensgeschichte wird neben jener von SP-Nationalrätin Jacqueline Badran stehen. «Als ich vom SRF angefragt wurde, lief es gleich wie mit meiner Bar. Ich überlegte es mir und dachte: Wieso auch nicht», sagt Lotti, als sie die Treppe wieder herabkommt. Zurück am Tresen, giesst sie sich ein zweites Glas Wein ein.

Den ganzen Tag lang seien die Leute vom SRF bei ihr zu Hause in Oensingen gewesen, wo sie, die in Olten aufwuchs, seit den 1980er Jahren lebt. Die Sendung soll am 30. Juli ausgestrahlt werden und wird die prägendsten Momente ihres Lebens nachzeichnen, während sie heute nur zwischen Tür und Angel erzählen kann. Denn auf der Terrasse setzt sich gerade ein älteres Paar an einen Tisch, und es wird nicht lange allein bleiben.

Dolce far tutto

 «Jetzt muss ich die Sch…maske wieder anziehen, wird etwa Zeit, dass das aufhört», murmelt Lotti, stülpt sich einen schwarzen Mund-Nasen-Schutz mit pinkem «Café Vaudois»-Aufdruck über und geht hinaus. «So, was hättet ihr gerne?», begrüsst sie die Eingetroffenen, die beide Outdoor-Look tragen. «Ein Espresso, ein Kafi nature und ein Mineral», notiert sie. «Wart ihr wandern?»

Der Kaffee strömt aus der Maschine, Lotti stellt ein rotes Tablett bereit, darauf zwei Kaffeetassen, zwei Gläser, eine Mineralflasche. «Alles schön, wie es sein muss», sagt sie zu sich selbst und setzt die Maske wieder auf. Sie lädt die Getränke am Tisch des Paares ab. «Du hättest gerne ein Thonbrötli? Und du, Ruedi? Auch ein Thonbrötli? Schon schönes Wetter, nicht wahr? Heute ist erst etwa das dritte Mal diesen Monat, dass ich geöffnet habe», sagt sie. Noch ist Mai, noch darf sie ihre Gäste wegen der Corona-Pandemie nur draussen auf der Terrasse bedienen.

Wie die meisten, die ins Café Vaudois kommen, sind auch diese beiden Stammgäste. Wer einmal «chez Lotti» war, vergisst die Frau nicht mehr. Und kommt immer wieder. Die Geschäftsführerin ist ein bisschen stolz darauf, dass die Leute den Namen ihres Lokals gar nicht nennen, sondern einfach «zum Lotti» gehen. Das liegt wohl an ihrer direkten, aber herzlichen Art, mit der sie ihre Gäste spüren lässt, dass sie willkommen sind. «Sie sollen sich fühlen, als würden sie nach Hause kommen», sagt sie.

Bevor Lotti Barfrau wurde, führte sie als Gemeinderätin zehn Jahre lang das Oensinger Baudepartement. «Dann habe ich mich scheiden lassen und musste mehr arbeiten», bemerkt sie, doch das sei eine andere Geschichte. Erst trat sie der Sozialhilfekommission der Gemeinde bei, weil sie der Meinung war, dass man nicht immer nur meckern dürfe und selbst etwas tun müsse. Dann liess sie sich auf Drängen des FDP-Präsidenten für die Wahl in den Gemeinderat aufstellen. «Das erste Mal reichte es nicht, weil die Frauen mich rausstrichen. Sie fanden mich zu schillernd, das hat man ja nicht so gern.» Beim zweiten Mal wurde sie gewählt, als einzige Frau neben acht Männern. «Ellbögle» habe sie schon früh gelernt, das habe sie nicht eingeschüchtert. Die Zeit im Gemeinderat sei eine interessante Erfahrung gewesen: «Du musst Interesse haben und offen sein für Neues.»

Draussen hat sich am Nebentisch eine Frau mit Sonnenbrille hingesetzt. Sie trägt ein silbernes Oberteil mit Glitzersteinen und ihre kurzen Haare schimmern in einem dunklen Rot. «Hoi Luana», sagt Lotti, «was trinkst du?» Luana ist Lottis Tochter. Sie unterhält sich mit dem Paar neben ihr, während Lotti drinnen einen Kaffee zubereitet. «Geht’s gut? Seid ihr gut durchgekommen bis jetzt? – «Wir waren vorgestern impfen.» – «War alles in Ordnung oder seid ihr flachgelegen?» – «War nicht schlimm.»

Lotti war 24, als sie Mutter wurde. Ihr Sohn Nico ist 37, Tochter Luana ist 29 Jahre alt. Mit ihrem ersten Mann, einem Italiener aus Napoli, betrieb sie in jungen Jahren eine Tankstelle in Oensingen, sie zapfte Benzin und machte das Büro. Sie liebt Italien und die Schweiz, «da kann ich die Sprache und mag das Essen, mehr brauche ich nicht.» In beiden Ländern verbringt sie gerne ihre Ferien, wenn sie denn einmal welche hat, die letzten sind fünf Jahre her. Woandershin hat es sie nie gezogen.

Im Café Vaudois macht Lotti alles allein, nur ab und zu hilft ihr Partner aus. Sie öffnet ihre Bar jeweils von Mittwoch bis Samstag ab vier Uhr nachmittags. Wenn gerade nicht Corona ist, schliesst sie um halb ein Uhr nachts, dann putzt sie noch eine Stunde, macht die Kasse und fährt heim nach Oensingen. Sie ist es gewohnt, ein Nachtmensch. «Aber wir werden alle nicht jünger», sagt sie. «Nach einer strengen Woche willst du am Sonntag einfach nichts mehr machen.»

Das Restaurant, das sie nie hatte

Lotti bringt Thonbrötli an den Tisch des Paares, die Zwiebelringe und die Kapern sind hübsch darauf arrangiert. Weiter hinten hat sich ein älterer Mann an einen Tisch gesetzt, Lotti geht zu ihm hinüber und begrüsst ihn: «Hoi!»

Am liebsten mag Lotti an ihrer Bar, dass sie so klein ist. «Da bist du nie lange allein, man kommt schnell ins Gespräch», sagt sie. Sie bedauert einzig, dass sie keine Küche hat: «Weil ich eigentlich sehr gerne kochen würde.» Um zu den Getränken doch etwas anbieten zu können, machte sie von Anfang an Tatarbrötli – und die schlugen voll ein. Heute kommen die Leute zu ihr, um «em Lotti sis Tatar» zu essen. Auch frische Thon- und Eibrötli kann man bei ihr bestellen.

Lotti bereitet ein Plättli zu, Salami, selbst marinierte Oliven, etwas Brot. «Zum Wein dazu, wie in Italien», sagt sie, die gerne die italienische Gastfreundschaft zelebriert. Für geschlossene Gesellschaften hat sie schon verschiedentlich Buffets ausgerichtet, ein Pastabuffet mit selbstgemachten Teigwaren und verschiedenen Saucen oder ein Buffet mit italienischen Antipasti etwa. Sie kocht die Gerichte zu Hause und bringt sie dann her. Während der Chilbi gibt es bei ihr Hamburger und im Winter serviert sie Fondue in einem Zelt auf der Terrasse. «Aber es nützt halt alles nichts, es ist eine Bar und kein Restaurant», sagt sie mit leisem Bedauern. Lange spielte sie mit dem Gedanken, selbst einmal ein Restaurant zu eröffnen, die Wirteprüfung legte sie schon 1990 ab. Doch dieser Traum wird sich nicht mehr erfüllen. Dafür sei es zu spät.

Das Telefon klingelt. «Ist gut, wenn ich euch ein Tischchen am Geländer gebe? Könnte sein, gäll. In einer halben Stunde. Nehmt ihr Tatar? Weisst du, damit ich vorbereiten kann. Ok gut, bis später. Tschüss, Sara.»

Zwei gutaussehende blonde Frauen mittleren Alters kommen die Treppe herauf, «lange nicht gesehen!», sagt die eine zu Luana. Sie setzen sich zu ihr, Lotti kommt heraus und begrüsst sie, ob sie gerne einen Yvorne, Arneis oder Verdejo hätten? «Und könnt ihr euch noch einscannen?» Die beiden Frauen sind von Subingen hergefahren, die eine, die Sandra heisst, ist eine gute Freundin von Lotti. Ihre Begleiterin Geneviève stellt fest: «Ich war noch gar nie in Olten!»

Sandra aus Subingen erzählt, dass Lotti ab und zu in ihrer Boutique einkaufe, die beiden hätten sich vor acht Jahren am Oensinger Zibelimäret erstmals gesehen. «Ich habe dort im Fischerzelt serviert und dachte nur: Wow, die Frau hat Sexappeal.» Sie hätten sich dann über eine gemeinsame Bekannte kennengelernt, und von Anfang an habe sie ihre offene und direkte Art geschätzt. Und lustig sei sie auch. «Wenn Lotti aber etwas enttäuschend findet, dann macht sie das viel trauriger als andere Menschen, weil sie von sich aus so viel gibt», sagt sie. Etwa zweimal im Jahr besuche sie Lotti in Olten. «Ich kenne niemanden, der besser in eine Bar reinpasst als sie», ruft sie aus. «S Lotti ghört eifach ine Bar!»

Lotti derweil steckt Toastscheiben in den Vierertoaster, platziert eine Pfeffermühle und Besteck auf einem Tablett. Der Toast springt aus der Maschine. «Siehst du, jetzt fängt es an. Der Prosecco ist leer, ich muss Brötli zubereiten, den Wein aufmachen, es fehlen immer Hände. Entweder läuft nichts oder alles miteinander.»

Das Leben anpacken, wie es kommt

Die Terrasse ist voll besetzt, Lotti macht sich schon wieder daran, Tatar zuzubereiten. «Sie da draussen hat schon böse geschaut, weil sie ihr Tartar noch nicht hat. Dabei ist es wegen ihr so lange gegangen, weil sie es nicht scharf haben wollte», sagt sie und mischt Gewürze unter das rohe Fleisch. Aber wirklich böse ist sie nicht.

Wenn sie mal ein Tief hat, denkt sie, dass sie gerne irgendwo an einem Pool liegen würde, und könnte sie nochmals entscheiden, würde sie wegen des guten Lohns vielleicht Anwältin werden wollen. Das seien aber stets nur Sekundengedanken, sagt sie. Sie bereue nichts. «Das Wichtigste ist, dass du Freude hast und hinter dem stehst, was du tust.» Ein Gast kommt herein, drückt ihr eine Zehnernote in die Hand, «Tschüss Lotti.» – «Tschau Urs.»

Dankbarkeit und Genügsamkeit hat sie von ihrem Vater gelernt. «Es kommt alles, wie es muss», davon ist sie überzeugt. Ihre Eltern seien ein Leben lang auf dem Zweigangtöffli durch die Stadt gefahren. Sie ist das mittlere von drei Geschwistern, hat eine schöne Kindheit erlebt und eine gute Schulzeit. «Wir hatten wenig und doch alles.

«Siehst du, jetzt komme ich nicht mehr zum Tippen. Ich habe alles im Kopf, jeden Tisch, alles ist abgespeichert. Ich könnte mir die Zeit dafür nehmen, aber dann müssen die Gäste länger warten. Ich sollte schon seit einer Ewigkeit Tatar rausbringen, aber ich komme einfach nicht dazu.» Lotti geht hinaus, schenkt einer Frau Mineral ein, diese streichelt ihr über den Arm. Sandra und Geneviève essen Tatar. «Es isch genau richtig scharf», sagt Geneviève, und Lotti erwidert: «Scharf wie s Lotti, ned zvill, ned zwenig!»

Aus dem Konzept kann Lotti nichts bringen. «Ich gehe runter, aber ich komme immer wieder hoch», sagt sie. Der Hirnschlag ihres Bruders sei schlimm gewesen für sie. «Und die Scheidung, das war für mich ein Versagen.» Aber sie hat Vertrauen ins Leben, Ängstlichkeit kennt sie nicht. Wenn irgendwo etwas los ist, ist sie dabei. «Es gibt Leute, die haben immer was vor, sind müde oder haben da und dort ein Leiden. Logisch habe ich auch immer Schmerzen. Aber zum Nichtstun ist das Leben zu kurz.»

Manchmal kommen die Leute noch morgens um eins und fragen, ob sie noch ein Thonbrötli kriegen. Wenn Lotti die Person kennt, und das tut sie meistens, sagt sie: «Okay, ich mache dir noch eins», selbst wenn sie schon alles geputzt hat.

«Ou Liselotte, hast du mir schnell das Feuer», bittet Sandra, und Lotti reicht ihr ein Feuerzug, bevor sie weitergeht an den hintersten Tisch, wo sie sich zu den Gästen setzt. Nach einer Weile ruft die Dame neben ihr: «S Lotti isch sone Schöni!» Sämtliche Gäste auf der Terrasse drehen sich zu ihr hin, pflichten lauthals bei, applaudieren. Nur Lotti wirkt etwas verlegen.


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