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Sehnsucht nach der Lagune

Könnte er das Rad der Zeit zurückdrehen und sein Leben noch einmal von vorn beginnen, er würde die Sache mit den Drogen sein lassen. Nach 34 Jahren hat Dieter Plüss den Ausstieg aus seiner Heroinsucht geschafft.
24. November 2020
Text: Adrian Portmann, Fotografie: Timo Orubolo

Glasklares, smaragdgrünes Wasser, die Sicht frei auf die prächtige Unterwasserwelt mit ihren bunten Korallenriffen und den nicht weniger farbenfrohen Bewohnern, ein Sandstrand weisser als das reinste Kokain und erloschene Vulkane, um die sich Mythen und Sagen ranken. Einmal im Leben nach Bora Bora reisen. Einmal im Leben die Schönheit der Natur auf dem kleinen Atoll inmitten des Südpazifiks mit eigenen Augen sehen. Ein Wunsch, den sich Dieter Plüss in seinem Leben noch erfüllen möchte. Regelmässig legt er dafür einen kleinen Teil seines ohnehin bescheidenen Lohnes auf die Seite. Wer frühmorgens am Bahnhof in Olten unterwegs ist, dürfte Plüss schon begegnet sein.

Während rund um ihn herum die Leute es eilig haben, ihren Zug zu erwischen, harrt er seiner Dinge. Wie ein kleiner Fels im Pendlermeer trifft man ihn jeweils gegenüber der Treppe zu den Gleisen vier und sieben, zwischen Kiosk und Spettacolo. Im Winter mit Schal und Mütze warm eingemummelt steht er dort und bietet, ohne viele Worte und gross Aufsehen zu erregen, das Strassenmagazin Surprise zum Verkauf an. Sechs Franken verlangt er für die Ausgabe, drei darf Plüss behalten. Beinahe könnte man im morgendlichen Gewusel den kleinen Mann übersehen. Wären da nicht seine Jacke und die Mütze. In feurigem Rot, wie die Blüten des Hibiskus auf Bora Bora.

«Ich verkaufe 50 Stück jede Woche», sagt Plüss, nicht ohne ein bisschen Stolz in seiner Stimme mitschwingen zu lassen. Um Nachschub zu besorgen, reist er alle vierzehn Tage an einem Freitagmorgen nach Bern. Unter der Woche steht der 54-Jährige jeweils zwischen sieben und neun Uhr an seinem Verkaufsplatz, den er vor fünf Jahren mit etwas Glück von einer Bekannten geerbt hat, die dort ebenfalls Zeitschriften verkaufte. Nach getaner Arbeit geht es mit dem Bus zurück in seine Wohnung nach Winznau. «Seit ich mit den Drogen abgeschlossen habe, bin ich nur noch selten in Olten unterwegs», erzählt Plüss. Weil die Furcht gross ist, wieder mit den falschen Leuten in Kontakt zu kommen, wieder mit dem Heroinspritzen zu beginnen und wieder dort zu landen, wo er vor dreissig Jahren einst strandete. Auf der Gasse.

Jugendjahre im Heim

Als ältester Sohn der Familie ist Plüss in Appenzell aufgewachsen. Dort erlebte er eine glückliche Kindheit, die jedoch viel zu früh ein jähes Ende nahm, als seine Mutter an Leberkrebs erkrankte und nur kurze Zeit später im Spital starb. «Ich verlor meine Mutter in einer Zeit, in der ich sie dringend gebraucht hätte», erinnert sich Plüss. Er war damals vierzehn Jahre alt. Während seine Geschwister beim Vater in Appenzell bleiben durften, kam Plüss als einziger in ein Kinderheim in Herisau. «Wohl weil ich mich mit meinem Vater nie besonders gut verstanden hatte.» Mit der neuen Situation habe er sich arrangiert. «So gut es halt ging.»

Die Regeln im Kinderheim seien streng gewesen, er habe sich aber dem Leben dort angepasst. «Ich habe einfach gemacht, was von mir verlangt wurde.» Mit zwanzig zog Plüss in seine erste eigene Wohnung. In St. Gallen machte er eine Ausbildung als Autoservicemann. Der junge Mann arbeitete als Tankwart und in der Waschstrasse der damaligen «City-Garage». Autos und die Technik darin hätten ihn von jung an fasziniert.

Erinnerung an den Platzspitz

«Es war jugendlicher Blödsinn», sagt Plüss auf die Frage, weshalb er anfing, Heroin zu konsumieren. Wie viele andere wollte er die Droge nur ausprobieren, blieb aber sofort hängen. 1986, als sich in Zürich eine offene Drogenszene ansiedelte, war auch Plüss oft in der Stadt. Er verkehrte regelmässig am Platzspitz, wo sich zu dieser Zeit ein regelrechter Hexenkessel des Drogenelends etablierte. Tag und Nacht war der Platz von tausenden von Heroinabhängigen bevölkert und Dealer aus aller Welt reisten in die Schweiz, um Profit zu machen. Die Bilder gingen um die Welt. Mitten in diesem Elend war auch Plüss unterwegs. Oft reichte seine Kraft nach dem letzten Schuss nicht mehr für die Rückreise nach Hause. Immer öfters blieb er darum in Zürich und schlief irgendwo auf der Gasse.

«Eine verrückte Zeit», blickt Plüss zurück. «Würden die Leute heutzutage den Stoff von damals konsumieren, es würde sie glatt umhauen.» Ein Gramm Heroin kostete damals 600 Franken. Heute sei es für 50 Franken zu haben. «Wahrscheinlich auch weil es im Vergleich zu früher dermassen gestreckt ist.» Zum Heroinkonsum kam später Kokain hinzu. «Wir machten uns Cocktails, weil das noch stärker einfuhr.» Plüss war regelmässig am Platzspitz bis zu dessen Räumung 1992. Als die Szene sich im Anschluss an den Letten verlagerte, zog auch er mit. Auf einen ersten Entzug folgte der erneute Absturz. Angesprochen darauf, wie Heroin wirke, dreht Plüss seinen Kopf zum Fenster und sein Blick schweift ab. Er denkt lange nach und meint dann kurz: «Dir ist einfach alles egal.»

Als Plüss vor zwanzig Jahren mit seinem damaligen Arbeitgeber von Chur nach Olten umzog und in der Industrie im Pneurecycling arbeitete, habe er weiterhin Heroin konsumiert. Am Ländiweg wurde damals offen gedealt. «Dort haben wir uns mit Stoff eingedeckt, um ihn anschliessend zu Hause zu konsumieren.» Auf fünfzig bis hundert Drogensüchtige schätzt Plüss die damalige Szene in Olten. Plüss wohnt noch immer in derselben Wohnung wie vor zwanzig Jahren, als er hierherkam. Zusammen mit Kater Turbo. «Turbo, wegen seines Temperaments.» Das Haus in Winznau liegt an einer vielbefahrenen Strasse. Zwei Katzen seien ihm schon überfahren worden. Den Schmerz möchte er nicht noch einmal erleben. Deshalb bleibt Turbo in der Wohnung. «Im Januar bekommt er einen Kollegen, damit er nicht so einsam ist.»

Männerfreundschaft im Haus

Plüss kennt die anderen Bewohner des Miethauses. Es sind nur vier Parteien. Mit dem Nachbarn im Erdgeschoss verbindet ihn eine Freundschaft. «Der hatte nie etwas mit Drogen am Hut. Er hat mich unterstützt, als ich damit aufgehört habe.» Die Freunde sehen sich fast täglich, kochen oft zusammen und sind füreinander da, wenn der eine den anderen braucht. Plüss‘ Laptop steht die meiste Zeit beim Nachbarn, weil der besser mit Computern kann. «Das will ich noch lernen», sagt Plüss, der in seinem Leben noch nie ein E-Mail geschrieben hat. Dafür flickt Plüss mit Stich und Faden Nachbars Hemden. Den Kontakt zum Bekanntenkreis aus Drogenzeiten hat er abgebrochen. «Ich habe heute keine Kollegen mehr, die abhängig sind.» Einmal im Monat trifft er sich in der Suchthilfe zum Gespräch mit einem Sozialarbeiter. Ansonsten meidet er auch diesen Ort. «Zu viele alte Bekanntschaften, die mir gefährlich werden könnten.»

Den Ausstieg aus seiner Sucht schaffte Plüss vor fünf Jahren. Der Tag, an dem seine damalige Freundin an einer Überdosis stirbt, markiert einen Wendepunkt in seinem Leben. «Nach der Todesnachricht bin ich nach Hause gefahren, habe meine Drogenvorräte in einen Sack gepackt und alles in den Abfallcontainer vor dem Haus geschmissen.» Es folgte ein dreimonatiger Aufenthalt in einer Entzugsklinik in Pfäfers im Sarganserland. Seither sei er sauber, habe nie mehr etwas angefasst. Heute muss Plüss jeden Morgen vor dem Frühstück eine Pille schlucken. Methadon, das er in der Apotheke erhält und vor den Augen der Apothekerin einnehmen muss. Die Tabletten fürs Wochenende darf er mit nach Hause nehmen. Man vertraut ihm, dass er sie nicht weitergibt oder verkauft. «Ohne Methadon würde ich sofort auf Entzug kommen.»

Irgendwann möchte Plüss aber auch vom Methadon loskommen. «Dazu muss man erst mal die Dosis langsam reduzieren.» Einmal habe er vergessen, die Tablette zu nehmen. Wenige Stunden später bemerkte er sein Malheur: Zitternde Hände, starkes Schwitzen, ein aufgekratztes Gemüt waren die Folge. Während Plüss erzählt, baumelt das kleine goldene Kreuz an seinem linken Ohr. Der Glaube habe ihm beim Ausstieg geholfen und gebe ihm die Kraft, standhaft zu bleiben und keine Drogen mehr zu nehmen. Plüss besucht gleich in mehreren Kirchen in Olten die Messen und betet auch zu Hause regelmässig.

Weltenbummler im Herzen

Die Idee mit der Reise nach Bora Bora kam bei Plüss auf, als er im Fernsehen eine Dokumentation darüber sah. Das friedliche Atoll in den Weiten des Ozeans fasziniert ihn. Er erinnert sich an seine Jugend und an Ferien in Jugoslawien, Österreich, Italien. Im vergangenen Jahr sass er zum ersten Mal in seinem Leben in einem Flugzeug. Mit einer Reisegruppe verbrachte er zehn Tage in Indien. Organisiert von der Tagesstätte Mittelpunkt in Oensingen, wo Plüss regelmässig verkehrt. Ein Fingerring mit Schriftzeichen in Sanskrit erinnert an den Trip an das andere Ende der Welt.

Das Bierglas ist noch halbvoll, als Plüss von seinen Reiseplänen erzählt und seine Brille für einen Moment abnimmt. Selbstkritisch meint er, eine Schwäche von ihm sei der Alkohol. Ein, zwei Bier am Tag müssen sein. Von harten Spirituosen lässt er lieber die Finger. Wird Plüss eines Tages das Geld für den Flug nach Französisch-Polynesien zusammenhaben und seine Füsse auf den Sand des Matira Beach setzen, könnten das die entscheidenden Schritte sein, die ihn sein letztes Laster überwinden lassen. Auf Bora Bora ist Alkohol sündhaft teuer und am schönsten Strand des Atolls streng verboten. Für seinen Traum wird Plüss auch morgen wieder am Oltner Bahnhof stehen, um sein Strassenmagazin an Mann und Frau zu bringen. Für heute aber ist Schluss. Plüss packt seinen Rucksack und macht sich auf den Heimweg. Zu Hause wartet Kater Turbo schon auf sein Znacht.


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