Neun Stockwerke näher am Himmel
Im November kurz nach unserem Besuch in der Villa Tschanz leuchtet mein Handy auf. Ich bin gerade mit dem Kolt-Team zu Besuch bei der Hauptstadt in Bern und Instagram buhlt mit einer neuen Nachricht um meine Aufmerksamkeit.
Genauer: eine neue Nachricht von «cielonoveno» an «kolt.ch». Ich klicke auf die Push-Benachrichtigung: «Haben gerade eure neue Serie ‹Warum wohnst du in Olten?› gefunden. Wir sind auch eine WG und würden euch gerne zum Essen einladen.» Und weiter: «Wir sind 13 Leute, verteilt in vier Wohnungen. 8 Frauen, 5 Männer. Zwischen 21 und 42 Jahren. Wir freuen uns, von euch zu hören und euch persönlich kennenzulernen! Liebe Grüsse, Julia.»
Das klingt spannend, denke ich und notiere mir die Anfrage für die nächste Redaktionssitzung. Da gab es direkt grünes Licht und ein Termin hat sich nach Advent, Weihnachten und Neujahr, nach shining lights und knallenden Proseccoflaschen, auch gefunden.
Es ist Januar, wir spazieren im Dunkel eines Winterabends von der Redaktion auf die rechte Aareseite und freuen uns auf Randenrisotto und einen geselligen Abend. Im Gepäck haben wir eine Kamera, einen Laptop für Notizen sowie Neugier und einige Fragen: Was zieht 13 Personen in eine Wohngemeinschaft? Warum entscheiden sich diese Menschen, zusammen zu wohnen? Und: Warum in Olten?
Lebensmittel für alle
Als wir im neunten Stock dieses Blocks ankommen, öffnet uns Julia die Tür. Sie ist die Mitgründerin der WG, direkt hinter ihr wartet schon Matthias, ihr Mann, und bietet uns ein Bier einer örtlichen Brauerei an. «Kommt doch rein, Alex kocht bereits. Wollt ihr währenddessen die Wohnung sehen?», fragt uns die 33-jährige Sozialpädagogin mit einem Lächeln.
Da sagen wir nicht nein, legen unsere Sachen ab und folgen ihr mit dem Bier in der Hand. «Also eigentlich steht ihr gerade im Treppenhaus», sagt Julia lachend. «Die Türen stehen aber immer offen», ergänzt sie sogleich. Vom kleinen Raum, den sie und wir mangels besserer Beschreibung für diesen Vorraum Treppenhaus nennen, gehen links und rechts zwei Wohnungstüren ab. «In den beiden Wohnungen wohnen jeweils vier Personen. Im vierten Stock haben wir noch zwei weitere Wohnungen, die sich jeweils drei und zwei Personen teilen. Hier oben kommen wir aber zusammen. Hier in dieser Wohnung essen wir immer gemeinsam Abendessen. In der Küche der anderen Wohnung wird hauptsächlich gefrühstückt», erzählt Julia.
«Das heisst, ihr esst immer gemeinsam zu Abend?», frage ich. «Wenns geht ja. Wir sind keine Zweck-WG. Gegessen wird meistens um 19 Uhr. Anmelden kann sich jeder online und in der Liste auch ankreuzen, ob man dann kochen möchte. Lebensmittel dafür kaufen wir wöchentlich aus der WG-Kasse ein. Dafür gibt es ein Ämtli. Exotische Früchte bestellen wir dabei über Gebana, einheimische Früchte und Gemüse bei einem Bauern aus einer Nachbargemeinde. Das Gemüse wird samstags zum Markt geliefert und wir müssen es dann nur noch hochkarren. Süssigkeiten und Alkohol zahlt man aber selbst», erklärt sie. «Ausser an Ostern und Weihnachten», ergänzt Tirza und setzt sich zu uns.
«Und Joghurts sind hier ein Politikum», fährt sie fort. Die 29-Jährige ist in Nidwalden geboren und in Uri aufgewachsen. «Vor ein paar Jahren bin ich nach Trimbach gezogen. Ich habe in Aarwangen gearbeitet und eine Kollegin in Sursee, deshalb haben wir in Trimbach eine WG gegründet. Als meine Kollegin dann im Sommer 2019 nach Finnland ging, bin ich über unsere Kirchengruppe in Olten direkt bei der Gründung zu dieser WG dazugestossen.»
Und auch ohne den Anschluss durch die Kirchengruppe war Olten bei der Wohnortswahl nie eine Hürde: «Ich bin früher sogar mal mit einer Kollegin nach Olten gefahren, um zu schauen, ob die Stadt wirklich so hässlich ist. Und ich konnte es nicht bestätigen!» Verglichen zur vorherigen 2er-WG sind 13 Köpfe dann aber doch eine andere Hausnummer. Deshalb werden haushaltsübliche Mengen hier anders gerechnet: «Stell dir vor, jeder nimmt einen Joghurt, die sind dann schnell weg», sagt sie lachend, als wir etwas perplex in den mit Joghurts gefüllten Kühlschrank blicken.
Auf dem angrenzenden Balkon schlummern derweil die Vorräte einer Woche in grossen, weissen Kühlboxen. «Hier dürfen sich jederzeit alle bedienen. Der Beitrag in die Lebensmittelkasse wird jeden Monat mit der Miete geleistet. Davon kaufen wir ein und haben mit der Zeit gut herausgefunden, wie viel wir für so viele Mitbewohner einkaufen müssen», erzählt Julia, während sie die Balkontür öffnet und uns die Vorräte präsentiert. «Wobei die sieben Salatköpfe diese Woche sehr schnell weg waren», ergänzt Matthias schmunzelnd. «Übrigens: Dort in der Ecke der Terrasse finden dann im Sommer Dachterrassenkonzerte unter unserem WG-Namen ‘Cielonoveno’ statt. Den hatten wir uns eigentlich nur für das gemeinsame Klingelschild ausgedacht, damit alles auf einen Namen läuft. Jetzt ist der Name, bestehend aus den spanischen Wörtern ‘Cielo’ und ‘noveno’, aber auch Titelgeber für unsere Konzerte.»
Musik über den Dächern der Stadt
Mit Blick über die Stadt sorgt die WG hier in den Sommermonaten für musikalische Abende. Sich das vorzustellen, braucht bei den aktuellen Temperaturen ein bisschen Fantasie. Lediglich die Glühbirnen erinnern an warme Sommernächte. Die leuchten dann bei den Konzerten auf dem Balkon – und die Stadt davor. Dazu machen es sich Freunde, Familie und Besucherinnen auf dem Boden und auf Stühlen bequem und auf der Bühne wärmen die Singer-Songwriter die Herzen der Zuschauer. Bei schlechtem Wetter gehts ins Wohnzimmer.
Die Idee habe schon vor der WG bestanden. Schon als Matthias und Julia zusammen in der zentral gelegenen Mühlegasse wohnten, haben sie ihr Wohnzimmer in eine Bühne verwandelt. Um die Stubenkonzerte ausleben zu können und zusätzlich einen bisher fehlenden Balkon oder Garten zur Wohnung zu bekommen, haben sich Julia und Matthias in der Kleingruppe ihrer Kirche umgehört, wie die anderen zu der Idee einer WG stehen würden.
Zu viert haben sie dann verschiedene Wohnungen in Olten angeschaut. Die zwei Wohnungen schienen ideal. Da eine mit einem grossen Wohnzimmer ausgestattet war und die andere diese schöne Dachterrasse hatte, fiel die Entscheidung schwer. Und schnell wurde klar: Beide Wohnungen wären perfekt. Aber zu viert wäre der Platz verschenkt und so entstand im Sommer 2019 hier, neun Stockwerke näher am Himmel, die WG «Cielonoveno». Einige Mitbewohner fanden sich im direkten Umfeld, die anderen gesellten sich über Inserate dazu. Heute werden unter dem WG-Namen musikalische Dachterrassenmomente genossen. Um in diese kleinen Konzerte einen Einblick zu geben, gibt es einige Auftritte via Stream auf YouTube, in die die Oltnerinnen virtuell eintauchen können.
Über den Atlantik in die Schweiz
Aus der Januarkälte auf dem Balkon begeben wir uns zurück ins gemütliche Wohnzimmer. Der Esstisch wird bereits gedeckt, wir haben noch einen Moment Zeit. Ich nutze die Gelegenheit und frage, wie es das Gründer-Duo nach Olten gezogen hat. Die 33-jährige Julia erzählt: «Meine Familie kommt eigentlich aus Deutschland. Aufgewachsen bin ich aber in Costa Rica. Dort haben Matthias und ich uns kennengelernt, als ich knapp 18 Jahre alt war. 2012 bin ich dann der Liebe wegen in die Schweiz gekommen. Ich habe dann in Langenthal und Stuttgart ein duales Studium absolviert und von Anfang an in Olten gewohnt. Jetzt bin ich Sozialpädagogin, wohne und arbeite in der Dreitannenstadt.» Matthias erzählt: «Ich komme eigentlich aus dem Seeland, aus Münchenbuchsee im Kanton Bern. Nach Olten bin ich 2016 gekommen. Ich arbeite als Leiter IT und Finanzen in einer Stiftung, die Kleinunternehmen in Entwicklungsländern fördert.»
In entspannter Runde
Am gedeckten Esstisch treffen wir auch auf Esther. Die 38-Jährige kommt eigentlich aus dem Emmental, lebte ein paar Jahre im Ausland, einige Zeit in Zürich, wo sie immer noch arbeitet, und ist seit Juli 2020 Teil der Oltner WG. Auf der Suche nach einer Gross-WG ist sie schnell hier gelandet: «Meine kleinen Frauen-WGs, in denen ich bisher gewohnt habe, haben sich früher oder später wegen Wegzug und Hochzeiten aufgelöst. Bei einer WG in dieser Grösse hatte ich die Hoffnung, dass sie lange bestehen bleibt. Bisher fühle ich mich hier und in Olten sehr wohl und auch die WG besteht noch», erzählt sie lachend.
Auf die Frage, wo sie denn hier in Olten ihr Feierabendbier trinken oder als WG anzutreffen sind, fällt die Antwort etwas schwerer. Am ehesten läge im Sommer ein gemeinsamer Aareschwumm drin, einmal waren sie zusammen im Chöbu. In kleineren Gruppen gehe es im Dezember zu den 23 Sternschnuppen und im Sommer auf die Bifang-Wiese zum Vikingerschach oder Pingpongspiel. Die meiste Zeit war allerdings Pandemie und so steige die Vorfreude auf unkompliziertere Zeiten und darauf, die Stadt erst kennenzulernen. «Ich war noch nie in Olten auswärts essen», berichtet Esther.
Gemeinsam organisierten sie aber, trotz aussergewöhnlicher Umstände, die Terrassenkonzerte, essen abends zusammen in der WG und treffen sich alle vier bis sechs Wochen zu WG-Sitzungen. Die werden über Slack organisiert. Dieser webbasierte Direktnachrichtendienst ermöglicht es, innerhalb von Arbeitsgruppen zu kommunizieren. Und das klingt ernster, als es ist. Hier würden nicht nur die Sitzungen organisiert, hier fänden sich auch Filmvorschläge und es gäbe einen Spasschannel für alles, was Freude bereitet.
Während wir gemütlich das Randenrisotto mit Pilzen löffeln, gesellen sich auch die 31-jährige Lostorferin Martina, Tirzas Bruder Josua und ein Bekannter der WG zu uns. Am Esstisch sind alle willkommen, Besucher dürfen einfach auf die Gästeliste fürs Abendessen eingetragen werden. Dave ist heute nur zu Besuch, Martina und Josua wohnen hier. Martina hatte ihren Sportmaster in Basel gemacht und absolvierte danach eine Physioausbildung in Davos. Nach dem Abschluss fiel ihr die Jobsuche in den Bergen schwer und so kehrte sie im Februar 2021 zurück nach Olten. Hier, wo sie die Kanti besucht hatte, ist sie jetzt wieder zu Hause. «Aber für den Schneesport pendle ich nach wie vor regelmässig in den Schnee!», wirft sie ein. Josua kommt wie seine Schwester aus Uri, dann ging es für den Bachelor in Informatik an die ETH Zürich. In der WG ist er seit Dezember 2019. «Ich hatte nach dem Studium eine Stelle als Softwareentwickler in Buchs bekommen und schnell in der Nähe ein Dach über dem Kopf gesucht. Das habe ich hier gefunden, arbeite aber bisher nur im Home-Office. Irgendwann sehe ich dann vielleicht auch mal Buchs – und Olten.»
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Martina
Die 31-Jährige kommt ursprünglich aus Lostorf. Nach Stationen in Basel und Davos ist sie nun wieder zurück in der Region. -
Josua
Der Softwareentwickler wohnt seit Dezember 2019 in der Oltner WG. Aufgewachsen ist er in Uri, hat in Zürich studiert und arbeitet nun aus dem Home-Office für eine Buchser Firma.
Alex’ Randenrisotto
Für 13 Personen:
3 Zwiebeln
3 Knoblauchzehen
1 kg Randen
Öl zum Anbraten
900 g Risottoreis
6 dl Rotwein
2,2 Liter Bouillon
Mascarpone nach Belieben
Die Zwiebel, den Knoblauch und die Randen fein würfeln. Die Zwiebeln mit etwas Öl in einer Pfanne andünsten. Den Risottoreis kurz mitdünsten, dann mit einem Schluck Rotwein ablöschen. Die rohen Randenwürfel dazugeben, alles nach und nach mit Brühe bis zur gewünschten Bissfestigkeit aufgiessen und mit Salz und Pfeffer abschmecken.
Alex’ Tipp: Das Risotto lässt sich wunderbar mit Mascarpone ergänzen. «Alternativ funktionieren auch Parmesan und Butter, aber bloss nicht Mascarpone und Butter – das wäre zu viel des Guten.»
Pilze sehr heiss in der Pfanne anbraten.
Welche Schweizer in Olten sprechen nicht «Outnerdütsch»? Fühlen sie sich hier wohl? Fühlt ihr euch wohl?
Ich werfe diesen Leser-Input in den Raum, in dem nach dem Risotto quasi nur Nicht-Oltnerinnen ihr weisses Schokoladenmousse löffeln. Der 36-jährige Alex kommt eigentlich aus Zürich, ist seit Februar 2021 Teil der Wohngemeinschaft und weiss: «Wenn man aus Zürich kommt, ist der Schritt viel grösser. Ich bin im Alter von zwölf Jahren wegen des Hockeys nach Olten gekommen. Hier wurde der Sport nach meinen Vorstellungen und Stärken gespielt. Der Trainer hat an mich geglaubt und meinen Spielstil verstanden. Die ersten drei Trainings stand mein Dialekt im Fokus, dafür bin ich dann einige Zeit hochgenommen worden. Ich glaube mit einem Dialekt aus Bern oder dem Aargau wäre das viel entspannter gewesen.»
In der Winkelunterführung könnte doch von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang Velofahren im Schritttempo erlaubt sein. Wie erlebt ihr die Situation in der Winkelunterführung?
Bei dieser Frage schaltet sich Julia ein. «Ich muss regelmässig, auch mit dem Fahrrad, auf die andere Stadtseite und gebe mir Mühe, sie entweder zu umfahren oder in der Unterführung abzusteigen. Nur einmal hatte ich Stress, mich nicht an das Verbot gehalten und direkt eine Busse bekommen. Und ich muss sagen: Ich finde das Verbot ist übertrieben. Schritttempo finde ich aber wichtig und richtig, da der Tunnel doch ein bisschen verwinkelt ist. Ich würde mich freuen, wenn das Fahrverbot gelockert werden könnte!»
Wie wird man die Gratiszeitungen los? Und warum gibt es eigentlich so viele? Was denkt ihr über die Gratiszeitungen?
«Wir haben Gratiszeitungen?», höre ich von der einen Seite des Tisches. «Matthias, du holst doch immer die Post rein», sagt jemand anderes in seine Richtung. «Ja, die landen meist direkt im Altpapier», bestätigt er. «Was?! Dabei lese ich morgens eigentlich gern noch Zeitungen!», entgegnet Esther. «Für mich wären sie vor allem für die Arbeit im Kindergarten praktisch», fügt Tirza an. «Die eignen sich super zum Basteln und als Malunterlage.»
Habt ihr ein Thema, über das ihr gern mehr erfahren würdet?
«Ich möchte gern von weiteren Personen erfahren, warum sie in Olten wohnen», antwortet Alex spontan. «Es gibt da die ICO, die International Community Olten. Dort treffen sich Amerikaner, Mexikaner, Italiener – jedes Mal in einem anderen Quartier zum Feierabendbier und leisten so einen Beitrag zur Integration. Ich finde, die wären eines Porträts würdig», wirft Julia in den Raum.
Noch ein bisschen quatschen und lachen wir. Noch ein bisschen bleiben wir. Und dann machen wir uns auf den Weg durch die Stadt nach Hause. Erfüllt vom Einblick in die vielen Wände der WG «Cielonoveno».
Kennst du eine Wohngemeinschaft, die wir unbedingt mal besuchen sollten?