«Es ist unser aller Stadtparterre»
Christina Schumacher, zuerst müssen Sie uns erklären: Was macht eine Soziologin am Architekturinstitut?
Das ist tatsächlich auch vielen ArchitektInnen und PlanerInnen nicht so klar. Aber es macht Sinn: Die Zeiten, in denen man einfach auf der grünen Wiese oder einem grossen Industrieareal bauen konnte, sind vorbei. Unsere Gesetze verlangen, Dörfer und Städte nach innen zu entwickeln. Und je mehr Menschen auf gleichem Raum leben, desto mehr kann die Soziologie mithelfen, das Zusammenleben gewinnbringend zu gestalten.
Gewinnbringend?
Nicht im monetären Sinn. Was ich meine: Heute plant man praktisch immer in einem vorhandenen Bestand. Und Bestand ist nie nur räumlicher Bestand, sondern auch gesellschaftlicher, kulturellerer, historischer. Da braucht es Sorgfalt und jemanden, der die Interessen auseinanderdröselt; jemanden, der schaut, wie man die verschiedenen Interessen abholen und einbeziehen kann.
Dass es Sie braucht, bedeutet im Umkehrschluss, dass unsere ArchitektInnen zu wenig sozial denken?
Die ArchitektInnen, denen ich begegne, verfügen sehr oft über eine hohe Sensibilität für Sozialverträglichkeit – aber diese ist nicht ihr primäres Interesse. Raum- und Bauplanung sind längst interdisziplinäre Fachgebiete geworden. Aber was man noch zu selten fragt: Wer kann was genau beitragen? Dies finde ich aus der Perspektive der Soziologie gerade heraus.
Sie haben unter anderem zur Nutzung von Erdgeschossen geforscht. Welche Bedeutung hat das Erdgeschoss in einem Dorf- oder Stadtzentrum?
Plakativ gesagt: Das Erdgeschoss ist die grundlegende Ebene. Es befindet sich auf unserer Sichthöhe. Dementsprechend hat es eine sehr grosse Bedeutung. Und es ist sehr variabel einsetzbar: es kann öffentlich – etwa als Bibliothek –, halböffentlich – als Café oder Laden – oder auch privat genutzt werden.
Warum ist es für uns eine emotionale Angelegenheit, wenn ein Ladengeschäft im EG leer steht?
Das EG ist sozusagen unser aller Stadtparterre. Es ist ein Raum, in dem die Übergänge von öffentlich zu privat oft fliessend sind. Veränderungen nehmen wir sofort wahr. Zudem wurde an den Architekturschulen jahrelang gepredigt, halböffentliche und öffentliche EG seien die einzige Möglichkeit, um für ein attraktives Stadtleben zu sorgen. Daran haben wir uns gewöhnt.
Und heute?
Heute macht das nur noch bedingt Sinn. Lange war es Standard, im gleichen Haus zu wohnen und zu arbeiten. Heute sind die Belebung der Erdgeschosse und jene der oberen Etagen zwei verschiedene Angelegenheiten. Und wir können nicht mehr jedes EG öffentlich beleben.
«Nicht jede Ladennutzung im EG ist automatisch eine, die eine angenehme Öffentlichkeit schafft. Es gibt auch viele gesichtslose Geschäfte.»
Können Sie das näher ausführen?
Häufig reicht es, wenn an der Ecke einer Bebauung ein Kiosk, eine Beiz oder eine Bäckerei einquartiert sind. Was darüber hinaus geht, funktioniert wirtschaftlich in den meisten Fällen nicht mehr. Das hat es aber auch früher nicht: Es waren immer die Liegenschaften an Strassenecken, die ein öffentliches EG hatten. Das lückenlose Öffentlichmachen des EG wäre hingegen eine undifferenzierte, nutzlose Geste.
Was braucht es denn wirklich, damit man sich wohlfühlt in einer Innenstadt?
Das Leben muss spürbar sein, wenn man langsam verkehrt. Ich bin gerne dort, wo ich etwas Spannendes sehen, hören, riechen kann. Das ist auch der Grund, warum man die Frage nach der EG-Nutzung trennen sollte vom Problem des Lädelisterbens.
Das müssen Sie erklären.
Nicht jede Ladennutzung im EG ist automatisch eine, die eine angenehme Öffentlichkeit schafft. Es gibt auch viele gesichtslose, unlebendige Geschäfte. Mit Aufenthalts- oder Transitqualität hat das nicht immer so viel zu tun.
Und doch ist das Lädelisterben ein akutes Problem, auch in Olten. Aktuell sind es im Kern der Innenstadt handgezählt sechs leerstehende Lokale, zwei weitere werden für eine neue Nutzung umgebaut.
Das Lädelisterben zeigt: Was wir brauchen, sind Passantenströme. Diese müssen wir irgendwie wiederherstellen. Die Leute sollen sagen können: Ich gehe lieber in die Stadt, die mir eine Qualität bietet, welche ich beim Online-Shoppen daheim nicht erhalte. Und das können wir nicht allein durch öffentliche Erdgeschosse erreichen, sondern durch die Gestaltung der Zwischenräume.
Also ist nichts Falsches dabei, wenn ich in einem Schaufenster eine Wohnung einrichte?
Nicht, wenn Sie sich der Konsequenzen bewusst sind. Sie müssen sich im Klaren darüber sein, dass PassantInnen hineinschauen wollen und dürfen damit kein Problem haben. Ziehen Sie dann einfach immer den Vorhang zu, entstünde bloss ein weiteres unattraktives EG. Aber eine Wohnung ist sicher die viel bessere Nutzung, als wenn die Fläche leer stünde.
Welche Effekte löst ein leeres Schaufenster aus?
In erster Linie macht uns das Sorgen. Denn wir wissen genau: Das zweite und das dritte leere Lokal folgt sofort. Deshalb muss man ganz schnell reagieren. Die LiegenschaftsbesitzerInnen können das mit Solidarisierung erreichen, indem sie sich zusammenschliessen.
In Olten passiert genau das: «Gewerbe Olten» hat die Initiative «Olten GO» gegründet, unter anderem mit dem Ziel, ein übergeordnetes Ladenflächenmanagement einzuführen. Was halten Sie davon?
Das halte ich für eine gescheite Massnahme. Denn schon lange ist klar, dass das EG keine Cash Cow mehr ist, sondern es an vielen Lagen quersubventioniert werden muss. Gleichzeitig muss man Leerstände sofort beheben, etwa mit kreativen Zwischennutzungen oder Pop-up-Gastronomie. Es braucht schnelle Reaktion – und halt auch den langen Atem. Und das geht besser zusammen statt alleine.
«Schon lange ist klar, dass das EG keine Cash Cow mehr ist, sondern oft quersubventioniert werden muss.»
Worauf achten Sie, wenn Sie durch eine Stadt wie Olten gehen?
Schon zuerst auf die Erdgeschosse. Wie gross ist in den Erdgeschossen der Anteil an öffentlicher Nutzung? Und dann auf den Verkehr. Ich bin mit öV und zu Fuss unterwegs. Muss ich ständig aufpassen, oder kann ich mich frei bewegen? Gibt es öffentliche Plätze oder Grünflächen? Wo kann ich draussen ohne Konsumationszwang verweilen? In den Ferien schaue ich mir auch immer die Aussenquartiere einer Stadt an.
Wimmelt es dann vor Verbesserungsideen in Ihrem Kopf, oder beobachten Sie die Umgebung wertfrei?
Die Architektur begutachte ich durchaus, aber eher nebenbei. Ikonische Bauten etwa interessieren mich überhaupt nicht. Vielmehr, ob die Räume den Menschen entsprechen oder nicht, und ob es genügend Pufferzonen gibt.
Was sind Pufferzonen?
Räume, die abgrenzen: Das, was zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum ist. Sie sind essenziell für unser Wohlbefinden in einer Stadt. Das kann zum Beispiel ein Vorgarten sein oder ein möbliertes Trottoir. Dabei geht es gar nicht um die reellen Besitzverhältnisse.
Sondern?
Um das Empfinden, um die Wahrnehmung des Stadtparterres als halböffentlichen Raum. Nehmen wir das Hochparterre als Beispiel. Das private Wohnen, das nicht ganz bis auf die EG-Ebene hinuntergeht, sondern leicht erhöht bleibt und so nicht von Blicken der Öffentlichkeit tyrannisiert wird. Das lässt ebenfalls sehr angenehme Räume entstehen.Die Häuser müssen einander genügend Freiraum lassen. Ich nenne das «Platz zum Atmen». Das kann auch mit Details erreicht werden, etwa einer schönen Uhr an der Fassade, Blumenkästen unter dem Fenster oder Fensterläden statt Rollladen. Das sind schöne Gesten, die ein Haus der Öffentlichkeit schenken kann.
Wie sorge ich für Attraktivität, wenn ich nicht viel Geld habe?
Einfach gesagt: Indem Sie dem Raum einfach Sorge tragen und ihn über Ihre eigene Fassade hinaus wertschätzen.
Und wie, wenn ich Geld beiseite gelegt habe und investieren will?
Das ist eine Aufgabe, die man im Kollektiv lösen muss. Die InvestorInnen müssen zur Gestaltung des öffentlichen Raums beitragen, weil sie selber davon profitieren. Als Beispiel kann man die zwei grössten Neubauprojekte nehmen: Auf der Website von «Olten SüdWest» lese ich von einer «lebendigen Vielfalt», beim «Aarepark» heisst es, man befinde sich «mitten in der pulsierenden Stadt». InvestorInnen, die solche Worte benutzen, müssen sich bewusst sein, dass sie eine Mitverantwortung tragen, die Stadt zu dem zu machen, was sie beschreiben.
Kennen Sie positive Beispiele aus anderen Schweizer Städten?
Bei aller Kritik, die man an der Zürcher Europaallee üben darf: Der Mix wurde dort sehr gut gelöst. Die SBB haben eine Firma angestellt, die das Angebot im EG kuratiert. Die Mietflächen wurden also nicht einfach ausgeschrieben, sondern die Firma ging aktiv auf interessante Kleingewerbe und ProduzentInnen zu. Den SBB war auch bewusst, dass diese zu normalen Mietpreisen nicht zusagen würden, deshalb setzten sie ein abgestuftes Mietzinsmodell ein. Tiefe Einstiegsmieten, später zahlt man mehr. Zudem wurden viele kleine Lokale gebaut statt nur sehr grosse, die sich nur die grossen Ketten leisten könnten. Und zuletzt gibt es Pop-up-Flächen, in denen das Angebot stetig wechselt. Da bleibt man als PassantIn auch über längere Zeit neugierig und schaut immer wieder einmal rein.
Was machen die Kleinen besser als die grossen Ladenketten?
Sie kreieren ein persönliches Erlebnis. Früher hat man mit der Marktfrau einen Schwatz abgehalten. Wenn ich mein Stammgeschäft gehe, spreche ich manchmal auch über anderes als über das, was ich einkaufen will. Das Internet kann dies nicht ersetzen. Und gleichzeitig hat man doch eine angenehme Unverbindlichkeit: Die Geschäftsführerin im Buchladen ist ja nicht meine Freundin, ich muss nicht zu ihr gehen, aber wenn ich möchte, erhalte ich dadurch eine persönliche Verortung in meiner Stadt. Daran muss das Gewerbe ein Interesse haben: den Menschen ein Stück Identität zu geben.
Und was ist der Part der Stadtverwaltung? Wie sehr soll sie sich in die gewerbliche Stadtgestaltung einmischen?
Meiner Meinung nach sehr. Nicht, um mühsam zu regulieren, sondern um die grosse Chance zu nutzen, die gerade Olten hätte: Es ist kleinräumig, hat eine Eisenbahner- und Arbeitertradition. Man kennt sich, mag den direkten Draht zueinander und kann so eher unkompliziert gemeinsam an einen Tisch sitzen und kreative Ideen diskutieren als beispielsweise in Zürich.
Welche Branchen haben Zukunft im Stadtzentrum?
Alles, was man vor Ort besuchen muss. Personenbezogene Dienstleistungen wie Optiker, Hörgerätespezialist, Yogastudios. Sport generell, der wird sich nie digitalisieren lassen. Oder auch ein Schmuckgeschäft, das individuell berät.
Ist das nicht etwas monoton? In Olten gibt es schon heute drei Optiker auf engstem Raum.
Die Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Wer belebt in einer Stadt die Strassenräume? Es sind jene Menschen, die Zeit haben: SeniorInnen und Kinder. Für sie muss man mehr Angebote und Räume schaffen. Etwa mit betreutem Wohnen oder Alters-WGs im Zentrum, mit Tagesschulen und Kindertagesstätten. Auch das Gewerbe hat seine Chancen. Bei mir in der Nachbarschaft hat gerade eine Stiftung ein Gebäude bezogen, in dessen Erdgeschoss man durch grosse Fenster den Mitarbeitenden bei der Produktion von Esswaren zusehen kann. Das wird insgesamt eine völlig neue, spannende Durchmischung ergeben.
Und was ist die grosse Frage, auf die man die Antwort noch sucht?
Wie wir sogenannte Mehrfachnutzungen gut organisieren können. Was passiert mit Räumen, die eigentlich nur am Tag gebraucht werden, wenn es Abend wird? Da gibt es noch viel ungenutztes Potential.
Christina Schumacher (52) wuchs in Olten unterhalb des Hardwalds auf, absolvierte das Gymnasium an der nur wenige Schritte entfernten Kantonsschule und studierte später an Universität Zürich Soziologie. Seit 2010 ist sie als Dozentin für Sozialwissenschaften, seit 2014 als Leiterin Forschung am Institut Architektur der FHNW in Muttenz tätig. Ihre Fachgebiete sind die Architektur-, Wohn- und Siedlungssoziologie. Daneben wirkt sie in Jurys mit. Sie besuchte in ihrer Studienzeit auch einzelne Architekturvorlesungen – und Vater Philipp Schumacher war Oltens Baudirektor sowie von 1984 bis 1997 dessen Stadtpräsident. Obschon Olten einen festen Platz in ihrem Herzen hat, ist sie seit über 30 Jahren in Zürich zu Hause, heute mit Mann und drei Kindern.