Skip to main content

Autor: adrian

Von einem, der euch zügelt

Die Arbeitstage gestalten sich meistens lang und kräftezehrend. Trotzdem begnügt sich Zügelunternehmer Daniel Alberti vor Arbeitsbeginn mit einen Caffè doppio. Mit dem doppelten Espresso im Blut hält er in der Regel durch, bis das Klavier seinen neuen Bestimmungsort schadlos erreicht, der allerletzte Karton gepackt, verladen und transportiert ist, bis alle Möbel aufgebaut sind und er sich der guten Befindlichkeit seiner Kundschaft sicher sein kann. «Mit einer Mittagspause verjoggelst du schnell mal eineinhalb Stunden.» Zeit, die Alberti nicht hat. Erst nach Feierabend gönnt er sich eine Mahlzeit, dann darf es auch gern etwas Vegetarisches sein. Bewusst verzichtet er einige Wochen oder Monate im Jahr auf Fleisch. «Das tut richtig gut, ich merk das sofort in den Gelenken.» Sagt es und grätscht dabei seine Finger.

Seit der Geschäftsgründung im Januar 2000 kann sich Alberti vor Aufträgen kaum retten. Davor lieferte er Waren für eine grosse Möbelhauskette aus. «Der Druck auf die Fahrer stieg und stieg und die Arbeitsbedingungen gingen in eine Richtung, die für mich nicht mehr stimmte», erinnert er sich. Also nahm er das Heft selbst in die Hand, machte sich als Einmannbetrieb in der Zügelbranche selbstständig. Das Auftragsbuch füllte sich und ein Kollege, den er von seiner früheren Anstellung als Transporteur kannte, stieg bei ihm ein. «Es ist wie eine Lawine angerollt. Nach einem halben Jahr zog das Geschäft dermassen an, dass wir kaum nachgekommen sind», sagt der grossgewachsene Mann, während seine Hand die Espressotasse greift und sie kleiner wirken lässt, als sie ist.

«Es darf ruhig ein bisschen kompliziert sein.»

Obwohl Alberti schon früh und schnell mit der Anstellung von Mitarbeitenden hätte expandieren können, zog er es vor, klein zu bleiben. Was der Grund dafür sei, möchte man erfahren. «Ich bin pingelig, darum mach ich die Sachen am liebsten selbst», antwortet er beinahe entschuldigend, «dann kann ich auf Nummer sicher gehen, dass alles funktioniert». Wo Alberti draufsteht, muss Alberti anwesend sein. Alberti holt die Aufträge rein, Alberti besucht den Kunden bei der Erstbesichtigung, Alberti erstellt die Offerte, und Alberti drückt sich nicht, am Umzugstag mitanzupacken, auch wenn es schwer und ungemütlich wird. Wenn die Kundin es wünscht, zieht Alberti seine weissen Handschuhe an. «Im Gespräch merke ich schnell, wie jemand tickt, und ich kann mein Team vorab darauf einstellen.» Schwierig sei es mit Leuten, die überängstlich sind und die Profis während der Arbeit mit Vorsichtshinweisen und Ratschlägen eindecken. «Genau dort ist die Wahrscheinlichkeit am höchsten, dass etwas passiert.» Seine Versicherung habe er in zwanzig Jahren nur zwei- oder dreimal gebraucht, da gäbe es ganz andere Umzugsfirmen, sagt Alberti und legt seine Bescheidenheit für einen kurzen Moment beiseite. Das andere Extrem sei jene Kundschaft, die am Tag des Umzugs den Schlüssel im Briefkasten deponiere, zusammen mit der Botschaft, Alberti und sein Team sollen doch die Möbel so in der neuen Wohnung positionieren, wie sie selbst gerne wohnen würden. Der Capo kümmert sich am liebsten um die schweren und sperrigen Stücke. «Es darf ruhig ein bisschen kompliziert sein.» Bananenschachteln seien nicht sein Ding, «da sag ich immer, ich sei überqualifiziert», meint Alberti schmunzelnd.

Doch die Arbeit bringt den 55-Jährigen zuweilen auch in Situationen, in denen sich menschliche Abgründe auftun. Alberti erinnert sich an einen Auftrag in Trimbach, bei dem es darum ging, ein Haus zu räumen, in dem sich zuvor jemand das Leben genommen hatte. «Der Hausbewohner hing fünf Wochen auf dem Dachboden, bevor sein Tod bemerkt wurde.» Zwei solche Fälle habe er bisher gemacht, einen weiteren würde er ablehnen, meint Alberti. «Dieser alles durchdringende Geruch setzt sich in deiner Nase fest und bleibt dir noch über Monate hängen, den kriegst du fast nicht mehr aus deiner Nase.» Auf Messiwohnungen ist Alberti in seiner Karriere nie gestossen, aber mit dem einen oder anderen Sammler hatte er es zu tun. Er selbst sei aber nie einer geworden, auch in Anbetracht seiner Arbeit nicht, bei der ihm nicht selten etwas angeboten wird. Die Einrichtung im Wohnzimmer der Albertis besteht dann auch grösstenteils aus Dingen, die von ihren Vorbesitzern verschmäht den Weg schliesslich in die grosszügige Dachgeschosswohnung an der Speiserstrasse gefunden haben.

Alberti lehnt sich in seinem Stuhl zurück, lässt seinen Blick durch den Raum wandern. «Das dort drüben hat mich irgendwie auf Anhieb angesprochen», sagt er und wirkt dabei von sich selbst überrascht. Sein Finger zeigt auf eine kunstvoll gedrechselte Holzkugel in der Grösse eines Kleinkindes. Ein Geschenk eines Kunden. «Dann die Stereoanlage von Bang & Olufsen dort, der Schrank da, die beiden Sideboards, die Stühle, auf denen wir sitzen; wenn ich etwas sehe, das ich direkt in die Wohnung stellen kann, nehme ich es mit. Dass ich aber etwas einlagere, kommt nicht vor.» Wenn er etwas in die Finger bekomme, das zu schade sei, um es zu entsorgen, wisse er, wo er einen dankbaren Abnehmer dafür finde. Unter den Zügelunternehmern kenne er den einen oder anderen Sammler.

Wartezeiten gibt’s bei Alberti nur bei den Rechnungen

Die in der Industrie angemietete Lagerhalle auf vierhundert Quadratmetern, in der einst Sonnencrème hergestellt wurde, ist aufgeräumt wie das Wohnzimmer. Dort stehen neben den Transportfahrzeugen drei Möbellifte, die Alberti in der kleinen Werkstatt warten und reparieren kann. In einem kleinen Bürocontainer erledigt er den Papierkram. Eine Arbeit, auf die er gern verzichten würde und die er auch mal vor sich herschiebe. Er sei kein Büromensch. «Das ist der Grund, weshalb meine Kunden manchmal etwas länger warten müssen, bis sie die Rechnung von mir erhalten», lacht Alberti. Die Administration auszulagern sei jedoch keine Option. Er habe ja alles im Kopf und da bringe es ihm wenig, ein «Bürofräulein» an seiner Seite zu haben, welches für ihn das Telefon abnehme. «Das kann ich auch gleich selber machen.»

Heute ist sein Team in der Regel zu dritt, wenn sie bei einer Kundin vorfahren. Auf seine beiden langjährigen Mitarbeiter Stefan und Mustafa kann er sich verlassen. Bei grösseren Aufträgen helfen ihm schon mal sein Bruder Peter und Sohn Alef aus. Pläne, ein zweites Umzugsteam zu bilden, hatte er zwar. Nach einem Versuch habe er die Idee aber relativ schnell wieder verworfen. «Damit die Arbeit so erledigt wird, wie ich mir das vorstelle, muss ich einfach dabei sein.» Das Einzige, was er in fremde Hände gibt, ist der Jahresabschluss. Dafür hat einen Buchhalter engagiert. Einer, dem er vertraut.

«Das Alter macht einen vernünftiger.»

Vergangenes Jahr waren Alberti und seine Männer unter anderem mit dem Umzug der Schulklassen vom Hübelischulhaus in die Zementi beschäftigt. Innerhalb zweier Tage zügelten vier Männer das gesamte Schulhausmobiliar. Auch sonst greift die Stadt gern auf Albertis Dienste zurück, wenn sie etwas zu bewegen gedenkt. Beim Umbau des Stadthauses vor sieben Jahren war Alberti im Einsatz wie auch beim Haus der Museen. «Um die Ausstellungsstücke haben sich die Spezialisten gekümmert, wir waren für die Entfernung des Mobiliars, den Abriss der Wände, Decken, Stromkanäle und so weiter zuständig. Bis auf die Grundmauern haben wir dort alles rausgenommen. Das war dann mehr Baustelle als Umzug.» Die Pandemie konnte seinem Geschäft nichts anhaben. Corona habe sich gar positiv auf das Geschäftsergebnis ausgewirkt. 2020 verbuchte Alberti ein Umsatzplus von dreissig Prozent, das er sich selbst nicht so recht erklären könne. Alberti freut den Erfolg, ohne gross darüber nachzudenken, er arbeitet lieber weiter.

In den ersten Jahren erledigte er bis zu vier Umzüge an einem Tag. «Da dauerte ein Arbeitstag auch mal bis Mitternacht.» Seit einigen Jahren geht er die Sache etwas ruhiger an. «Das Alter macht einen vernünftiger.» Dasselbe beim Thema Ferien. Die ersten fünfzehn Jahre verzichtete Alberti gänzlich darauf, sich eine Auszeit zu nehmen. «Mir reichte es immer, wenn ich an den Wochenenden ausspannen konnte, und sind wir einmal für zwei Tage verreist, zog es mich sowieso wieder nach Hause.» Er habe ein ständiges Kribbeln in den Fingern. Glücklich sei er, wenn er arbeiten könne. «Im Laufe der Jahre habe ich aber gelernt, auch mal nein zu sagen und einen Auftrag auszuschlagen.» Vor drei Jahren hat Alberti für seinen Dreimannbetrieb Betriebsferien eingeführt. Sich und seinem Geschäft gönnt er nun jeweils einen Sommermonat Ruhepause. Dies, obwohl im Juli die Nachfrage hoch sei. «Aber das passt. Auch weil ich die Hitze schlecht vertrage.» Handy und Agenda nimmt er trotzdem mit ins Reisegepäck. Schliesslich wollen die Aufträge für die darauffolgenden Monate geplant sein. Wenn Alberti in dieser Zeit mit seiner Kundschaft telefoniert, trägt er ausnahmsweise keine Arbeitsschuhe, sondern Flipflops, während er zusammen mit der Familie an der Adriaküste in Rimini oder Venedig sich ein Stück weit seinen italienischen Wurzeln annähert. «Unsere Familie stammt ursprünglich aus Bologna.» Alberti kam in Olten zur Welt und wohnte dreissig Jahre in Trimbach, bevor er in die Stadt zog. Sein Vater kam in den 60er-Jahren in die Schweiz, als in Italien eine grosse Wirtschaftskrise herrschte. Bei Bally in Schönenwerd fand er seine erste Anstellung. Danach arbeitete er während mehr als drei Jahrzehnten bis zu seiner Pensionierung in der Oltner Zementi.

Einmal Ibiza und zurück

Heute buhlen Onlineplattformen um Kunden, indem sie die Aufträge an den günstigsten Anbieter vermitteln und damit Provisionen einheimsen. Ein Modell, von dem Alberti nicht viel hält. Wer nach Albertis Diensten im Internet sucht, findet zwar eine Domain, doch diese leitet weiter auf seinen Telefonbucheintrag. Computer seien sowieso nie seine Welt gewesen, sagt Alberti. «Übers Telefon geht’s einfacher. Mein Wort zählt.» Sein Revier ist die Region. «Es rentiert für mich nicht, wenn einer von Sankt Gallen nach Glarus zügeln will, alleine wegen der Anfahrt.» Trotzdem gäbe es viele Unternehmen in der Branche, die dort mitmachten. Alberti selbst beschränkt sich auf Olten und Umgebung. Ausnahmen macht er für gute Kunden und Bekannte, aber nur, wenn sie bereit sind, die Zeit für die Anfahrt ebenfalls zu bezahlen.

Einmal sei er für einen Freund nach Ibiza gefahren. «Abfahrt war an einem Freitagabend, kurz vor Büroschluss haben wir die Grenze passiert und es gerade noch geschafft, den Zollstempel abzuholen.» Mit dem Vater des Kunden auf dem Beifahrersitz und deutlich mehr Gewicht als erlaubt fuhr Alberti mit geschätzten vierzig Stundenkilometern im ersten Gang auf der Autobahn, als gäbe es kein Morgen. «Zwischenzeitlich beschlich mich das Gefühl, dass wir niemals ankommen würden.» Nach rund 24 Stunden erreichte der Transporter Barcelona und damit die Fähre. «Ich ging davon aus, dass wir in ein paar Stunden die Insel erreichen würden.» Die Überfahrt dauerte entgegen Albertis Zuversicht rund dreizehn Stunden. Da sie keinen Schlafplatz reserviert hatten und es nicht erlaubt war, im Camion zu bleiben, mussten die Männer die Zeit auf Deck totschlagen, ohne ein Auge zumachen zu können. Als am nächsten Nachmittag endlich das Ziel auf Ibiza erreicht war, reichte die Zeit gerade einmal zum Ausladen der Überfracht sowie für eine Pizza. «Am selben Abend musste ich für die Rückfahrt wieder auf der Fähre sein und von Barcelona ging es ohne Zwischenhalt zurück nach Olten, wo ich nach total vier Tagen Fahrzeit an einem Dienstag wieder eingetroffen bin.» Ein Abenteuer, welches er nicht noch einmal erleben möchte, lacht Alberti.

Der Job als Umzugsdienstleister sei nicht für alle. Körperlich müsse man schon über eine gewisse Fitness verfügen. Früher habe er neben dem Job Krafttraining gemacht, dafür fehle ihm heute die Zeit. Dennoch fühlt sich Alberti fit. Nur im Nacken zieht es ab und an. «Bei diesem Job muss dir irgendetwas wehtun, da gewöhnt man sich dran», meint er und fügt an, «für diese Arbeit muss man geboren sein. Nur um Geld zu verdienen, sollte man sie nicht machen.» Wer ständig denke: «Was für ein Krampf!», der sei am falschen Platz. So anstrengend die Arbeit zuweilen ist, Jammern liegt nicht drin. Man müsse es mit einer gewissen Lockerheit angehen und Freude an der Arbeit haben. Alberti ist froh, dass er auf seine beiden festangestellten Mitarbeiter Stefan und Mustafa zählen kann. Mittlerweile sei es schwierig geworden, geeignetes Personal zu finden, sagt Alberti. Früher sei das anders gewesen. Die Männer, welche durch den Krieg im Balkan in den 90er-Jahren ins Land kamen, seien motiviert gewesen. «Die hätten am liebsten 25 Stunden am Tag gearbeitet», erinnert sich Alberti. Diese Motivation sei bei den Jungen heute nicht mehr spürbar. «Die hätten am liebsten jede halbe Stunde eine Pause.» Auch auf Pünktlichkeit legt er grossen Wert. «Wenn wir uns vor einem Umzugstermin um 7 Uhr treffen, muss das klappen. Es kann nicht sein, dass das Team warten muss, nur weil einer es nicht schafft, pünktlich zu sein.» Zudem sei die Kommunikation mit dem Kunden wichtig. «Es gibt heute Unternehmen in der Branche, bei dem kein Einziger Deutsch spricht. Das kann einfach nicht gut gehen.» Albertis Team musste schon kurzfristig bei einem Kunden einspringen, weil das zuerst gebuchte Unternehmen am Zügeltag ohne Angaben von Gründen einfach nicht aufgetaucht ist.

Alberti weiss: Zum Geschäften reicht es nicht, Ware schleppen und transportieren zu können. Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Freundlichkeit, aber auch vermeintliche Kleinigkeiten wie das Abdecken der Böden, das Anbringen von Filzgleitern, nicht rauchen während der Arbeit und solche Dinge würden den Unterschied zu den Mitbewerbern machen und dafür sorgen, dass die Kundschaft sein Unternehmen weiterempfiehlt. Trotz Albertis Aversion gegen das Internet, seiner fehlenden Webpräsenz und weitgehender Verzicht auf Marketingmassnahmen weist seine Agenda nur wenige weisse Stellen auf. Wird in der 8000 Mitglieder zählenden Facebook-Gruppe «Olten» nach der Empfehlung eines Zügelunternehmens gefragt, sprechen sich vier von fünf Kommentarschreiber für Alberti aus. Er hat so viel zu tun, dass es vorkommt, dass er einen Auftrag an eine Mitbewerberin abgibt. Aber auch hier müsse er vorsichtig sein. So sei es vorgekommen, dass die Kundschaft mit dem Service nicht zufrieden war, was für ihn dann äusserst unangenehm sei. Die Internetkonkurrenz fürchte er nicht. «Olten ist überschaubar und die Leute überlassen ihre persönlichen Sachen eher jemandem, den sie kennen.» Früher habe er jeweils gesagt, er wolle bis 100 weitermachen, realistisch sei aber, dass er mit 65 in den Ruhestand gehe – nicht, weil er müde sei. «Es ist wie bei jedem anderen Job: Wenn du etwas mit Leidenschaft machst, bleibst du fit», ist Alberti überzeugt.

Oben ohne am Lenkrad

Die Hoffnung, dass sein Sohn das Geschäft einst übernehmen wird, hat Alberti noch nicht aufgegeben. Dazu sei aber noch Überzeugungsarbeit nötig, meint er. «Der Vorteil dieser Nachfolgelösung wäre es, dass ich langsam mein Pensum runterfahren könnte, das Geschäft nach und nach übergeben, ohne dass ich von einem Tag auf den anderen komplett raus bin.» Was ist mit den Töchtern? Frauen sind in der Branche äusserst selten vertreten, was nicht heisst, dass sie gänzlich fehlen. «Ich weiss von einem Unternehmen, das von einer Chefin geführt wird, die auch mitanpackt, und ich selbst hatte schon eine weibliche Aushilfe, über deren Leistung ich mich nicht beklagen konnte.» Das Problem an der Sache: Die Kunden würden in der Regel Männer bevorzugen, ist Alberti überzeugt. «Die denken, sie haben drei Mann bezahlt, und rechnen nicht damit, dass eine Frau dieselbe Leistung bringt.» Die ältere der beiden Töchter, Daniela oder «Goofy», wie ihr Vater sie neckisch nennt, hilft ab und an bei der Möbelmontage. «Wer weiss, vielleicht bringt sie ja mal einen Freund nach Hause, der mein Geschäft übernimmt», scherzt Alberti. Jeder Kandidat werde jedoch vorab darauf getestet, ob er in der Lage sei, ein Klavier zu stemmen. Alberti lacht, während die 18-Jährige auf dem Sofa hinter uns keine Miene verzieht.

Albertis Sohn hat bereits selbst eine Familie gegründet. Bald wird dessen Frau das zweite Kind bekommen. Alberti, der sich damit bereits zweifachen Grossvater nennen darf, meint: «In solchen Momenten wird einem dann wieder bewusst, wie die Zeit verstreicht. Wenn du ständig viel zu tun hast und dir nie gross Gedanken machst, fühlst du dich, als wärst du noch immer 20.» Ein paar Jährchen jünger fühlt sich Alberti, wenn er mit seinem Oldtimer ausfährt. Ein Traum, den er schon lange hatte und den er sich nach gutem Zureden seiner Kinder vor nicht allzu langer Zeit erfüllte. Das Fahrzeug, welches in seiner Form und seinem strahlenden Weiss an eine Rakete erinnert, stammt ursprünglich aus dem Jahr 1927. Bei Albertis Exemplar handelt es sich um ein Replikat aus den 68ern. «Ein Original-Bugatti-Bausatz auf einem VW-Käfer-Chassis», erklärt der gelernte Automonteur, während er die Fotos seines Schatzes auf dem Handy sucht. «Die einzige Elektronik am Fahrzeug sind zwei Blinker und ein Lichtschalter.» Ausfahren kann er den Oldtimer nur während der Sommermonate. Die Rakete ist oben ohne. Sie hat kein Dach. Und das passt ganz gut so, hat Alberti die restliche Zeit im Jahr bekanntlich Wichtigeres zu tun.

Pump up the court!

So sehr die Frühlingssonne sich auch ins Zeug legt, der Tristesse, welche die verlassene Minigolfanlage im Kleinholz gegenwärtig ausstrahlt, vermag sie nicht wirklich Einhalt zu gebieten. Seit ihrer Schliessung vor fünf Jahren hat sich auf der Anlage, bis auf die Bäume im Wind, nicht mehr allzu viel bewegt. Allerlei Ideen und Pläne gab es schon für das rund 3000 Quadratmeter grosse Areal, darunter ein grossangekündigtes 33-Millionen-Franken-Projekt, nämlich ein Ballsportcenter, das dem regionalen und überregionalen Sportnachwuchs zur Verfügung hätte stehen sollen.

Im vergangenen Jahr zogen sich die Initianten der Ballsporthalle um den Oltner Unternehmer Marc Thommen und Architekten Massimo Hauswirth zurück. Die Differenzen mit der Bauverwaltung und den zuständigen städtischen Kommissionen seien zu hoch gewesen, als dass man sich hätte auf einen weiteren Projektverlauf einigen können. Grund des Konflikts war damals das geplante Gebäude, das die maximal zulässige Höhe überschritten hätte und für dessen Umsetzung ein Gestaltungsplanverfahren eingeleitet hätte werden müssen. Dies lehnten die Initianten ab. Zuletzt platzte auch die Idee eines Leistungssportzentrums für Landhockey und die Projektpläne wanderten in die Schublade, ohne dass sich im Westen des Eisstadions etwas Neues getan hätte.

Während Mensch sich so seine Gedanken macht über die künftige Nutzung des gut gelegenen Areals, hat die Natur die Zeit genutzt, um auf den ehemaligen Minigolfbahnen der in den 90-Jahren eröffneten Anlage ihren Raum zurückzuerobern. Ein vergessen gegangener Rechen mit abgebrochenem Stiel stützt sich an einem der vielen Bäume auf dem Areal und wirkt neben den mit Tannzapfen, Laub und Moos gespickten Bahnen wie ein stummer Zeuge des fortschreitenden Zerfalls.

Beim Blick durch die milchigen Fenster des Clubhauses springen einem nicht wenige Pokale des Minigolf-Clubs Olten ins Auge. An der Wand klebt ein Plakat mit den Resultaten der Schweizer Mannschaftsmeisterschaften aus dem Jahr 2009. Letzte Überbleibsel, die von den gloriosen Zeiten der lokalen Minigolfer erzählen. Nach dem Konkurs der Minigolf Kleinholz AG und dem definitiven Aus der Anlage sahen sie sich gefordert, wenn auch zähneknirschend, eine neue Bleibe zu suchen. Bis heute halten sie ihre Trainings und Wettkämpfe in der Hallenminigolfanlage im Meierhof ab.

Schon bald jedoch soll neues Leben in die Anlage einkehren. Geht es nach dem Initiativteam des Bike Clubs Olten, der als Trägerverein des Projekts agiert, soll im Kleinholz ein Pumptrack entstehen, oder gleich deren drei, wie es erste Planungsskizzen vorsehen. «Damit wir ein möglichst grosses Publikum ansprechen und von der Anfängerin bis zum Pro alle auf ihre Kosten kommen, haben wir drei voneinander abgetrennte Bahnen angedacht», sagt Projektteammitglied Giuseppe Rebuffoni. Die gewellten mit Steilwandkurven versehenen Asphaltstrecken sind so konzipiert, dass man sie, ohne in die Pedalen treten zu müssen, alleine durch die Verlagerung seines Eigengewichts befahren kann. «Asphalt als Fahrunterlage bietet den Vorteil, dass er witterungsresistent ist und so gut wie keine Pflege beansprucht», erklärt Kollege Dominik Hug den Unterschied zu unbefestigten Tracks oder Dirt-Tracks, wie die Bikerin sie nennt.

Eine Spielfläche für Rollsportbegeisterte soll hier entstehen, wie man sie aus anderen Gemeinden bereits kennt. Ob auf dem Bike, Kickboard, mit Skates oder gar im Rollstuhl: «Beinahe jeder fahrbare Untersatz bietet sich an, in den Track zu steigen und sich in Geschicklichkeit und Gleichgewicht zu üben», sagt Hug, einer des fünfköpfigen Initiativteams, der von Berufes wegen als professioneller Bikelehrer öfters auf zwei Rädern unterwegs ist, als dass er mit beiden Füssen auf dem Boden steht.

Im Herbst vergangenen Jahres bewilligte das Oltner Parlament einen Budgetposten von 110’000 Franken für den Rückbau der Minigolfanlage. Damit war das Zeichen gesetzt, dass im Kleinholz etwas Neues entstehen kann. Ein Pachtvertrag und eine sich zurzeit in der Mache befindende Leistungsvereinbarung zwischen den Pumptrack-Eltern und der Stadt sollen die Rahmenbedingungen für den späteren Betrieb des geplanten Rollparks festhalten. Nach ersten positiven Signalen aus dem Stadthaus, namentlich von der abtretenden Stadträtin Iris Schelbert und dem kürzlich wiedergewählten Thomas Marbet, trafen sich die Biker erstmals Mitte März mit den zuständigen Behörden der Direktion Bildung und Sport, um die Details der Vereinbarung zu besprechen.

«Wir verstehen unser Projekt als eine Art Spielplatz, zu dem die Besucherinnen freien Zutritt haben sollen.»

Dominik Hug

Im Gespräch sei klar geworden, dass sich die Stadt finanziell eher nicht am Bau des Pumptracks beteiligen will, heisst es vonseiten des Bike Clubs. Jedoch zeigt sich die Stadt bereit, den Pachtzins für die Nutzung des Geländes zu erlassen, erklärt Hug auf Anfrage. Die angestrebte Leistungsvereinbarung mit der Stadt soll weiter auch die wesentlichen betrieblichen Fragen verbindlich regeln. Wer ist zuständig für die Pflege der Bäume und der Umgebung, wer kümmert sich um die Abfallentsorgung? Kann das ehemalige Clublokal der Minigolfer künftig im Rahmen der Pumptrackanlage in irgendeiner Form genutzt werden? Antworten auf diese und weitere Fragen wollen die Verantwortlichen beim nächsten Treffen Mitte April mit der Stadt klären. Die Finanzierung von rund einer halben Million Franken soll über ein Crowdfunding sowie Sponsorengelder erfolgen. Vor einigen Tagen wurde auch zu diesem Zweck die Website pumptrackolten.ch aufgeschaltet.

Buckelpisten-Blütezeit landauf, landab

Seit der Eröffnung der ersten Tracks im Land vor einem Jahrzehnt, unter anderem im bündnerischen Prättigau und in der Stadt Bern, wurden in den letzten Jahren laufend neue Anlagen in Betrieb genommen. Rund 80 solcher Sportanlagen zählt die Schweiz heute, weitere sind in Planung. Auf dem Gempen und in Grenchen bestehen asphaltierte Tracks, in Solothurn setzt man auf Dirt-Tracks und in Hägendorf befindet sich zeitweise eine mobile Minivariante aus Holzelementen.

Der Grossteil der Pumptracks findet sich in Berggemeinden im Bündnerland, Wallis und Berner Oberland, wo sich die Rollsportparks als probates Instrument bewährt haben, um auch während der schneefreien Sommermonate Freizeit- und Profisportler in die Gegend zu locken. Feststeht: Pumptracks erleben einen Boom. Das dürfte zum einen an ihrer vielseitigen Nutzungsmöglichkeit liegen, aber auch mit den geringen Wartungskosten zu erklären sein.

Seit Frühling 2019 in Betrieb: Der Rollsportpark im luzernischen Schüpfheim, welcher mit 3000 Quadratmetern flächenmässig vergleichbar ist mit der geplanten Anlage in Olten.

Der Energydrink-Produzent mit den roten Bullen im Logo, der seit jeher in seinen Marketingaktivitäten auf Trendsportarten setzt, veranstaltet seit 2018 eine eigene Pumptrack-Weltmeisterschaft. Den Rollsportpark in der Entlebucher Gemeinde Schüpfheim, der im Übrigen mit einem eigenen Track für Rollstuhlfahrende aufwartet, führt Red Bull neben Anlagen in Japan, Neuseeland und Argentinien als einen der angesagtesten Pumptracks der Welt auf. Beste Werbung für die ländliche Gemeinde, ohne dass sie dafür tief in die Tasche greifen muss. Auch der Sportstadt Olten würde ein Pumptrack ausgezeichnet stehen, meint jedenfalls das Initiativteam. Schliesslich blicke nicht zuletzt die Bikeszene in der Region auf eine lange und bewegte Geschichte zurück. Denn schon Jahrzehnte vor dem derzeitigen Bikeboom verschaffte sich Olten einen Namen in der Szene und darüber hinaus.

In den 80er-Jahren, als das Mountainbike in den USA geboren wurde, stieg ein findiger Velohändler namens Louis Kramer ins Geschäft ein und bewies den richtigen Riecher. Olten stieg zwischenzeitlich zu einem Mekka für Schweizer Mountainbiker auf. Hier wurde einer der ersten Mountainbikeclubs der Schweiz gegründet, die «Jura Mounties», und der «Kramer Cup», ein Bikerennen in der Region, sorgte während eines Jahrzehnts dafür, dass der neue Sport publikumswirksam in Szene gesetzt werden konnte. Kramer lebt heute in der Dominikanischen Republik. Seine Facebookpräsenz lässt keinen Zweifel aufkommen: Biken ist noch heute seine Leidenschaft. Wer weiss, vielleicht trifft man ihn eines Tages wieder in der Stadt, wenn er sich auf dem Track im Kleinholz an seine Anfänge zurückerinnert.

Eindrücke des legendären «Kramer Cups», der zwischen 1985 und 1995 einmal im Jahr in Olten stattfand.

Pumptrack, Kleinholz, Rollsport

Wie wir vielleicht wieder Land gewinnen

Plastik ist in aller Munde und das im wahrsten Sinn des Wortes. Nicht nur, dass der Wunsch nach einer getrennten Sammlung und einer umweltgerechten Wiederverwertung von Kunststoff in der Bevölkerung zunimmt, sondern auch als unsichtbare Beilage auf unser aller Mittagsteller.

Fünf Gramm Mikroplastik nimmt ein Mensch pro Woche durchschnittlich über die Nahrung auf, was dem Gewicht einer Kreditkarte entspricht, heisst es in einer Studie der University of Newcastle Australia, welche von der Umweltschutzorganisation WWF in Auftrag gegeben wurde. Das entspricht auf ein Jahr hochgerechnet etwas mehr als 250 Gramm Plastik. Jährlich gelangt also Plastik vom Gewicht eines Buttermödeli in den menschlichen Organismus, währenddem die Auswirkungen von Mikroplastik auf die menschliche Gesundheit derzeit noch weitgehend unklar sind.

Eine missliebige Wesensart des populären Werkstoffs Plastik: Er zersetzt sich nicht von selbst, sondern zerfällt im Laufe der Zeit in immer kleiner werdende Teile, bis er sich als sogenanntes Mikroplastik, unsichtbar für das menschliche Auge, in der Umwelt verteilt. Spuren von Plastik sind deshalb heute überall auf der Welt zu finden. In den Ozeanen genauso wie in Binnengewässern, in unseren Böden, arktischen Gletschern, gar in der Erdatmosphäre lassen sich die Partikel nachweisen.

Wissenschaftler gehen davon aus, dass Menschen die mikroskopisch kleinen Teilchen über die Luft einatmen können. Auch Schweizer Naturschutzgebiete sind mit Plastik durchsetzt, der sich, so wird angenommen, über die Atmosphäre verteilt dort niedersetzt. Jüngst hat eine Studie der Universität Bern gezeigt, dass 90 Prozent der Auenböden im Land mit Mikroplastik belastet sind. Doch wie konnte es überhaupt so weit kommen?

Kurze Geschichte des Plastiks

Die Plastikschwemme, mit der wir uns heute konfrontiert sehen, hat vor rund siebzig Jahren ihren Anfang genommen. Mit der Erfindung von PVC setzte nach dem Zweiten Weltkrieg ein regelrechter Boom ein. Plastik in all seinen Formen und Farben eroberte in Elektrogeräten und Spielsachen die Haushalte rund um die Welt. Plastik galt zu dieser Zeit als modern, schick und sauber. Die Geschichte des Plastiks ist aber um einiges älter.

Der erste Kunststoff überhaupt wurde der Öffentlichkeit 1862 in London auf der Weltausstellung vorgestellt. Sein Erfinder Alexander Parkes präsentierte ein Material, das sich durch Erhitzung formen liess und in abgekühltem Zustand seine Form behielt. Basierend auf dieser Erfindung wurde das sogenannte Zelluloid entwickelt, das einen verformbaren Kunststoff darstellt. Dieser diente zunächst als Ersatz für Elfenbein und Schildpatt in Billardkugeln und Haarkämmen und löste in der Film- und Fotoindustrie die bis dahin verwendeten Glasplatten als Trägermaterial für Bilder ab.

Wenige Jahre später wurde die Viskose patentiert, eine günstige Alternative zu reinen Naturprodukten wie Baumwolle und Seide. Diese und weitere frühe Kunststoffe wurden aus natürlichen Materialien hergestellt. Jener Kunststoff, der nach seinem Ausbruch aus der Marktnische aber für eine regelrechte Plastikschwemme auf der Welt sorgen sollte, hört auf den zungenbrecherischen Namen Polyvinylchlorid – alltagssprachlich bekannt als PVC oder Vinyl. Er enthält im Gegensatz zu den ersten Kunststoffen keine in der Natur vorkommende Moleküle mehr. Man spricht von einer vollständig synthetischen Herstellung. Nachdem man festgestellt hatte, dass ein Abfallprodukt der chemischen Industrie für die Produktion von PVC genutzt werden kann, begann der Siegeszug des günstigen Plastiks. Zusammen mit Polyethylen und Polypropylen zählt PVC global gesehen heute zu den am häufigsten verwendeten Kunststoffarten.

Weltweit wurden zwischen 1950 und 2015 8,3 Milliarden Tonnen Plastik produziert. Zum allergrössten Teil für Einwegprodukte und Verpackungen, wie die deutsche Heinrich-Böll-Stiftung in ihrem «Plastikatlas» schreibt. Die meisten eingesetzten Kunststoffe basieren auf fossilen Rohstoffen wie Erdöl, Kohle oder Erdgas. Daneben existieren heute biobasierte Kunststoffe aus nachwachsenden Rohstoffen, die beispielsweise aus Mais- oder Kartoffelstärke hergestellt werden. Zusatzstoffe wie Weichmacher, Stabilisatoren oder Flammschutzmittel verleihen dem Plastik die gewünschte Eigenschaft. Das Problem an der Sache: Sie können im Lauf der Zeit an die Umwelt abgegeben werden und gelangen so unter anderem in den menschlichen Körper, wo sie im Fall der Weichmacher nachweislich das Hormonsystem beeinflussen.

Ob ein Kunststoff sich mit dem Prädikat «biologisch abbaubar» schmücken darf, hängt übrigens nicht davon ab, welche Rohstoffe er enthält, sondern wie seine chemische Struktur zusammengesetzt ist. So kann ein Kunststoff aus Erdöl biologisch abbaubar sein, sprich durch natürlich auftretende Mikroorganismen vollständig abgebaut werden.

7 Kunststoffe, die dir im Alltag begegnen

Polyethylenterephthalat (PET)
Recyclingcode 01, rezyklierbar
Getränkeflaschen, Lebensmittelverpackungen

Polyethylen (HDPE und LDPE)
Recyclingcode 02 und 04, rezyklierbar
HDPE: Joghurtbecher, Einkaufstüten, Flaschen für Shampoo, Waschmittel und Chemikalien
LDPE: Müllbeutel, leicht komprimierbare Flaschen, Frischhaltefolie

Polyvinylchlorid (PVC)
Recyclingcode 03, teilweise rezyklierbar
Blisterverpackungen, Kinderspielzeug, Rohre und Schläuche, durchsichtige Lebensmittelverpackungen

Polypropylen (PP)
Recyclingcode 05, rezyklierbar
Spielzeug, Sportbekleidung, Flaschendeckel, Strohhalme, Essensbehälter

Polystyrol (PS)
Recyclingcode 06, schwer rezyklierbar
Plastikbesteck, Styropor, CD-Hüllen, Becher, Teller

Andere Kunststoffarten wie Polycarbonat (PC, Other)
Recyclingcode 07, schwer rezyklierbar
Bauteile, Computer, Elektronik (nicht empfohlen für Lebensmittel)

Schweiz hinkt Europa hinterher

Hierzulande fallen jedes Jahr rund 800’000 Tonnen Kunststoffabfall an, davon stammen 365’000 Tonnen aus privaten Haushalten. Nur gerade 10 Prozent des Plastikmülls werden gegenwärtig wiederverwertet, wozu vor allem PET-Flaschen beitragen, bei deren Sammlung sich die Schweiz als Vorreiterin feiert. Der Grossteil der Plastikabfälle landet nach wie vor in Kehrichtverbrennungsanlagen und Zementwerken, wo er energetisch verwertet, sprich verbrannt wird. Er dient so zwar der Gewinnung von Strom und Wärme, wirkt sich aber negativ auf den CO2-Ausstoss aus.

Vergleicht man die Wiederverwertungsquote der Schweiz mit anderen europäischen Ländern, zeichnet sich ein eher unrühmliches Bild. In der EU werden derzeit 30 Prozent aller anfallenden Kunststoffabfälle für die Wiederverwertung gesammelt. Die Hälfte des Sammelgutes wird zur Weiterverarbeitung in Länder ausserhalb der EU exportiert. So wurde jahrelang ein erheblicher Anteil des europäischen Plastikmülls nach China verschifft. Bis die Regierung in Peking Anfang 2018 ein Importverbot für Plastikmüll aus dem Ausland verhängte.

Mit dem Importverbot ist der Druck auf den Westen gestiegen, nach neuen, nachhaltigen Lösungen für das Abfallproblem zu suchen. Im «Basler Übereinkommen über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung» wurden seither Verschärfungen beschlossen. Seit 2021 müssen bei der Ausfuhr gefährlicher oder verunreinigter Kunststoffabfälle sowohl das Export- als auch das Importland zustimmen. Dies erschwere die Entsorgung in Länder mit geringen Umweltstandards, heisst es bei der Heinrich-Böll-Stiftung. Plastikabfälle, die bis vor nicht allzu langer Zeit – aus dem Auge aus dem Sinn – ans andere Ende der Welt transportiert wurden, werden folglich künftig vermehrt bei uns bleiben.

Was will das geplante nationale Sammelsystem?

Die ambitionierte EU-Strategie «Plastics 2030» sieht vor, dass bis in neun Jahren sämtliche Plastikverpackungen rezyklierfähig sein müssen sowie eine Recyclingquote in der Höhe von mehr als 50 Prozent erreicht wird. Die Entschlüsse der EU-Kommission wirken sich auch auf die Schweiz aus und haben Bewegung in die Sache gebracht. Anfang März dieses Jahres hat sich der Ständerat, wie zuvor die Landesregierung und der Nationalrat, dafür ausgesprochen, eine gesetzliche Grundlage für eine schweizweite Sammlung von Kunststoffabfällen zu schaffen.

Damit sollen die Wiederverwertung gefördert und die bisweilen unterschiedlichen Vorgehensweisen in einzelnen Kantonen und Gemeinden in geordnete Bahnen gelenkt werden. Eine Allianz aus Vertretern von Industrie, Detailhandel und öffentlicher Hand arbeitet derzeit unter dem Titel «Drehscheibe Kreislaufwirtschaft» an einem schweizweiten Sammelsystem. Gegenüber der NZZ sagte Patrik Geisselhardt, Geschäftsführer von «Swiss Recycling», dass eine Lancierung 2022 realistisch erscheine.

Der Verein «Schweizer Plastic Recycler» mit Sitz in Olten, ein Zusammenschluss Schweizer Recycling-Unternehmen, ist am Aufbau des geplanten nationalen Sammelsystems beteiligt. Sollen die Plastikabfälle der Haushalte künftig, ähnlich wie beim Kehricht, abgeholt werden oder setzt man auf ein Bringsystem? Ist der Detailhandel gefordert, sich an der Sammlung zu beteiligen? Welche Kunststoffarten sind bei der Sammlung zugelassen? Wie lässt sich die Finanzierungsfrage lösen? «Auf diese und weitere Fragen suchen wir Antworten», sagt Simone Hochstrasser, Geschäftsführerin von «Schweizer Plastic Recycler».

Auf Grundlage einer Kunststoff-Charta analysiert und dokumentiert der Verein die Sammlung und Verwertung von Plastikabfällen und arbeitet an einem transparenten System für das Kunststoffrecycling. Seit 2020 bietet er ein Monitoring an, das Kantonen und Gemeinden Informationen zu den gesammelten Kunststoffarten und deren Entsorgung liefert. So erhält der Kanton Zürich jährlich einen detaillierten Bericht über Sammelmengen und deren Weiterverarbeitung. Mit dem Amt für Umwelt des Kantons Solothurn sei man auf gutem Weg, eine ähnliche Vereinbarung abzuschliessen, sagt Hochstrasser.

Unabhängig vom schweizweit geplanten Sammelsystem wurden in der Stadt Zürich im vergangenen Jahr erste Erfahrungen mit einem Sammelsystem gemacht. In Höngg und Schwamendingen konnten Quartierbewohnerinnen testweise an eigens eingerichteten Sammelstellen ihren Plastikmüll entsorgen. Das Angebot fand derart grossen Anklang, dass das Projekt nach wenigen Monaten wieder gestoppt werden musste. Um das Volumen bewältigen zu können, sah sich das Tiefbau- und Entsorgungsdepartement der Stadt gezwungen, die Zahl der Sammelbehälter kurz nach Teststart zu verdoppeln und die Plastikabfälle bis zu dreimal täglich abzuholen. Die Kosten für den Mehraufwand explodierten.

Die Verantwortlichen kamen zum Schluss, dass zuerst die Finanzierungsfrage geregelt sein müsse, bevor ein flächendeckendes Entsorgungsangebot eingerichtet werden könne. Auch weil das Gesetz das Verursacherprinzip vorschreibe. Ebenfalls in Zürich haben sich die Kehrichtverbrennungsanlagen entschlossen, ab Januar 2021 keine wiederverwertbaren Kunststoffe aus Landwirtschaft und Gewerbe mehr für die Verbrennung zuzulassen. Dies dürfte den Druck weiter erhöhen, eine nachhaltige Lösung für das Plastikproblem zu finden.

Olten und sein Plastik

Der Oltner Stadtrat streicht in seiner Antwort auf eine Interpellation der grünen Fraktion Ende 2019 hervor, dass Olten als erste Gemeinde im Kanton eine Kunststoffsammlung eingeführt habe und dass Überlegungen im Gange seien, im Mittelland eine Kunststoffsortieranlage zu erstellen. Ziel ist es, dass möglichst viele der Kunststoffabfälle aus Haushalten und Gewerbe primär einer stofflichen Verwertung zugeführt werden.

Auf Anfrage verweist Kurt Schneider, Leiter der Oltner Baudirektion, auf ein Projekt der «IG Swiss Plastic Recycling», die in Altdorf UR eine Wiederverwertungsanlage für Kunststoffe plant und damit verbunden die erste Sortieranlage für Haushaltskunststoffe in der Schweiz. Derzeit werden die in der Schweiz gesammelten Kunststoffabfälle zur Sortierung in verschiedene europäische Länder transportiert. Geht es nach den Plänen der Initianten soll die erste Sortieranlage für Kunststoffe in der Schweiz Ende 2022 ihren Betrieb aufnehmen. Zeitgleich mit der nationalen Sammellösung, wie sie «Swiss Recyling» vorsieht.

Bevor der Kunststoffmüll die Einfahrt auf eine Sortierstrasse findet, muss er erst gesammelt werden. Für Oltens Einwohner besteht seit 2014 die Möglichkeit, Plastikabfälle in gebührenpflichtigen Säcken beim Werkhof vorbeizubringen. Zugelassen sind beispielweise Blumentöpfe, Waschzeinen und Spielzeug aus Plastik. Seit es die Sammelsäcke gibt, hat sich das abgegebene Plastikvolumen laufend erhöht. Von anfänglich rund 13 Tonnen im Jahr 2015 stieg die Sammelmenge 2020 auf 44 Tonnen.

Vom Werkhof Olten aus gelangen die Kunststoffabfälle anschliessend nach Buchs bei Aarau, wo sie zu grossen Ballen gepresst für den Weitertransport zur Sortierung ins Ausland vorbereitet werden. Die Sortierung des Sammelguts erfolgt im Anschluss in Rheinfelden auf deutschem Boden, wie Werkhofleiter René Wernli auf Anfrage sagt. Jener Anteil, der wiederverwertet werden kann, wird schliesslich vom Ostschweizer Unternehmen «InnoPlastics» im thurgauischen Eschlikon zu einem Granulat verarbeitet, das sich für die Produktion neuer Produkte verwenden lässt.

Einmal ganz ohne, bitte

Das Rezyklieren von Plastik ist zweifelsfrei die bessere Option, als ihn zu verbrennen. Doch wird auch die Wiederverwertung die Probleme, welche der Kunststoff mit sich bringt, nicht lösen können. Während an der Verpackung der Zukunft fleissig geforscht wird, sind sich Expertinnen aller Fachgebiete einig: Die Plastikflut muss an ihrer Quelle reduziert werden. Die Vermeidung dürfte dabei eine zentrale Rolle einnehmen. Doch leichter gesagt als getan. Dessen sind sich auch jene Menschen bewusst, die sich vertiefter mit der Thematik auseinandersetzen und gewillt sind, neue Wege zu beschreiten.

«Bevor wir vor eineinhalb Jahren unseren Laden eröffnet haben, stellte sich die Frage, ob wir voll und ganz auf ein Sortiment aus unverpackten Lebensmitteln setzen», erzählt Anja Schaffner, Mitinhaberin der «Marktecke» in der Oltner Altstadt. Dies hätte einerseits aber einen grösseren Platzbedarf gefordert, andererseits hätten Studien gezeigt, dass die Vermeidung von Plastik nicht immer die nachhaltigere Alternative bedeute. «Am Beispiel von Tofu, verpackt im Glasbehälter, ist belegt, dass dessen Transport sich mit einem höheren Treibstoffverbrauch negativ auf den CO2-Ausstoss auswirkt.»

Unter Berücksichtigung unterschiedlicher Aspekte habe man sich schliesslich zu einer Mischform entschieden, die auch herkömmlich verpackte Artikel umfasst. Das Angebot an unverpackten Lebensmitteln in der «Marktecke» umfasst neben frischen Produkten wie Obst und Gemüse, das beim Grossverteiler nicht selten in Folie eingeschweisst zu finden ist, unter anderem Reis, Teigwaren, Linsen, Kürbiskerne und Trockenfrüchte. Abgefüllt werden die Waren beim Kauf zum Beispiel in Glasbehälter oder Stoffsäcke, welche die Kundschaft idealerweise gleich selbst mitbringt.

«Bei unserem Kaffee- und Olivenölangebot können wir eine komplette Zero-Waste-Lieferkette garantieren, weil wir diese Ware in Fässern beziehen, die immer wieder neu befüllt werden.» Unverpackte Lebensmittel bringen für die Ladenbetreiberin einen gewissen Mehraufwand mit sich. «Die Lebensmittel abzufüllen sowie die Haltbarkeitsdaten und vom Lebensmittelgesetz vorgeschriebene Reinigungsmassnahmen zu dokumentieren, benötigt definitiv mehr Zeit, als Ware in herkömmlicher Verpackung einfach ins Regal zu stellen», sagt Schaffner, «Zeit, die wir uns gern nehmen, wenn wir damit einen Beitrag zu einem nachhaltigeren Umgang mit kostbaren Ressourcen leisten können.»

Ideen für weniger Plastik im Alltag

  • Trink Leitungswasser, statt Wasser in Flaschen zu kaufen.
  • Kaufe Grosspackungen statt Einzelverpackungen.
  • Verwende Stofftaschen, die du immer und immer wieder verwenden kannst. 
  • Pack dir Löffel, Messer und Gabel für unterwegs in deinen Rucksack und verzichte auf Wegwerfbesteck.
  • Lass Produkte, die Mikroplastik an die Umwelt abgeben, im Laden stehen (zum Beispiel Peelings, Waschmittel, Microfasertücher, Fleecepullovers).
  • Lass deinen Nachwuchs mit Holz- statt Plastikspielzeug spielen.
  • Komm nicht auf die Idee, deine Tupperwaresammlung zu entsorgen, sondern nutze sie, solange du kannst, und vererbe sie deinen Nachkommen. 💚

Plastik, Recycling, Kreislaufwirtschaft

«Im Herbst wollen wir etwas Neues wagen»

Im Jahr 2003 eröffnet, behauptet sich der Sälipark seit 18 Jahren als grösstes Einkaufszentrum auf dem Stadtgebiet. Das einstige Industrieareal, auf dem Maschinen und Apparaturen für Giessereien gebaut wurden, entwickelte sich zu einem Einkaufs- und Dienstleistungszentrum. Der Sälipark entstand zu einer Zeit, in welcher der Onlinehandel für viele noch Neuland bedeutete.

Durch das sich verändernde Einkaufsverhalten in den letzten Jahren gerieten Einkaufszentren zunehmend unter Druck. Die Umsatzzahlen sind seit einigen Jahren rückläufig, manche Zentren wie das Centro Ovale bei Chiasso sind einen leisen Tod gestorben und gelten heute als «Dead Mall». Andere kämpfen seit ihrer Eröffnung mit dem Überleben, zum Beispiel The Mall of Switzerland in Ebikon vor den Toren Luzerns oder das Stücki in Basel nahe an der Grenze zu Deutschland. Letzteres wird zurzeit zu einem «Wirtschaftspark» umgebaut, der Arbeitsplätze für 4000 Menschen bieten sowie ein Grosskino und ein Bowlingcenter beherbergen soll. Wie aber steht es um den Sälipark in Olten? Was hat sich in den letzten Jahren verändert und welche Trends zeichnen sich für die Zukunft ab? Das haben wir bei Vera Graf, Geschäftsführerin bei Giroud Olma, der Betreiberin des Säliparks, in Erfahrung gebracht.

Frau Graf, es heisst, in Sachen Umsatz pro Quadratmeter zähle der Sälipark zu den erfolgreichsten Einkaufszentren der Schweiz. Mythos oder Realität?

Zunächst müssen wir die Relationen klären. Von einem Einkaufszentrum spricht man ab einer Verkaufsfläche von 5000 Quadratmetern. Beim Sälipark sind es 13’000 Quadratmeter. Das mag im ersten Moment nach viel klingen. Im Vergleich mit anderen Zentren in der Schweiz gehören wir aber zu den Kleinen. Das Glattzentrum beispielsweise zählt 45’000, das Shoppi Tivoli gar 76’000 Quadratmeter. Die relativ hohen Umsatzzahlen erklären sich dadurch, dass der Sälipark mit der Migros und dem Denner über einen vergleichsweise hohen Lebensmittelanteil verfügt. Dies trägt dazu bei, dass die Umsatzzahlen auf das Ganze gesehen vergleichsweise hoch sind. Feststeht aber auch, dass der ganze Non-Food-Bereich im stationären Handel grundsätzlich unter Druck ist und das nicht erst seit der Pandemie. Experten gehen jedoch davon aus, dass durch den Lockdown die seit längerem zu beobachtende Entwicklung in Richtung Onlinehandel um fünf Jahre beschleunigt wurde.

«Als im September im Kanton Solothurn die Maskenpflicht in Läden eingeführt wurde, haben wir das massiv zu spüren bekommen.»

Wenn wir beim Thema sind: Wie hat sich die gesetzlich verordnete Ladenschliessung bei Ihnen im Zentrum ausgewirkt?

Der erste Lockdown im vergangenen Frühling kam für uns, wie für alle, überraschend. Nach dem ersten Schock hat man sich mit der Situation arrangiert, jedoch gab es zu diesem Zeitpunkt keine rechtliche Handhabe beispielsweise bei der Frage, ob der Vermieter dem Mieter mit dem Mietzins entgegenkommen muss. Wir haben uns deshalb so rasch wie möglich mit unseren Mietern zusammengesetzt und beschlossen, sämtlichen Betrieben, welche von der verordneten Schliessung betroffen waren, einen Mieterlass für den Monat April zu gewähren. Nach der Wiedereröffnung lagen die Besucherzahlen sofort wieder auf Normalniveau. Wie zu normalen Zeiten üblich liefen die Geschäfte über die Sommermonate eher lau. Die Leute verreisten wohl weniger ins Ausland, verbrachten ihre Ferien aber trotzdem nicht zu Hause, sondern irgendwo in der Schweiz. Als im September im Kanton Solothurn die Maskenpflicht in Läden eingeführt wurde, haben wir den «Kantönligeist» am eigenen Leib zu spüren bekommen, da die Kundschaft in den benachbarten Kanton Aargau ausgewichen ist. Alles in allem haben wir für das vergangene Jahr einen Umsatzrückgang von 20 Prozent zu verzeichnen.

Unabhängig von Corona: Wie hat sich der Sälipark in der Zeit seit seiner Eröffnung verändert?

Früher war es die Regel, langjährige Verträge abzuschliessen. Das gab einerseits dem Eigentümer eine Planungssicherheit, andererseits bedeutete es für den Mieter, dass er seine Investitionen über einen gewissen Zeitraum amortisieren konnte. Beim Grossteil unserer Verträge ist die Mietdauer auf zwanzig Jahre festgesetzt. Dieser Umstand hat dazu geführt, dass die Diversität im Sälipark in der Vergangenheit gelitten hat. Das Angebot hat sich über die Jahre nur wenig verändert. Einerseits ist es für uns als Eigentümerin erfreulich, wenn die Mieter treu sind, andererseits verfügen wir dadurch über wenig Spielraum, das Angebot im Zentrum mit neuen Geschäften aufzufrischen. Für die Kundenseite ist es verständlicherweise eher langweilig. In der heutigen Zeit, in der das Retailgeschäft schnelllebiger geworden ist, gehören langjährige Verträge eher zur Ausnahme als zur Regel. Die vertraglich vereinbarte Mietdauer ist aber von Fall zu Fall verschieden. Einfach gesagt: Je grösser die Investitionen eines Mieters in sein Lokal, umso länger die Vertragsdauer. Für zwanzig Jahre unterschreibt aber heute niemand mehr. Dafür ist der Wandel zu tiefgreifend und zu rasant. Niemand weiss, was in zehn Jahren sein wird.

Eine einfache Rechnung: In zwei Jahren werden zahlreiche Verträge auslaufen. Werden wir 2023 einen leeren Sälipark vorfinden?

Die Verhandlungen mit den einzelnen Geschäftsinhaberinnen sind ein laufender Prozess und beginnen lange vor Vertragsende. Einige unserer Mieter konnten wir in den letzten Jahren dazu motivieren, ihre Räumlichkeiten durch Umbauarbeiten aufzufrischen. Eine solche Investition zieht normalerweise eine Vertragsverlängerung oder einen neuen Vertrag mit sich. Ich kann also beruhigen, es gibt keine Anzeichen, dass der Sälipark sich leeren wird.  

«Als stationäres Geschäft nebenbei einen Onlineshop zu betreiben, reicht nicht mehr.»

Sie haben zu Beginn das veränderte Einkaufsverhalten erwähnt. Wie spüren Sie dieses konkret?

Wir sprechen in diesem Zusammenhang von Omnichannel. Dabei geht es um die Verzahnung des Onlinegeschäfts mit dem stationären Handel. Als stationäres Geschäft nebenbei einen Onlineshop zu betreiben, reicht nicht mehr. Ein Konzept, das sich bewährt, heisst Click and Collect, bei dem der Kunde seinen Kauf zwar online tätigt, die Ware aber später im Laden abholt. Oder die Möglichkeit für die Kundin, die im Laden ein Produkt sieht und sich beim jeweiligen Geschäft online über weitere Farben und Variationen informieren kann. Solche Kombinationen aus online und stationär werden künftig noch viel wichtiger werden. Diese Entwicklung wirkt sich auch auf die Nachfrage nach Verkaufsflächen aus. Während früher grosse Flächen gefragt waren, um das gesamte Sortiment präsentieren zu können, sind heute durch die Verknüpfung mit dem Internet die Möglichkeiten auf kleiner Fläche viel grösser. Der stationäre Handel ist gefordert, sich neue Konzepte zu überlegen. Dabei geht es immer um dieselbe Frage: Was kann ich meiner Kundschaft bieten, das sie im Internet nicht geboten bekommt?

Welche Massnahmen können Sie als Betreiberin eines Einkaufszentrums hinsichtlich neuer Konzepte ergreifen?

Im Herbst wollen wir etwas Neues wagen. Auf einer freiwerdenden Fläche möchten wir die Möglichkeit für Geschäfte und Marken bieten, Pop-up-Stores einzurichten. Bei der Vermarktung dieser Fläche arbeiten wir mit einem jungen Schweizer Start-up zusammen. Die Ausschreibung erfolgt über die Plattform popupshops.com, auf der Pop-up-Mietflächen auf der ganzen Welt ausgeschrieben sind. Als Eigentümerin bauen wir die Fläche komplett aus, je nach Bedarf stellen wir auch das Mobiliar zur Verfügung. Der Mieter wählt die benötigte Quadratmeterzahl und muss nur noch mit seiner Ware kommen. Die Mietdauer kann ebenso flexibel gewählt werden wie der Platzbedarf.

Welche Mieterschaft stellen Sie sich vor für diese Pop-up-Flächen? 

Da sind wir grundsätzlich offen. Ich kann mir vorstellen, dass wir einen Brand für uns gewinnen können, der testen will, ob in Olten ein Zielpublikum für seine Marke vorhanden ist. Es ist aber auch denkbar, dass ein Ladenbetreiber aus der Altstadt einen Versuch wagt, um auf sich aufmerksam zu machen und zu sehen, wie sein Sortiment oder einzelne Produkte daraus beim Publikum auf der rechten Seite ankommt. Eine weitere Möglichkeit ist es, dass ein bestehender Mieter die Fläche für eine besondere Promotion nutzt. Der Vorteil des Pop-up-Konzepts ist es, dass es beiden Seiten, Vermieter wie Mieter, die Chance gibt, etwas Neues auszuprobieren. Unser Ziel ist es, das Angebot im Sälipark vielfältiger zu gestalten. Ein spannendes Wagnis, weil es von unserer Seite Investitionen erfordert und nur schwer vorauszusagen ist, wie sich das Projekt entwickeln wird.

Eine weitere Entwicklung, die sich vermehrt beobachten lässt, ist die Schaffung von Co-Working-Arbeitsplätzen. Ein interessantes Konzept für den Sälipark?

Das Co-Working-Konzept hat sich global vor allem in grossen Zentren durchgesetzt. Auch in Olten gibt es bereits solche Formen von temporärem Arbeitsraum. Wir planen aktuell auf dem Sälipark-Areal keine solchen Co-Working-Arbeitsplätze, da das derzeitige Angebot sicherlich grösser ist als die Nachfrage. Wir werden das aber hinsichtlich der veränderten Arbeitsweise durch Corona im Auge behalten.

Wie würden Sie den Beziehungsstatus zwischen den Geschäftsbetreibern auf der linken und jener auf der rechten Stadtseite beschreiben?

Für mich sind die beiden Stadtseiten ebenbürtig. Es ist anzunehmen, dass viele unserer Kundinnen auch in der Altstadt Einkäufe tätigen. Da ich selbst nicht in Olten aufgewachsen bin, kann ich diese vermeintliche Rivalität zwischen den beiden Seiten nicht wirklich nachvollziehen. Nicht zuletzt durch unsere Mitgliedschaft im Gewerbeverband pflegen wir gute Kontakte mit den Gewerbetreibenden in der Altstadt. Man trifft sich regelmässig und tauscht sich aus. Auch wenn es vereinzelt Befürchtungen gegeben hat, dass die rechte Seite mit dem Sälipark zu dominant wird, gibt es genügend Geschäfte, die sich bewusst für die Altstadt entscheiden und sich nicht vorstellen können, ihren Standort in einem Einkaufszentrum zu haben. Beides hat seine Vor- und Nachteile. Im Einkaufszentrum profitieren die Geschäfte von den Besucherfrequenzen der anderen Unternehmen, hingegen fallen die Kosten für die Infrastruktur meist höher aus. Mit Besorgnis beobachten wir die einzelnen politischen Vorstösse in der Altstadt, noch mehr Parkplätze zu streichen. Damit macht sich die Politik zur Sterbehelferin des Einzelhandels und wird – wahrscheinlich ungewollt – den Trend zum Einkaufen im Internet noch beschleunigen.

Einen Co-Working-Bereich wird es voraussichtlich auch im neu gestalteten Sälipark nicht geben.

Wie wichtig ist der Standort beziehungsweise die Erreichbarkeit für Velofahrer und Fussgängerinnen?

Die zentrale Lage sowie die direkte Nachbarschaft zur Fachhochschule und dem Bildungszentrum sorgen dafür, dass viele unserer Kunden zu Fuss, auf dem Velo oder mit dem Bus zu uns gelangen. Die 400 Parkplätze im Parking und vor dem Do-it sind aber nach wie vor äusserst wichtig für uns. Die ländliche Lage von Olten spielt da sicherlich eine Rolle. Dies wird sich in absehbarer Zeit nicht ändern. Was wir eingerichtet haben, sind zwei Ladestationen für Elektrofahrzeuge. Diese werden bisher aber noch relativ selten genutzt.

Welchen Stellenwert hat der Mietermix innerhalb des Einkaufszentrums?

Diesen erachten wir als sehr wichtig. Abwechslung macht es spannender für die Kundschaft. Als kleines Zentrum gelangt man jedoch schnell an Grenzen. Ein gesunder Mix zwischen Fashion, Dienstleistungsangeboten und Gastronomie ist aber entscheidend. In vielen Einkaufszentren ist der Fashion-Anteil noch immer sehr hoch, vielleicht zu hoch. Ein Risiko, weil dieser Bereich extrem unter Druck ist durch die Konkurrenz im Internet. Der Trend geht mehr in Richtung Dienstleistungen, unter anderem im Gesundheitsbereich, und Gastronomie. Gerade mit Cafés und Restaurants lässt sich die Aufenthaltsqualität in einem Zentrum erhöhen. Unser Ziel ist es, dass die Kundschaft möglichst viel unter einem Dach erledigen kann. Neben dem Lebensmitteleinkauf sollen die Menschen die wichtigsten Besorgungen bei uns machen können.

«Es gibt Stimmen, die längere Öffnungszeiten für den stationären Handel fordern. Doch dies löst das Problem nicht.»

Welche weiteren Trends für die Zukunft sehen Sie für Einkaufszentren?

Der Unterhaltungsfaktor gewinnt an Relevanz. Die Kundschaft ist anspruchsvoller geworden. Studien zeigen, dass heute mehr als Zweidrittel der Kundinnen sich vorab im Internet informieren, bevor sie in den Laden kommen. Der Mensch will nicht mehr einfach nur einkaufen. Das sieht man vor allem bei den jüngeren Generationen. Ein Mix aus angesagten Brands und guter Gastronomie, wo man sich gerne trifft, wird künftig sicherlich wichtiger sein. Das Thema Gesundheit ist auch ein solcher Trend. Grössere Einkaufszentren versuchen es mit Kino, Schwimmbad und Wellness. Damit versucht man wegzukommen vom reinen Einkaufen. Zuhause auf dem Sofa kann ich während 24 Stunden Ware bestellen. Es gibt Stimmen, die längere Öffnungszeiten für den stationären Handel fordern. Doch dies löst das Problem nicht. Wir sehen das beim Abendverkauf, der bei den Leuten nicht mehr gefragt ist. Auch die Sonntagsverkäufe sind weitaus weniger wichtig als früher. Viel entscheidender ist die bereits erwähnte Verzahnung von Internet und stationärem Handel, gerade auch um die jüngere Kundschaft zu motivieren, ins Einkaufszentrum zu kommen. Das Zentrum der Zukunft bietet lustvolles Einkaufen, Treffpunkte, um Gemeinschaft zu erleben, sowie persönliche Beratung durch fachkundiges Personal. Dinge, mit dem das Internet nicht aufwarten kann.

Was können Sie zum Stand der Dinge beim nicht mehr ganz so neuen Neubauprojekt Sälipark 2020 sagen?

Wir befinden uns nach wie vor in einem schwierigen Bewilligungsverfahren. Zuletzt lag das Projekt eineinhalb Jahre beim Kanton, der in der Zwischenzeit einen Formfehler der Stadt festgestellt hat. Deshalb musste ein Teil des Gestaltungsplans jüngst noch einmal neu aufgelegt werden. Dieser Gestaltungsplan ist für die Arealentwicklung entscheidend. Woran wir auch sieben Jahre nach der ersten Idee noch immer festhalten: Mit dem Sälipark 2020 wollen wir das Wohnen aufs Areal bringen. Zentrales Wohnen, Arbeiten und Einkaufen mit möglichst kurzen Wegen ist die Zukunft. Darin sehen wir das grösste Potenzial und da bleiben wir dran, auch wenn derzeit nicht absehbar ist, wann wir mit der Umsetzung unserer Pläne beginnen dürfen.

Wird es das verflixte siebte Jahr richten? Das Projekt Sälipark 2020, mit dem unter anderem siebzig Wohnungen auf dem Areal entstehen sollen, steckt seit 2014 noch immer in den Startlöchern.

Ladenmix, Shopping, Einkaufszentrum

Diese Webshops versorgen dich mit Vitaminen aus deiner Region

Chicorée, Rüebli, Nüsslisalat, Randen, Rucola, Spinat, Wirz, Zuckerhut: Die Liste an saisonalem Gemüse aus der Schweiz ist lang und bietet eine reichhaltige Auswahl für Gerichte, die nicht nur dem Gaumen schmeicheln, sondern auch der Umwelt einen Dienst erweisen. Kurze Transportwege, perfekt gereiftes Obst und Gemüse, Wertschätzung und Support der Landwirte in deiner Umgebung: Die Gründe, welche für Lebensmittel aus der Nähe sprechen, sind mindestens so vielfältig wie das Angebot an saisonalen Leckereien aus der Region.

Gewiefte Feinschmeckerinnen wissen: Dank kurzer Transportwege können Früchte und Gemüse exakt zu jenem Zeitpunkt geerntet werden, wenn sie am besten schmecken. Im Vergleich mit der Konkurrenz aus fernen Anbaugebieten enthalten lokal angebaute Produkte deshalb nicht nur mehr Nährstoffe, sondern haben auch geschmacklich die Nase vorn. Wer sein Gemüse aus der Nähe bezieht, darf sich ausserdem über eine längere Haltbarkeit freuen, denn je schneller die Lebensmittel vom Feld in den heimischen Kühlschrank gelangen, desto länger bleiben sie knackig, frisch und appetitlich.

Zeit hat man nicht, Zeit nimmt man sich, heisst es so schön. Wer trotzdem nicht dazu kommt, sich seine Gemüse- und Früchteration für die nächsten Tage frisch bei den Marktfahrern an den Wochenmärkten im Bifang oder auf der Kirchgasse zu besorgen oder einen Zwischenstopp bei einem der zahlreichen Hofläden in der Region einzulegen, setzt auf das Angebot im Internet. Eine nicht abschliessende Übersicht verschiedener Onlineshops und Verzeichnisse, die dich mit saisonalen Zutaten für deine Küche versorgen, haben wir an dieser Stelle für dich zusammengetragen.

#1 Der jüngste Sprössling auf dem Markt: franzz.ch

Franzz hat es sich zur Aufgabe gemacht, ein Verzeichnis von Schweizer Hofläden auf dein Smartphone zu bringen. Die App ist für iOS und Android verfügbar, lässt sich spielend leicht bedienen und macht einen professionellen ersten Eindruck. Doch noch steckt Franzz in Kinderschuhen. Die gelisteten Hofläden befinden sich grösstenteils in der Region Bern. Dies soll sich in Zukunft ändern, wie einer der Gründer, Nino-Leandro Colombo auf Anfrage zu verstehen gibt: «Unser Ziel ist es, die Marketingplattform Nummer eins zu werden für alle regionalen Anbieter in der Schweiz.» Die Idee zum zurzeit noch in der Freizeit betriebenen Projekt hatte Colombo 2019 zusammen mit zwei Kollegen. Keiner der dreien arbeitet in der Landwirtschaft, stattdessen verfügen sie über Erfahrung im Marketing, Maschinenbau und in der Programmierung.

Im Herbst 2020 erst das Licht der Welt erblickt, will Franzz in den nächsten Monaten das Land erobern.

Seit vergangenem Oktober wurde die App 1500 Mal bei Google Play und im App Store heruntergeladen. Währenddessen soll Franzz aus den Kinderschuhen wachsen. «Zurzeit arbeiten wir zusammen mit einer Fachhochschule an einer Funktion, mit der sich die Einkäufe im Hofladen direkt in der App bezahlen lassen.» Ob und wann Franzz in der Region Olten durchstartet, entscheidet, wie viele Hofläden die Initianten für sich gewinnen können. Diese bezahlen wahlweise einen monatlichen Betrag oder lösen ein Jahresabo, um auf der Plattform präsent zu sein. Auf der Suche nach regionalen Produzentinnen statteten die Gründer dem Wochenmarkt im Bifang jüngst einen ersten Besuch ab.

Lokales Angebot 🥬
Nutzerfreundlichkeit 🥕🥕🥕🥕🥕
Gestaltung 🌶️🌶️🌶️🌶️🌶️

www.franzz.ch

#2 Aussen ätschi-pfui, innen huiuiuiuiui: uglyfruits.ch

Auf die inneren Werte kommt es an. Das sehen auch die Betreiber von Ugly Fruits so. Deshalb bieten sie in ihrem Onlineshop Gemüse und Früchte an, die wegen ihres Äusseren mit Vorurteilen zu kämpfen haben und denen der Weg in die Auslage des Grossverteilers leider verwehrt bleibt. Getreu dem Firmenslogan «Wir liefern Ihnen bio, frisch, manchmal hässlich, aber immer gut!» kauft das Team von Ugly Fruits eigensinnig gewachsenes Gemüse und Obst, das keinen Schönheitswettbewerb gewinnen würde, bei den Produzenten und organisiert die Lieferung an Kundinnen in der gesamten Schweiz.

Ganz schön hässlich: Das Angebot von uglyfruits.ch läuft im Schönheitswettbewerb ausser Konkurrenz.

Auch Hässlichkeit hat seinen Preis, dieser ist jedoch tiefer im Vergleich mit «normal» gewachsenem Gemüse und Obst. Das Unternehmen mit Sitz in Neuchâtel gibt sich in seiner Mission kämpferisch: «Wir demokratisieren den ökologischen Landbau dank reduzierter Preise und massgeschneiderter Lieferung.»

Lokales Angebot 🥬 (Angaben zu Produzenten fehlen)
Nutzerfreundlichkeit 🥕🥕🥕🥕🥕
Gestaltung 🌶️🌶️🌶️🌶️

www.uglyfruits.ch

#3 Mit beiden Stiefeln auf dem Acker: buurontour.ch

Buur on Tour ist der smarte Name für ein Angebot aus saisonalem Gemüse und weiteren Lebensmitteln aus regionaler Produktion. Nach Eröffnung eines Benutzerkontos erscheinen mögliche Lieferdaten sowie die Angebotskategorien. Die Produkte werden nüchtern in einer bilderlosen Liste präsentiert. So füllt sich der digitale Einkaufskorb mit Rosenkohl, Gretzenbacher Fondue, Ziegensalami aus Lostorf und Honig ebenfalls aus der Region. Besonders am Konzept ist die Preisgestaltung. Die Kundin kann beispielsweise Pastinaken im Wert von 2.80 Franken bestellen. Die voraussichtlich gelieferte Menge wird mit zirka 500 Gramm angegeben. Wegen der stark schwankenden Preise bei saisonalen Produkten wird die exakte Liefermenge durch den Produzenten festgelegt.

Die Website von buurontour.ch konzentriert sich aufs Angebot. Präsentation scheint Nebensache.

Die Velokuriere von Collectors Olten liefern übrigens die vollen Einkaufstaschen auf dem Stadtgebiet bequem nach Hause. In den umliegenden Gemeinden werden die Bestellungen an ausgewählten Pick-up-Stationen zur Abholung bereitgestellt.

Lokales Angebot 🥬 🥬 🥬 🥬 🥬
Nutzerfreundlichkeit 🥕🥕🥕
Gestaltung 🌶️🌶️🌶️

www.buurontour.ch

#4 Die Ultralokalmatadore aus Olten: vooute.ch

Im Frühling 2020 gestartet, will die Website Produkten aus Olten und seiner Region ein Schaufenster im Internet bieten. Die auf vooute.ch präsentierten Artikel stammen aus den unterschiedlichsten Kategorien. Von der handgedrechselten Pfeffermühle über die Hornbrille aus Oltner Fertigung bis hin zum Foodtruck, der für Anlässe gemietet werden kann, findet sich ein ganzes Potpourri an verschiedenen Produkten und Dienstleistungen unter den Kleinanzeigen. Die Kategorie «Speis und Trank» wartet unter anderem mit Trimbacher Blütenhonig, Cupcakes aus dem Herzen der Stadt und Rindfleisch vom Hauenstein auf.

Was die Glasvitrinen am Bahnhof und in der Winkelunterführung im analogen Leben sind, präsentiert sich im Web auf vooute.ch.

Das ehrenamtlich geführte Projekt soll auf die Vielfalt an Produkten aufmerksam machen, welche das lokale Gewerbe und Produzenten aus der Region zu bieten haben. Dass es sich bei der jetzigen Version erst um einen Anfang handelt, deutet ein Vermerk zur Zukunft von vooute.ch an: «vooute.ch darf von seinen Nutzer*innen gestaltet und weitergeformt werden. Dies wird sobald wie möglich in der Organisationsstruktur so verankert werden.» Dürfte man in diesem Zusammenhang einen Wunsch anbringen, wäre es die Funktion eines Warenkorbs, den man sich bequem auf der Seite füllen könnte, um anschliessend seine Bestellung mit einem Klick abzuschicken. Damit würde aus dem Verzeichnis ein richtiger Onlineshop wachsen. Das Potenzial dazu wäre vorhanden.

Lokales Angebot 🥬 🥬 🥬 🥬 🥬
Nutzerfreundlichkeit 🥕🥕🥕
Gestaltung 🌶️🌶️🌶️

www.vooute.ch

#5 Der dickste Fisch im Netz: farmy.ch

Vor sieben Jahren von zwei Zürchern als kleines Start-up gegründet, hat sich Farmy nach eigenen Angaben mittlerweile zum drittgrössten Lebensmittel-Onlineshop (hinter Migros Online und coop.ch) der Schweiz entwickelt. Auf der Plattform sind rund 15’000 Produkte von 1’200 Produzentinnen bestellbar. Das Sortiment deckt neben Lebensmitteln wie Früchte und Gemüse, Brot, Milch und Eier, Fisch und Fleisch auch Produkte aus den Bereichen Drogerie und Kosmetik sowie Kinder- und Babyartikel ab. Neben den regionalen Produkten von Schweizer Bäuerinnen und Kleinproduzenten sind auch Waren ausländischer Hersteller auf der Seite zu finden.

Auf Wachstumskurs: farmy.ch ist den Grossverteilern auf der Ferse.

Logistikzentren in Zürich-Altstetten und in Ecublens dienen Farmy als Drehscheibe, über welche die angelieferte Ware der Produzenten direkt an die Kundschaft in der gesamten Schweiz gelangen. Die Auslieferung erfolgt unter anderem mit eigenen Elektromobilen. 2020 sei das mit Abstand erfolgreichste Geschäftsjahr in der jungen Geschichte gewesen, schreibt das Unternehmen in einer Medienmitteilung. Der Umsatz betrug demnach 26 Millionen Franken.

Lokales Angebot 🥬 🥬 🥬
Nutzerfreundlichkeit 🥕🥕🥕🥕🥕
Gestaltung 🌶️🌶️🌶️🌶️🌶️

www.farmy.ch

#6 Schwarm gesucht: marktschwaermer.ch

Für einen etwas anderen Ansatz als der reine Handel über das Internet haben sich die Initianten der Marktschwärmerei entschieden. Die Idee entstand vor zehn Jahren in Frankreich und findet inzwischen auch in Deutschland, Italien und weiteren Ländern Europas immer mehr Anhänger. Marktschwärmer sind Menschen, die ökologische Produkte von regionalen Produzenten kaufen möchten. Gewillte Gastgeberinnen können sich auf marktschwaermer.ch anmelden, um einen neuen regelmässig stattfindenden Markt in der eigenen Region zu organisieren. Zunächst gilt es einen geeigneten Standort dafür zu finden. Gemäss Website kann das ein Gemeindesaal, eine Schule, aber auch ein Café oder Restaurant sein.

In Lostorf soll «bald» eine Schwärmerei entstehen. Mehr ist leider nicht zu erfahren.

Die Aufgabe des Gastgebers ist es, passende Produzenten und Verkäuferinnen zu finden, den eigenen Markt zu bewerben und schliesslich den Abholmarkt zu organisieren und durchzuführen. Die Angebote werden vorab mit einer kurzen Vorstellung des Produzenten auf der Internetseite der jeweiligen Marktschwärmerei veröffentlicht. So entsteht ein Online-Marktangebot, von dem sich der «Schwarm» bedienen kann beziehungsweise die Produkte online bestellt und später abholt. Derzeit befindet sich gemäss Website eine Schwärmerei in Lostorf im Aufbau. Leider blieb eine Anfrage bei der Initiantin unbeantwortet.

Lokales Angebot 🥬 (Lostorf, was läuft?)
Nutzerfreundlichkeit 🥕🥕🥕🥕🥕
Gestaltung 🌶️🌶️🌶️🌶️🌶️

www.marktschwaermer.ch

Regionales Einkaufen: Das meint die Statistik

Was den Onlineplattformen im Bereich regionales Einkaufen in die Hände spielen dürfte, ist die Corona-Pandemie beziehungsweise die vom Bundesrat verhängten Massnahmen zu deren Eindämmung. Die Hochschule Luzern befragte im Frühling sowie im Sommer vergangenen Jahres jeweils 1000 Personen zu ihrem Einkaufsverhalten. Die Resultate zeigen einen klaren Trend zum verstärkten Kauf von regionalen und Schweizer Produkten, wie die Studienmacher schreiben. Ob dieser Effekt auf lange Sicht anhalten wird, muss sich erst zeigen. Dies möchten die Studienorganisatoren in weiteren Befragungen untersuchen, die bis in den Frühling 2022 wiederholt werden sollen.

Zur selben Zeit hat die Hochschule für Wirtschaft Zürich in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Post mehr als 13’000 Personen zum Thema Onlineshopping befragt. Satte 77 Prozent der Teilnehmenden gab an, monatlich und häufiger im Internet einzukaufen. Zu den über das Internet meistgekauften Gütern zählen Reisen, Eventtickets, Medien wie Bücher, Musik und Filme sowie Bekleidung und Computer beziehungsweise Elektrogeräte. Lebensmittel werden gemäss Studie nur von 10 Prozent der Befragten online bestellt. Trotz des geringen Marktanteils sind Lebensmittel aus regionaler Produktion aber nicht nur in der Auslage der Grossverteiler, auf Wochenmärkten und im Hofladen deines Vertrauens zu finden, sondern auch in immer mehr Onlineshops bestellbar.

Onlineshops, Regional einkaufen

«Schmunzeln musste ich, als ich las, dass Amazon nun auch auf physische Ladengeschäfte setzt»

Spätestens mit der Eröffnung des Schriftstellerweges vor fünf Jahren hat sich Olten als Literaturhochburg unter den Schweizer Städten positioniert. In Olten ist nicht nur die Dichte an hier lebenden Autorinnen und Autoren verhältnismässig hoch, die Stadt darf auch heute noch zwei unabhängige und inhabergeführte Buchhandlungen ihr Eigen nennen. Neben der Buchhandlung Klosterplatz, die auf eine rund hundertjährige Geschichte zurückblickt, kämpft eine Häuserzeile weiter der Schreiber Kirchgasse um die Gunst der Leserschaft.

1926 vom deutschen Carl Schreiber eröffnet, veränderte sich das Sortiment seit der Übernahme durch Urs Bütler im Jahr 2000 und wurde mit Papeterie- und Geschenkartikeln, Musik und Filmen sowie Kaffee und Schokolade erweitert. Schliesslich wurde in der Vergangenheit der Handel mit gedruckten Büchern immer wieder totgesagt. Um im harten Marktumfeld bestehen zu können, sind neue Konzepte gefragt. Wiebke Steinfeldt vom Schreiber Kirchgasse erzählt, wie man als stationäre Buchhandlung gegen die Konkurrenz aus dem Internet besteht, was die Beratung damit zu tun hat und wie sie den hiesigen Ladenmix beurteilt.

Frau Steinfeldt, wie hat sich der Buchhandel in den vergangenen Jahren verändert, wie macht sich die Onlinekonkurrenz bemerkbar?

Zu Beginn, als die grossen Buchhandlungen im Internet ihre Shops eröffneten, haben wir das schon zu spüren bekommen. Einen Teil der Verkäufe hat sich seither ins Netz verlagert. Es macht aber den Eindruck, als hätte sich das Volumen des Onlineshoppings eingependelt. Die Konkurrenz im Internet ist da und sie wird bleiben. Für uns heisst das, dass wir uns anstrengen müssen, damit wir uns abheben können. Zum Beispiel mit Veranstaltungen, bei denen wir Autoren in die Stadt bringen, die ohne unsere Einladung nicht nach Olten finden würden. Wir können dazu die Bühne bieten. Schmunzeln musste ich, als ich las, dass Amazon in den USA nun auch auf physische Läden setzt. Sie haben erkannt, dass sie damit näher am Kunden sind. Da sind wir ja schon einen Schritt voraus.

Hat der Onlinehandel den Druck erhöht, sich als herkömmliches Ladengeschäft neue Konzepte auszudenken?

Sicherlich gab es Zeiten, in denen die Geschäfte so gut wie von alleine liefen. Ich denke an die 80er-Jahre und an unseren Vorgänger, Herrn Ihle. Wie die Fotos aus jener Zeit eindrucksvoll bezeugen, war sein Laden an der Kirchgasse bis unter die Decke gefüllt mit Büchern, der Eingang so zugestellt, dass schon ein Kinderwagen das Betreten des Geschäfts verunmöglichte. Auf eine ansprechende Präsentation wurde gänzlich verzichtet, die Bücher verkauften sich dennoch wie von Zauberhand. Heute sind mehr Ideen gefordert und man muss achtgeben, dass man am Puls der Zeit bleibt.

Früher war nicht alles besser, aber anders: Zusammen mit seinem Team hat Urs Bütler den Schreiber ins digitale Zeitalter geführt.

Was bietet sich an, um den Kundinnen einen Mehrwert zu verschaffen, den das Internet nicht bieten kann?

In pandemiefreien Zeiten veranstalten wir zweimal im Monat Autorenlesungen. Es ist etwas Tolles, Autorinnen hautnah erleben zu können. Sebastian Fitzek, der heute grosse Säle füllt, war bei uns zu Gast, als niemand ihn kannte. In Olten las er vor einem Publikum von vielleicht zehn Personen, die sich anschliessend mit ihm unterhalten konnten und teilweise noch heute von dieser einmaligen Begegnung erzählen. Wir versuchen auch internationale Autoren in die Stadt zu holen, wobei dies in den letzten Jahren schwieriger geworden ist. Viele wollen nur noch nach Hamburg, Wien und vielleicht noch nach Zürich. Die Kontakte durch meine frühere Arbeit in verschiedenen Verlagen in Deutschland kommen uns zugute und mit dem Besuch an der Frankfurter Buchmesse pflegen wir unsere Beziehungen. Erfreulich ist, dass, wer einmal nach Olten gekommen ist, in der Regel wiederkehrt. Wenn wir Glück haben, wecken wir mit unseren Anlässen das Medieninteresse, was für uns gute Werbung bedeutet. Unabhängig von unseren Veranstaltungen hatten wir übrigens kürzlich die Schweizer Illustrierte im Haus, die darüber berichtete, wie wir den Schreiber während des Lockdowns zum Take-away-Buchshop machten.

Kann man sagen, dass die jüngere Kundschaft ins Netz abgewandert ist, während an der Kirchgasse eher ein älteres Publikum einkauft?

Zum Glück ist es so, dass wir nicht nur eine ältere Kundschaft bedienen. Ein Bereich, der gut läuft, ist der Kinder- und Jugendbuchbereich. Wir beobachten, dass solche, die als Kind mit ihren Eltern bei uns Bücher ausgesucht haben, später wiederkommen, wenn sie selbst Kinder haben. Die Erinnerung an das Erlebnis im Buchladen bringt sie wieder zu uns. Ich denke, das Alter an sich entscheidet nicht darüber, ob jemand lieber online bestellt oder in ein Ladengeschäft geht. Es ist eher eine Typfrage. Und das eine schliesst das andere nicht aus. Hat man gerade keine Zeit, in die Stadt zu gehen, bietet sich das Internet an. Neben den Büchern verkaufen wir auch weitere Produkte. Ich denke, die Kundschaft schätzt es, einen Ort zu haben zum Stöbern und sich bei Bedarf beraten zu lassen.

Kaffee und Buch: Ein Duo, das auch bei der Kundschaft gut ankommt.

Ihre Mitarbeitenden müssen ganz schön mit Lesen beschäftigt sein, um sämtliche Bücher im Sortiment zu kennen. Ist die Beratung nicht ein Marketingversprechen, das sich nicht einlösen lässt?

Unsere Mitarbeitenden lesen sicherlich alle viel. Angesichts der 90’000 Neuerscheinungen jedes Jahr und den 70’000 Büchern, die wir an Lager führen, müssten aber auch sie kapitulieren. Ich selbst war viele Jahre im Verlagswesen tätig und habe Buchwissenschaften studiert. Ein Verlagslektor, der jeden Tag fünfzig Manuskripte auf den Tisch gelegt bekommt, liest in der Regel zehn bis zwanzig Seiten und weiss dann, ob die Geschichte funktioniert. Ist der Text gut geschrieben? Zieht es die Leserin in die Geschichte rein? Ähnliche Fragen berücksichtigt auch die Buchhändlerin, wenn sie eine Empfehlung abgibt. Zunächst ist es das erworbene Wissen durch die Ausbildung, das einen verstehen lässt, wie Bücher funktionieren. Hinzu kommt die Berufserfahrung. Nicht alle im Team kennen sich in jedem Genre aus. Unsere Mitarbeitenden haben unterschiedliche Interessen und Lesevorlieben. Die einen lesen eher gehobene Literatur, die anderen Krimis. Im Austausch profitieren wir voneinander und im besten Fall weiss der Kunde, wenn das Buch unserer Frau Zimmerli zusagt, dass auch er bedenkenlos zugreifen kann.

Das Onlinegeschäft ist somit zweitrangig für Sie?

Das würde ich so nicht sagen. Seit der Übernahme des Geschäfts durch meinen Mann vor 21 Jahren existiert ein Webshop. Dieser befindet sich schon länger in Überarbeitung. Der Lockdown verschaffte uns die Zeit, das Projekt nach vier Jahren abzuschliessen. Im Mai soll die Seite online gehen. Der neue Shop ist so konzipiert, dass unsere Bücher bei der Suche auf Google & Co. auf den oberen Plätzen präsent sein werden. Die Kundin kann in ihrem Account den Status ihrer Bestellung verfolgen, ihre bisherigen Bestellungen ansehen und ihre Rechnungen verwalten. Mit der neuen Website werden sich auch die Abläufe für die Mitarbeitenden verändern. Weiterhin wollen wir aber auch der persönlichen Beratung im Laden treu bleiben. Schliesslich bleiben die Kundenbedürfnisse verschieden.

Hinter dem Onlineshop steht der Anspruch, über die Region hinaus Kundschaft gewinnen zu können?

Richtig. Wobei wir dies bereits mit den erwähnten Veranstaltungen, zumindest gelegentlich, erreicht hatten. Ich denke an die Gastspiele des Philosophen und Schriftstellers Richard David Precht, der Publikum aus der ganzen Schweiz nach Olten lockt. Oder Klaus-Peter Wolf, der Erfinder des Ostfrieslandkrimis, für dessen Veranstaltung sogar Leute aus Deutschland den Weg in unsere Buchhandlung fanden. Einige haben uns auch später immer wieder besucht.

Neben den Büchern finden sich Geschenk- und Papeterieartikel im Sortiment sowie seit vergangenem Sommer auch die Confiserie-Produkte von Brändli. Entwickelt sich der Schreiber zu einem Gemischtwarenladen?

Das Schlimmste für uns wäre es, wenn die Kundschaft nicht mehr wissen würde, was sie bei uns kaufen kann. Wenn wir uns mit neuen Warengruppen auseinandersetzen, achten wir darauf, dass unser Hauptprodukt nicht in den Hintergrund rückt. Als wir beispielsweise die Brändli-Produkte ins Sortiment aufgenommen haben, war es uns wichtig, dass das Buch auch dort nicht in Vergessenheit gerät, wo wir Süsses verkaufen. Das Buch soll in unserem Laden stets im Rampenlicht stehen. In den nächsten Wochen werden wir zum ersten Mal in der Geschichte des Unternehmens Osterhasen verkaufen. Der Reflex war da, diese zum Beispiel als Dekorationselement auf der Buchauslage zum Thema Ostern einzusetzen. Wir ziehen es aber vor, die unterschiedlichen Warengruppen etwas voneinander zu trennen. Dies macht es für den Kunden einfacher, sich zurechtzufinden, und für uns vermindert es die Gefahr, das Sortiment zu verwässern.

Ordnung muss sein: Bei der Präsentation wird darauf geachtet, dass die Warengruppen sich nicht vermischen.

Zu Ihrer Kundschaft zählen auch Bildungseinrichtungen wie Schulen und Universitäten. Was hat es damit auf sich?

Neben der Universität Basel zählt die Fachhochschule Nordwestschweiz zu unseren Kundinnen. Wir sind regelmässig vor Ort und verkaufen die Lehrbücher direkt an den Standorten der FHNW in Olten, Muttenz und Brugg-Windisch. Zu Beginn stand die Frage im Raum, wie wir die Lehrbücher am einfachsten an die Studentinnen bringen. Urs arbeitete in den 90ern in einer Buchhandlung in Michigan in den USA. Dort lernte er das System der Buchstrasse kennen, an der sich die Studenten die Bücher wie am Buffet eines Selbstbedienungsrestaurants auswählen konnten und am Ende der Strasse bezahlten. Eine solche Fassstrasse wurde 1997 das erste Mal an der alten Fachhochschule in Olten aufgebaut und dieses System wenden wir bis heute an. Ein anderes Beispiel ist eine Volksschule im Engadin, die wir über einen eigenen Shopbereich auf unserer Website mit Lehrmitteln beliefern. Dabei ist der Service entscheidend. Für Lehrpersonen ist es besonders praktisch, wenn die Bücher bereits bei der Lieferung auf die Anzahl Schüler einer Klasse abgestimmt sind und sie nicht einfach kartonweise Buchmaterial vor die Tür gestellt bekommen.

Kehren wir zurück aus dem Engadin an die Kirchgasse: Welche Rolle spielt die Geschäftslage?

Wir schätzen die Aufwertung der Kirchgasse durch die Verkehrsberuhigung. Die Lage ist optimal, gerade auch mit den Parkplätzen auf der Schützenmatte. Besonders die zahlreichen Veranstaltungen vor unserem Geschäft wie zum Beispiel das Streetfood Festival oder der 2-Stunden-Lauf bringen Menschen auf die Gasse und spülen uns Kundschaft in den Laden. Wir versuchen auch immer mit unserem Café Teil solcher Events zu sein.

Wie beurteilen Sie Oltens Ladenmix, fehlen hier die grossen Ketten?

Die Grossen in der Stadt zu haben, ist sicher nicht verkehrt, aber viele gute kleine Geschäfte können das Einkaufen genauso zu einem Erlebnis machen. Ich denke an Bern, wo es unter den Lauben und in den Kellern wunderbare kleine Läden zu entdecken gibt. Für uns als Buchhandlung ist es natürlich von Vorteil, wenn die Mischung an Läden reichhaltig ist und wir keine leeren Ladenlokale in unserer Nachbarschaft haben. Ich wohne seit fünfzehn Jahren in der Region und lebte vorher in München. Als ich nach Olten gekommen bin, war mein erster Eindruck, dass es hier alles hat, was man braucht. Im Grunde genommen fehlt es an nichts. Und trotzdem vermisst man ein paar Geschäfte, die ein spezielles Flair vermitteln. Ich denke zum Beispiel an den Gryffe, der es geschafft hat, seine Ecke mit einer besonderen Atmosphäre zu versehen, wo man gern vorbeiflaniert und auch mal Platz nimmt, einfach weil es gemütlich ist. Was mir persönlich fehlt, sind ein kleiner Spielwarenladen und ein paar Schuhläden, die nicht 08/15-Schuhe anbieten. Ach, und ein schöner Teeladen wäre auch wünschenswert.

Kurze Werbeunterbrechung: Ein ansehnliches Teesortiment gibt es im Pop-up-Store von Meinrad Feuchter, nur ein paar Schritte von hier.

Oh! Vielen Dank für den Tipp. Das habe ich ja gar nicht mitbekommen.

Schreiber könnte sein Sortiment erweitern, wenn Feuchter seine Zelte abbricht. Tee und Buch, das passt doch zueinander.

Das müsste man sich in der Tat einmal genauer überlegen. Bevor wir an eine Sortimentserweiterung denken, konzentrieren wir uns nun aber zunächst auf die Wiedereröffnung nach dem Lockdown. Wir freuen uns, die Kundschaft endlich wieder im Laden bedienen zu dürfen. 

Ladenmix, Altstadt

Aufgepoppt, um weiterzuziehen

Ein antik anmutender Holztisch, eine altertümliche Waage, dazu ein schlichtes Regal und eine grosszügige Sitzecke. Viel mehr Mobiliar ist nicht erforderlich in Meinrad Feuchters kleinem Geschäft hinter dem Coop City und dem Kino Lichtspiele. Das Augenmerk soll auf das Sortiment an Kräutertees gerichtet sein sowie auf die Werke regionaler Kunstschaffender, welche im vergangenen Herbst eröffneten Pop-up-Store eine Art Symbiose bilden. Links & Rechts, der Name des neuen Geschäfts, erwähnt die beiden Ladenhälften: Auf der einen Seite das Teesortiment. Die an der Wand angebrachten Palettenrahmen sind die Bühne für Weissen, Gelben, Grünen und Schwarzen Tee, daneben gibt es Kräuter- und Früchtemischungen. Rechter Hand die Ausstellungsstücke wechselnder regionaler Künstlerinnen. Yin und Yang auf knapp vierzig Quadratmetern. «In meinem Laden gibt es gleich zwei Kulturen zu entdecken», beschreibt Feuchter das Konzept.

Pop-up-Stores sind eine Erfindung des letzten Jahrtausends. Nach den USA, wo das erste derartige Geschäft 1997 eröffnet wurde, poppte die Idee vom zeitlich begrenzten Laden in den frühen Nullerjahren in Europa auf und sorgte für frischen Wind inmitten etablierter Warenhäuser und Fachgeschäfte. Bis das Konzept den Weg in die Region fand, dauerte es eine Weile. 2015 eröffnete Feuchter seinen ersten Pop-up-Store in Schönenwerd. Eine einfache, unbeheizte Holzbaracke, einst von Bally als Unterkunft für seine Gastarbeiter genutzt, diente Feuchter und seiner Partnerin Ursula Anderegg als passendes Lokal für einen Weihnachtsladen, den sie während dreier Jahre jeweils temporär betrieben. «Pop-up muss schnell funktionieren. Unter Weihnachten kann sich jeder etwas vorstellen. Es ist eine Zeit, die hohe Frequenzen in den Laden bringt. Gleichzeitig sind die Leute motiviert, Geld auszugeben. Sei es für sich selbst oder für Geschenke.»

«Was ich in Olten schnell gemerkt habe, ist die Tatsache, dass die Leute hier sehr gwundrig sind und es sofort weitererzählen, wenn ihnen etwas gefällt.»

Nach drei Jahren in Schönenwerd drängte sich ein Standortwechsel auf. Der Vermieter hatte angekündigt, die Holzbaracke anderweitig nutzen zu wollen. Feuchter meldete sich auf einen Aufruf der Wirtschaftsförderung Region Olten, die mit der Initiative «Olten GO!» zwischen Eigentümern, Verwaltung und Interessentinnen vermittelt. So sollen auch unkonventionelle, zum Beispiel temporäre Projekte möglich werden. Das Lokal an zentraler Lage wurde «unkompliziert und ziemlich rasch gefunden». Geboren war der «Munzinger», den Feuchter im Herbst 2019 hinter der Stadtkirche eröffnete. Wiederum setzte er auf die Kauflaune der Kundschaft rund um die Weihnachtszeit. Der Name des Geschäfts sorgte für Aufmerksamkeit und Gesprächsstoff bei den Einheimischen. «Nicht nur einmal kam jemand in den Laden und fragte mich, ob ich ein Nachfahre des bekannten Oltner Geschlechts sei», erinnert sich Feuchter amüsiert. Der Name erwies sich als gut gewählt, schliesslich machte er die Leute neugierig. «Was ich in Olten schnell gemerkt habe, ist die Tatsache, dass die Leute hier sehr gwundrig sind und es sofort weitererzählen, wenn ihnen etwas gefällt.»

Alles im Fluss

Eigentlich wäre Feuchter im vergangenen Jahr gern verreist. Aserbaidschan, die Südtürkei, Frankreich. Die Pandemie liess die Pläne platzen. Aber statt die Segel zu streichen, hissten Feuchter sie im damals verlassenen Lokal in der Nähe des Klosterplatzes und eröffneten im vergangenen Herbst kurzerhand einen neuen Pop-up-Laden. Auf das freie Lokal, das zuvor eine Kleiderboutique war, stiessen sie im Internet. Die Suche nach einem geeigneten Mietobjekt sei jedoch nicht einfach gewesen. Trotz des relativ grossen Angebots an freistehenden Ladenflächen. Auch in Aarau habe man sich umgesehen, musste aber feststellen, dass dort so gut wie keine freien Flächen verfügbar waren. «In Olten war das Angebot schon vielversprechender, wobei unsere ersten Anfragen auf Ablehnung stiessen, weil die Vermieter ihre Lokalitäten nicht für einen begrenzten Zeitraum vermieten wollten.» Es brauchte mehrere Anläufe, bei der fünften Anfrage klappte es und man wurde sich einig.

«Auf meine Bitte, für eine temporäre Geschichte den Mietzins zu reduzieren, ist der Vermieter eingegangen.» Den Vertrag, zunächst auf drei Monate beschränkt, konnte er in der Zwischenzeit um ein Jahr verlängern. Die Vereinbarung sieht vor, dass das Ladenlokal selber umgebaut und nach Ende der Vertragsdauer in seine ursprüngliche Form zurückversetzt wird. «Der Aufwand für den Vermieter ist somit minimal.» Grosse Umbauarbeiten seien ohnehin nicht nötig gewesen. «Wir haben eine Wand neu gestrichen und die bestehende Bürokabine rausgerissen. That’s it.» Über das Jahr verteilt sind zehn Kunstausstellungen geplant. Ab November soll der Laden auf der rechten Seite wiederum zu einem Weihnachtsshop umfunktioniert werden. Was danach mit dem Ladenlokal passiert, ist offen. Feuchter kann sich vorstellen, noch länger zu bleiben. «Die Lage passt, wir haben ein gutes Publikum hier und ich bekomme viele Komplimente für mein Geschäft», freut er sich. Trotzdem will er sich nicht auf den Lorbeeren ausruhen. «Pop-up heisst Veränderung. Alles ist im Fluss. Zum Teesortiment könnten Gewürze hinzukommen. Statt Kunst wäre es vorstellbar, Holzspielzeug oder Grünpflanzen zu verkaufen.» Auch sei theoretisch denkbar, das Lokal mit einer Gastronomie zu ergänzen.

Bei der Suche nach einem geeigneten Lokal war für Feuchter die Standortfrage zentral. «Mit einem Pop-up-Konzept muss man dorthin, wo die Leute sind und man gesehen wird.» Wichtig seien aber auch der Mietzins, die Lage im Erdgeschoss und die Grösse des Lokals. «Es darf nicht zu klein und nicht zu gross sein, so dass es für mich als One-Man-Show stemmbar ist.» Er ist überzeugt, dass Pop-up-Läden Vielfalt in den Ladenmix einer Stadt bringen und sie ein Instrument sind, um eine Einkaufsstadt aufzuwerten. Obwohl Pop-up im Grunde genommen ein alter Hut sei, mache es die Leute noch immer neugierig. «Früher war es so: je länger ein Geschäft an einem Standort vertreten war, desto renommierter war sein Ruf. Die Welt hat sich verändert und auch das Denken der Leute. Man ist flexibler geworden, viele sehnen sich nach dem Neuen und nach Veränderung.»

«Niemand will ein Leben lang das gleiche Cordon bleu essen.»

In Pop-up-Geschäften sieht Feuchter ein mögliches Puzzleteil, um eine Innenstadt zu beleben. Elementar seien aber auch stationäre Geschäfte, die sich nicht nach kurzer Zeit wieder aus der Stadt verabschieden. Als Pop-up-Store sei man auf diese angewiesen. «Wichtig ist ein vielfältiger Angebotsmix, der einerseits Beständigkeit ausstrahlt, andererseits temporäreren Playern es erlaubt, das Ganze etwas aufzumischen. Die Leute lieben die Überraschung und sie suchen nach dem Ungewöhnlichen.» Feuchter glaubt, dass der Lockdown die Abwanderung der Kundschaft in den Onlinehandel beschleunigt hat. Was der Onlinehandel heute, sei der Katalogversandhandel früher gewesen. «Ich erinnere mich an die Katalogzeiten. Gerade auf dem Land bestellte man gern via Katalog und ging vielleicht ein, zwei Mal pro Saison zum Einkaufen in die Stadt.» Der Onlineshopper setzt seinen Fuss nur noch in die Stadt, wenn es etwas zu erleben gibt. Das könne beispielsweise der Besuch einer Ausstellung sein oder das Essen in einem Restaurant. Gerade auch die Gastronomie eigne sich gut für das Pop-up-Prinzip. «Niemand will ein Leben lang das gleiche Cordon bleu essen.»

Auf klassische Werbung verzichtet Feuchter. Er wolle seine Energie in den Laden stecken mit Produkten, für die eine Nachfrage besteht. «Die beste Werbung ist es, wenn die Leute uns weiterempfehlen und man über uns spricht.» Kaum sind die Worte gefallen, betritt eine Kundin das Geschäft. «Endlich ein Teeladen in Olten!», meint sie, noch bevor sie einen Blick auf das Sortiment wirft. Das Geschäft läuft in erster Linie dank der Mund-zu-Mund-Propaganda. «Hinzu kommt ein bisschen Werbung, welche die Freundin meines Sohnes auf Instagram und Facebook für mich macht.»

Kunden, wo seid ihr?

Feuchter, der in unterschiedlichen Funktionen über vierzig Jahre lang im Detailhandel arbeitete, unter anderem als Leiter Gestaltung beim Berner Warenhaus Loeb, hat den Wandel hautnah miterlebt. Mitte der 70er-Jahre machte er die Lehre als Dekorationsgestalter im Oltner Warenhaus von Felbert. Gleich um die Ecke, wo heute Fielmann eine Filiale hat. Vor zwei Jahren ging Feuchter bei Loeb in Frühpension. Heute konzentriert er sich auf seine Pop-up-Projekte und eigene künstlerische Arbeiten. Das Interesse an der Entwicklung des Detailhandels ist aber ungebrochen. Das Kleidergeschäft verlagere sich nach und nach ins Internet. «Diese Entwicklung wird weiter anhalten dank neuer Technologien, mit denen man sich einmal vermisst und anschliessend auf Lebzeiten online mit Kleidern eindecken kann», sagt Feuchter und betont, dass er seine Kleider noch immer im stationären Handel kauft. «In Kleinstädten wie Olten werden es Modehändler zunehmen schwierig haben, gegen die Onlinekonkurrenz zu bestehen. Das elegante Kleidershopping in Paris, London oder Berlin wird bleiben.»

Olten ist nicht Paris, das Einzugsgebiet potenzieller Kundschaft vergleichsweise zierlich. «Es gab schon Tage, da hatte ich keinen einzigen Kunden im Laden.» Vor allem unter der Woche frage er sich ab und zu schon, wo die Leute bleiben würden. «Dann gibt es aber wieder Spitzentage wie beispielsweise letzten Samstag, als das Wetter gut war und die Menschen zum Flanieren in die Stadt trieb.» Samstag sei überhaupt der beste Tag. Feuchter überlegt sich, die Öffnungszeiten seines Ladens am Abend zu erweitern.

Was die kommenden Jahre bringen werden, will Feuchter nicht prophezeien. «Ich habe die Freiheit, keine Pläne machen zu müssen.» Alles befindet sich im Wandel. Wie der Detailhandel so hat sich auch der Monte Verità im Tessin verändert, von wo Feuchter einen Teil seiner Produkte bezieht. Einst der Hügel der Künstler, Philosophinnen, Revolutionären und Hort vielerlei alternativer Lebensformen wandelte er sich über die Jahrzehnte zu einem Touristenmagneten. Ausserdem gibt es dort oberhalb von Ascona heute einen Teegarten, in dem die Teepflanze Camellia sinensis angebaut wird. «Die Blätter und Knospen der Pflanzen werden von Hand gepflückt und vor Ort verarbeitet», erzählt Feuchter. «Ein echtes Schweizer Produkt.» Die Zahl auf der Preisetikette lässt keinen Zweifel aufkommen. Woher jedoch das Mangoöl stammt, das dem Tee aus der Schweizer Sonnenstube eine tropische Note verleiht, bleibt das Geheimnis der Tessiner. «Das verstehe ich ehrlich gesagt auch nicht ganz», lacht Feuchter, während die Kasse den Beleg ausspuckt und auf der Gasse vor dem Laden jemand vorbeigeht, ohne zu ahnen, dass die Zeit endlich ist, um einzutreten und sich umzusehen.

Ladenmix, Pop-up

Nächster Halt: die ganze Welt

Man muss im Alltag richtig aufpassen, dass man nicht stolpert. So viel Innovationen überall. Der Begriff tritt geradezu inflationär auf und hat sich in unserer Gesellschaft zum Schlagwort der Stunde entwickelt. Kaum ein Unternehmen, das nicht unablässig damit beschäftigt ist, seinen Innovationsgeist zu betonen. Oft mit dem Verweis auf die Digitalisierung. Übrigens ein Beispiel aus derselben Kategorie: Ein Wort, das eine Menge heissen kann, oder aber auch rein gar nichts.

Vom Trinkstrohhalm aus Bambus über die spezialisierte App, mit der sich der Inhalt der Frischhaltebox im Kühlschrank digital notieren lässt, bis zum elektrisch angetriebenen Auto. Dies alles leuchtet unter dem hellen Stern des Innovativen, und weil das I-Wort dermassen oft fällt und mantrahaft wiederholt wird, gehen wir ohne zu reflektieren davon aus, dass wir es mit der Wahrheit zu tun haben müssen. Dass beispielsweise die Elektromobilität vor mehr als 130 Jahren schon in den Startlöchern stand, kann da leicht mal vergessen gehen. Nicht selten handelt es sich bei sogenannten Innovationen um alten Wein in neuen Schläuchen, und es stellt sich erst bei zweitem Hinsehen heraus, dass die Innovation vor allem in der Marketingabteilung zu finden ist. Bei Leuten, die es gewohnt sind, sich Dinge herbeizureden. Hand aufs Herz: Der Innovationsbegriff schmeckt wie die Tomaten aus dem spanischen Gewächshaus, die zwar wunderbar aussehen, aber ungehörig fade schmecken. Höchste Zeit also, Innovation neu zu denken.

Dieser Ansicht ist Zukunftsforscher und Buchautor Joël Luc Cachelin, wobei er den Begriff der Innovation aus der Vereinnahmung durch Werbung und Wirtschaft befreit und ihn weiter fasst. Er denkt Innovation als Erneuerung des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems. Während Cachelin für Kolt in seinen Zukunftskolumnen vorausschaut und sich die Frage stellt, welches Potenzial eine neu gedachte Zukunft für Olten und seine Region entfalten könnte, begleitet und berät er in seinem Beruf als Zukunftsforscher Unternehmen in Zukunftsfragen. Ende Januar erschien das neueste Buch des Futuristen unter dem Titel «Antikörper». Es nimmt sein Publikum mit auf eine Zeitreise in eine Zukunft, die nicht nur eine verlängerte Gegenwart ist, sondern deren Geschichte erst noch erzählt werden will. «Willkommen an Board», begrüsst der Reisebegleiter und «Maître de Cabine» seine Passagiere auf den ersten Seiten des Buchs. Im Grunde genommen sind es deren drei Reisen, auf die Zukunftsforscher und Reisebegleiter Cachelin einlädt.

Clusterfuck: gleichzeitiges Auftreten von mehreren Problemen, Katastrophen oder eben Infekten (von Körpern, Medien, Unternehmen und Maschinen)

Aus dem Glossar von «Antikörper»

Erste Destination ist die Gegenwart. Eine Gegenwart, die nur so von Scheininnovationen strotzt. Der Autor macht eine Fortschrittskrise aus. Er sieht die Menschheit gefangen im «Wartsaal der Zukunft», wenn er schreibt: «Statt Mobilität, Energie, Solidarität, Kommunikation, Finanzierung und Ernährung neu zu erfinden, halten wir an Autos, Atomkraft, Nationalstaaten, sozialen Medien, Banken und Fleisch fest.» Dabei entblösse die Pandemie, wie verwundbar unsere Zivilisation sei, und decke die «Entzündungen unserer Zivilisation» auf. Entzündet seien, so Cachelin, «die Körper, Unternehmen und Medien, weil wir Grenzen missachten». Diese Grenzüberschreitungen würden sich unter anderem in unserem Umgang mit Tieren, in der Landwirtschaft oder auch in der Kommunikation auf sozialen Netzwerken äussern. Um die Gegenwart besser verstehen zu können, bedarf es eines Blicks in die Vergangenheit, in die zweite Reisedestination. Das Augenmerk des Autors liegt dabei auf einer Krankheit, der Geissel der Menschheit schlechthin: der Pest.

Die Pest, welche vom Mittelalter bis in die Neuzeit in drei Epidemien über die Menschheit hereinbrach, bezeichnet Cachelin als «Anfang der Entstehung des gesellschaftlichen Immunsystems». Drei von vier neu auftretenden Infektionskrankheiten seien Zoonosen, bei denen die Erstübertragen von einem Tier auf den Menschen erfolge. Daher sei die wichtigste Aufgabe dieses Immunsystems, «Ansteckungen an den Schnittstellen von Menschen, Tieren und Pflanzen zu verhindern». Dazu seien Innovationen gefragt in der Ernährung, in der Land-, Vieh- und Forstwirtschaft. «Das erneuerte gesellschaftliche Immunsystem federt die wirtschaftlichen Schäden von Clusterfucks ab. Es sichert uns vor volkswirtschaftlichen Schocks aller Art – infolge neuer Viren, des Klimawandels, einer um 15 oder 50 Jahre gesteigerten Lebenserwartung, einer Energiekrise, eines Megavulkanausbruchs oder eines global wütenden Computervirus.»

Grauer Thomas: Thomas ist der häufigste Name von Schweizer Verwaltungsräten, Thomas-Kreislauf führt zu noch mehr Thomassen

Aus dem Glossar von «Antikörper»

Dritte und letzte Destination der Leserreise ist schliesslich die Zukunft. Als wichtige Hilfsmittel, um die Verbindung zwischen Maschinen, Menschen, Tieren und Pflanzen sichtbar zu machen, bezeichnet Cachelin Sensoren, das Internet der Dinge, Satellitenbilder und Smartphones. Das Sammeln von Daten könne Entzündungen in der Gesellschaft ohne grosse Eingriffe frühzeitig lindern. In der zukunftsweisenden Aufgabe des Datensammelns beziehungsweise der Datenauswertung sieht der Autor zudem eine Chance für Europa, die Innovationsführerschaft zu übernehmen und sich aus der Abhängigkeit von den USA und China zu befreien. Neue Technologien sind das eine, eine neue Denkweise das andere. Das beschriebene neue Mindset «vereint Bescheidenheit und Ökologie mit der Lust auf Innovation, verknüpft Zukunft mit Vergangenheit. Grüne und digitale Transformation wachsen zusammen».

Cachelins Analysen, Ausführungen und Schlussfolgerungen sind geschickt mit dem Thema der Stunde – ja des Jahrzehnts – verwoben. Die Analogie zum Virus dürfte sich als cleverer Schachzug erweisen, nicht zuletzt aus Marketingsicht. «Antikörper» liest sich angenehm flüssig. Der Informationsgehalt auf relativ bescheidener Seitenzahl ist beeindruckend. Die Gedankengänge von Joël Luc Cachelin eröffnen neue Sichtweisen auf aktuelle Diskussionen. Der Grat zwischen Realität und Utopie mag zuweilen ein schmaler sein. Für die Zukunft, wie Cachelin sie zeichnet, dürften eine, wenn nicht mehrere globale Revolutionen nötig sein. Ob die Menschheit dafür bereit ist? Schwer vorstellbar, wenn man sich vor Augen führt, dass in einem Zwergstaat wie der Schweiz sich zwei Dutzend Kantone nicht auf ein koordiniertes Handeln bei einem globalen Clusterfuck wie Covid-19 einigen können. Nach Ansicht des Autors ist mit der jüngsten Pandemie jedoch ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte gekommen, der ein umfassendes Umdenken auslösen wird, ja auslösen muss. Das Virus als Saatkorn eines neuen Innovationsverständnisses. Voraussetzung dafür sei es, «exponentiell, viral und zirkulär zu denken», das heisst, die Welt in grösseren Dimensionen und grösseren Zusammenhängen zu betrachten.

Infodemie: zusammengesetzt aus Information und Pandemie – wenn Lügen und Halbwahrheiten das Internet verseuchen

Aus dem Glossar von «Antikörper»

Es geht aber auch eine Nummer kleiner. Mit beiden Füssen am Boden und den Zeilen des Autors vor Augen kann Cachelins Einladung, die eigene Zukunft neu zu denken, als Anstoss verstanden werden, das Hier und Jetzt zu nutzen und an sich selbst zu arbeiten. «Antikörper» ist eine lohnenswerte Lektüre, die ab der ersten Seite fesselt und Reisefieber aufkommen lässt. Cachelin gelingt es, Neugierde zu wecken und Mut zu machen, sich mit festgefahrenen Gedankengängen kritisch auseinanderzusetzen und von Menschen gemachte Gegebenheiten nicht als Naturgesetze hinzunehmen. Wortkompositionen wie der «Clusterfuck» werden im enthaltenen Glossar neben weiteren Begrifflichkeiten wie «Grauer Thomas» oder «Infodemie» in wenigen Worten verständlich erklärt. Die Lektüre regt an, sich selbst im Spiegel zu betrachten. Denn Innovation neu zu denken, ist nur dann möglich, wenn sich der Mensch anders denkt.

Aber wie stellt man das an? Wir haben bei Joël Luc Cachelin nachgefragt.

Der Mensch liebt die Gewohnheit. Wird die Erfahrung der Pandemie daran etwas ändern können?

Kurzfristig haben wir alle unsere Gewohnheiten schon ändern müssen. Wir tragen Masken in Zug und Bus, arbeiten vermehrt von Zuhause aus, kaufen im Internet ein. Wie viele dieser Veränderungen sich halten werden, wissen wir wohl aber erst in zehn Jahren.

Sind Sie der Meinung, dass wir an einem historischen Wendepunkt stehen?

Auch diese Frage lässt sich heute nicht beantworten. Dagegen spricht für mich, dass die Ursachen des Virus viel zu wenig thematisiert werden. Wir müssten insbesondere über die Verhältnisse von Menschen und Tieren sprechen.

Welchen Stellenwert nimmt die Technologie bei der Transformation ein?

Für unsere Zukunft spielt Technologie sicher eine wichtige Rolle – auch für die Stärkung des gesellschaftlichen Immunsystems, wie ich es im Buch beschreibe. Aber Sensoren und Satelliten reichen nicht. Noch wichtiger ist ein neues «Mindset», eine neue Einstellung gegenüber Innovation – die zum Beispiel die Tiere, das in Daten versteckte Wissen oder auch unsere Erkenntnisse der Vergangenheit besser berücksichtigt. Diese Woche erschien eine Studie, die zeigt, warum uns im Umgang mit Covid-19 die Erfahrungen mit der Spanischen Grippe hätten helfen können.

Im Buch sind einige Bezüge zu Filmen und Serien zu finden. Wie viel Realität steckt in diesen fiktionalen Geschichten?

Serien und Filme sind immer auch eine Beschäftigung mit der Gegenwart, mit unseren Hoffnungen, Ängsten und Visionen. Von dem her gibt es sicher eine Menge Gegenwart in Science-Fiction-Erzählungen.

Wie wird man eigentlich Zukunftsforscher?

Das war kein bewusster Entscheid und hat sich über die Jahre so ergeben. Mein Vater war schon von der Zukunft begeistert, hat uns früh Laptops und Internet nach Hause gebracht. Ich habe dann im BWL-Studium begonnen, mich mit den Kräften zu beschäftigen, die ein Unternehmen verändern. Vor zwölf Jahren gründete ich die Wissensfabrik, um meiner Passion jeden Tag nachgehen zu können.

Antikörper – Innovation neu denken
Stämpfli Verlag, Kartonierter Einband, 116 Seiten
ISBN: 978-3-7272-6080-3

Zukunft, Buch

«Olten ist keine Weltstadt, die 24 Stunden am Tag Halligalli bieten muss»

Mittendrin zu wohnen, hat vielerlei Vorteile. Die Wege könnten kürzer nicht sein, das gesellschaftliche Leben spielt unmittelbar vor der eigenen Haustür und die Stimmung in der historischen Altstadt ist einmalig. Doch wo viele Menschen sich treffen und unterwegs sind, kommt es vor, dass die Geräuschkulisse den behaglichen Pegel übersteigt.

Seit zwanzig Jahren lebt Claude Schoch gemeinsam mit seiner Frau in der Oltner Altstadt. An schöner Lage im Oberen Graben besitzen sie ein Altstadthaus, das sie als alleinige Partei bewohnen. Im Erdgeschoss vermieten sie ein Ladenlokal, das als Coiffeursalon genutzt wird. Nach drei Jahrzehnten mit eigener Firma in den Bereichen Organisations- und Teamentwicklung ist Schoch vor zwei Jahren in den Ruhestand getreten. Die Wohnung in der Altstadt sei schon immer als Alterswohnsitz gedacht gewesen. Vor dem Umzug an den Oberen Graben wohnte das Paar auf der rechten Stadtseite nicht weit von der Friedenskirche.

Bis vor vier Jahren amtete Schoch als Leiter der Oltner Kabarett-Tage; heute ist er Mitglied des Programmteams, das jeweils im Frühling bereits bewährte, aber auch neue Künstlerinnen aus der deutschsprachigen Kabarettszene auf die Oltner Bühnen holt. Schoch sass eine Zeit lang im Gemeindeparlament und war auch in der Fasnacht aktiv. «Wenn du Politik machst, kennst du die eine Hälfte in Olten, wenn du Fasnacht machst die andere Hälfte», blickt er zurück. Die Chancen, dass man jemanden kennt, der einem bei einem Problem oder Anliegen weiterhelfen kann, stehen gut. Trotzdem gibt es auch für den bestens vernetzten Oltner Angelegenheiten, die sich nicht so einfach aus der Welt schaffen lassen. Die Rede ist vom Lärm, von dem Schoch ein Lied singen kann, wo er doch einen ruhigen Schlaf bevorzugen würde.

Herr Schoch, wie lebt es sich im historischen Zentrum von Olten?

Meine Frau und ich sind Freunde kurzer Wege. Wir schätzen es, dass wir die meisten Dinge im Alltag problemlos zu Fuss erledigen können. Vom Einkaufen auf dem Markt bis zum Besuch des Theaters oder eines Restaurants. Kaum ist man aus der Wohnung, ist man so gut wie am Ziel. Einfach spontan vor die Tür gehen, um im Café Grogg einen Kaffee zu trinken, das ist wunderbar. Uns gefallen dieses Überschaubare und die Nähe zu allem Wichtigen. Darum wohnen wir gern mittendrin. Als wir noch am Pfarrweg auf der anderen Stadtseite zu Hause waren, kam es nie vor, dass wir spontan etwas trinken gingen, und für den Theaterbesuch nahmen wir das Auto. Heute müssen wir zusehen, dass wir unser Fahrzeug von Zeit zu Zeit bewegen, damit kein Standschaden droht.

Wo Licht ist, ist auch Schatten.

Spontan fällt mir der fehlende Garten ein, den die Wohnlage hier halt nicht hergibt. Umso mehr schätzen wir unseren Mini-Balkon, der gross genug ist, um zu viert draussen am Tisch zu sitzen. Ach, und manchmal wird es uns zu laut in den Nächten.

Wie hat sich die Altstadt in den letzten Jahren verändert?

Wenn man den Zeitraum etwas grösser fasst und ein paar Jahrzehnte zurückblickt, wird der Wandel sichtbar. Als ich Kind war, gab es in der Altstadt noch grosse Ladengeschäfte. Beim heutigen Optiker Bartlomé war der Möbel Lang einquartiert, und zwar bis ganz runter an die Dünnern. Ich denke auch an das Warenhaus Victor Meyer, wo heute die Suteria beheimatet ist. Neben weiteren Grössen wie Bernheim und PKZ gab es zahlreiche kleinere Geschäfte. Im Erdgeschoss wurde eingekauft, während in den Stockwerken darüber gewohnt wurde. Das war die Uridee der Innenstadt. Auch als wir unser Haus umbauten, haben uns die Behörden ans Herz gelegt, im Erdgeschoss wieder Platz für ein Gewerbe zu schaffen. Das haben wir dann auch so gemacht. Und dann gibt es noch die Beizen, von denen die meisten bis heute existieren.

So anders präsentiert sich die Lage in der Gegenwart also nicht.

Der entscheidende Unterschied: Früher ist die Stadt in den Nachtstunden zur Ruhe gekommen. Die Restaurants schlossen um halb zwölf ihre Türen und die Gäste begaben sich auf den Heimweg. Doch das Ausgehverhalten hat sich über die Jahrzehnte gewandelt. Aus Restaurants wurden Clubs. Die Öffnungszeiten wurden ausgedehnt und der Abend beginnt für einige heute erst um Mitternacht. Dazu gekommen ist so auch der Lärm zum Beispiel von lauter Musik.

Wie erleben Sie als Altstadtbewohner diesen Wandel konkret?

Ein Beispiel ist die heutige Bodega.* Zu Beginn war sie bis elf, halb zwölf offen. Heute ist sie zwar immer noch ein Restaurant und kein Club, aber die Öffnungszeiten wurden erweitert und es herrscht bis lange nach Mitternacht Betrieb. Das alleine ist nicht das Problem. Was ich kritisiere, ist die Lautstärke der Musik. Vielleicht bin ich zu alt, um das nachvollziehen zu können, aber ich frage mich halt schon, wie man gemütlich essen kann, während die Räumlichkeiten mit Musik von gefühlten 100 Dezibel beschallt werden. Gehen dann die Leute zum Rauchen raus und nachher wieder rein, schwappt der Schall ins ganze Quartier und sorgt für Unruhe und Ärger bei den Anwohnern. Es geht mir nicht darum, mit dem Finger auf die Bodega zu zeigen. Sie ist nur ein Beispiel von mehreren. Von Freunden weiss ich, dass die Anwohnerinnen des Musigchällers an der Marktgasse mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind.

Haben Sie das Gespräch mit den Betreibern gesucht?

Wir haben immer mal wieder mit den Verantwortlichen gesprochen. Diese haben jeweils auch verständnisvoll auf unser Anliegen reagiert. Man hat uns geraten, anzurufen, wenn wir uns gestört fühlten. Nur hört bei der Lautstärke dort niemand das Klingeln des Telefons. Leider blieb es bis anhin nur bei verständnisvollen Worten, die Situation mit der lauten Musik hat sich nie zum Positiven verändert. Hinzu kommen unappetitliche Zeugnisse des Nachtlebens, auf die wir als Anwohner am Morgen danach in unseren Hauseingängen treffen. Wobei ich auch sagen möchte, dass dies weniger mit den Bodega-Betreibern zu tun hat als vielmehr mit einzelnen Gästen, die nicht wissen, wann genug ist.

Wäre die Altstadt frei von Musik und Ausgang ein besserer Ort?

Ganz und gar nicht. Im Grunde genommen geht es mir nicht um die Musik als solches. Zum Problem wird diese nur dann, wenn man als Anwohnerin und gezwungene Mithörerin nicht abschätzen kann, wann Schluss damit ist. Es fehlt einem der Anhaltspunkt, wann wieder Ruhe einkehren wird. Das ist es, was den Ärger hochkochen lässt. Entscheidend meiner Meinung nach ist auch die Art, wie eine Veranstalterin mit den Anwohnern kommuniziert.

Das klingt so, als hätten Sie auch positive Erfahrungen gemacht?

Ein positives Beispiel ist das Café Grogg, das in unserer direkten Nachbarschaft liegt. Bevor Inhaber Klaus Kaiser seine Konzertserie im Oberen Graben lanciert hat, suchte er als Erstes das Gespräch mit uns Anwohnern. Er stellte seine Pläne vor und holte unsere Meinung dazu ein. Von Anfang an war klar, dass jeweils um 23 Uhr Schluss sein würde. Wenn ich mich recht erinnere, hatte damals niemand der Anwohnenden etwas einzuwenden. Die Konzerte haben heute ihren festen Platz. Jedes Jahr von neuem werden wir vorab über das Programm informiert, verbunden mit einer Einladung zu einem Konzert. Am Ende der Konzertsaison erhalten wir als Dank einen Getränkegutschein. Das sind kleine Gesten mit einer grossen Wirkung.

Eine lobenswerte Ausnahme unter den Lokalbetreibern?

Zum Glück nicht. Als zweites Beispiel kommt mir die Spittelschüür der Säli-Zunft in den Sinn. Man kann die Räumlichkeiten für Feiern mieten. Sie grenzen direkt an unsere Wohnung. Fast jedes Wochenende finden dort gewöhnlich Veranstaltungen statt. In den zwanzig Jahren, seit wir in der Altstadt wohnen, mussten wir nur einmal das Gespräch mit den Zünftlern suchen, weil ihre Mieterschaft bis morgens um sechs Party gemacht hatte. Rita Ledermann von der Waadtländerhalle ist für mich ein weiteres gutes Beispiel. Wird es einmal laut draussen, weist sie ihre Gäste freundlich darauf hin, dass im Quartier Menschen wohnen. Wenn es nicht anders geht, schickt sie auch schon mal jemanden weg.

Müsste die Stadt die Rolle einer Vermittlerin einnehmen, die zwischen den Anliegen der Lokalbetreiber und derjenigen der Anwohnerinnen vermittelt?

Es gibt Städte, die die Vorgabe machen, dass beim Eingang zwei Türen vorhanden sein müssen, wenn Musik gespielt wird. So ist beim Betreten beziehungsweise Verlassen des Lokals stets eine Tür geschlossen. Ich kenne die Reglemente von Olten diesbezüglich nicht. Die Stadt hat sich bisher nie öffentlich zur Problematik geäussert. Daher kann ich auch nicht sagen, ob allfällige Vorgaben eingehalten werden und ob die Polizei dies kontrolliert. Wir sehen in der Regel davon ab, die Polizei zu rufen.

Trotzdem mussten Sie schon zum Hörer greifen?

In diesen zwanzig Jahren kam das nur zweimal vor. Einmal hatten wir einen Rave vor dem Haus, der am Nachmittag startete und die Scheiben in unserem Haus zum Bass zittern liess. Nach zwölf Stunden habe ich morgens um zwei Uhr bei der Polizei nachgefragt, was da los sei. Beim zweiten Anruf ging es um eine wüste Schlägerei, bei der Flaschen flogen und man sich Sorgen machen musste, dass jemand ernsthaft verletzt werden könnte.

Wie erleben Sie das Vorgehen der Stadt beim Thema Veranstaltungslärm?

Ich habe den Eindruck, dass man die Bevölkerung mit dem Problem alleine lässt. Die Stadt hat es bisher verpasst, sich zur Situation zu äussern. Die Ereignisse beim Hammer Pub und bei der Stadtmix Bar hätten dazu Anlass gegeben. Mir ist schon klar, dass es für die Betreiber kein Leichtes ist, den unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht zu werden. Sobald die Gäste ein Lokal verlassen und es draussen laut wird, sind sie ausserhalb des Einflussbereichs der Gastgeber. Eine Möglichkeit wäre es, wenn die Beizerinnen von der Stadt mehr in die Pflicht genommen würden. Die Betreiber könnten dazu angehalten werden, dass sie auch in der Umgebung ihres Lokals für Ruhe und Ordnung sorgen müssen. Das wäre ein anderes Signal, als die Dinge einfach laufen zu lassen, wie es zurzeit der Fall ist. Die Stadt hätte auch die Möglichkeit, Beizer der unterschiedlichen Quartiere und Anwohnerinnen an einen Tisch zu bitten, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Schliesslich muss sich die Behörde die Frage stellen, was sie wo zulassen will. Und sie muss sich im Klaren darüber sein, dass es auch zu Reaktionen kommt, wenn etwas zugelassen wird, das Emissionen mit sich bringt.

Lassen wir das Thema Lärm ruhen. Was schätzen Sie am kulturellen Leben in Olten?

Mit der eingeschlagenen Stossrichtung, die städtischen Plätze mehr zu beleben, bin ich absolut einverstanden. Die Kirchgasse darf nach meinem Geschmack künftig noch mehr für Anlässe genutzt werden, welche die Menschen zusammenbringen und erfreuen. Die Lokale sollen rausstuhlen und das Publikum soll unsere schöne Altstadt geniessen dürfen. Ich freue mich über jeden kulturellen Anlass, der Olten bereichert. Es stellt sich einfach immer die Frage nach dem Mass und ob die Stadt irgendwann auch mal zur Ruhe kommen darf. Denn Olten ist keine Weltstadt, die 24 Stunden am Tag Halligalli bieten muss.

* In einer früheren Version des Artikels hiess es, dass in der heutigen Bodega einst das Restaurant Adler war. Dies ist falsch. Das Haus zum Adler ist ein Nachbarhaus der Bodega.

Kultur, Anwohner, Lärm

Der Hartnäckige

Als er gemeinsam mit seiner Partnerin vor drei Dekaden nach Olten kam, habe die Diskussion um den Bau eines neuen Schulhauses bereits zehn Jahre angedauert, erinnert sich Thomas Rauch, während das Schwarz aus der Maschine in die Espressotasse tröpfelt. «Nicht, dass ein geplantes Schulhaus ausschlaggebend war bei der Wahl unseres Wohnorts, wir waren ja noch kinderlos. Aber es ist doch verrückt, dass vierzig Jahre später das Ding noch immer nicht steht und für teures Geld Provisorien bereitgestellt werden müssen!» Die Sache mit dem Schulhaus bewegt die Stadt und damit den 56-Jährigen bis heute, selbst wenn die Schulkarriere der beiden Söhne in absehbarer Zeit abgeschlossen sein wird.

Aufgewachsen ist Rauch in der Nähe von Bern. Nicht weit entfernt von der Siedlung «Halen», die in den Fünfzigerjahren mitten in einem kleinen Waldstück gebaut wurde und Rauch schon in jungen Jahren faszinierte. Eine Siedlung, die «Lebensraum für verschiedenartige Leute» bietet, mit «vielfältigen Begegnungsräumen, aber auch mit Rückzugsmöglichkeiten in den privaten Innen- und Aussenbereichen», wie es auf der Website der Siedlung heisst. Mit seiner Familie lebt Rauch heute in der Platanensiedlung im Kleinholz und ist noch immer begeistert vom Konzept, das Autos unter den Boden verbannt, um seinen Bewohnern eine unverstellte Umgebung und eine hohe Lebensqualität zu bieten.

«Die Platanensiedlung ist wie ein kleines Dorf in der Stadt, ein komprimierter, ökologisch vertretbarer Lebensraum.» Man geniesse hier zum einen genügend Privatsphäre, zum anderen sei der Kontakt mit der Nachbarschaft lebendig und lösungsorientiert. Die Bewohnerinnen der Platanen würden eine Gemeinschaft bilden, in der man konstruktiv miteinander umgehe. Das Leben in einem Einfamilienhaus auf dem Land, wie es der Traum vieler seiner Kollegen gewesen sei, habe er sich für seine Familie nie vorstellen können.

Gerade für Kinder sieht der zweifache Vater in einer Kleinstadt wie Olten vielerlei Vorteile. «Weil alles nahe beieinander liegt, können sie sich schon in jungen Jahren frei bewegen», sagt einer, der in seinem Beruf als Finanzanalyst die Metropolen dieser Welt nicht nur aus Erzählungen kennt, seinen Lebensmittelpunkt aber nie in eine Grossstadt verlegen wollte. «Mit dem Velo sind die Jungen in zwei Minuten im Schwimmbad, an der Aare, auf dem Sportplatz, ohne dass man als Eltern den Chauffeur spielen müsste.» Wichtig für ihn seien der Intercitybahnhof und die ausgezeichneten Verbindungen in die gesamte Schweiz. Im Bahnhof sieht er dann auch einen enormen Standortvorteil für die Stadt. «Mit dem neu gestalteten Bahnhofplatz wird dieser hoffentlich in Zukunft besser genutzt.»

Zwischen den Blöcken

Wenn Rauch auf seine dreissig Jahre in Olten zurückblickt, kommt er zum Schluss, dass zahlreiche Entwicklungen ohne aktives Zutun der Stadt passiert seien. Er denkt unter anderem an Olten Südwest. In seinem Beruf habe er des Öfteren mit grossen Immobilienprojekten zu tun gehabt. «Üblicherweise richtet eine Stadt bei einem Siedlungsprojekt solcher Dimension einen Fonds ein, um den erforderlichen Infrastrukturausbau zu finanzieren, der ein neues Quartier mit 500 Wohnungen mit sich bringt.» Dass dies bei einem für die Stadt derart wichtigen Projekt wie Olten Südwest nicht passierte, sei nicht nachvollziehbar und weit ab vom akzeptierten Standard der Immobilienentwickler. «Aber schauen wir nach vorn statt zurück», sagt Rauch und sieht kurz auf den Bildschirm seines Laptops, auf dem sich das Rot und Grün der aktuellen Aktienkurse ungefähr die Waage halten.

«Schon immer haben mich die Spannungsfelder der gegensätzlichen Ideen interessiert.»

Politische Themen im Gespräch mit Rauch zu vermeiden, scheint ein Ding der Unmöglichkeit. Immer wieder werden sie zum Thema. In seiner Zeit als Student an der Universität in Bern, wo er Volkswirtschaft studierte, begann er sich für die politischen Zusammenhänge zu interessieren. An der Universität habe er sich zwischen ganz unterschiedlichen politischen Lagern bewegt. Zwischen Linksaussen, das sich für ein autonomes Jugendzentrum engagierte und sich eine gesellschaftliche Revolution herbeiwünschte, und den angepassten Stimmen, die sich dafür einsetzten, dass alles so bleibt, wie es ist. «Schon immer haben mich die Spannungsfelder der gegensätzlichen Ideen interessiert.»

«Friday for Future ist ein Thema, das bei uns für Gesprächsstoff sorgt.»

Während der Vater Mitglied der FDP war, interessierte sich der Sohn für New Labour, eine Ausrichtung der britischen Labour Party, die unter dem späteren britischen Premierminister Tony Blair tiefere Steuern, weniger Kontrollen bei Investitionen in den öffentlichen Sektor und mehr Unterstützung für die Wirtschaft forderte. «Ich wunderte mich, dass zur selben Zeit in der Schweiz eine Partei wie die FDP im Energiewesen die Liberalisierung des Strommarktes behinderte. Die Ansätze der damaligen SP-Nationalräte Elmar Ledergerber und Peter Bodenmann, die sich auf das Verursacherprinzip stützen, sagten mir mehr zu.» Das sei auch jene Zeit gewesen, in der der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder viel mehr rechte Anliegen durchbrachte als später Angela Merkel auf der anderen politischen Seite.

Auch heute wird es am Familientisch in den Platanen ab und an politisch. «Friday for Future ist ein Thema, das bei uns für Gesprächsstoff sorgt.» Nicht, dass sich der Nachwuchs der Bewegung angeschlossen hätte. Man wundere sich eher darüber, in welcher Ausführlichkeit das Thema in der Schule behandelt werde. Ideen zu haben, sei das eine, «sie zu Boden zu bringen, das andere», sagt Rauch, während er mit dem Handstaubsauger über den Esstisch flitzt, um ihn von den Brotkrümeln des Morgenessens zu befreien. Die zwei Söhne sind in der Schule, Rauchs Ehefrau sitzt im Büro, nur einen kurzen Spaziergang entfernt. Seit er nicht mehr nach Zürich fahre und von zu Hause arbeite, kümmere er sich vermehrt um die Aufgaben im Haushalt, sagt Rauch, der in Gedanken schon das Mittagessen für die Familie plant.

Bis ans Limit

In der Mitteilung zu seiner Kandidatur bezeichnete sich Rauch als «vernunftorientierte Alternative». Unvernünftig sei er in seinem Leben vor allem in jungen Jahren gewesen. «Besonders im Sport. Ich denke da zum Beispiel an gefährliche Tiefschneehänge, wo ich zu viel Risiko eingegangen bin und es nur dank zahlreicher Schutzengel gut herausgekommen ist. Oder wenn ich mit dem Rennvelo über die Berge gefahren bin, bis ich beinahe vom Sattel fiel.» Auch beim einen oder anderen privaten Investment habe er rückblickend wohl zu viel Risiko auf sich genommen. «Ich will immer erfahren, wie weit ich gehen kann.» Ein Grund, weshalb Rauch auch heute noch regelmässig am Engadin Skimarathon teilnimmt. Und möglicherweise auch eine Erklärung für seine Kandidatur.

Als Rauch 2017 versucht hatte, als wilder Kandidat für die FDP in den Stadtrat gewählt zu werden, landete er auf dem zweitletzten Platz. «Mein Ergebnis lag in greifbarer Nähe zur offiziellen FDP-Kandidatin», sagt Rauch, der das Glas lieber halbvoll als halbleer sieht. Weshalb tritt er nach dem bescheidenen Resultat noch einmal an? In der Zwischenzeit hat sich Rauch von seiner ehemaligen Partei losgesagt. «Ich biete etwas, das die neuen Kandidaten nicht haben. Mein Asset ist die Unabhängigkeit», beschreibt es Rauch mit einem Begriff aus dem Finanzjargon. «Ich sehe mich keiner Parteilinie, sondern Ergebnissen verpflichtet, die einem Grossteil der Bevölkerung zugutekommen sollen.»

«Eigentlich ergeht es mir ein wenig wie Franz Biberkopf im Roman von Alfred Döblin. Ich möchte einfach ein möglichst solider Mensch sein.»

Eine Exekutivwahl sei eine Personenwahl. Deshalb habe er entschieden, sein Glück noch einmal zu versuchen. Von Leuten, die ihn bisweilen dafür kritisieren, er trete zu forsch, um nicht zu sagen zu frech auf, will er sich den Mund nicht verbieten lassen. «Die Politik ist schliesslich nicht dazu da, um den Bürgern zu gefallen, sondern um transparent zu sagen, was Sache ist», findet Rauch. «Wenn es gilt, frische Ideen bei knappen Ressourcen in die Realität umzusetzen, muss man Klartext sprechen dürfen.» Im Grunde genommen gehe es ihm aber einfach darum, seine Sache möglichst gut zu machen. «Eigentlich ergeht es mir ein wenig wie Franz Biberkopf im Roman von Alfred Döblin. Ich möchte einfach ein möglichst solider Mensch sein», antwortet Rauch lachend und ohne lange überlegen zu müssen auf die Frage nach einem Buchtipp. Im Roman «Berlin Alexanderplatz» steht der Antiheld stets wieder auf, wenn er einmal mehr auf seine Nase gefallen ist. Rauch macht eine Parallele zu seinem Leben aus und lässt einen an eine Redewendung denken: Wo Rauch ist, ist auch Feuer.  

Politik, Stadtratswahlen Olten

Nani Pan und Schlaumeierbrot

Im Schaufenster steht eine muntere Schar Schneemänner und Plüschpinguine. Sie schaut zuversichtlich in die verregnete Dunkelheit, während es im Innern der kleinen Bäckerei ans Aufräumen geht. Unterbrochen wird Verkäufer Ismael Awla nur dann, wenn eine Kundin kurz vor Ladenschluss das Geschäft betritt, um auf dem Nachhauseweg noch etwas zu besorgen. Im kleinen Quartierladen gibt es alles, was man zum Überleben und darüber hinaus benötigt. Milch, Gemüse, Fleisch, Schokolade – und natürlich Gipfeli, Weggli und Brot in vielerlei Varianten.

Brot hat im Irak nicht denselben Stellenwert wie in der Schweiz, weiss Awla. «Bei uns ist vor allem Nani Pan angesagt, ein Fladenbrot. Ich war überrascht, wie viele Brotsorten es in der Schweiz gibt», erzählt der 32-Jährige, der nachvollziehen kann, weshalb die Leute hierzulande stolz auf ihre Bäckerinnen sind. Am liebsten schmecken ihm die Früchte- und Nussbrötchen seines Arbeitgebers. Gerade als ein Kunde den Wacker Beck verlassen hat und im Winterdunkel entschwindet, vibriert das Geschäftshandy auf dem Verkaufstresen. «Die Chefin», entschuldigt sich Awla, bevor er den Anruf entgegennimmt. «Ein Schlaumeierbrot und zwei Paillasse», rapportiert er den Lagerbestand vor Ladenschluss. Awlas Chefin heisst Ruth Wacker. Das Familienunternehmen an der Martin-Disteli-Strasse führt sie seit mehr als dreissig Jahren.

Die Schweiz sei nie sein Ziel gewesen, als er 2015 seine Familie im Irak verliess und aufbrach, um nach Europa zu gelangen und ein neues Leben in Sicherheit zu beginnen. «Ich habe von einem Leben in Deutschland, Grossbritannien oder Frankreich geträumt», erzählt Awla, während er mit seinen Händen spielt, dass die Gelenke knacken. Rund vierzig Tage dauerte die Reise ins Ungewisse. Mit 500 Dollar in der Tasche und ohne viel Gepäck sollte sie ihn in ein Land führen, von dem er sich zuvor kein Bild gemacht hatte. Zunächst ging es mit dem Bus legal über die Grenze in die Türkei. Von dort weiter via Bulgarien nach Serbien. In Serbien kam es zu einem Erlebnis, als der junge Kurde zusammen mit dreizehn anderen Menschen die Grenze nach Ungarn zu Fuss passieren wollte. Das Erlebnis will Awla nicht mehr aus dem Kopf gehen.

«Sie zielten plötzlich mit ihren Waffen auf uns und forderten uns auf, alles Geld rauszurücken, das wir bei uns hatten.»

Ismael Awla

Mehrere Männer aus Afghanistan führten die Flüchtenden mitten in der Nacht bis kurz vor die Grenze, wo sie warten sollten, bis die Führer die Lage ausgekundschaftet hatten. Als klar war, dass die ungarische Polizei die Grenze sicherte und an einen unbemerkten Übergang nicht zu denken war, entschieden sich die Fluchthelfer für den Abbruch. «Sie zielten plötzlich mit ihren Waffen auf uns und forderten uns auf, alles Geld rauszurücken, das wir bei uns hatten», erzählt Awla. Zum Glück war er auf eine solche Situation vorbereitet. Das wenige Geld, das er für seine Flucht dabei hatte, hatte er zuvor aufgeteilt. Die 200 Dollar in seinem Portemonnaie händigte er den Schleppern aus. Die 300 Dollar in seiner Unterhose erwähnte er nicht. Nach zwei Schüssen in die Luft verschwanden die vermeintlichen Fluchthelfer und liessen die eingeschüchterte Gruppe in der Nacht zurück.

Am darauffolgenden Morgen wagte sich Awlas Gruppe an den offiziellen Grenzübergang, wo sie von der Polizei aufgefordert wurden, mit dem Bus in die serbische Hauptstadt Belgrad weiterzureisen. «Ich war der Einzige, der noch etwas Geld hatte. Mit diesem konnten wir uns die Fahrt leisten», erzählt Awla. «Wir kamen an einem Donnerstag an, die Menschen in Serbien feierten Bairam und wir wurden von einer Organisation eingeladen, mitzufeiern», erinnert er sich an die Ankunft in Belgrad. Tags darauf reiste Awla mit dem Bus von Serbien nach Kroatien und weiter mit dem Zug via Slowenien und Österreich nach Deutschland. 2015 war das Jahr, in dem Deutschland und Österreich entschieden hatten, Tausende Flüchtlinge und Migranten, die in Ungarn gestrandet waren, aufzunehmen. Die Bilder der Ankommenden sorgten damals für kontroverse Diskussionen in den Medien und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel stand im Kreuzfeuer. Zu ihrem Satz «Wir schaffen das!» existiert heute ein eigener Wikipedia-Eintrag.

In Deutschland angekommen, entschied sich Awla für den Grenzübertritt in die Schweiz. «Ich hatte damals kein gutes Verhältnis mit meiner Schwester, das heisst, wir hatten längere Zeit keinen Kontakt und ich wusste nicht, wo sie lebte.» Weil Awla seine Schwester in Deutschland vermutete, wollte er sein Glück stattdessen in der Schweiz versuchen. Später sollte sich herausstellen, dass seine Schwester nur wenige Jahre zuvor ebenfalls in die Schweiz gekommen war.

Unter dem Boden im Gheid

Awlas erste Schritte in der Schweiz führten ihn ins Bundesasylzentrum Bässlergut in Basel, wo er in einer gemischten Unterkunft mit Familien und Alleinstehenden lebte. Da das Zentrum überbelegt war, kam Awla kurze Zeit später nach Bremgarten im Kanton Aargau. Nach zwei Wochen brachte man ihn nach Olten, in die damalige Asylunterkunft im Gheid. «Das müsste der 24. November 2015 gewesen sein», sagt Awla, der beim Erzählen seiner Geschichte oft präzise Daten und Zeiten nennt. Im Gheid habe er zusammen mit zwei Dutzend anderen Geflüchteten in einem Raum geschlafen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er ein Asylgesuch gestellt und wartete auf einen Entscheid des Staatssekretariats für Migration. Anfang 2017 erhielt er den Bescheid über die Ablehnung seines Gesuchs.

«Ich hatte sehr grosses Glück, ich habe in der Wohngemeinschaft viel über die Schweizer Kultur gelernt.»

Ismael Awla

«Als ich im Gheid lebte, lernte ich Leute von der Rosengasse und vom Cultibo kennen, die Veranstaltungen für geflüchtete Menschen organisierten.» Weil Awla sich dank seiner Sprachkenntnisse mit den meisten Bewohnern der Asylunterkunft unterhalten konnte und Englisch beherrscht, fungierte er als Übersetzer zwischen den Schweizer Helfern und den Geflüchteten. «Irgendwann sagte mir Andrea Baldinger, die noch heute an der Rosengasse wohnt, dass sie in ihrer Wohngemeinschaft ein Zimmer frei hätte, und sie fragte mich, ob ich dort einziehen wolle.» Für Awla eine einmalige Gelegenheit, den beengenden Verhältnissen in der Asylunterkunft zu entkommen. «Ich hatte sehr grosses Glück, ich habe in der Wohngemeinschaft viel über die Schweizer Kultur gelernt.» Die Gemeinschaft dort habe sich wie eine grosse Familie angefühlt. «Wir haben gemeinsam einen schönen Garten bewirtschaftet und ich habe nach und nach immer mehr Leute aus Olten kennengelernt.»

Seit sieben Monaten arbeitet Awla nun jeweils an den Nachmittagen in der kleinen Bäckerei hinter dem Bahnhof. Der Mann mit dem freundlichen Lachen und dem tiefschwarzen Haar hatte in seiner Heimat zahlreiche Jobs. Er arbeitete in einer Autowerkstatt, in Restaurants in der Bedienung und in der Küche, er nähte Kleider und führte ein Geschäft, das Silberschmuck verkaufte. Awla hatte im Irak zwei Jahre Sozialpsychologie und vier Jahre Philosophie studiert, doch damit liess sich kein Lebensunterhalt verdienen. «Bei der Wahl meiner Studienfächer hatte ich nicht das Ziel, später damit Geld zu verdienen. Ich wollte einfach möglichst viel über das Leben lernen.» Dieses Wissen habe ihm sehr geholfen, als er seine neue Existenz in der Schweiz bei null anfing. «Ich konnte mich relativ schnell mit der neuen Kultur und den Menschen hier in der Schweiz anfreunden.»

Im ersten Jahr in der Schweiz verschwendete Awla keinen Gedanken daran, was er arbeiten könnte. «Mir war nicht wichtig, was ich arbeiten würde. Wichtig war, dass ich überhaupt arbeiten konnte.» Er habe das Gefühl gehabt, er sei für alle Jobs bereit. Diese Zuversicht habe ihm in der unsicheren Zeit geholfen. «Ich will einfach leben, ohne von jemandem finanziell abhängig zu sein.» Lange Zeit blickte Awla einer ungewissen Zukunft entgegen. Als sein Asylgesuch 2017 abgelehnt wurde, wusste er nicht, wie es für ihn weitergehen sollte. So viel stand fest: Aufgeben, das kam nicht in Frage. Wegen der anhaltend unsicheren Lage im Irak wurde er wie viele andere nicht abgeschoben.

Leben im Jetzt

Inzwischen ist Awla in der Schweiz definitiv angekommen. Er fühlt sich gut integriert und hofft, dass andere Menschen, die dasselbe Ziel haben, sich an ihm ein Beispiel nehmen können. Sein Ratschlag: «Nicht abwarten, sondern offen und aktiv sein und auf die Menschen zugehen.» Es sei schwierig, die einheimische Bevölkerung und die Geflüchteten miteinander in Kontakt zu bringen. Auf beiden Seiten gäbe es Vorurteile. Die Initiative «Refugees Welcome in Olten» sei eine tolle Sache, die sich dafür einsetze, dass keine Missverständnisse entstehen. 2020 war ein rundum gutes Jahr für Awla. Im Februar heiratete er seine Schweizer Partnerin Johanna, mit der er heute ganz in der Nähe seines Arbeitsplatzes wohnt. «Gerade noch rechtzeitig vor dem ersten Lockdown», blickt Awla auf den wichtigen Moment in seinem neuen Leben zurück. Mit der Heirat änderte sich auch sein Status. Eine drohende Ausschaffung ist vom Tisch. 

Die Frau an seiner Seite traf er 2016 zum ersten Mal im Cultibo. Drei Jahre später wurde aus den gelegentlichen Treffen mehr. «Wir haben uns ineinander verliebt.» Niemals habe er früher daran gedacht, dass er einst mit einer Schweizerin verheiratet sein würde. Die Kulturen des Irak und der Schweiz seien sehr unterschiedlich. «Mittlerweile hat aber die Schweizer Kultur siebzig Prozent meines Lebens verändert.» Die Leute in der Schweiz empfinde er als ruhiger und entspannter im Vergleich mit den Menschen in seiner alten Heimat. «Ich schätze es sehr, dass man sich hier auch Zeit nimmt für sich selber.» Aufgefallen ist Awla aber auch die Tatsache, dass die Menschen in der Schweiz sich vielmehr Gedanken um ihre Zukunft machen. «Die Leute planen zwanzig oder dreissig Jahre im Voraus und denken schon an die Zeit ihrer Pensionierung, wenn sie noch mitten im Leben stehen.» Er habe auch manchmal den Eindruck, dass die Leute vor lauter Arbeiten gar nicht merken, in welcher wunderbaren Umgebung sie leben. Das Vorausplanen sei ihm fremd. «Persönlich lebe ich lieber im Heute. Zeit zu haben, ist mir zudem viel mehr Wert, als viel Geld zu besitzen. Ich werde wohl nicht so viel Geld brauchen, wenn ich einmal alt bin.»

Neben seinem Job als Verkäufer beim Wacker Beck arbeitet Awla fünf Vormittage in der Woche als Klassenhilfe an einer Schule in Trimbach. «Ich kümmere mich dort unter anderem um einen Erstklässler, der aus Syrien kommt und Arabisch spricht. Meine Aufgabe ist es, ihn dabei zu unterstützen, dass er in der Klasse mitkommt.» Er arbeite sehr gerne mit Kindern. Ein Geheimrezept habe er nicht, aber er versuche mit ihnen zu sprechen, als wären sie erwachsen, und frage die Schüler direkt, was er für sie tun könne. «Wenn sie merken, dass sich ein Erwachsener ernsthaft für sie interessiert, geht der Knopf schnell auf.» Zu Beginn besuchte Awla einmal in der Woche eine Kindergartenklasse. Seine Schwiegermutter, die früher als Lehrperson am Kindergarten tätig war, fragte die Schulleitung an, ob ein solcher Einsatz möglich wäre. Weil man gute Erfahrungen gemacht habe mit ihm, könne er heute an der Primarschule in einer ersten und zweiten Klasse arbeiten. «Dass die Schulleitung zufrieden ist mit meiner Arbeit, macht mich sehr glücklich.»

«Herr Awla kann gut mit den Leuten, er ist ehrlich und freundlich. Und das Wichtigste: er bringt die Ware an die Kundschaft.»

Ruth Wacker

Fast zum selben Zeitpunkt wie mit seinem Job an der Schule startete Awla im letzten Sommer als Verkäufer beim Wacker Beck. «Mein Kollege Tobias Vega hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass jemand für den Verkauf gesucht wird», erinnert sich Awla. Er sei dann in der Bäckerei vorbeigegangen. «Frau Wacker war zuerst skeptisch, ob ich der Richtige für die Stelle sei, hat mir dann aber eine Chance gegeben.» Ladeninhaberin Ruth Wacker hat ihren Entscheid nicht bereut: «Herr Awla kann gut mit den Leuten, er ist ehrlich und freundlich. Und das Wichtigste: er bringt die Ware an die Kundschaft», zeigt sie sich zufrieden mit ihrem neuen Mitarbeiter. «Jeder Anfang ist bekanntlich schwierig, aber Herr Awla hat seine Sache von Beginn weg gut gemacht.» Awla ist glücklich über seine beiden Jobs. «Es sind ganz unterschiedliche Arbeiten, die mir beide Freude machen.» Wenn er in der Bäckerei steht, ist er alleine für den Laden verantwortlich. Kommt er am Nachmittag ins Geschäft, heizt er als erstes den Ofen auf, mit dem er später das Feierabendbrot aufbäckt. Er kontrolliert die Haltbarkeitsdaten der Lebensmittel, bereitet den Salat zu und sorgt dafür, dass seine Kundschaft bedient wird. «Es gibt viele Stammkunden aus dem Quartier. Bei einigen weiss ich schon, wenn sie hereinkommen, was sie möchten.» Daneben kommen viele Pendlerinnen, um auf dem Weg kurz etwas einzukaufen.

Dass es mit der Arbeitssuche geklappt hat, verdankt Awla nicht zuletzt seiner Sprachbegabung. Bis vor drei Jahren habe er im Alltag ausschliesslich Englisch gesprochen. «In meinem damaligen Bekanntenkreis sprach niemand wirklich Deutsch.» Irgendwann kam Awla zum Schluss, dass es das nicht sein konnte, und sprang über seinen Schatten. «Deutsch ist eine so reiche Sprache. Für alles und jedes gibt es ein Wort. Das macht es nicht einfacher, sie zu lernen. Auch ist sie kompliziert, wenn ich sie mit meiner Muttersprache vergleiche.» In der Zwischenzeit spricht Awla eine erfrischende Mischung aus Deutsch und Dialekt. «Die verschiedenen schweizerdeutschen Dialekte kann ich unterscheiden», meint er schmunzelnd. Mit seinen mündlichen Sprachkenntnissen ist er zufrieden. Zuhause spricht er Deutsch. «Ausländerdeutsch», wie Awla lachend präzisiert. Auch die kulturellen Unterschiede lassen sich nicht wegdiskutieren. «Meine Partnerin und ich arbeiten jeden Tag daran, dass es für beide stimmt.» Ganz zu Beginn hätten sie miteinander geschaut, wie sie ihre Beziehung führen können, damit es für beide passt. Gibt es unterschiedliche Ansichten, gilt es, Kompromisse zu finden. Sein Deutsch sei eine Sache, die ab und an zu Diskussionen führe. «Meine Frau schubst mich immer mal wieder an, dass ich an meinem Deutsch arbeiten sollte», und sie habe ja recht, erzählt Awla.

Awlas Herz schlägt für die persische Sprache, die er neben seiner kurdischen Muttersprache, Arabisch, Englisch und Deutsch spricht. Vielleicht hat das mit dem islamischen Mystiker und Philosophen Celaleddin Rumi zu tun, der als wichtigster persischer Dichter des Mittelalters und als Gründer des Ordens der tanzenden Derwische gilt. Rumi wurde auch als Brückenbauer zwischen den Religionen bekannt, als Deuter von Gemeinsamkeiten zwischen Christen, Juden und Muslimen. Diese Gemeinsamkeiten finden sich auch auf Awlas Unterarm, auf dem ein grosses Tattoo prangt. Es zeigt die Umrisse der sieben Kontinente. Die Grenzen der einzelnen Staaten fehlen. «Am Schluss sind wir alle Menschen, egal, wo wir geboren sind und wo wir leben. Wir habe nur diese eine Welt. Die Grenzen sind von Menschenhand gemacht und werden hoffentlich irgendwann nicht mehr existieren.»

Eines Tages möchte Awla seiner Frau den Ort zeigen, wo er aufgewachsen ist. Olten, «die zweite Stadt in meinem Leben», wie Awla sagt, ist ein Dorf im Vergleich mit seinem Herkunftsort. In Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan im Irak, lebt rund eine Million Menschen und das Thermometer kann auf 52 Grad klettern. «Ich rate dringend davon ab, im Sommer dorthin zu reisen», erzählt Awla und lacht. «Meine Frau lernt gerade etwas Kurdisch, was mich sehr freut.» Der Kontakt zur Familie im Irak beschränkt sich seit seiner Ankunft in Europa auf Telefongespräche und Austausch via Internet. «Mit meinen Eltern in Erbil spreche ich einmal pro Woche.» Weil Awlas fünfjähriger Neffe zu Beginn Schwierigkeiten hatte mit dem Namen seiner Schweizer Tante und sie immerzu Luana statt Johanna nannte, wird sie nun von der ganzen Familie im Irak so genannt. «Luana mag ihren neuen Namen», meint Awla mit einem Augenzwinkern.

Der Quereinsteiger

Wie aus dem Nichts erschallt ein durchdringendes Klingeln aus dem Nebenraum. Das Mobiltelefon kann es nicht sein, denn ein Handy besitzt Benvenuto Savoldelli keines. Habe er nie, und werde er voraussichtlich auch nie, wie er bestimmt sagt. Nachdem der schrille Schrei nach Aufmerksamkeit so abrupt endet, wie er erklungen ist, klärt Savoldelli auf: «Die Notstromsicherung des Servers, der bald die Batterien ausgehen.» Wie war das noch mal? Ein Stadtrat, Anwalt und Verbandsgeschäftsführer ohne Handy? «Ich lass mich ungern ablenken.» Ein Leben im Flugmodus führt der 58-Jährige deshalb nicht. Um seine Mails zu checken, hat er sich am Morgen, Mittag und Abend Zeitfenster reserviert. «Ich will meinen Tagesablauf selbst bestimmen und nicht durch ein Gerät diktieren lassen.» Manchmal lässt er sich auch einen Tag Zeit beim Beantworten einer Nachricht. «Dann kommt es vor, dass sich die Leute telefonisch bei mir erkundigen, ob ich das Mail gesehen habe», erzählt Savoldelli leicht amüsiert.

Weniger amüsant findet er es, wenn die Leute an einer Sitzung unter dem Tisch ständig an ihren Handys herumdrücken. «Das empfinde ich als respektlos.» Wenn sich die Kollegen an der montäglichen Stadtratssitzung über die Neuigkeiten in der umtriebigen Olten-Facebookgruppe unterhalten, kann Savoldelli nicht mitreden. Denn soziale Medien nutzt er nicht. «Meistens geht es dort nur um Dinge, die einen aufregen. Dafür ist mir die Zeit zu schade.» Auch während seiner Stadtratskandidatur will er abstinent bleiben, schliesslich habe er auch bei den Wahlen 2013 und 2017 Facebook und Konsorten nicht genutzt und sei trotzdem gewählt worden.

Stossgebete für bessere Noten

Als einer der wenigen Kandidierenden stammt Savoldelli nicht aus der Region, sondern ist in Bergamo zur Welt gekommen. Seine ersten Schuljahre verbrachte er in einem Internat, das von katholischen Nonnen und Priestern geleitet wurde. Seine Eltern lebten derweil bereits in der Schweiz. Savoldellis Vater kam mit fünfzehn Jahren nach Genf und arbeitete dort auf einem Bauernhof. Später lebte er im sankt-gallischen Bazenheid und im Bündnerland und war im Tunnelbau tätig. Die Mutter arbeitete im Gastgewerbe. Eigentlich wollten die beiden nach Italien zurückkehren, sobald Savoldellis jüngerer Bruder schulpflichtig würde. Doch so weit kam es nicht. Stattdessen holten sie ihren älteren Sohn 1971 zu sich in die Schweiz, nach Olten, wo sie sich in der Zwischenzeit niedergelassen hatten. Savoldelli erinnert sich an die Einführungsklasse im Säli-Schulhaus und an seine erste Schweizer Lehrerin, Frau Grassi, mit der er regelmässig «Unstimmigkeiten» hatte.

«Also betete ich ein Ave-Maria und Vaterunser nach dem anderen.»

Benvenuto Savoldelli

Im Quartier Erlimatt, wo die Savoldellis wohnten, nannte man sie «die Tschinggen». «Wenn mir das zu Ohren kam, bin ich richtig durchgedreht und habe mich fast nicht mehr gespürt», erzählt Savoldelli, der nach der Einführungsklasse den regulären Unterricht im Bannfeld besuchte. Zu den sprachlichen Defiziten des Einwanderersohnes kam die Tatsache, dass er der Jüngste und Kleinste in der Klasse war. Alles in allem sei er aber gut aufgenommen worden von seinen Mitschülern. Man verstand sich, auch wenn die neuen Freunde ein ganz anderes Deutsch sprachen, als er es in der Schule lernte. Mathematik zählte zu seinen Lieblingsfächern. «Weil die Zahlen in beiden Sprachen dieselben sind.» Weniger gute Erinnerungen verbindet er mit dem Deutschunterricht. In Diktaten habe er zuverlässig Einser geschrieben. Seine Grossmutter habe ihm geraten, vor den Prüfungen auf dem Schulweg zu beten. «Also betete ich ein Ave-Maria und Vaterunser nach dem anderen.» Leider bescherte auch die Beterei keine besseren Noten.

Vom Eisfeld aufs Politparkett

Bevor Savoldelli 2013 zum ersten Mal in den Stadtrat gewählt wurde, habe er mit Politik nichts zu tun gehabt. Drei Tage vor der Nominationsversammlung der FDP habe man ihn angefragt, ob er für die Partei kandidieren würde. «Du hast den EHCO gerettet, dann wirst du auch dafür sorgen, dass die Stadt gut durch die Krise kommt», habe man ihm gesagt, erzählt Savoldelli, der als ehemaliger Präsident des EHCO den Verein vor dem Ruin bewahrte. In der Oltner Stadtkasse klaffte zu diesem Zeitpunkt ein Loch von 25 Millionen Franken. Sieben Jahre später und kurz vor einer möglichen dritten Amtszeit fühlt sich Savoldelli noch immer nicht so richtig als Politiker. Grosse Reden zu schwingen, sei nicht seine Art. «Das stinkt mir.» Dafür, dass er sich im Parlament nur selten zu Wort meldet, werde er kritisiert. Vielleicht hat es mit dem Klima im Gemeindeparlament zu tun, das sich seiner Ansicht nach in den letzten Jahren verändert hat. «Ich habe den Eindruck, dass die Sachebene öfters mal nebensächlich ist und es persönlicher geworden ist», sagt Savoldelli. Auch die Tonart in den Diskussionen sei aggressiver geworden, was ihm missfalle. Dagegen schätze er die Stimmung im Stadtrat, wo Ansichten und Meinungen voneinander abweichen könnten, ohne dass jemand persönlich angegriffen werde.

Obwohl Savoldelli sich als Quereinsteiger in Sachen Politik bezeichnet, war er in seiner Jugend nicht ganz unpolitisch. In der Kanti habe man ihm den Übernamen «der rote Ben» gegeben. Zu dieser Zeit habe er sich für die Legalisierung von Cannabis eingesetzt, obwohl er als ambitionierter Velofahrer selbst nie gekifft und sein allererstes Bier an der Maturabschlussfeier getrunken habe. Als in Olten die Reithalle noch stand, seien die Feierlichkeiten zum 1. Mai die grössten Feste der Italiener gewesen, erinnert sich Savoldelli. Damals sei die SP noch eine richtige Arbeiterpartei gewesen und die italienische Gemeinschaft habe die Gelegenheit zum Feiern genutzt, darunter auch viele Leute, die mit der Politik nichts anzufangen wussten.  

Auch heute noch ist er der Meinung, dass es weit grössere Probleme gibt als «ein paar Kiffer». Savoldelli verweist auf die Selbstverantwortung. Mit Drogen befasst sich Savoldelli auch in seiner Funktion als Richter und Vizepräsident in der Disziplinarkammer für Dopingfälle von Swiss Olympic. In den Gremien von Swiss Olympic sitzen jeweils drei Personen – zwei Juristinnen und ein Arzt. Gemeinsam urteilen sie über Sportler, die beim Dopen erwischt werden. Beim jüngsten Fall habe es sich um einen Fussballer gehandelt, der mit seinem aufgemotzten Auto in eine Kontrolle kam und bei dem in diesem Zusammenhang Dopingmittel gefunden wurden. «Er erhielt eine Sperre von vier Jahren», sagt Savoldelli, während er den Ordner mit den Urteilen zurück ins volle Regal stellt. 

«Wir haben ein so wunderbares Land und es geht den Menschen in kaum einer anderen Gegend so gut wie hier.»

Benvenuto Savoldelli

Einen Ausgleich zu seiner Arbeit findet Savoldelli im Sammeln. Seit er fünfzehn Jahre alt ist, ist er Mitglied im Philatelistenverein Olten. Briefmarken sammelt er zwar nicht mehr, dafür historische Ansichtskarten. Dabei beschränke er sich neben seiner Heimatstadt Olten auf Gemeinden in den Kantonen Solothurn und Aargau. Die Karten sind fein säuberlich in Ansichtsbüchern abgelegt. Jene Exemplare, die er verkaufen will, warten in hölzernen Karteikistchen auf der Fensterbank des Anwaltsbüros darauf, versteigert zu werden. «Dafür ist das Internet ganz praktisch.» Die älteste Ansichtskarte in seiner Sammlung stammt aus dem Jahr 1878. Es handelt sich um eine schön illustrierte Neujahrskarte in deutscher und hebräischer Sprache, adressiert nach Lengnau (AG). Im 18. und 19. Jahrhundert waren Lengnau und das Nachbardorf Endingen die einzigen Orte der Schweiz, wo sich Juden niederlassen durften. «Eine solche Karte ist ein Zeitdokument. Das fasziniert mich.» Savoldelli ist aber keiner, der vergangenen Zeiten nachtrauert. Im Gegenteil. Er findet, dass sich die Schweizer immer viel schlechter machen als sie sind. Er stört sich an der negativen Grundhaltung. «Wir haben ein so wunderbares Land und es geht den Menschen in kaum einer anderen Gegend so gut wie hier.» Eigentlich hätte man allen Grund dazu, viel stolzer zu sein auf das eigene Land.

Dasselbe wünscht er sich für Olten. «Ich glaube, wir sollten viel positiver unserer Stadt gegenüber eingestellt sein. Das gäbe eine ganz andere Ausstrahlung gegen aussen.» Nicht ohne Grund beantragte Savoldelli 1998 den Schweizer Pass. Kaum erwähnt, ist er auch schon mit einem dicken Bundesordner in Schweizer Rot unter dem Arm zurück. Er legt ihn auf den Tisch und schlägt ihn, ohne lange suchen zu müssen, auf. Der Bericht zu seiner Einbürgerung vor 22 Jahren kommt zum Vorschein. Damals stellte er sich dem «Verhör» der Bürgerkommission. «Ein Ausländer ohne Süchte», steht in charakterloser Schreibmaschinenschrift im Leumundsbericht der Kantonspolizei abschliessend. Auch eine Art Wahlempfehlung.

Stadtratswahlen Olten, FDP, Politik

Gesegnet mit einer Stimme zum Aufwärmen

Während die Bise bläst und auf dem Giebel der alten Holzbrücke die Wintergäste aus der Nordsee sich dicht an dicht zu einer Möwenkette versammeln und den Tauben keinen Platz lassen, zieht Nathalie Wenger ihre braune Akustikgitarre aus der Tasche. Man sieht dem Instrument an, dass es nicht nur als Deko in der Wohnung rumsteht. «Ein Geschenk zu meinem elften Geburtstag», sagt Wenger, bevor sie sich in Position bringt und einen ersten Song anstimmt. «The First Cut Is The Deepest» von Cat Stevens. Wengers warme, volle Stimme übertönt den Klang der Gitarre locker. Sie trotzt dem eisigen Wind und wird von den heimwehklagenden Rufen der Möwen begleitet. Während Wenger singt, bleibt hin und wieder jemand stehen, um zuzuhören, andere verlangsamen die Schritte, als wollten sie sich an ihrer Stimme aufwärmen.

«Sie ist besser als Helene Fischer. Von ihr würde ich mir eine CD kaufen.»

Begeisterter Passant beim Vorbeihören

Immer mal wieder zwinkert ihr jemand beim Vorbeigehen zu oder grüsst sie freundlich mit Namen. Wenger, die bis zum Alter von acht Jahren in Olten aufgewachsen war und mit 21 wieder zurück in die Stadt zog, kennt viele Leute hier. Sie sei ein kontaktfreudiger Mensch und mit ihren beiden Kindern lerne sie sowieso ständig neue Leute kennen. Dass man sich kennt in der kleinen Stadt, macht den Auftritt als Strassenmusikerin nicht immer einfacher, sagt sie und schaut dem älteren Herrn auf seinem Rollator hinterher, der zuvor einen kurzen Halt eingelegt hatte, um Wenger ein Kompliment für ihre Stimme zuzurufen. «Sie ist besser als Helene Fischer. Von ihr würde ich mir eine CD kaufen», meint er noch, bevor er sich wieder auf den Weg macht.

Premiere in der Westschweiz

Das erste Mal vor einem öffentlichen Publikum trat Wenger vor fünf Jahren auf. Weg von heimischen Gefilden, in den Sommerferien in der Westschweiz. Im Städtchen von Yverdon-les-Bains setzt sie sich aus einer Laune heraus an einen belebten Platz, beginnt zu singen und verdient sich im Handumdrehen ein paar Franken für die Ferienkasse. «Von dem verdienten Geld konnten wir ein paar Tage überleben. Das fand ich super und es hat mich gepackt.» Zurück in ihrer Heimat wird sie bei ihren ersten Auftritten von einer Kollegin begleitet. «Ich war zu Beginn etwas scheu und kam mir richtig ausgestellt vor», erzählt Wenger, nachdem sie ihren ersten Song auf der Holzbrücke beendet hat und die Gitarre in ihrem Schoss ruht. Mittlerweile hat sie keine Mühe mehr, sich in der Oltner Öffentlichkeit zu präsentieren. «Nur wenn die Leute stehen bleiben und länger zuhören, werde ich noch ein bisschen nervös.»

Meist nimmt die 35-Jährige zum Singen auf der rechten Stadtseite beim Eingang zur Winkelunterführung Platz. «Oft ist meine kleine Tochter dabei und singt ab und zu auch mit. Nach einer Stunde reicht es der Kleinen aber dann auch schon wieder.» Vom Winkel ist es nicht weit bis zum Vögeligarten, in dessen Nähe sie mit ihren beiden Kindern in einer Wohnung lebt. Der kurze Fussweg schont ihre Knie, die sie nicht mehr allzu weit tragen. Wenger hat mit Arthrose in ihren Kniegelenken zu kämpfen. Eine Auswirkung ihres Übergewichts, welches das Leben der freiheitsliebenden Frau zunehmend einschränkt. Deshalb wird sie sich im Februar einer Magenbypass-Operation unterziehen lassen. Die Nahrung gelangt damit nicht mehr durch den Magen, sondern direkt in den Dünndarm. «Das verhindert, dass du zu viel auf einmal isst. Wenn du es trotzdem tust, wird dir schlecht.»

«Mein grösstes Problem ist die Schokolade.»

Nathalie Wenger

Bis sie 24 Jahre alt war, sei sie eine schlanke Frau gewesen, erinnert sich Wenger. Die Gründe für ihr Übergewicht haben mit der Psyche zu tun und mit den Medikamenten, die sie deswegen nehme. Über die Jahre habe sich das Essen zudem zu einer Sucht entwickelt. «Ich habe in meinem Leben nie geraucht, Alkohol getrunken oder Drogen genommen. Mein grösstes Problem ist die Schokolade.» Möglichkeiten, um Gewicht zu verlieren, kennt Wenger einige. Mit unzähligen Diäten habe sie es schon versucht. Vorübergehend habe sie damit auch Erfolg gehabt, anschliessend aber immer wieder an Gewicht zugenommen.

Ebenfalls wegen Wengers lädierten Knien hat sie im vergangenen Jahr zum ersten Mal seit fünf Jahren auf abenteuerliche Sommerferien verzichtet. Normalerweise geht es einmal im Jahr für eine Woche zu Fuss auf Reisen. Zusammen mit Sohn und Tochter sowie der besten Freundin und deren Kindern. Meist ist das Ziel eine Region und nicht ein bestimmter Ort. Die selbstauferlegte Herausforderung: Die Reiselustigen sollen jedes Jahr weniger Gepäck auf ihre Wanderung mitnehmen. «Als wir damit begonnen haben, nahmen wir noch Zelte mit», erinnert sich Wenger an ihre erste Fussreise, die sie von Aarburg an den Neuenburgersee führte. Weil die Zelte zu schwer waren, müssen mittlerweile Schlafsäcke reichen, die es erlauben, irgendwo draussen zu übernachten. «Wenn das Wetter uns einen Strich durch die Rechnung macht, fragen wir bei Leuten am Weg, ob wir den Unterstand in ihrem Garten zum Übernachten nutzen dürfen.» Nicht selten reagierten die Menschen offenherzig und würden die lustige Reisetruppe bei sich im Haus übernachten lassen. Ein stärkendes Nachtessen und eine spannende Begegnung sind dann meist inklusive. Eine Nacht in einer Jugi oder in einem Hotel gab es nie, zumal das Geld dafür ohnehin fehlen würde.

Die USA-Connection

Wenger liebt die Freiheit. «Wenn ich die Wahl hätte, wäre ich immer unterwegs.» Ohne irgendwo angemeldet zu sein, völlig unabhängig, ohne viele Besitztümer, nur mit ihrer Stimme und der Gitarre im Gepäck um die Welt zu tingeln, so liesse es sich nach Wengers Geschmack gut leben. Als die junge Frau aus dem Elternhaus in Neuendorf auszog, erschien ihr Olten, mit dem sie schöne Kindheitserinnerungen verbindet, als idealer Wohnort, um mobil zu sein. Sie besass kein Auto und war ausserdem hochschwanger mit ihrem Sohn. Als sie 21 war, kam er zur Welt. «Ich hatte nie das Gefühl, dass ich zu jung war, als mein erstes Kind geboren wurde. Als junge Mutter hast du noch mehr Nerven, kannst dich besser einfühlen, weil du noch viel näher am Kindsalter bist.» Wengers Tochter kam zehn Jahre später zur Welt und ist heute vier.

Wengers Grossvater war Afroamerikaner. Davon zeugen ihre gekrausten Haare, die «recht mühsam zum Pflegen sind, weil es eine Mischung aus europäischem und afrikanischem Haar ist». Als amerikanischer Soldat lernte ihr Grossvater seine Frau in Deutschland kennen. Die beiden lebten anschliessend in den USA, wo Wengers Mutter zur Welt kam. «Als junge Frau reiste meine Mutter nach Europa, um ihren Wurzeln nachzugehen.» Mit 23 kam sie in die Schweiz und lernte Wengers Vater kennen. Weshalb es die amerikanische Touristin ausgerechnet nach Olten verschlagen hat, weiss Wenger nicht.

«Nun ist meine Grossmutter im September verstorben, und wir haben die Chance verpasst, sie nochmals zu sehen.»

Nathalie Wenger

Letztmals besuchte Wenger ihre Verwandtschaft in den USA vor zehn Jahren. Im Juli 2020 wäre ein Besuch in New Jersey geplant gewesen. Wegen Corona änderte die Familie ihre Pläne und blieb in der Schweiz. «Nun ist meine Grossmutter im September verstorben, und wir haben die Chance verpasst, sie nochmals zu sehen.» Sobald das Reisen wieder möglich ist, möchte Wenger mit ihren Kindern nach Virginia fliegen, wo Onkel und Tanten ihrer Mutter leben. Was Wenger bedauert: Zuhause wurde nur selten Englisch geredet. Sie hat die Sprache nie richtig gelernt. «Meine Mutter ist sprachbegabt, sie hat innerhalb eines Jahres Schweizerdeutsch gelernt. Sie gab sich Mühe, Englisch mit uns zu sprechen, fiel aber immer wieder ins Schweizerdeutsche zurück.»

Gott ist ihr Star

Wenger wurde in die Freie Christengemeinde «hineingeboren», wie sie sagt. Während sich der Vater in der Zwischenzeit abgewandt habe, seien Mutter, Schwester und sie Mitglieder geblieben. Am Sonntag um 10 Uhr besucht sie in der Regel die Messe an der Leberngasse. Zusätzlich werden Hauskreise veranstaltet, wozu sich Mütter und ihre Kinder in der Gemeinde treffen. «Wir reden, beten und singen gemeinsam.» Auch auf der Strasse streut Wenger hin und wieder christliche Lieder in ihr Set. «Mit diesen Liedern kann ich etwas weitergeben. Ich bin nicht jemand, der die Leute auf der Strasse überreden will, gläubig zu sein, aber meine Musik kann manchmal ein Schlüssel sein zu einem Gespräch über Gott und die Welt.»

Im Unterschied zu anderen christlichen Kirchen wird bei der Freien Christengemeinde Maria, die Mutter Jesu, nicht als Heilige angebetet. «In der Bibel heisst es, dass sie zwar auserlesen ist von Gott, sie aber eine normale, irdische Frau sei», erklärt Wenger. Auf die Frage, ob sie denn regelmässig in der Bibel lese, muss sie lauthals lachen. Niemand schreibe ihr vor, wie oft sie das zu tun habe. Die Bibel liege zu Hause aber immer in Griffweite und der Glaube gebe ihr sehr viel. «Ich merke, dass vieles einfacher ist, wenn man eine tiefe Beziehung mit Gott hat.» Wenn man einen Menschen um Rat fragt, sei man nie sicher, ob er recht habe. «Bei Gott weiss ich, dass er immer recht hat. Er ist wie ein guter Freund, der möchte, dass es mir gut geht.» Auch Zeiten des Zweifels kennt Wenger. Ein solcher Moment erlebte sie vor einigen Jahren, als der Sohn ihrer Schwester bei der Geburt verstarb. «Auf gewisse Fragen finden wir als Menschen keine Antworten, das gehört zum Leben wohl dazu.» Die Kirche ist ein beständiger Teil in Wengers Leben. Als 19-Jährige habe sie sich aber kurzzeitig von der Gemeinschaft entfernt, weil sie damals ein Leben führte, dass mit den Grundsätzen der christlichen Gemeinde nicht viel zu tun gehabt habe. «Zu dieser Zeit hielt ich mich nicht dafür, die Gottesdienste weiter zu besuchen.» Eine falsche Hemmung, wie sie im Rückblick findet.

«Damals war mir klar, dass ich meine Lehre abbrechen muss, wenn ich für mein Kind da sein will.»

Nathalie Wenger

Wenn Wenger auf der Strasse singt, verdient sie damit immer auch etwas Geld. «Es läuft ganz gut.» Ein kleiner finanzieller Zustupf zum schmalen Budget. Als junge Frau absolvierte Wenger zwei Praktika und begann anschliessend eine Lehre als Kleinkindererzieherin. Eineinhalb Jahre später wurde sie schwanger. «Damals war mir klar, dass ich meine Lehre abbrechen muss, wenn ich für mein Kind da sein will.» Diesen Entscheid habe sie nie bereut, obwohl sie es heute bedauere, keinen Lehrabschluss gemacht zu haben. Als ihr Sohn ein bisschen älter war, besuchte sie eine Ausbildung zur Spielgruppenleiterin. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin leitete sie anschliessend während fünf Jahren eine Spielgruppe in Olten und Zofingen, später kümmerte sie sich als Tagesmutter um die Betreuung von Kindern. Wengers Plan: Sobald sie gesundheitlich wieder fitter ist, möchte sie wieder mit Kindern arbeiten und eine neue Spielgruppe eröffnen.

Wengers Stimme werden wir dann hoffentlich immer noch vernehmen dürfen. Sie mache Musik, seit sie sich erinnern könne. Nur einmal in ihrem Leben sei ihre Stimme verstummt. «Nach der Geburt meiner Tochter fiel ich in eine postnatale Depression. In dieser Zeit fehlte mir die Kraft für die Musik.» Heute geht es Wenger gut und in Zukunft will sie noch häufiger vor Oltner Strassenpublikum auftreten. Sängerin einer Band zu sein, das kann sie sich dagegen nicht vorstellen. «Ich mach gern mein eigenes Ding und bin lieber alleine beim Singen.» Auftritte an Hochzeiten hatte sie bereits – etwas, das sie gerne öfters machen würde. Bei einer Talentshow im Fernsehen würde sie sich aber «nie im Leben» anmelden. «Ich bin viel zu schüchtern für die grosse Bühne.» Ob sie sich denn eine Teilnahme vorstellen könne, wenn jemand anders für sie die Anmeldung übernähme? Schwierig zu beantworten, meint sie zögernd. Womöglich sollte das einfach jemand für sie erledigen, denkt man sich, während die Frau mit der wunderbaren Stimme das nächste Stück anstimmt und den Vorübergehenden mit «I Swear» einen zwischenzeitlich in Vergessenheit geratenen Ohrwurm aus den 90er-Jahren mit auf den Weg gibt.

Barbetrieb und Anwohner: Ein giftiger Cocktail

Die Barhocker sind hochgestellt, der Plattenboden unter den Füssen ist von der finalen Party noch klebrig wie Sirup, hinter der Bar liegt ein prall gefüllter Ordner, auf dem sich weiteres Papier stapelt. «Die Daten fürs Contact-Tracing», erklärt Stadtmix-Inhaber Janick Rohner, während er die Unterlagen wegräumt und die Zutaten für einen Cocktail zusammensucht. Geübt vermischen sich Gin, Amaretto und Lime Juice an diesem Abend mitten unter der Woche zu einem «Sunday Morning». Nach einem vorsichtigen Schluck verzieht Rohner seine Mundwinkel und meint trocken: «Hoppla, ganz schön bitter geworden.» Einen bitteren Nachgeschmack haben auch die Umstände, weshalb der 23-Jährige seine Bar Ende Jahr schliessen wird.

Doch beginnen wir von vorn: Es war im Oktober 2018, als Rohner und sein damaliger Geschäftspartner Dilan von Däniken der zwischenzeitlich etwas angegrauten Bar in der Rötzmatt neues Leben einhauchten. Als magisch, romantisch und deliziös kündigten die jungen Barbetreiber damals ihr neues Konzept an. Mit Stand-up-Comedians, Zauber- und Kochshows, frischen Tacos und einem Thaler Blättli lösten die Unternehmer ihr Versprechen ein und setzten im Oltner Nachtleben frische Akzente. Einzig bei der Romantik mussten Abstriche gemacht werden, weil die geplanten Speeddating-Abende erst dem Zeitmangel und dann den Pandemiemassnahmen zum Opfer gefallen waren.

Das Konzept der Bar mit regelmässigen Veranstaltungen sei vom Feierpublikum gut angenommen worden, sagt Rohner. Vielleicht einen Ticken zu gut, zumindest was den Geschmack der Anwohnerinnen angeht. Das Stadtmix-Team konnte sich in kurzer Zeit einen Namen machen mit seinen Cocktails und Events und freute sich über eine treue Gästeschaft. Damit ist nun Schluss. Wie Rohner Mitte Dezember auf Instagram bekannt gab, wird die Bar Ende Jahr ihre Türen für immer schliessen. «In den nächsten Tagen beginnen wir damit, die Möbel einzuschweissen und für den Abtransport bereit zu machen», sagt Rohner, der als gelernter Spengler derzeit wieder auf dem Bau arbeitet. Das eine oder andere Möbelstück will er in seine Wohnung stellen. Das restliche Mobiliar soll eingelagert und teilweise verkauft werden.

Janick, die allerletzte Party ist wegen Corona im ganz kleinen Rahmen ausgefallen. Wie war die Stimmung?

An zwei Abenden haben wir mit einigen Stammgästen, die im Laufe der Zeit zu guten Kolleginnen wurden, und Freunden gefeiert. Für die Gäste ist die Info über das Ende abrupt gekommen. Bis zum Moment, in dem mir die Leute auf die Schulter klopften, sich bei mir bedankten und mir alles Gute für die Zukunft wünschten, hatte ich gar nicht richtig realisiert, dass es mit dem Stadtmix fertig ist. In den letzten Wochen fehlte die Zeit, mich darauf vorzubereiten. Als dann am letzten Abend um elf die Leute nach Hause gingen und ich alleine in der Bar stand, hat sich das ziemlich surreal angefühlt.

Wenn du zwei Jahre zurückblickst: Wie seid ihr 2018 gestartet?

Ich fand es super, wie die Jungen uns unterstützten, als sie sahen, dass jemand in ihrem Alter eine Bar eröffnet. Wir hatten von Tag eins an volles Haus. Zu Beginn waren wir ein zusammengewürfeltes Team. Dilan und mir fehlte die Erfahrung, aber es funktionierte alles und die Leute schätzten uns. Anfangs hatten wir Studenten hinter der Bar, später haben wir nur noch mit ausgebildeten Leuten gearbeitet. Auch mit den Gastrobetreiberinnen in der Nachbarschaft haben wir uns von Beginn weg gut verstanden. Ist uns mal etwas ausgegangen, konnten wir sicher sein, dass man uns im Vario, Magazin oder Gryffe aushelfen würde. Das Umfeld hatte Freude daran, dass hier ein paar Junge etwas Neues auf die Beine stellen. Ein tolles Gefühl, wenn du spürst, dass die Leute aus der Szene dich unterstützen.

Wann begann es, schwierig zu werden?

Ich denke, die Kommunikation zwischen Wohneigentümern, unserem Vermieter und uns war das grundlegende Problem. Als wir das Stadtmix mit einem Fünfjahresvertrag übernommen haben, legten wir ein Konzept vor, das festhielt, dass wir auf Livemusik setzen und verschiedene Anlässe veranstalten wollen. Auch haben wir gesagt, dass wir das Lokal nur dann mieten werden, wenn ein Umbau stattfindet. Der Plan war es, die Schaufensterfront rauszureissen und eine komplett verglaste Front mit Schiebetürensystem zu installieren. Dies, um Gäste auch im Sommer empfangen zu können, denn wir haben keine Terrasse, auf die man rausstuhlen dürfte. Mit dem Vermieter war geplant, dass der Umbau nach einem halben Jahr nach Vertragsunterzeichnung abgeschlossen ist. Also haben wir zum Start Vollgas gegeben, wir haben viel Werbung gemacht und zahlreiche Veranstaltungen organisiert. Das rief die Anwohner auf den Plan.

Die Bar existierte bereits lange vor eurer Übernahme. War es nicht üblich, dass im Haus Betrieb herrscht?

Zum Zeitpunkt, als wir die Lokalität übernommen haben, war das Geschäft seit längerem am Boden. Es lief nicht mehr viel und es gab dementsprechend wenig Lärmemissionen, über die sich jemanden hätte aufregen können. Dann kamen wir und brachten mit einem Schlag das Vierfache an Publikum und das jedes Wochenende. So begannen die Probleme. Wir wurden zuerst darauf hingewiesen, dass wir kein Club seien. Wir aber hatten unser Vorhaben dem Vermieter vorgelegt. Er war informiert, dass wir Events veranstalten wollten. So ging es eine Zeit lang hin und her, bis uns die erste Anzeige wegen Lärmbelästigung ins Haus flatterte. Es folgten Treffen mit dem Vermieter und den Eigentümerinnen der Wohnungen im selben Haus, bei denen wir unseren Standpunkt klar machten und auf den Mietvertrag verwiesen. Es gab zahlreiche Sitzungen. Manchmal sassen ich und mein Kollege vor zehn aufgebrachten Leuten, die auf uns einredeten und wir dachten nur noch «wow!».

Trotz eures Vertrages haben eure Widerstreiter nicht lockergelassen. Wie ging es weiter?

Nachdem klar war, dass wir mit dem Vertrag auf der sicheren Seite standen, haben die Anwohner ein anderes Mittel gewählt. Sie legten Einsprache gegen das Baugesuch ein. Als Wohneigentümer haben sie ein Mitspracherecht, was die optische Veränderung des Gebäudes betrifft. Zwar war uns vom Vermieter der Umbau vertraglich zugesichert worden, die Eigentümerinnen im Haus wussten jedoch nichts davon. Vor Gericht hat sich gezeigt, dass wir in einen Teufelskreis geraten waren. Irgendwann hatte der Vermieter die Nase voll und stellte uns in Aussicht, dass er unseren Mietvertrag nach Auslauf 2022 nicht mehr verlängern würde. Damit wurde uns klar, dass das Schicksal der Stadtmix Bar besiegelt war. Alles Geld, das ich jetzt in die Hände nehmen und in die Bar stecken würde, wäre verlorenes Geld. Weil ich damit rechnen muss, dass wegen Corona im nächsten Jahr mit der Bar nichts zu verdienen ist, habe ich mich zu einer möglichst schnellen Schliessung durchgerungen.

Wie haben sich die Streitigkeiten auf das laufende Geschäft ausgewirkt?

Im ersten Sommer haben wir viel Geld verloren. Glücklicherweise durften wir einen Monat lang beim Street Food Cinema mitwirken. Das hat uns sehr geholfen. Im zweiten Sommer hatten wir uns bereits einen Namen gemacht und waren gut besucht. Das war jedoch verbunden mit extrem vielen Lärmklagen. Die Bewohnerinnen forderten, dass ab 22 Uhr niemand mehr vor dem Haus redet, trinkt oder raucht. So hatten wir so gut wie jedes Wochenende die Polizei im Haus. Die Lage spitzte sich weiter zu. Die Anwohner grüssten uns nicht mehr und liessen nichts aus, um uns das Leben schwer zu machen. Das einzig Gute: Es kam nie zu Sachbeschädigungen oder Drohung, wie es die Betreiber des Hammer Pubs aktuell erleben. Der Kampf gegen uns war rechtlich gesehen in Ordnung, wenn auch nicht wirklich fair, wie ich finde.

Könntest du die Zeit zurückdrehen, was würdest du heute anders machen?

Hätte nach unserem Einzug der Umbau stattgefunden und wären unsere Absichten zu Beginn klar kommuniziert und von den Wohnungseigentümern mitgetragen worden, dann wären wir die nächsten zehn Jahre sehr gern hiergeblieben. Das ganze Line-up für das nächste Jahr wäre bereits vorbereitet, weitere kleinere Umbauarbeiten in der Lokalität waren schon angedacht. Im Nachhinein ist man natürlich immer schlauer. Klar würde ich nach allem Erlebten einen anderen Standort für das Stadtmix wählen.

Ein Umzug stand nie zur Debatte?

Wir haben uns mehrfach umgeschaut, um eine neue Lokalität zu finden. Unser Vermieter hätte uns bei einem Umzug sogar unterstützt. Nur ist es sehr schwierig, etwas Passendes in Olten zu bekommen. Aus der Stadt raus zu ziehen war nie eine Option, weil wir alle der Ansicht waren, dass es der Oltner Gastroszene guttut, wenn jemand frischen Wind reinbringt. Ich bin in der Stadt aufgewachsen, kenne hier jede Ecke und weiss, welche Locations du als Barbetreiber lieber meidest, weil ihnen ein gewisser Ruf aus vergangenen Tagen anhaftet. Es gibt zwei, drei Orte, die ich mir vorstellen könnte, doch diese werden wohl nicht so schnell frei werden.

Es ist anzunehmen, dass dir der Appetit auf weitere Gastroexperimente gründlich vergangen ist. Wie geht es weiter?

Im kommenden Jahr will ich mir die Zeit nehmen, um etwas Neues für Olten zu planen. Dank des Erfolgs, den wir mit der Stadtmix Bar hatten, sind verschiedene Leute auf mich zugekommen, die sich vorstellen können, in mein nächstes Projekt zu investieren. Wichtig ist, dass es auf lange Sicht funktioniert. So etwas wie hier möchte ich nicht noch einmal erleben. Feststeht: Vor der Eröffnung meines nächsten Lokals werde ich alle Nachbarn im Umkreis von zehn Kilometern informieren (lacht). Sicherlich wird es wieder etwas im Gastrobereich sein. Das ist genau mein Ding, auch wenn der Arbeitstag mal sechzehn Stunden dauert. Gastro ist das, wofür mein Herz schlägt.

Kultur, Stadtmix Bar

Advent, Advent, die Lunte brennt

«Schöni Musig!», platzt es neulich aus unserer Dreijährigen heraus, als gerade die ersten Takte von «Last Christmas» aus den Deckenlautsprechern im Sälipark rieseln. Eine musikalische Premiere für die unschuldigen Ohren meiner Tochter, ein zwielichtiges Wiederhören für mich. Während wir uns vorbei an Skibrillen, Herzfrequenzmessern und sonstigen Sonderangeboten Richtung Elektronikabteilung vorarbeiten, singen George Michael und ein gewisser Andrew Ridgeley – den Namen musste ich googeln – von einem verschenkten Herz und verflossener Liebe, und die Kleine wippt zufrieden mit ihrem Kopf dazu. Ich für meinen Teil bleibe fokussiert. Einer muss ja. Doch leichter gedacht als getan. Die Typen von Wham! sorgen jedes Jahr zuverlässig dafür, dass ein toxischer Mix an Emotionen in mir hochkommt. Gänsehautmomente gepaart mit kaltem, über den Rücken laufenden Schauer. Dieses Jahr ist es besonders ätzend. Selten zuvor schien mir Weihnachten und alles, was so dazu gehört, derart weit weg von der Realität zu sein wie in diesen Tagen.

Während der Weihnachtsmarktbesuch und damit einhergehende Glühweineskapaden auf die Folgejahre verschoben sind, scheint es in den Schaufenstern der Geschäfte und in den Gassen umso trotziger festlich zu leuchten und zu funkeln. Über den Köpfen der Passanten an der Bahnhofstrasse in Zürich hängt Lucy mit ihren Diamanten, in Oltens Altstadt und Kirchgasse die namenlosen, deshalb aber nicht weniger schicken, überdimensionalen Weihnachtskugeln. Landauf, landab sind die Kulissen fürs grosse Fest aufgebaut und herausgeputzt. Nur die Protagonistinnen wirken wie eine Fehlbesetzung. Vermummte, überall Vermummte. Auf den Gassen und in den Läden. An der Bushaltestelle, am Bahnhof, im Zug. Soweit man sehen kann nur Vermummte.

Man hat sich im Lauf des Jahres an so einiges gewöhnt. Erwachsene grüssen einander wie Kleinkinder. Winke, winke, statt sich die Hand zu reichen oder sich zu drücken. Den neuesten Klatsch aus dem Quartier wirft man heutzutage lauthals und ohne jegliches Aufkommen eines Schamgefühls einander an die Köpfe. Abstand, Abstand, Abstand, das ist die Devise. Zeichnen sich am Horizont die bedrohlichen Umrisse eines nahenden Joggers ab, ist der Strassenseitenwechsel kein Zeichen der Unfreundlichkeit, sondern ein Affekt, der einem bereits in Fleisch und Blut übergegangen ist. Eine kuriose Konstellation für ein Fest, das einen daran erinnern soll, seinen Nächsten zu lieben. Wie sollen wir das nur schaffen, wenn man niemandem mehr nah sein darf?

So der Bundesrat will, werden dieser Tage aller ungünstigen Prognosen zum Trotz in schweizerischen Stuben Weihnachtsfeierlichkeiten auf die eine oder andere Weise abgehalten. In den rar gewordenen Momenten zwischen Händewaschen, Patschendesinfizieren und Maskenlüften macht sich jeder so seine Gedanken, wie man als Familie das Fest auf halbwegs würdige Weise hinter sich bringen kann. Für unsere Familie bedeutet das nach aktuellem Stand der Dinge: Das kleine Heer an Enkelkindern wird bei seinen Grosseltern gestaffelt über mehrere Tage hinweg einfallen. Die Urgrosseltern bleiben aus gebotener Vorsicht den Feierlichkeiten fern. Kirchenbesuche stehen keine auf dem Plan. Nicht weil sie verboten wären, sondern weil unsere Familien damit schon längst abgeschlossen haben. Ein kleines bisschen Beständigkeit in schwankenden Zeiten. Beruhigend.

Wie so oft in schwierigen Lagen trifft es auch in dieser Krise einzelne Bevölkerungsgruppen im Land besonders hart. Aktuell sind das – einmal mehr, ist man geneigt zu denken – die Alten und die Ausländer. Während ältere Semester gut beraten sind, vorsichtig zu sein und physische Kontakte zu Mitmenschen aufs nächste Frühjahr zu verschieben, steht jüngeren Menschen mit Familienangehörigen im Ausland zumindest theoretisch die Möglichkeit offen, über die Festtage ihre Lieben zu besuchen. Zu Recht überlegen sich viele die Reise jedoch fünfmal, denn niemand kann vorhersehen, wann die Schotten das nächste Mal dichtmachen und wie sich die Quarantäneauflagen in Zukunft entwickeln werden. Hinzu kommt die Tatsache, dass Gäste aus der Schweiz nicht mehr bedingungslos und überall gern gesehen sind. Eine ganz neue Erfahrung für die sonst doch allseits mit offenen Armen empfangenen Schweizerinnen. Seit die Welt Wind davon bekommen hat, wie unser Finanzminister übers Sterben an Corona denkt und dass die freundlichen Schweizer nicht nur für feine Schokolädli unter dem Weihnachtsbaum sorgen, sondern mit glaubhafter Wahrscheinlichkeit zusätzlich ein paar Virenpakete mitführen, verzichtet man begreiflicherweise nur zu gern auf unsere Anwesenheit.

Das Weihnachtsfest und die Tage davor zählen naturgemäss nicht zu jenen Momenten im Jahr, in denen es gilt, möglichst ausgefallene Ideen in die Tat umzusetzen. Ganz im Gegenteil. Mailänderli, Spitzbuben und Zimtsterne werden nach denselben Rezepten gebacken, wie es Generationen vor uns schon vorgemacht haben, der Ablauf während der Festtage scheint einem ungeschriebenen wie drögen Protokoll zu folgen, und die immer gleichen Lieder bilden das gleichtönige Hintergrundrauschen. Doch in diesem Jahr ist nichts, wie es einst war. Eine Gelegenheit für einfallsreiche Köpfe zu zeigen, was in ihnen steckt. Hört man sich im Bekanntenkreis um und fragt nach dem Festtagsprogramm, erfährt man von allerlei unterschiedlichen Plänen und Schutzkonzepten, die dem Virus das Leben schwer machen sollen. Manche davon werden Anbieter von Outdoorausrüstung frohlocken lassen, denn sie versprechen gute Umsatzzahlen im sonst lauen Coronajahr.

Von Feuerschalen und Familientreffen im Garten ist die Rede. Andere wollen ihre Feier in den Wald verlegen, Schlangenbrot backen und Cervelats bräteln. Und wieder andere ziehen es vor, die diesjährige Weihnacht im Keim zu ersticken, bevor die trockene Tanne Feuer fängt. Jetzt, wo ohnehin alles anders ist, ist die Zeit gekommen, mehr Mut in der Ausgestaltung der Festlichkeiten zu zeigen. So darf beispielweise die Musikauswahl für die Festtage ruhig vom vermeintlich für die Ewigkeit bestimmten Standardrepertoire abweichen. Warum also nicht ausnahmsweise Jack Black statt Barry White spielen? Statt Bo Katzman die Bonzo Dog Doo-Dah Band auflegen und Wham! durch God damn ersetzen?

Jack Black bringt frischen Drive in die Weihnachtsplaylist.

In der Krise sind es die vermeintlich kleinen Dinge, denen das Glück innewohnt. Ohne Zweifel kann sich glücklich schätzen, wer niemand in seiner Familie weiss, der Querflöte spielt. Oder falls doch, es zumindest aus Gründen der Nächstenliebe und der Pandemieeindämmung dieses Jahr unterlässt, seine Liebsten nach der Bescherung mit dem Medley der fünfzig grössten Weihnachtsklassikern zu unterhalten. Stichwort Aerosole. Wie Forscher herausgefunden haben, ist die Querflöte im Bereich der Verteilung von Spuckpartikeln das führende Instrument. Ebenfalls eine erfreuliche Begleiterscheinung der Pandemieauflagen: Der liebe Onkel mit der Nuschelstimme kann dem liederlichen Ausklang an Heiligabend entspannt entgegensehen. Summend hat sich noch keiner zum Kasper gemacht.

Oft sind ja die Wochen vor dem grossen Fest die stressigsten im Jahr. Nicht so in diesem Winter. Das Risiko, mit einem unpassenden Geschenk ins Fettnäpfchen zu treten, ist heuer absolut vernachlässigbar. Denn wer niemanden trifft, verschenkt auch nichts, und wer keine Geschenke kaufen muss, schont die Nerven, spart Geld und gewinnt an Lebenszeit. Ressourcen, die sich zweifelsfrei in Gescheiteres investieren lassen. Alles in allem darf festgehalten werden, dass Weihnachten 2020 mit wohltuend überschaubarem Aufwand verbunden ist. Ganz dem Pareto-Prinzip folgend, das besagt, mit einem Einsatz von zwanzig Prozent ein Ergebnis von achtzig Prozent erreichen zu können. Wichtig ist es, die Prioritäten richtig zu setzen. In diesem Fall: gesund zu bleiben. Eine frohe Botschaft in verrückten Zeiten, so meine ich. Freuen wir uns auf die mit Abstand besinnlichsten Tage in der Geschichte von Weihnachten.

Weihnachten, Corona

Ein kleiner Bruder für die Schützi

Graue Schwaden hängen am schwarzen Himmel, der Asphalt ist feucht, die Strasse leer und die Lichter der Büros in den benachbarten Gebäuden sind erloschen, als wir uns hinter dem Coop City, im Hinterhof zwischen Kloster und Shishabar, zur Baustellenbesichtigung treffen. Nur ein heller Lichtstreifen, der die Ritzen eines zugeklebten Schaufensters markiert, kündigt an, dass hier noch einer am Arbeiten ist. Als die Tür an der Römerstrasse 7 sich öffnet, legt Christoph Birrer den Spachtel aus seiner Hand, mit dem es dem abbröckelnden Verputz in der Foyerecke gerade an den Kragen geht. Er dreht das Stativ des Baustellenscheinwerfers ein halbes Mal um die eigene Achse, sodass die Augen des Besuchers wieder sehen können.

Was derzeit eine grosse Baustelle ist, soll sich in den kommenden Monaten in ein kleines, schmuckes Kulturlokal für Olten verwandeln. Der Name steht bereits fest. KultA möchte das Lokal getauft werden, was so viel wie Goldstück und Schatz auf Finnisch bedeute, wie Marielle Studer verrät. Für sie und die anderen Mitglieder des Vereins «Aktion Platz für alle» (APA), die hinter dem Projekt stehen, ist es dann auch ein wertvoller Schatz, den sie hier mit ihren eigenen Händen und mit fachmännischer Unterstützung in den nächsten Wochen und Monaten heben und für ein möglichst grosses und vielfältiges Publikum zugänglich machen wollen.

Bei den Räumlichkeiten handelt es sich um das ehemalige Kino Camera, von 1981 bis 2006 Teil der Oltner Kinolandschaft und von der Familie Schibli betrieben. Besitzerin der Immobilie ist die Suva. Wie APA erfahren hat, wurden die Räumlichkeiten zuletzt von einer freikirchlichen Gemeinschaft genutzt. Im Gebäude haben sich die neuen Mieter mit einem Brief angekündigt. Aufgrund der aktuellen Lage wurde auf eine persönliche Vorstellungsrunde verzichtet. Man freue sich aber, spätestens bei der Eröffnung die Nachbarschaft kennenzulernen, sagt Studer.

«Leider sind die Kinosessel weg – bis auf einen, den wir uns krallen konnten.»

Marielle Studer

Die Treppenstufen hinab führt Birrer ins Untergeschoss, wo aus dem ehemaligen Kinosaal ein Konzertsaal für maximal hundert Personen entstehen soll. Die mit schwarzem Filz verkleideten Wände, der kleine Projektionsraum mit Guckfenstern im Rücken des kleinen Saals und der schräg abfallende Boden lassen erahnen, wie sich hier auf der Leinwand einst Hollywoods Helden die Klinke in die Hand gaben und der Duft von Popcorn in der Luft lag. «Leider sind die Kinosessel weg – bis auf einen, den wir uns krallen konnten», sagt Studer und zeigt mit ihrem Fuss auf die von der Bestuhlung verbliebenen Dübellöcher im Beton.

Geht in die Beine: Der abfallende Boden im künftigen Konzertsaal soll begradigt werden.

Wo sich das Kinopublikum einst auf seinen Sitzen fläzte und ein Teppichboden für wohnliches Ambiente sorgte, wartet nun der nackte Beton auf seine künftige Bestimmung. Eigentlich sei geplant gewesen, den Saal in dessen ursprünglicher Form zu belassen. «Wir haben aber schnell gemerkt, dass das Gefälle zu stark ist, um dem Publikum einen entspannten Konzertabend bieten zu können», sagt Studer. Deshalb soll der Boden begradigt werden. Dazu werden die Zargenelemente der alten Schützibühne verwendet, welche die Leute von APA zu einem fairen Preis kaufen konnten, wie Michael Suter erzählt, der sich bei APA unter anderem um die Vereinsfinanzen kümmert.

«Wir wollen kein Luxusobjekt, es soll aber auch kein Gebastel werden.»

Marielle Studer

Aus eigener Erfahrung weiss Suter, wie Corona die Veranstaltungsbranche in den letzten Monaten durchgeschüttelt hat. Infolge des ersten Shutdowns seien ihm als selbstständiger Lichttechniker sämtliche Aufträge weggebrochen. Er habe die Zeit genutzt, um einem befreundeten Winzer im Wallis bei der Traubenernte zu helfen. So ist heute schon klar, welcher Wein im KultA einst auf der Karte zu finden sein wird.

Während die Leute von APA gewisse Umbauarbeiten selbst in die Hand nehmen wollen, sind sie bei anderen Vorhaben auf professionelle Unterstützung angewiesen. So soll die geplante akustische Decke im Konzertsaal durch Spezialisten einer Trockenbaufirma eingebaut werden, wie Birrer erklärt. «Wir wollen kein Luxusobjekt, es soll aber auch kein Gebastel werden», meint Studer. Man wolle die Dinge nicht zweimal in die Hand nehmen müssen, was schlussendlich teurer komme.

Wie alle APA-Mitglieder verfügen Birrer und Suter über langjährige Erfahrung in der Veranstaltungsbranche.

Keine Debütanten

Wie Birrer ist auch Studer beruflich beim Luzerner Theater tätig. Als Produktionsassistentin arbeitet die gelernte Hochbauzeichnerin und Floristin seit drei Jahren Hand in Hand mit Bühnenbildnern. Sie plant und zeichnet am Bildschirm Bühnenpläne, bevor die Kulissen in den theatereigenen Werkstätten wie der Schreinerei und Malerei Form und Farbe annehmen. Auch Spezialaufträge, für die sich keine spezifische Abteilung verantwortlich fühlt, übernimmt Studer. «Ich bau auch mal einen Wasserhahn in ein Bühnenbild, wenn es sein muss.» Dazu kommt viel Organisationsarbeit, eine weitere Leidenschaft, die sie im Beruf ausleben kann.

Studer erinnert sich an die Zeit vor zwei Jahren, als sie bei APA richtig eingestiegen ist. Sie meldete sich auf einen Hilferuf von Christoph Birrer auf Facebook. «Über viele Jahre hat er vieles selbst gemanagt und das meiste aus dem Kopf organisiert», erzählt Studer. «Als ich Chrigu zugesagt habe, ihm zu helfen, hat er mir zwei Papiertaschen mit Unterlagen in die Hand gedrückt», erzählt Studer und lacht. Um ihren Kollegen langfristig zu entlasten, hat sich APA in den vergangenen zwei Jahren reorganisiert und professionalisiert. Es wurden Ressorts geschaffen und die Zuständigkeiten auf die vierzehn Mitglieder verteilt.

«Heute wissen wir, dass es ganz ohne Konsumation nicht geht.»

Michael Suter

Erstmals in der 16-jährigen Vereinsgeschichte wurden ein Businessplan und ein Finanzplan aufgestellt. Ausserdem gründeten die Kulturmacher eine Interessensgemeinschaft. «Wir sind älter geworden, haben unsere Erfahrungen in der Eventbranche gesammelt und möchten diese jetzt in unser eigenes Projekt einfliessen lassen», meint Suter, der zusammen mit Birrer zu den Gründungsmitgliedern von APA zählt. Grundidee vor sechzehn Jahren war es, in Olten eine autonom geführte Lokalität ohne Konsumationszwang zu schaffen. «Heute wissen wir, dass es ganz ohne Konsumation nicht geht», sagt Suter. Die Getränkepreise an der künftigen Bar sollen dennoch moderat ausfallen, damit grundsätzlich alle sich einen Besuch im KultA leisten können. «Vom Krawattenträger bis zum Hippie», wie Birrer das angestrebte Zielpublikum in eine knackige Formel fasst.

Die Bar soll nur dann offen haben, wenn eine Veranstaltung stattfindet. APA setzt nicht auf Laufkundschaft, sondern auf Gäste, die ins KultA kommen wegen eines Konzerts, Theaters oder einer anderen Veranstaltung. «Wenn du einen Liedermacherabend organisierst, kommt das Publikum, um die Texte zu hören», sagt Studer. In einer Bar, wo sich Konzertgängerinnen mit jenem Publikum mischen, das nur eins trinken will, kann es zu Konflikten kommen. Diese Erfahrung hätten sie erst kürzlich wieder im Galicia gemacht, wo ein paar grölende Gestalten nicht nur das Konzertpublikum gestört hatten, sondern auch den Künstler nervten. «Als Veranstalter und Dienstleister willst du natürlich niemanden aus der Bar kicken. Aber wie soll man in einer solchen Situation reagieren?», sagt Studer. Zudem bietet ein eigenes Vereinslokal den Vorteil, auch einmal spontan etwas organisieren zu können, was ganz dem Geschmack von Studer und Co. entspricht.

Ergänzung statt Konkurrenz

Die Lokalität sei über ein Jahr lang im Internet ausgeschrieben gewesen. Für ein Verkaufsgeschäft ist die Lage im Hinterhof denkbar ungünstig. Zu versteckt. Für ein Kulturlokal aber, das nicht auf spontane Kunden angewiesen ist, könnte sie viel besser nicht sein. Mitten im Stadtzentrum, nicht weit vom Bahnhof entfernt, wenig direkte Anwohnerinnen, Parkplätze rund ums Haus. Hinzu kommt, dass die Räumlichkeiten in einem soliden Zustand sind und als ehemaliges Kino bereits eine Geschichte als Veranstaltungsort haben. Nichtsdestotrotz muss APA ein Baugesuch einreichen für die Umnutzung eines Kinos zu einem Kultur- und Konzertlokal. Wird dieses bewilligt, lässt sich das Lokal mit relativ wenig Aufwand für die Bedürfnisse von APA umgestalten. Der Bühnenbereich, wo später Musikerinnen und andere Künstler sich dem Publikum präsentieren sollen, ist bereits mit rotem Klebeband markiert. Studer, die schon mit ihrem Vater zum Filmschauen ins Camera kam, kann sich keinen besseren Ort vorstellen. Über ihre Motivation sagt sie: «Ich liebe es, zu planen und zu organisieren und dann am Abend der Veranstaltung zu sehen, wie die Leute sich vergnügen.»

Studer blickt optimistisch auf kommenden Frühling, wenn das KultA eröffnen soll.

Das KultA soll niemanden konkurrenzieren, sondern eine Ergänzung sein zum bestehenden kulturellen Angebot in Olten. Das Lokal lässt sich am ehesten mit der Schützi vergleichen. Aber einige Hausnummern kleiner und ohne finanzielle Unterstützung durch die öffentliche Hand. Grundgedanke bei den APA-Leuten bleibt die Unabhängigkeit. «Subventionen sollen jene Kulturleute erhalten, die von ihrer Arbeit leben müssen», findet Studer. Das KultA bleibe ein Hobby für die APA-Mitglieder, die alle neben ihrem Kulturengagement einer Arbeit nachgehen.

Der Mietzins für die Räumlichkeiten wird über einen Mitgliederbeitrag finanziert. Das Geld für den nötigen Umbau und die technische Infrastruktur soll mit dem laufenden Crowdfunding gesammelt werden. Insgesamt 50’000 Franken sind nötig, um das Lokal auf Vordermann zu bringen. Die Macherinnen sind zuversichtlich, dieses Ziel zu erreichen, trotzdem haben sie sich schon einmal ein paar Glücklose gekauft. Sicher ist sicher. Nach der Eröffnung, die für kommenden Frühling geplant ist, soll das KultA so schnell wie möglich selbsttragend werden, so der ehrgeizige Plan. Von Corona wollen sich die Initianten nicht ausbremsen lassen. Klar bereite die derzeitige Situation ein wenig Bauchschmerzen und man mache sich so seine Gedanken, aber sie würden weitermachen, komme, was wolle, sagt Studer. «Wir freuen uns auf die Eröffnung, und wenn wir am Anfang auch nur zehn Gäste begrüssen dürfen». Für sie und die anderen sei das KultA wie ein Baby. Dazu passt, dass der Wickeltisch für den kleinen Bruder der Schützi immer noch da ist. Diesen haben die Vormieter dankenswerterweise zurückgelassen.

Der Plan B, falls es mit dem Crowdfunding nicht klappen sollte

Kultur, Aktion Platz für alle

Der Systemrelevante

Knallen die Korken, muss das nicht zwingend heissen, dass es etwas zu feiern gibt. Bis zu den Stadtratswahlen im März sind es schliesslich noch einige Monate und von Wahlkampf ist bisher nicht viel zu spüren. «Man muss darauf achten, dass man nicht zu früh rausgeht, sonst macht man die Leute verrückt», meint Thomas Marbet. Er sieht den Wahlkampf als Steigerungslauf, bei dem die Energie gut eingeteilt gehört. Nein, die Korken knallen bei Marbet zu Hause, wenn er ausnahmsweise die Kochschürze anhat. «Wenn ich mich mal an den Kochherd wage, gibt es ein feines Champagnerrisotto», verrät er seine liebste und zugleich einzige kulinarische Spezialität. «Ein wunderbares Gericht, weil man sich während der Zubereitung ab und an einen Schluck gönnen kann.»

Bevorzugt nehme er sich in der Küche jenen Dingen an, die er am besten könne. Marbet kümmert sich um den Salat und ums Aufräumen. Er verweist auf seine Schulzeit an der Kantonsschule in Olten. Als der heute 53-Jährige die Schulbank drückte, erhielten die jungen Männer eine Schnellbleiche in Sachen Haushaltsarbeiten, wofür gerade einmal eine Woche im Schuljahr reserviert war. «Wir haben ein paar Gerichte gekocht und einen Trainer genäht», erinnert er sich. Das Kochen überlässt Marbet deshalb vorzugsweise anderen. Zum Beispiel seiner Partnerin, die neben ihrer Arbeit als Lehrperson für technisches Gestalten als selbstständige Industriedesignerin eigene Produkte entwickelt und herstellt. «Du überlegst dir die Dinge dreimal und ich mache sie einfach», habe sie schon zu ihm gesagt. Ganz unrecht habe sie damit nicht. In ihrer Beziehung sei sie die Macherin und er der Denker.

Über den Dächern von Olten, auf der siebten Etage des Stadthauses, bringt gerade eine Angestellte der Stadtverwaltung Kaffee und Wasser, während Marbet von seinem Vormittag im Kantonsrat erzählt. Die Sitzung hätte besser laufen können. SP-Parteikollege Christian Winiger hat die Wahl zum Oberrichter verpasst. Überraschend das Rennen machte Christian Werner von der SVP. Er kenne Werner gut und halte ihn für einen integren Menschen, dennoch erstaune ihn das Wahlresultat in seiner Deutlichkeit. Winiger holte nur gerade 27 von 100 Stimmen. «Unsere Fraktion zählt 23 Personen, was bedeutet, dass unser Kandidat ausserhalb der Partei kaum Stimmen geholt hat und das trotzt seiner ausgezeichneten Qualifikation.» Für Marbet und seine Partei das untrügerische Zeichen einer politischen Wahl.

«In der Legislative kannst du Vorstösse machen, du kannst Anträge stellen, aber du bist schlussendlich nur einer von hundert.»

Thomas Marbet

Die Arbeit im Kantonsratsparlament nehme viel Zeit in Anspruch und das Wechseln zwischen den Ämtern als Kantonsrat und als Stadtrat falle ihm nicht immer leicht. «In der Legislative kannst du Vorstösse machen, du kannst Anträge stellen, aber du bist schlussendlich nur einer von hundert», spricht der Kantonsrat Marbet. Da verliere er manchmal schon etwas die Geduld. «Als Stadtrat habe ich die Möglichkeit, viel mehr zu bewegen», meint der Exekutivpolitiker. Nach einem Eingeklemmten ist Marbet an diesem Mittwoch zurück ins Oltner Stadthaus gereist. Fünf Kilo habe er in den letzten Monaten verloren, meint Marbet mit einer Mischung aus Verwunderung und Stolz. Er führt es auf die Tatsache zurück, dass er zum einen oft zu Fuss unterwegs ist, zum anderen habe das Ausfallen der vielen Gesellschaftsanlässe wie Apéros, Preisverleihungen und Weihnachtsessen, denen er unter anderem in seiner Funktion als Vizestadtpräsident in normalen Zeiten regelmässig beiwohnt, merkbar die Waage entlastet.

Appetit aufs Stadtpräsidium

Über die verlorenen Pfunde freut er sich. Was in diesen Zeiten fehle, sei die Geselligkeit und der Austausch. Marbet fühlt sich wohl unter Leuten, hat keine Hemmungen, auf Menschen zuzugehen und neue Kontakte zu knüpfen. Obwohl er einen eher zurückhaltenden Eindruck macht, geniesst er es, seine Person im Rampenlicht zu sehen. Das erklärt auch, dass Marbet nicht nur die Wiederwahl zum Stadtrat gewinnen will, sondern den Plan hat, in der zweihundertjährigen Stadtgeschichte als erster Sozialdemokrat das Präsidium zu übernehmen. Es wäre eine kleine Sensation im traditionell vom Freisinn regierten Olten. «Die Zeiten wandeln sich, die meisten Städte sind heute in links-grüner Hand und es funktioniert», meint Marbet, der Basel als Beispiel anführt, das trotz oder gerade dank seiner links-grünen Regierung über hervorragende Finanzen verfüge. Auch müsse sich das Selbstverständnis von Olten wandeln. «Wo in der Schweiz hast du nach Steuern, Wohnen und Krankenkasse ein so hohes verfügbares Einkommen wie hier?», fragt Marbet, ohne eine Antwort abzuwarten, und fordert, dass Olten seine Trümpfe, die über die gute Erreichbarkeit und das reichhaltige kulturelle Angebot hinausgehen, besser vermarktet.

Marbets Vater war aktiv in der CVP und Mitglied der christlichen Martinsbruderschaft. «Ein Kohlenschwarzer», sagt Marbet. «Ich erinnere mich, dass ich als Kind am Sonntag nicht selten in der Kirche sass.» Er sei zwar katholisch aufgewachsen, aber nicht strengreligiös. Als junger Mann habe er einmal eine Werbeveranstaltung der JCVP besucht, das aufgetischte Fondue habe er gern gegessen, ihn aber nicht auf den Geschmack gebracht, der Partei beizutreten. Der Vater hielt nicht dagegen, als der Sohn wenig später bei den Sozialdemokraten anheuerte. «Er war sehr liberal und liess uns Kindern immer alle Freiheiten. Schlussendlich ist vieles auch ein Zufall. Hätten die Bürgerlichen mich damals angefragt, wäre heute möglicherweise alles anders.»

Es war eine Genossin, die Marbet dazu brachte, sich politisch zu engagieren. Angefragt, ob er in der Umweltkommission von Olten mitarbeiten möchte, hatte ihn seine damalige Nachbarin Bea Heim, die vierzehn Jahre für die SP im Kantonsrat sass und 2003 in den Nationalrat gewählt wurde. Marbets erste Schritte in der Politik fallen in eine Zeit, als er mit seinem Bruder an Anti-AKW-Demos teilnahm und Bea Heim mit ihrem Elektrofahrzeug – abhängig von der Sichtweise – als Ausgeflippte oder Pionierin galt. «Man kann sagen, dass mich Bea Heim für die Politik elektrisiert hat», sagt Marbet, der die SP als jene Partei sieht, die als erstes die grünen Anliegen vertreten hat.

Zwischen Bank und Beet

Neben der Politik hat sich Marbet nach einem Wirtschaftsstudium in Basel grösstenteils im Finanz- und Versicherungsumfeld bewegt. Er arbeitete bei einer Bank, später bei einer Versicherung, danach bei Tarmed und im Anschluss in der Aufsicht über Finanzintermediäre bei der FINMA. Den Einstieg bei seiner heutigen Arbeitgeberin, der Schweizerischen Nationalbank (SNB), markiert eine ausgeschriebene Stelle im Generalsekretariat der Notenbank. «Protokolle verfassen, viel organisieren, den Geschäftsbericht managen und redigieren», zählt er einige seiner damaligen Aufgaben auf. Als Marbet 2013 in den Stadtrat gewählt wurde, war an eine Vollzeitanstellung bei der SNB nicht mehr zu denken. Marbet wechselte die Funktion und konnte so sein Pensum reduzieren, aus hundert wurden sechzig Prozent. Teilzeitstellen seien bei der SNB eher bei den weiblichen Angestellten verbreitet, aber die Arbeitsmodelle würden sich auch dort im Wandel befinden. «Die Bank macht da die gleichen Schritte wie andere Branchen.»

Die Arbeit im Homeoffice ist für Marbet hingegen keine Option. «Ich bin einer der Systemrelevanten.» Dazu trägt er einen Ausweis auf sich, der es ihm erlaubt, auch im Fall einer Ausgangssperre seinen Arbeitsplatz in Bern zu erreichen. Marbet ist in der Informationssicherheit tätig. Das heisst, er ist verantwortlich dafür, dass keine Informationen über die Gebäudeinfrastruktur in falsche Hände gelangt. Das können Pläne sein, die zeigen, wie Elektronik, Lüftung und Heizung verbaut sind, oder Dokumente, denen zu entnehmen ist, wo sich Zugangskontrollen, Schleusen und Tresore befinden. «Die Dokumente sind so geschützt, dass ich ausserhalb meines Arbeitsplatzes keinen Zugriff darauf habe.»

«Auf der rechten Stadtseite haben wir in den Sommermonaten Sonne bis kurz vor neun.»

Thomas Marbet

Marbet bezeichnet sich als Uroltner. Sein Vater ist auf der linken Stadtseite aufgewachsen, die Mutter auf der rechten. Er selbst verbrachte seine Kindheit mit zwei Geschwistern im Schöngrund, hat lange in der Altstadt gelebt und fühlt sich heute auf der rechten Aareseite wohl. Seinen Stadtratskollegen Benvenuto Savoldelli frage er manchmal im Scherz, wie lange bei ihm im Schöngrund die Sonne scheine. «Auf der rechten Stadtseite haben wir in den Sommermonaten Sonne bis kurz vor neun.» Im Garten seines Eigenheims an der Fustlighalde, wo die Sonne in Olten am längsten scheint, tankt Marbet Kraft für seine Arbeit. «Mit den Händen im Dreck», wie er sagt. Seinen Kopf bekomme er am besten frei beim Spazieren und beim Wandern in der Natur des Juras und auf dem Hasliberg, wo er regelmässig mit seiner Partnerin gastiert und demnächst einen Tag auf den Skiern verbringen will.

Sport zählt nicht zu Marbets Leidenschaften. Auf den Schlittschuhen sei er letztmals vor einem halben Jahrzehnt gestanden. Zwar komme es vor, dass er sich als Stadtrat aufs Glatteis begebe und ins Schleudern gerate, dann aber in seinen glänzend polierten Lederschuhen. Sein Verwaltungsratsmandat bei der Sportpark AG, welche die Eishalle betreibt, gibt er an diesem Abend ab. «Sieben Jahre sind genug.» In zwei Stunden steht seine offizielle Verabschiedung aus dem Gremium auf dem Programm. Es ist davon auszugehen, dass auch an diesem Anlass das Bankett entfallen wird.   

Politik, Stadtratswahlen Olten, SP

Die Wissbegierige

Auf den Hund gekommen ist Marion Rauber schon vor vielen Jahren. In einer Zeit, als Yoga noch eher ein Randphänomen als Breitensport war. «Zuerst gehst du in den Vierfüsslerstand. Wichtig ist es, zuerst die Knie unter der Schulter zu positionieren», erklärt Rauber, während sie sich auf dem warmen Parkettboden im Mokka Rubin in Position begibt. «Dann die Hände ebenfalls unter der Schulter positionieren, die Finger spreizen, soweit es geht, sodass du richtig Kontakt hast mit den Handballen. Füsse aufstellen. Jetzt tief einatmen und in einer Bewegung das Gesäss nach oben schieben. Kopf sinken lassen, Nacken entspannen und Kraft in die Arme geben.» Ein bis zwei Minuten gilt es, in dieser Position zu verharren. Das Blut schiesst in den Kopf, es zieht in Armen und Beinen. «So fliesst die Energie durch den ganzen Körper», zeigt sich Rauber mit der Yogapremiere ihres Schülers zufrieden.

«Yoga ist weit mehr, als auf einem Mätteli sich zu verrenken.»

Marion Rauber

Die wöchentlichen Stadtratssitzungen seien viel zu früh am Morgen angesetzt, um davor an Yoga denken zu können. «Während wir uns besprechen, bringe ich mich aber mental in den Flow», sagt Rauber und lacht. Yoga sei etwas, das man in seinen Alltag integriere. Es gehe darum, Körper, Geist und Seele in ein Gleichgewicht zu bringen, und «es ist weit mehr, als auf einem Mätteli sich zu verrenken.» Eine Lebenshaltung. Ein Leitspruch des Yogas lautet, dass man nicht stehlen soll. «Das bedeutet zum Beispiel, dass man niemandem Zeit stiehlt, also pünktlich und zuverlässig ist.» Vor zwölf Jahren machte Rauber eine Ausbildung zur Yogalehrerin. Heute gibt sie ihr Wissen in einem Gemeinschaftsstudio weiter, wo sie an zwei Abenden in der Woche Iyengar-Yoga unterrichtet.

Der menschliche Körper, der Organismus und seine Funktionen habe sie von Kindsbeinen an fasziniert. Einen anderen Berufswunsch, als in der Pflege zu arbeiten, habe es für sie nie gegeben. «Nicht, weil ich an einem Helfersyndrom leiden würde, sondern weil ich wissen wollte, wie Menschen gesunden, indem man die richtigen Massnahmen trifft.» Dazu zählt Rauber nicht nur Medikamente und Operationen, sondern auch alternative Methoden wie Tee und Wickel.

Längere Zeit arbeitete Rauber in der Notfallstation des Kantonsspitals Olten. Irgendwann wurde die Arbeit im Schichtbetrieb zu viel. «Je älter ich wurde, umso mühsamer empfand ich es, in der Nacht zu arbeiten und am Tag zu schlafen.» Rauber wechselte in die Praxis eines Orthopäden, wo sie siebzehn Jahre tätig war. «Ein toller Job. Wir waren zu zweit in der Praxis und ich durfte alles verbinden, was ich gut kann und mir Spass macht.» Neben fachlichem Wissen war auch viel Organisationsarbeit gefragt. 2017, als die SP-Politikerin in den Stadtrat gewählt wurde, kamen die Sprechstundenzeiten im Beruf den Verpflichtungen im politischen Amt zunehmend in die Quere. «Die nötige Flexibilität fehlte mir und war der Grund, die Anstellung aufzugeben.»

Spagat zwischen den Bedürfnissen

Die Arbeiten als Stadträtin seien oftmals nicht im Voraus planbar. Besprechungen am Abend und an Wochenenden gehören genauso dazu wie Termine, die sich spontan ankündigen. «Meldet sich der Regierungsrat für einen Besuch in Olten an, kannst du als Stadträtin natürlich nicht sagen, dass es dir dann nicht geht.» Rauber sagt, nach ihrer Wahl habe sie eine Weile gebraucht, um sich einzuarbeiten. «Der Spagat zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen habe sie zunächst als Herausforderung empfunden. «Als Stadträtin findet man sich inmitten vieler Ansprüche wieder. Man fühlt sich verpflichtet gegenüber dem Parlament, der Partei, den Verwaltungsangestellten und natürlich der Bevölkerung, die einen gewählt hat.»

Wichtig sei es ihr gewesen, eine klare Linie für sich zu definieren, authentisch zu bleiben und sich nicht zu verbiegen. Rauber will weitermachen, jetzt, wo sie sich sattelfest fühlt und beispielweise mit der Alterspolitik ein Kapitel aufgeschlagen hat, das ihr am Herzen liegt und das sie weiterschreiben möchte. Rauber erzählt vom Anspruch an sich selbst, auch in den Dossiers der Kollegen fachkundig zu sein. Gern würde sie sich noch mehr reinknien, auch in Themen, die nicht ihre Direktion betreffen. «Weil es im bescheidenen Teilzeitpensum schlicht nicht möglich ist, bringt das einen gewissen Frustfaktor mit sich.»

Einen Ausgleich zum Politikalltag findet Rauber im Humor. Dieser komme aber auch im Stadtrat nicht zu kurz, versichert sie. Alles andere als zum Lachen empfindet sie die Tatsache, dass sie, mit dem Rückzug von Iris Schelbert-Widmer, als einzige Frau im Oltner Stadtrat verbleiben würde. «Das ist tragisch und nicht zeitgemäss. Es widerspiegelt nicht, wo wir als Gesellschaft heute stehen sollten», sagt Rauber, die sich bereits nach ihrer Ausbildung an der Schule für Krankenpflege Baldegg in Sursee gewerkschaftlich organisierte und damals unter anderem für bessere Löhne in der Pflege kämpfte. Frausein sei natürlich kein Programm per se, aber es gäbe vielerlei Themen, in denen Frauen eine andere Perspektive einbringen könnten.

Dass sich Rauber in einem reinen Männerumfeld wiederfindet, ist für die 53-Jährige nichts Neues. Als einzige Frau im Fasnachtskomitee und dazu noch SP-Mitglied, steckt sie gar in einer doppelten Minderheitenrolle. «Traditionell haben Männervereine Fasnacht gemacht. Ich bin zuversichtlich, dass wir auch in diesem Bereich künftig mehr Frauen antreffen werden.» Auf die überraschende Frage nach einem guten Witz, schluckt Rauber zunächst leer, denkt nach und holt dann ihr Handy aus der Tasche. Nach einem kurzen Moment, während sie auf dem Bildschirm scrollt, scheint einer gefunden zu sein. «Nein! Den kann ich hier wirklich nicht bringen», meint sie etwas verlegen und entschuldigt sich, dass ihr spontan nichts Medientaugliches einfallen will.

Im Amt zur Politikerin geworden

Die Wahlen im nächsten Jahr seien für sie nicht vergleichbar mit jenen von 2017. «Wenn du dich das erste Mal für eine Wahl aufstellst, hast du nichts zu verlieren, weil du den Leistungsausweis erst noch erbringen musst.» Vier Jahre später sieht die Sache anders aus. «Man hat sich eingesetzt, Projekte lanciert und viel Arbeit ins Amt gesteckt.» Eine Abwahl würde sie aus diesem Grund viel persönlicher nehmen. «Auch wenn wir übers Wasser laufen könnten, käme jemand und würde sagen, dass wir zu blöd seien zum Schwimmen», zitiert Rauber einen Satz, den sie immer im Hinterkopf habe und an den sie sich erinnere, wenn sie als Stadträtin in der öffentlichen Kritik stehe, was nahezu täglich der Fall sei. Man muss damit umgehen können, ständig hinterfragt zu werden.

«Auch wenn wir übers Wasser laufen könnten, käme jemand und würde sagen, dass wir zu blöd seien zum Schwimmen.»

Marion Rauber

Eine Kommunikationsabteilung, die kritische Stimmen filtern würde, existiert nicht. «Es wird selten so persönlich, dass ich sagen müsste, das geht jetzt gar nicht.» Meist habe jemand ein berechtigtes Anliegen, auf das sie dann eingehe, indem sie zurückschreibe oder das Telefon in die Hand nehme. Ihr Handy liegt immer in Griffnähe. Davon ablenken lasse sie sich aber selten. Achtsamkeit und die Reflektion, welche sie durch das Yoga gelernt habe, unterstützen sie dabei. «Es kommt aber vor, dass ich mich dabei ertappe, wie ich meine Mails nochmals abrufe vor dem Schlafengehen oder News konsumiere, von denen ich weiss, dass sie mich aufregen.» Eigentlich möchte Rauber mehr Positives lesen, nicht zuletzt auch über ihre Heimat. «Ich wünsche mir, dass Olten als Stadt selbstbewusster auftritt.» Die hiesigen Werte und den Charme der Region sähe sie gern stärker nach aussen getragen.

Ein Machtmensch, sagt Rauber, der sei sie nicht. Sich zu Gunsten der Politik zu verbiegen, liege ihr fern. Zwar könne sie sich anpassen und Kompromisse finden, aber das Bedürfnis, sich selbst zu bleiben, sei stärker. In den vergangenen Jahren habe sie so einiges darüber gelernt, wie Politik funktioniere. Wo sie früher einfach frisch von der Leber gehandelt habe, überlege sie sich heute ihr Vorgehen, um Akzeptanz für ihre Anliegen zu schaffen und Mehrheiten zu finden. «Wenn ich mich heute selbst reden höre, stelle ich fest, dass ich in meiner Zeit als Stadträtin zu einer richtigen Politikerin wurde», meint Rauber mit einem Schmunzeln. Stimmen ihr die Wähler im März zu, darf sie es ohne schlechtes Gewissen vier weitere Jahre bleiben.

Politik, Stadtratswahlen Olten, SP

Der Fairplayer

Dürfte Nils Loeffel einen Soundtrack für seine Stadt zusammenstellen, der Song «Estavayeah» der Berner Indie-Pop-Band «Jeans for Jesus» würde es ziemlich sicher auf die Tracklist schaffen. Die Lyrics des Songs handeln davon, dass vor Ort nicht gerade viel los ist und der Blick in den Teletext zum Spannendsten zählt, das es zu erleben gibt. Ein Ausflug an den Neuenburgersee soll alles besser machen, wobei eine Person die Langeweile vor Ort ganz okay findet. «Manchmal scheint es mir, als würde man auf der einen Seite in Olten grosse Pläne für die Stadt schmieden wollen, im selben Augenblick aber ganz froh darüber sein, wenn nicht allzu viel passiert», meint Loeffel. Auch er finde sich von Zeit zu Zeit in diesem Zwiespalt wieder.

Musik verbindet er eher mit seinem Befinden als mit bestimmten Örtlichkeiten, meint der bald 31-Jährige. Die Alben seiner Sammlung kauft er mit Vorliebe an Konzerten, von denen er in normalen Zeiten unzählige besucht. «Das Geld fliesst so in die richtigen Taschen», sagt Loeffel. Während aus den Lautsprechern der Vario Bar gerade die Sonne Jamaikas grüsst, erzählt er von seiner Liebe zum Schweizer Hip-Hop und dass er seine Musik am liebsten vom Plattenteller hört.

Exoten auf dem Land

Ganz gewiss ist in Olten nicht weniger los als im bernischen Linden. Im verschlafenen Dorf auf rund tausend Meter über Meer, zwischen Aare- und Emmental, verbrachte Loeffel seine Kindheit und lebte dort bis zu seinem Wegzug 2008. Seine Eltern ergriffen Anfang der 90er-Jahre die Gelegenheit, das Bauernhaus einer Grosstante zu übernehmen. Damals noch in Thun wohnhaft, träumten sie vom alternativen, selbstbestimmten Leben auf dem Land. Der Vater, Sozialarbeiter und beteiligt am Aufbau des legendären Kulturzentrums Mokka in Thun, sanierte für seine Familie das ehemalige Knechthaus mit den für die Region charakteristisch kleingeratenen Fenstern und niedriger Deckenhöhe.

Das erste Pferd für ihren Reithof kaufte die Familie in der Camargue, wo sie ihre Ferien gern verbrachte. Auf den Schimmel folgte ein Esel. Auf den Esel weitere Pferde. Loeffels Mutter, gelernte Kindergärtnerin, liess sich zur Reitpädagogin ausbilden und nach einigen Versuchen, unter anderem mit dem Angebot von Timeout-Aufenthalten für Jugendliche, klappte es schliesslich mit dem Gang in die Selbstständigkeit. Heute werden auf dem Reithof Pablito Menschen mit einer Behinderung zu Pferdewarten ausgebildet.

«Ich fühle mich wohl, wo Menschen sind und sich etwas bewegt. Selbst wenn es nur der Verkehr ist.» 

Nils Loeffel

Während sich die Eltern und die jüngere Schwester leidenschaftlich um die Tiere kümmerten, hatte Loeffel andere Dinge im Kopf. «Ich sah meine Zukunft eher im Unihockey und Fussball. Beides habe ich im Verein gespielt», erinnert er sich. Zwar habe er reiten gelernt, schätze das Wesen der Pferde und wisse mit ihnen umzugehen, mehr aber auch nicht. «Als Teenager bin ich dann zum typischen PC-Nerd mutiert, der sich vornehmlich drinnen vor dem Bildschirm aufhielt Das hat sich später zum Glück wieder geändert: Den Spirit seiner Eltern, immer eine offene Türe für andere Menschen zu haben, habe er von zuhause mitgenommen.

Früh habe er gemerkt, dass das konservative Umfeld auf dem Land, in dem die progressive Familie Loeffel zu den Exoten zählte, auf Dauer nicht die Welt war, in der er seine Zukunft sah. «Ich fühle mich wohl, wo Menschen sind und sich etwas bewegt. Selbst wenn es nur der Verkehr ist», sagt er lachend.

Olten, die Unbekannte

Hätte Loeffel über die nötigen finanziellen Mittel verfügt, wäre er mit 19 direkt nach Zürich gezogen, als es darum ging, seine Ausbildung zum Mediamatiker in Kloten abzuschliessen. Olten bot sich als kostengünstige Alternative an. Bis auf einige Medienberichte über Schlägereien unter Oltner Jugendlichen und die Volksweisheit, dass die Gegend gern vom Nebel verwöhnt werde, wusste Loeffel nicht viel über seine Wahlheimat. Nach einem Jahr an seinem neuen Wohnort und mit dem Lehrabschluss in der Tasche stellte sich die Frage, ob er wieder zurück ins Emmental ziehen würde. «Mein Vater hat mir ans Herz gelegt, zu bleiben», erzählt Loeffel. Nicht, weil er keine Freude gehabt hätte, seinen Sohn bei sich zu haben. «Er wusste, dass das Zusammenleben im Elternhaus nicht mehr dasselbe gewesen wäre, wenn ich schon mal ausgezogen war.» Nach einem weiteren Jahr in Olten hatte Loeffel Wurzeln geschlagen. Indem er die Berufsmatur nachholte, um später Sozialarbeit zu studieren, trat Loeffel in die Fussstapfen seiner Eltern, ohne nach Linden zurückzukehren.

In seiner jetzigen Funktion als Leiter Anlauf- und Koordinationsstelle für Kinder und Jugendliche beim Kanton Solothurn steht Loeffel nicht im direkten Kontakt mit seinen Schützlingen. Es sei aber wertvoll, einen Job zu machen, in dem er bessere Lebensbedingungen schaffen könne für Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind. Zu seinen Aufgaben gehört die Beratung der Gemeinden in Sachen Jugendpolitik. Ein Bereich, in dem in Olten noch einiges an Luft nach oben bestünde. «Ich finde es wichtig, dass Jugendliche bei der Gestaltung von Kulturangeboten nicht vergessen gehen, wenn die Angebote durch die Stadt finanziell unterstützt werden.» Loeffel denkt zum Beispiel ans Stadttheater, das seiner Ansicht mehr Veranstaltungen anbieten sollte, welche sich an ein junges Publikum richten. «Ein Maskenball während der Fasnacht und das Kantifest reichen nicht.»

«Dass die Stadt es in den letzten hundert Jahren nie geschafft hat, einen gescheiten Zugang zur Aare zu schaffen, ist für mich nicht nachvollziehbar.»

Nils Loeffel

Zwölf Jahre nach seinem Zuzug fragt Loeffel sich noch immer, wie man als Stadt am Fluss so wenig aus dieser bevorzugten Ausgangslage machen kann. «Dass die Stadt es in den letzten hundert Jahren nie geschafft hat, einen gescheiten Zugang zur Aare zu schaffen, ist für mich nicht nachvollziehbar.» Eine grosse Sache wäre es ja nicht, findet der Olten-jetzt!-Präsident. Er denkt dabei an Bern; jeden Sommer von Medien weltweit als perfektes Beispiel einer Stadt am Fluss gefeiert, und das, ohne grossen Aufwand zu betreiben. «Alle hundert Meter eine kleine Treppe in die Aare, damit man in und aus dem Fluss kommt, ohne sich die Füsse zu verletzten. Viel mehr haben die auch nicht gemacht.»

Anpfiff im Wilerfeld

Ein Unding findet Loeffel auch, dass gerade einmal eine Frau bei der kommenden Stadtratswahl im Frühling unter den Kandidierenden ist. «Vielleicht auch ein Resultat, wie der Job des Stadtrats in Olten daherkommt.» Halboffiziell sei die Rede von einem 30-Prozent-Pensum. In der Realität nehme die Arbeit ganz sicher mehr Zeit in Anspruch. «Das müssen die Lebensumstände erst einmal zulassen», meint der kinderlose Loeffel, der sein Arbeitspensum beim Kanton reduzieren könnte, falls er gewählt würde. Eine Option, die nicht alle haben. Hinzu gesellt sich die Verantwortung und die Bereitschaft, sich der öffentlichen Kritik auszusetzen. Er habe sich Gedanken gemacht, wie er damit umgehen würde. «Von meinem Job bin ich es gewohnt, dass sich nicht nur Leute bei mir melden, die Freundlichkeiten austauschen wollen.» Man müsse es halt sportlich sehen – ernst und gleichzeitig gelassen.

Apropos Sport: Neben seiner Arbeit, dem Masterstudiengang in Sozialarbeit und seinen Ämtern als Präsident von Olten jetzt! sowie Vereinspräsident und Mitglied der Programmgruppe des Coq d’Or findet Loeffel kaum Gelegenheit, selbst zu kicken. Stattdessen leistet er sich drei Bezahlabos, mit denen er zumindest am TV seinen Appetit auf Fussball stillen kann. An diesem Abend spielen Liverpool gegen Atalanta. «Will ich mir ansehen», sagt Loeffel. Wie einer wie er, der sonst Kommerziellem gegenüber grundsätzlich skeptisch eingestellt ist, beim Fussball zwei Augen zudrücken könne, sei ihm selber schleierhaft. Loeffel zuckt mit den Schultern, die Vorfreude auf die heutige Partie lässt er sich nicht vermiesen, und macht sich auf den Weg nach Hause ins Wilerfeldquartier, wo auf dem Rasen zweiundzwanzig Millionäre auf ihn warten.

Olten jetzt!, Politik, Stadtratswahlen Olten

Unverkrampfter Blick in den Spiegel

Von Emmas Doppelleben ahnt ihre Familie in Spanien nichts. Vierzehn Tage im Monat verbringt die studierte Touristikerin jeweils in der Schweiz. In einem Land, von dem sie gehört habe, dass seine Bewohner wohlhabend und gebildet seien. Ein kleines Bordell in der Ostschweiz markierte für Emma den Einstieg in die Sexarbeit. Nach kurzer Zeit zog sie aber weiter. Weil sie die «Fleischschau» abstossend fand. Sie will nicht eine unter vielen sein. Darum schafft die 35-Jährige heute selbstständig an. Ihr Angebot: «Girlfriend-Sex, innige Zungenküsse, Dildospiele, 69, Pussylecken, Hodenlecken, Masturbationsshow, Reizwäsche». Gegen die Unterstellung, einer Arbeit nachgehen zu müssen, die sie nicht wolle, wehrt sie sich vehement. Ein Argwohn, mit dem sie des Öfteren auch von ihren Freiern konfrontiert sei.

Die Prostitution ist Gegenstand kontroverser Diskussionen, auch in der Schweiz, die in diesem Bereich als liberal gilt. Selbst in feministischen Kreisen ist man sich uneinig. Von manchen als moralisch und ethisch verwerflich angesehen, eine Arbeit, die auf Ausbeutung beruht, nur Opfer hervorbringt und eine Gleichstellung der Geschlechter verunmöglicht. Eine mögliche Lösung der Gegnerinnen: Während Prostitution grundsätzlich legal bleibt, wird die Nachfrage nach käuflichem Sex kriminalisiert, sprich die Freier bestraft. Ein solches Sexkaufverbot gilt beispielsweise in Schweden und Frankreich.

Für die andere Seite ist freiwillige Sexarbeit eine berufliche Option, für die man sich entscheiden kann. Aus welchen Gründen auch immer. Etwas, das sich nicht aus der Welt schaffen lässt, indem man es verteufelt und repressiv dagegen vorgeht. Dies würde nur die Kontrolle und den Schutz der Arbeiterinnen erschweren, heisst es aus Kreisen der Gegnerinnen eines Verbots.

In der Schweiz ist der Verkauf und Kauf von sexuellen Dienstleistungen seit 1942 legal. Dazu gehört auch, dass Sexarbeiter ihr Einkommen versteuern. Vor fünf Jahren hat sich der Bundesrat letztmals gegen ein Verbot ausgesprochen. So viel zum gesetzlichen Aspekt. Doch wie sieht der Alltag der Arbeiterinnen aus in einem Geschäftsfeld, das von nicht wenigen Menschen als unmoralisch angesehen wird und unter anderem darum bei aller Rechtmässigkeit weitestgehend im Versteckten spielt, wo Diskretion das Mass aller Dinge ist? Um sich dieser Perspektive anzunähern, sprachen Journalistinnen mit Menschen, die aus eigener Erfahrung zu berichten wissen. In ihrem soeben erschienenen Buch «Ich bin Sexarbeiterin» erzählen sie auf 160 Seiten aus der Sicht jener, die Sex gegen Geld anbieten oder es in ihrem Leben einst taten.

Neun Frauen und einem Mann ist im Buch je ein Porträt gewidmet. Sie erzählen aus ihrem Arbeitsalltag, beschreiben gefährliche, amüsante und deprimierende Erlebnisse mit ihren Kunden und sprechen darüber, was sie dazu veranlasst, sexuelle Dienstleistungen zu verkaufen. «Lady Kate» beispielsweise, die aus den USA stammt und mittlerweile den Schweizer Pass besitzt. In der Region Olten hat sie ihrem Chef beim Aufbau eines Clubs unter die Arme gegriffen und dabei ihre unternehmerische Seite entdeckt. Heute baue sie neben der Sexarbeit eine Karriere in der Krypto-Branche auf, erzählt sie der Journalistin Miriam Suter. Oder «Kazue», im Zürcher Langstrassenquartier zu Hause und seit dreissig Jahren als Sexarbeiterin in der Schweiz. Sie versuchte sich zwischenzeitlich in einer Restaurantküche und als Coiffeuse. Weil sie es liebe, von Männern angehimmelt zu werden, habe sie aber schnell wieder in ihren alten Job zurückgefunden.

Ungarin Adrienne arbeitete jahrelang am Strichplatz in Zürich, bevor sie eine Anstellung als Putzfachkraft fand.

Die Aussagen der Porträtierten eint, dass sie sich nicht in einer Opferrolle sehen, sondern als Menschen, die ihre Arbeit selbstbestimmt gewählt haben. So auch Adrienne, studierte Wirtschaftsinformatikerin und Mutter zweier Söhne. In ihrer Heimat Ungarn war sie arbeitslos. Ihre Freundin hatte die Idee, als Sexarbeiterin im Ausland zu arbeiten. «Den Entschluss, sich zu prostituieren, fasst sie aus einer pragmatischen Selbstverständlichkeit heraus: Geld muss verdient werden, und wenn das der Weg ist, dann würde sie ihn gehen», heisst es unter dem Titel des Porträts «Die Hoffnungslosigkeit zu Hause war schlimmer». Roman, der einzige männliche Porträtierte im Buch, machte in den 90er-Jahren gutes Geld im Puff. Seine Kunden seien ausschliesslich Männer gewesen, die sich im «echten» Leben niemals als bisexuell oder schwul geoutet hätten. Meist verheiratete Väter. Roman, der bisexuell ist, habe bei seinen Freiern eine starke Schulter zum Anlehnen gefunden, fühlte sich geborgen. Bordelle besuchte er zu dieser Zeit auch als Kunde. Bis er seine Energie für anderes als immer nur für Sex einsetzen wollte. Heute lebt er in einer Beziehung mit einer Frau, hat ein Kind mit ihr und verdient sein Geld als Musiker.

https://youtu.be/m9c_1CIUPZY?t=319
«Ich bin Sexarbeiterin» im SRF Kulturplatz

Ergänzend zu den Aufzeichnungen der Sexarbeiterinnen, die sich mit wenigen Ausnahmen mit Pseudonym und einem Spiegel vor dem Gesicht zeigen, sind im Buch auch Bilder von Etablissements, Studios und Szenen auf dem Strassenstrich zu finden. Sie bieten einen Blick in die Kulissen einer Welt, die sich sonst hinter schweren Vorhängen, im Halbdunkel und an den Rändern des gesellschaftlichen Lebens abspielt. Einige der abgebildeten Räumlichkeiten strahlen eine Tristesse aus, die erahnen lässt, wie problematisch zuweilen die Arbeitsbedingungen der darin arbeitenden Frauen sein müssen.    

Verlassenes Bordell während der Corona-Zeit

Redaktionell mitgearbeitet am Buch hat Melanie Muñoz, seit 2009 Leiterin von Lysistrada, der Fachstelle für Sexarbeit im Kanton Solothurn. Auch als Vorstandsmitglied der Nationalen Geschäftsstelle Sexarbeit (ProCoRe) ist sie mit den Geschichten der grösstenteils weiblichen Prostituierten im Land vertraut. Sie fordert, dass Sexarbeitende nicht Gegenstand der Debatte sind, sondern ihnen auf Augenhöhe begegnet wird. Als Sozialarbeiterin setzt sie sich gegen deren Bevormundung ein und für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen. Sie möchte, dass Sexarbeiterinnen Gehör erhalten und ihre individuelle Motivation von der Gesellschaft respektiert wird. «Im Kontakt mit Sexarbeiterinnen mache ich die Erfahrung, dass die grosse Mehrheit der Frauen ihre Tätigkeit selbst gewählt hat. Das kann aufgrund mangelnder Alternativen sein. Aber es ist eine Wahl, die getroffen wurde», sagt Muñoz.

Die Initialzündung zum Buch bildet der Appell «Sexarbeit ist Arbeit», der 2018 von den Herausgeberinnen formuliert wurde. Dreitausend Personen haben ihn seither unterschrieben. Sie teilen die Forderung, Sexarbeit, die auf freiwilliger Entscheidung der Anbieterinnen beruht, nicht zu kriminalisieren. Nur wenn das Gewerbe nicht in die Illegalität gedrängt werde, könne gegen Ausbeutung und Gewalt vorgegangen werden, schreiben die Initiantinnen auf ihrer Website.

Einen repräsentativen Anspruch erheben die Autorinnen mit ihren Porträts nicht. Es sind individuelle Zeugnisse und Lebensgeschichten. Die Texte bieten Gelegenheit, die Stimmen jener zu hören, die nicht theoretische Modelle und Statistikmaterial liefern, sondern durch das Angebot einer Dienstleistung namens Sex ein Auskommen erlangen. Eines, das manchmal für den Unterhalt einer ganzen Familie im Ausland reichen muss.

«Du glaubst nicht, wie viele Männer denken, du müsstest gerettet werden», sagt Sexarbeiterin Emma aus Spanien.

Wer sich mit Sexarbeit beschäftige, blicke immer auch in einen Spiegel, schreiben die Herausgeberinnen. Reflektiert würden persönliche Gefühle, Vorurteile und Ängste. Mit dem Buch «Ich bin Sexarbeiterin» wollen sie der Gesellschaft diesen Spiegel vorhalten. Sexarbeit müsse etwas leisten, das in keinem anderen Job verlangt würde, gibt Muñoz zu bedenken. «Als Sexarbeiterin ist man ständig gefordert, zu beweisen, wie selbstbestimmt und freiwillig die eigene Tätigkeit ist.»

«Ich bin Sexarbeiterin: Porträts und Texte»
Autorinnen: Brigitte Hürlimann, Naomi Gregoris, Noëmi Landolt, Harriet Langanke, Juno Mac, Serena O. Dankwa, Eva Schumacher, Miriam Suter
Bilder: Yoshiko Kusano

Limmat Verlag, Fester Einband, 160 Seiten
ISBN: 978-3-03926-006-5

Prostitution, Buchtipp, Sexarbeit

Sehnsucht nach der Lagune

Glasklares, smaragdgrünes Wasser, die Sicht frei auf die prächtige Unterwasserwelt mit ihren bunten Korallenriffen und den nicht weniger farbenfrohen Bewohnern, ein Sandstrand weisser als das reinste Kokain und erloschene Vulkane, um die sich Mythen und Sagen ranken. Einmal im Leben nach Bora Bora reisen. Einmal im Leben die Schönheit der Natur auf dem kleinen Atoll inmitten des Südpazifiks mit eigenen Augen sehen. Ein Wunsch, den sich Dieter Plüss in seinem Leben noch erfüllen möchte. Regelmässig legt er dafür einen kleinen Teil seines ohnehin bescheidenen Lohnes auf die Seite. Wer frühmorgens am Bahnhof in Olten unterwegs ist, dürfte Plüss schon begegnet sein.

Während rund um ihn herum die Leute es eilig haben, ihren Zug zu erwischen, harrt er seiner Dinge. Wie ein kleiner Fels im Pendlermeer trifft man ihn jeweils gegenüber der Treppe zu den Gleisen vier und sieben, zwischen Kiosk und Spettacolo. Im Winter mit Schal und Mütze warm eingemummelt steht er dort und bietet, ohne viele Worte und gross Aufsehen zu erregen, das Strassenmagazin Surprise zum Verkauf an. Sechs Franken verlangt er für die Ausgabe, drei darf Plüss behalten. Beinahe könnte man im morgendlichen Gewusel den kleinen Mann übersehen. Wären da nicht seine Jacke und die Mütze. In feurigem Rot, wie die Blüten des Hibiskus auf Bora Bora.

«Ich verkaufe 50 Stück jede Woche», sagt Plüss, nicht ohne ein bisschen Stolz in seiner Stimme mitschwingen zu lassen. Um Nachschub zu besorgen, reist er alle vierzehn Tage an einem Freitagmorgen nach Bern. Unter der Woche steht der 54-Jährige jeweils zwischen sieben und neun Uhr an seinem Verkaufsplatz, den er vor fünf Jahren mit etwas Glück von einer Bekannten geerbt hat, die dort ebenfalls Zeitschriften verkaufte. Nach getaner Arbeit geht es mit dem Bus zurück in seine Wohnung nach Winznau. «Seit ich mit den Drogen abgeschlossen habe, bin ich nur noch selten in Olten unterwegs», erzählt Plüss. Weil die Furcht gross ist, wieder mit den falschen Leuten in Kontakt zu kommen, wieder mit dem Heroinspritzen zu beginnen und wieder dort zu landen, wo er vor dreissig Jahren einst strandete. Auf der Gasse.

Jugendjahre im Heim

Als ältester Sohn der Familie ist Plüss in Appenzell aufgewachsen. Dort erlebte er eine glückliche Kindheit, die jedoch viel zu früh ein jähes Ende nahm, als seine Mutter an Leberkrebs erkrankte und nur kurze Zeit später im Spital starb. «Ich verlor meine Mutter in einer Zeit, in der ich sie dringend gebraucht hätte», erinnert sich Plüss. Er war damals vierzehn Jahre alt. Während seine Geschwister beim Vater in Appenzell bleiben durften, kam Plüss als einziger in ein Kinderheim in Herisau. «Wohl weil ich mich mit meinem Vater nie besonders gut verstanden hatte.» Mit der neuen Situation habe er sich arrangiert. «So gut es halt ging.»

Die Regeln im Kinderheim seien streng gewesen, er habe sich aber dem Leben dort angepasst. «Ich habe einfach gemacht, was von mir verlangt wurde.» Mit zwanzig zog Plüss in seine erste eigene Wohnung. In St. Gallen machte er eine Ausbildung als Autoservicemann. Der junge Mann arbeitete als Tankwart und in der Waschstrasse der damaligen «City-Garage». Autos und die Technik darin hätten ihn von jung an fasziniert.

Erinnerung an den Platzspitz

«Es war jugendlicher Blödsinn», sagt Plüss auf die Frage, weshalb er anfing, Heroin zu konsumieren. Wie viele andere wollte er die Droge nur ausprobieren, blieb aber sofort hängen. 1986, als sich in Zürich eine offene Drogenszene ansiedelte, war auch Plüss oft in der Stadt. Er verkehrte regelmässig am Platzspitz, wo sich zu dieser Zeit ein regelrechter Hexenkessel des Drogenelends etablierte. Tag und Nacht war der Platz von tausenden von Heroinabhängigen bevölkert und Dealer aus aller Welt reisten in die Schweiz, um Profit zu machen. Die Bilder gingen um die Welt. Mitten in diesem Elend war auch Plüss unterwegs. Oft reichte seine Kraft nach dem letzten Schuss nicht mehr für die Rückreise nach Hause. Immer öfters blieb er darum in Zürich und schlief irgendwo auf der Gasse.

«Eine verrückte Zeit», blickt Plüss zurück. «Würden die Leute heutzutage den Stoff von damals konsumieren, es würde sie glatt umhauen.» Ein Gramm Heroin kostete damals 600 Franken. Heute sei es für 50 Franken zu haben. «Wahrscheinlich auch weil es im Vergleich zu früher dermassen gestreckt ist.» Zum Heroinkonsum kam später Kokain hinzu. «Wir machten uns Cocktails, weil das noch stärker einfuhr.» Plüss war regelmässig am Platzspitz bis zu dessen Räumung 1992. Als die Szene sich im Anschluss an den Letten verlagerte, zog auch er mit. Auf einen ersten Entzug folgte der erneute Absturz. Angesprochen darauf, wie Heroin wirke, dreht Plüss seinen Kopf zum Fenster und sein Blick schweift ab. Er denkt lange nach und meint dann kurz: «Dir ist einfach alles egal.»

Als Plüss vor zwanzig Jahren mit seinem damaligen Arbeitgeber von Chur nach Olten umzog und in der Industrie im Pneurecycling arbeitete, habe er weiterhin Heroin konsumiert. Am Ländiweg wurde damals offen gedealt. «Dort haben wir uns mit Stoff eingedeckt, um ihn anschliessend zu Hause zu konsumieren.» Auf fünfzig bis hundert Drogensüchtige schätzt Plüss die damalige Szene in Olten. Plüss wohnt noch immer in derselben Wohnung wie vor zwanzig Jahren, als er hierherkam. Zusammen mit Kater Turbo. «Turbo, wegen seines Temperaments.» Das Haus in Winznau liegt an einer vielbefahrenen Strasse. Zwei Katzen seien ihm schon überfahren worden. Den Schmerz möchte er nicht noch einmal erleben. Deshalb bleibt Turbo in der Wohnung. «Im Januar bekommt er einen Kollegen, damit er nicht so einsam ist.»

Männerfreundschaft im Haus

Plüss kennt die anderen Bewohner des Miethauses. Es sind nur vier Parteien. Mit dem Nachbarn im Erdgeschoss verbindet ihn eine Freundschaft. «Der hatte nie etwas mit Drogen am Hut. Er hat mich unterstützt, als ich damit aufgehört habe.» Die Freunde sehen sich fast täglich, kochen oft zusammen und sind füreinander da, wenn der eine den anderen braucht. Plüss‘ Laptop steht die meiste Zeit beim Nachbarn, weil der besser mit Computern kann. «Das will ich noch lernen», sagt Plüss, der in seinem Leben noch nie ein E-Mail geschrieben hat. Dafür flickt Plüss mit Stich und Faden Nachbars Hemden. Den Kontakt zum Bekanntenkreis aus Drogenzeiten hat er abgebrochen. «Ich habe heute keine Kollegen mehr, die abhängig sind.» Einmal im Monat trifft er sich in der Suchthilfe zum Gespräch mit einem Sozialarbeiter. Ansonsten meidet er auch diesen Ort. «Zu viele alte Bekanntschaften, die mir gefährlich werden könnten.»

Den Ausstieg aus seiner Sucht schaffte Plüss vor fünf Jahren. Der Tag, an dem seine damalige Freundin an einer Überdosis stirbt, markiert einen Wendepunkt in seinem Leben. «Nach der Todesnachricht bin ich nach Hause gefahren, habe meine Drogenvorräte in einen Sack gepackt und alles in den Abfallcontainer vor dem Haus geschmissen.» Es folgte ein dreimonatiger Aufenthalt in einer Entzugsklinik in Pfäfers im Sarganserland. Seither sei er sauber, habe nie mehr etwas angefasst. Heute muss Plüss jeden Morgen vor dem Frühstück eine Pille schlucken. Methadon, das er in der Apotheke erhält und vor den Augen der Apothekerin einnehmen muss. Die Tabletten fürs Wochenende darf er mit nach Hause nehmen. Man vertraut ihm, dass er sie nicht weitergibt oder verkauft. «Ohne Methadon würde ich sofort auf Entzug kommen.»

Irgendwann möchte Plüss aber auch vom Methadon loskommen. «Dazu muss man erst mal die Dosis langsam reduzieren.» Einmal habe er vergessen, die Tablette zu nehmen. Wenige Stunden später bemerkte er sein Malheur: Zitternde Hände, starkes Schwitzen, ein aufgekratztes Gemüt waren die Folge. Während Plüss erzählt, baumelt das kleine goldene Kreuz an seinem linken Ohr. Der Glaube habe ihm beim Ausstieg geholfen und gebe ihm die Kraft, standhaft zu bleiben und keine Drogen mehr zu nehmen. Plüss besucht gleich in mehreren Kirchen in Olten die Messen und betet auch zu Hause regelmässig.

Weltenbummler im Herzen

Die Idee mit der Reise nach Bora Bora kam bei Plüss auf, als er im Fernsehen eine Dokumentation darüber sah. Das friedliche Atoll in den Weiten des Ozeans fasziniert ihn. Er erinnert sich an seine Jugend und an Ferien in Jugoslawien, Österreich, Italien. Im vergangenen Jahr sass er zum ersten Mal in seinem Leben in einem Flugzeug. Mit einer Reisegruppe verbrachte er zehn Tage in Indien. Organisiert von der Tagesstätte Mittelpunkt in Oensingen, wo Plüss regelmässig verkehrt. Ein Fingerring mit Schriftzeichen in Sanskrit erinnert an den Trip an das andere Ende der Welt.

Das Bierglas ist noch halbvoll, als Plüss von seinen Reiseplänen erzählt und seine Brille für einen Moment abnimmt. Selbstkritisch meint er, eine Schwäche von ihm sei der Alkohol. Ein, zwei Bier am Tag müssen sein. Von harten Spirituosen lässt er lieber die Finger. Wird Plüss eines Tages das Geld für den Flug nach Französisch-Polynesien zusammenhaben und seine Füsse auf den Sand des Matira Beach setzen, könnten das die entscheidenden Schritte sein, die ihn sein letztes Laster überwinden lassen. Auf Bora Bora ist Alkohol sündhaft teuer und am schönsten Strand des Atolls streng verboten. Für seinen Traum wird Plüss auch morgen wieder am Oltner Bahnhof stehen, um sein Strassenmagazin an Mann und Frau zu bringen. Für heute aber ist Schluss. Plüss packt seinen Rucksack und macht sich auf den Heimweg. Zu Hause wartet Kater Turbo schon auf sein Znacht.

Drogen, Surprise Strassenmagazin, Heroin

Hamburger, Hacktätschli und Heroin

Kurz bevor das Wasser zu sieden beginnt, legt Mitarbeiter André Gerber den Salat und das Rüstmesser beiseite und schmeisst eine herzhafte Portion Spaghetti mit Bolognese-Sauce in den grossen Kochtopf. Eine halbe Stunde später wird es in der Stadtküche nur noch vereinzelt einen freien Platz geben. Noch bleibt aber Zeit für die letzten Vorbereitungen und Gelegenheit für einen Blick in den Konsumationsraum der Suchthilfe Ost an der Aarburgerstrasse. Patrizia Twellmann, die Abteilungsleiterin der Stadtküche sowie der Kontakt- und Anlaufstelle, führt eine Tür weiter in die Räumlichkeiten, in denen mitgebrachte Drogen in einem geschützten Rahmen konsumiert werden können.

Während in der Küche Spaghetti und Sauce warm werden, bleibt Zeit für einen Abstecher in die Kontakt- und Anlaufstelle nebenan.

Drei Räume stehen für die unterschiedlichen Konsumarten zur Verfügung, erzählt Twellmann. «Kokain, Heroin, Valium oder andere Betäubungsmittel werden von den Klienten auf ganz unterschiedliche Weise konsumiert.» Direkt neben dem Raucherzimmer befindet sich in einer Nische ein schmaler Wandtresen aus Chromstahl. «Da wird gesnifft», erklärt Twellmann die Vorrichtung, von der Substanzen durch die Nase konsumiert werden. Ein paar Schritte weiter befindet sich der Injektionsraum. Für Süchtige, die ihre Droge spritzen.

Die Konsumationsräume an der Aarburgerstrasse

Anders als früher gibt es heute kaum noch Suchtkranke, die sich auf eine Droge beschränken. Zum Alltag gehört der Mischkonsum. «Der klassische Heroinjunkie, wie es ihn in den Achtzigern gab, existiert nicht mehr. Die Leute konsumieren, was das Angebot gerade hergibt», erklärt Twellmann. Das kann zu kritischen Situationen führen, da nicht immer leicht vorhersehbar ist, wie sich der Cocktail auf den Körper auswirkt. Die Mitarbeiterinnen sind für den Ernstfall vorbereitet. Sie wissen, was zu tun ist, wenn jemand zusammenklappt.

Die Drogenszene in Olten sei in ihrer Grösse überschaubar, so der Eindruck von Ursula Hellmüller. Seit August ist sie als Co-Geschäftsleiterin bei der Suchthilfe Ost tätig. Zuletzt dozierte sie an der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz. Davor arbeitete sie im Zürcher Unterland unter anderem in der Gassenarbeit. Seit drei Jahren gibt es die Konsumationsräume in Olten. Noch immer reise ein Teil der lokalen Süchtigen nach Basel, wo vergleichbare Stellen bereits vor bald dreissig Jahren eingerichtet wurden. Zum einen ist es die Macht der Gewohnheit, zum anderen sind es die Drogenpreise, die in der Grenzstadt tendenziell tiefer seien und die Leute anziehen würden, erklärt Hellmüller.

«Wir verfolgen in erster Linie keine Abstinenzabsicht, sondern kümmern uns um Schadensminderung», sagt Ursula Hellmüller.

Für die Zukunft ist angedacht, die Öffnungszeiten der hiesigen Kontakt- und Anlaufstelle zu erweitern. Bisher steht das Angebot der Suchthilfe nur an Werktagen zur Verfügung. Da der Drogenkonsum übers Wochenende keine Pause mache, sei das im Grunde genommen unsinnig. «Je ausgedehnter unsere Öffnungszeiten, umso weniger sieht man die Leute an lauschigen Plätzen, in Hauseingängen oder auf der Strasse ihre Drogen konsumieren», begründet Hellmüller die Pläne. Ziel der Kontakt- und Anlaufstelle sei es nicht zuletzt, die Bevölkerung zu schützen vor dem Anblick und der «Dauerirritation» durch konsumierende Abhängige.

Die Nadelwahl

Im Injektionsraum sorgt kühles, grelles Licht dafür, dass Süchtige ihre Venen leichter finden. Twellmann öffnet eine grosse Schublade, deren Inhalt an einen Arztbesuch erinnert. Nach dem vorgeschriebenen Händewaschen erhält die Konsumentin aus dem Schrank ihr steril verpacktes Spritzmaterial. Zu den Utensilien in der Schale gehören neben einer Spritze zwei unterschiedliche Nadeln. Je nachdem, an welcher Körperstelle die Injektion erfolgt, kommt die eine oder die andere zum Einsatz. «Wird die Spritze beispielsweise am Hals angesetzt, braucht es eine längere Nadel als am Unterarm», erklärt Twellmann.

Im beigelegten Esslöffel kann die mitgebrachte Substanz in sterilem Wasser aufgelöst werden. Damit sich beispielsweise Heroin leichter auflöst, liegt in der Schale ein Beutelchen mit Ascorbinsäure in Pulverform, reines Vitamin C. Durch einen Zigarettenfilter, der anschliessend in die Flüssigkeit gelegt wird, kann der Klient die Droge mit der Nadel aufziehen, ohne dass fremde Partikel in die Spritze gelangen. Mittels eines Alkoholtupfers wird die Körperstelle desinfiziert, bevor die Spritze angesetzt wird.

Das Spritzmaterial

In normalen Zeiten finden vier Personen Platz im Injektionsraum. Zurzeit sind es nur zwei, damit der Abstand gewährleistet ist. Immer anwesend ist eine Mitarbeiterin der Suchthilfe, die das Spritzbesteck aushändigt und den Konsum überwacht. «Durch die Anwesenheit verhindern wir, dass Spritzen getauscht werden», sagt Hellmüller. Damit lassen sich Krankheitsübertragungen vermeiden. Aus Sicherheitsgründen dürfen die Klienten nur sitzend konsumieren. «Wir wollen niemanden mit einer Nadel herumlaufen sehen», so Twellmann.

Ebenso wichtig wie die Sicherstellung der hygienischen Bedingungen ist das Gespräch mit den Süchtigen. «Wir lernen die Leute kennen, sehen, wie es ihnen geht, und können in schwierigen Situationen frühzeitig Massnahmen ergreifen», sagt Twellmann. Mit der Polizei habe man eine Vereinbarung, dass diese nicht direkt vor dem Gebäude die Leute abpasst und kontrolliert. «Wäre das anders, hätten wir von heute auf morgen niemanden mehr hier.»

Derzeit suchen pro Tag rund zwanzig Personen die Räumlichkeiten auf. Seit der Coronakrise seien die Besucherzahlen deutlich zurückgegangen, sagt Twellmann. Infolge des Lockdowns und des Aufrufs an die Bevölkerung, zu Hause zu bleiben, waren weniger Menschen auf den Strassen unterwegs. Gleichzeitig gab es mehr Polizeipatrouillen. Die Dealerinnen zogen sich zurück, weil das Risiko stieg, erwischt zu werden. Damit gab es weniger Stoff auf dem lokalen Markt und die Klienten wichen in andere Städte aus.

«Im Austausch mit verschiedenen Institutionen in der Schweiz erfuhren wir, dass kleinere Städte dieselbe Erfahrung machten wie wir», erzählt Twellmann. In der gleichen Zeit verzeichneten Städte wie Zürich oder Basel, in denen der Drogenhandel weiterhin funktionierte, in ihren Anlaufstellen einen merklichen Zuwachs an Suchtkranken. Hinzu kam eine weitere Entwicklung: Private stellten ihre eigene Wohnung als Konsumationsraum für andere Abhängige zur Verfügung. «Die Wohnungsmieter haben für ihren Dienst vom Dealer den Stoff gratis erhalten, weil es die Belieferung einfacher und risikofreier machte.»

Patrizia Twellmann weiss aus den Gesprächen mit ihren Klienten, was sie gerade beschäftigt.

Die momentane Zurückhaltung bei den Gästen ist auch in der Stadtküche spürbar. Twellmann macht bei ihren Klientinnen zwei Reaktionen auf die Pandemie und die ausgerufenen Massnahmen des Bundesamts für Gesundheit aus. «Entweder sie haben enorme Angst vor einer Ansteckung oder es ist ihnen schnurzpiepegal.» Generell stelle sie aber fest, dass ein Grossteil der Leute vorsichtiger geworden sei. «Es ist ihnen sehr wohl bewusst, dass sie einer Risikogruppe angehören.» Jede Abteilung der Suchthilfe Ost verfügt über ein eigenes Schutzkonzept.

Eine Woche ist es her, dass sich das Amt für soziale Sicherheit des Kantons in der angegliederten Werkstatt umgesehen und die Einhaltung der Schutzmassnahmen überprüft hat. «Wir begrüssen solche Kontrollen, schliesslich ist es wichtig, dass die Konzepte keine Schreibtischtat bleiben, sondern sauber umgesetzt werden», sagt Hellmüller. Von Behördenseite wurden keinerlei Mängel festgestellt.

Im Frühling gab die Stadtküche ihre Mahlzeiten nur noch zum Mitnehmen heraus, die Werkstatt für betreutes Arbeiten stellte ihren Betrieb ein, der Kontakt zu den Klientinnen im begleiteten Wohnen wurde telefonisch statt mit persönlichen Besuchen aufrechterhalten, und auch die Anlaufstelle schloss vorübergehend ihre Türen. «Wir merkten schnell, dass das kein dauerhafter Zustand sein kann, und haben uns bemüht, die Anlaufstelle schnellstmöglich wieder zu öffnen», sagt Co-Geschäftsleiterin und Leiterin Case Management Esther Altermatt. Die Anlaufstelle wurde bereits nach einigen Wochen wieder geöffnet. Seit August laufe der gesamte Betrieb der Suchthilfe wieder zu hundert Prozent.

Nach der Schliessung der Konsumationsräume habe man rasch festgestellt, dass das für die Leute schwierig sei, sagt Esther Altermatt.

Gesamtschweizerisch gesehen sei das Phänomen zu beobachten, dass Drogenkonsumenten, die in den Anlaufstellen der Institutionen verkehren, von einer Coronainfektion bisher weitgehend verschont blieben. Trotzdem ist die psychische Belastung da. «Wie für alle anderen Menschen ist es keine leichte Zeit. Meiner Erfahrung nach führen Abhängige harter Drogen aber per se ein relativ einsames Leben und kennen die Einsamkeit. Da sie vor allem damit beschäftigt sind, Drogen zu beschaffen und zu konsumieren, bleibt weder Zeit noch Geld für Aktivitäten, wo es zu Begegnungen mit anderen Menschen kommen würde», sagt Hellmüller. Möglicherweise einer der Faktoren, der gegen das Virus spielt.

Hausgemacht schmeckts am besten

Zurück in die Stadtküche, wo die Spaghetti al dente auf dem Teller landen. «Unser oberstes Ziel ist es, dass die Leute essen und nicht nur Drogen konsumieren», sagt Twellmann. Sechs bis sieben Menüs zwischen drei und sechs Franken stehen jeden Tag auf der Menükarte. Fürs Wochenende können sie auch mitgenommen werden. Die Mahlzeiten werden von den Stadtküchenmitarbeitern vorgekocht und in Plastikfolie einschweisst eingefroren. «Unsere Hamburger schmecken den Leuten besser als jene der bekannten Fastfoodkette», zeigt sich Gerber erfreut über die positiven Rückmeldungen seiner Gäste.

Um eine Menüauswahl anbieten zu können, sind alle Gerichte tiefgekühlt.

Während gerade jemand eine Portion Hacktätschli mit Reis abholt, bringt Gerber zwei Schüsseln gefüllt mit Äpfeln, Rüebli und Kohl aus der Küche. Daneben legt er ein halbes Dutzend Brotlaibe auf den Tresen. Drei Mal die Woche erhält die Suchthilfe Gemüse, Früchte und weitere Lebensmittel von der Schweizer Tafel geliefert. Fleisch wird dazugekauft. Was sich nicht in einem der hausgemachten Gerichte wiederfindet, geht an die Klienten, die sich frei am Tresen bedienen dürfen.

Teilen sich die Geschäftsleitung: Esther Altermatt (links) und Ursula Hellmüller.

Eine legale Droge, die alle Schicksale auf betrübliche Weise eint, ist der Alkohol. Auf der Getränkekarte der Stadtküche sucht man ihn vergebens. Den Gästen ist es jedoch erlaubt, ihre alkoholischen Getränke selbst mitzubringen und beim Essen zu konsumieren. «Weil es ohne halt einfach nicht geht», erklärt Twellmann. Und Altermatt ergänzt: «Über alle Klienten gesehen ist der Alkohol jene Substanz, mit der wir bei der Suchthilfe am meisten konfrontiert sind.» Es ist eine oft im Verborgenen bleibende Abhängigkeit, der nicht im überwachten Konsumationsraum nachgegangen wird. Vielmehr ist sie Thema in den persönlichen Beratungsgesprächen, welche die Suchthilfe Ost ebenfalls anbietet.

Die Suchthilfe Ost
Die Suchthilfe Ost GmbH begleitet und unterstützt Menschen mit Suchtproblemen in den Gemeinden der Bezirke Dorneck, Gäu, Gösgen, Olten, Thal und Thierstein. Ihr Hauptsitz befindet sich in Olten. Ihre Schwesterorganisation, die PERSPEKTIVE Region Solothurn-Grenchen deckt die Bezirke Solothurn, Lebern, Bucheggberg und Wasseramt ab. Die beiden Organisationen haben die Aufgabe, im Kanton Solothurn ein Angebot bereitzustellen in den Bereichen Prävention und Früherfassung, Beratung und Case-Management sowie Risiko- und Schadensminderung. Grundlage ist der kantonale Leistungskatalog. Finanziert werden die Organisationen durch die Einwohnergemeinden und durch einen Beitrag aus dem Alkoholzehntel aus der Spirituosenbesteuerung. Die Suchthilfe Ost bietet in Olten neben der Stadtküche und Kontakt- und Anlaufstelle unter anderem ein Arbeitsprogramm in der hauseigenen Werkstatt und begleitetes Wohnen an.

Drogen, Suchthilfe Ost

Der Rückkehrer

Ein Rebell sei er nie gewesen, sagt David Plüss mit Blick auf seine Jugend. Aus einer politisch engagierten Familie stammend, gehörte für den jüngsten von drei Brüdern das Ausfechten unterschiedlicher Positionen gleichwohl zur Normalität. Mutter Gabriele wurde Mitte der 90-Jahre in den Stadtrat gewählt, Vater Martin sass vier Jahre im Oltner Gemeinderat. Beide für die FDP. «Die Diskussionen bei uns am Familientisch haben sich nie um links gegen rechts gedreht», erzählt Plüss. Vielmehr sei es um unterschiedliche Auffassungen des Freisinns gegangen.

«Die Freiheit von Zwang ist genauso wichtig wie die Freiheit, Dinge tun zu können»

David Plüss

Freiheit werde mitunter missverstanden, findet Plüss. Freiheit bedeute für ihn unter anderem auch, dass man Dinge nicht tun muss, die man nicht tun will. «Die Freiheit von Zwang ist genauso wichtig wie die Freiheit, Dinge tun zu können», sagt der 35-jährige Gemeinderat und Präsident der FDP Olten.

Am späteren Abend und am Sonntag schaltet Plüss die Internetverbindung seines Handys aus. «Wer mir etwas Wichtiges mitteilen will, kann mich anrufen, ansonsten geniesse ich die Zeit ohne Mails und Ablenkung.» Eine Sache, um die ihn seine Frau Nadine beneide. Soziale Netzwerke nutzt Plüss mit vornehmer Zurückhaltung. Selfies sind nicht sein Ding.

Als er sich im vergangenen Jahr als Kandidat für den Nationalrat aufstellen liess, habe er sich auf Facebook & Co. bewusst nicht gross in Szene setzen wollen. «Mut zur Lücke», meint Plüss mit einer Gelassenheit, die ihm nicht immer innewohnt und um die er andere Personen gelegentlich beneidet. Als Nationalrat gewählt wurde Plüss nicht. Dazugelernt aber habe er viel.

Kein Freund von Flachwitzen

Bei seinem heutigen Arbeitgeber, dem Verband der Schweizerischen Zementindustrie, hatte sich Chemiker Plüss ursprünglich als Leiter Wissenschaft beworben. Seinerzeit arbeitete er beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), wo er sich beim Arbeitnehmerschutz mit Chemikalien und deren Gefahrenpotenzial befasste. Im Bewerbungsrennen um den Zementposten belegte Plüss den zweiten Platz. Die Stelle heimste ein Mitbewerber ein. «Zwei Jahre später meldete sich mein jetziger Chef bei mir und meinte, er würde mich als Leiter der Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit im Team sehen», erinnert sich Plüss an den überraschenden Anruf aus Bern. Nachdem er eine Nacht darüber geschlafen hatte, sagte er zu.

Der Job als Kommunikationsverantwortlicher führe ihn aus seiner Komfortzone. Er sei kein Selbstdarsteller, der sich gerne reden höre, sagt Plüss. Da kommt gelegen, dass das mediale Scheinwerferlicht zurzeit auf den kürzlich gewählten und prominenten Verbandspräsidenten, Gerhard Pfister, gerichtet ist. Plüss sieht sich als reflektierten Menschen. Als jemanden, der nachdenkt, bevor er spricht, die Worte genau abwägt, bevor er sie verliert. Etwas, das in seinem Job von Vorteil ist. Eine Eigenart, die ihm aber auch schlaflose Nächte beschert, wenn er über Dinge grübelt, die ihn beschäftigen.

Witze und Sprüche über seine Stadt, wie kürzlich bei Deville auf SRF in einer eigenen Extrasendung breitgeschlagen, lassen Plüss kalt. Auch wenn er findet, dass die Hälfte des Rufs einer Stadt auf dem beruhe, was die Einwohner erzählen würden. «Die Klischees werden halt schon auch ein bisschen gelebt in Olten.» Dabei seien die Städte des Mittellands miteinander vergleichbar. Olten sei bestimmt nicht schlechter als eine der anderen Städte. Im Gegenteil: «Olten hat riesiges Potenzial, gerade wenn man an die Verkehrsanbindung denkt und an die moderaten Mietpreise.» Weshalb sich viele Unternehmen mitten im teuren Zürich niederlassen, will ihm nicht so recht in den Kopf. Würde er das anders sehen, wäre er wohl nicht zurückgekehrt in die Stadt, in der er schon als Jugendlicher den Burger am liebsten im Chöbu bestellte.

Der Mann und das Meer

In der Kindheit war die Familie viel mit dem Segelboot auf dem Ägerisee unterwegs, später machte Plüss den Segelschein und vor fünfzehn Jahren ging es das erste Mal auf hohe See. Seither verbringt er jeweils einen Monat im Jahr auf einem gecharterten Boot, meist in Begleitung seiner Frau oder von Freunden. «Beim Segeln ist es ein schmaler Grat zwischen Hurra und Hölle.» Als im Mai letzten Jahres durch eine heftige Böe das Segel riss und sich anschliessend eine Leine in der Motorschraube verhedderte, galt es, einen kühlen Kopf zu bewahren. «Ein Riesentheater!»

Die Leine liess sich zum Glück mühsam wieder lösen. «Als wir später an der ligurischen Küste sicher an Land gingen, waren wir heilfroh», erzählt Plüss. Unter keinen Umständen in Hektik zu verfallen und immer zuerst nachzudenken, bevor man handelt – was fürs Segeln gilt, passt auch in den Politikbetrieb, wo Plüss die unaufgeregte Diskussion schätzt. Beim Segeln sind es die unbeschwerten Momente, die er am meisten geniesst. Dann, wenn das Boot in einer einsamen Bucht ankert, das Handy keinen Empfang hat und «das einzige Licht in der Nacht die flackernden Sterne über dir sind».

Nach dem Besuch der Kantonsschule in Olten und einem Chemiestudium in Basel suchte Plüss sein Glück zunächst in der Ferne, und er fand es erstaunlich nahe. Er wollte einen neuen Sprachraum entdecken, in eine andere Kultur eintauchen. Als «Ausland light», beschreibt Plüss seine damalige Wahlheimat Lausanne, wo er an der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) sein Doktorat in Chemie schrieb und eine Kultur kennenlernen konnte «ohne mühsame Bürokratie». Vier Jahre lebte er in Renens, einer unspektakulären Vorortsgemeinde. Der Kontakt nach Olten riss währenddessen nicht ab. Als Mitglied der Studentenverbindung der Froburger und als Fasnächtler war Plüss jedes Jahr spätestens zum Fasnachtmachen in den Gassen der Altstadt unterwegs.

Hummus gegen den Homeoffice-Koller

Plüss mag das Kleinstädtische. Dass man einander kennt und sich nicht so einfach ignorieren kann. Trotzdem folgte auf den Abstecher in die Romandie erneut eine grosse Stadt. «Den Ausschlag gegeben hat Nadine, meine Frau, die ebenfalls in Olten aufgewachsen ist und damals wegwollte.» Die beiden zogen in den Chreis Cheib, an den Stauffacher, mitten in Zürichs Stadtzentrum. «Dort haben sich nicht einmal die direkten Nachbarn im Haus gegrüsst», erinnert er sich und muss beim Gedanken daran lachen. Seit einigen Jahren sind die Plüss zurück. «Olten bietet fast alles, mit dem Rest kann ich mich arrangieren.» Das Haus im Schöngrund, welches sie von seinen Eltern übernommen haben, ist seit letztem Frühling auch Arbeitsplatz der Eheleute.

«Klingt komisch, aber in meiner Erinnerung wird die Coronazeit wohl nach israelischer Küche schmecken.»

David Plüss

Der aktuellen Lage kann er etwas Positives abgewinnen. «Normalerweise verbringt man ja mehr Zeit im Büro mit den Arbeitskollegen als zuhause mit der eigenen Frau. Das ist jetzt anders.» Die Entschleunigung bringe Vorteile mit sich und sei inspirierend. Mit Rezeptideen und Kochkelle kämpfen die Plüss gemeinsam gegen die bisweilen drohende Monotonie des Alltags im Homeoffice. Die wöchentliche Gemüselieferung direkt vom regionalen Bauer gibt den Takt vor. Darüber hinaus versucht sich der passionierte Hobbykoch an der internationalen Küche. «Klingt komisch, aber in meiner Erinnerung wird die Coronazeit wohl nach israelischer Küche schmecken.» Diese hat er im Frühjahr für sich entdeckt.

Politik, Stadtratswahlen Olten, FDP

Solothurns starke Kerlinnen

«Mamme wenn kunsch haim?», fragt das leicht verwahrloste Mädchen mit gläsernem Blick und geknickter Blume in der Hand auf einem Abstimmungsplakat. Dieses ruft mit seinem grosslettrigen roten «Nein!» dazu auf, gegen das Frauenstimmrecht an die Urne zu gehen. Zusammen mit weiteren Affichen bildet das Plakat den Auftakt zur Sonderausstellung «Pionierinnen. Eine Würdigung» im Historischen Museum in Olten.

Fünfzig Jahre nach Einführung des Frauenstimmrechts auf Bundesebene widmen sich die Ausstellungsmacherinnen jenen Solothurnerinnen, die in verschiedenen Bereichen und auf unterschiedliche Art und Weise einen Beitrag zur Gleichstellung der Frau geleistet haben. Angefangen im Mittelalter bis in die Gegenwart. Eine Würdigung, die es in dieser Form noch nie gab.

Drei Oltnerinnen mit Pioniergeist

Eine von über dreissig in der Ausstellung vorgestellten Pionierinnen des Kantons ist Anna Heer. Sie wurde 1863 in Olten geboren und besuchte im Hübelischulhaus den Primarschulunterricht. Nach dem Staatsexamen an der medizinischen Fakultät in Zürich eröffnete sie in der Limmatstadt eine gynäkologische Praxis. Mit 38 Jahren gründete sie zusammen mit einer Kollegin die «Schweizerische Pflegerinnenschule mit Frauenspital». Heer gilt als erste Chirurgin der Schweiz.

Die erste Chirurgin der Schweiz, Anna Heer, ist das Gesicht der Ausstellung.

Nicht minder engagiert und vernetzt war Maria Felchlin. Die umtriebige Oltnerin diente während des Zeiten Weltkriegs als Sanitätsoberleutnant des Luftschutzes und galt im Schiesssport als zielsichere Schützin. Felchlin war die erste praktizierende Ärztin im Kanton und schrieb als Redakteurin unter anderem für die Oltner Neujahrsblätter. Heute erinnert vor der Friedenskirche eine Büste an die Vorkämpferin für das Frauenstimmrecht.

Das Historische Museum Olten verdankt der vielseitig interessierten Maria Felchlin eine erste Inventarisierung der Keramiksammlung.

Eine Oltnerin, die sich für das Frauenstimmrecht einsetzte und sich bis auf Bundesebene Verhör verschaffte, ist Lilian Uchtenhagen. 1928 geboren hatte sie als junge Frau eine akademische Laufbahn eingeschlagen, ungewöhnlich für die damalige Zeit. Sie kandidierte 1983 für den Bundesrat und wurde von dem nicht nominierten Parteigenossen Otto Stich, man kann es fast nicht anders ausdrücken, ausgestochen, oder wie die NZZ im Nachruf zum Tod von Lilian Uchtenhagen 2016 schrieb: er hat ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Beinahe wäre Uchtenhagen die erste Bundesrätin der Schweiz geworden.

Die SP-Politikerin Lilian Uchtenhagen studierte in Basel und London Staatswissenschaften und war Mitglied zahlreicher Frauenorganisationen.

Für Museumsleiterin und Kuratorin der Ausstellung Luisa Bertolaccini und ihre Mitarbeiterinnen war die Informationsbeschaffung kein Leichtes. «In den Archiven finden sich zwar zahlreiche Einträge und Dokumente zu weiblichen Persönlichkeiten, aber oftmals sind sie nicht erschlossen. Das heisst, es existiert nur wenig Grundlagenarbeit, auf die man in nützlicher Frist aufbauen könnte», sagt Bertolaccini. «Man müsste wohl zwei Jahre Zeit haben, um alle Daten zusammenzutragen und aufzubereiten.» Erschwerend kam hinzu, dass Bertolaccinis Team wegen des Lockdowns erst ab Mitte Juni mit der Recherche in den Archiven beginnen konnte.

Patriarchen links wie rechts

Neben den vorgestellten Solothurnerinnen haben es auch Männer in die Ausstellung geschafft. «Unsere drei Quotenmänner», wie Bertolaccini sie im Scherz bezeichnet. Darunter der christkatholische Priester Emil Meier aus Olten, der 1905 einen progressiven Vortrag zur Frauenfrage hielt und damit über kirchliche Kreise hinaus Beachtung auslöste. Dies in einer Zeit, in der im Zivilgesetzbuch noch schwarz auf weiss stand, die Ehefrau habe die Pflicht, ihrem Gatten, dem Haupt der Gemeinschaft, mit Rat und Tat zur Seite zu stehen und den Haushalt zu führen.

«Man muss schon sehen, dass alle Pionierinnen, die gegen vordefinierte Geschlechterrollen vorgingen, Männer an ihrer Seite hatten, die den Kampf für die Gleichstellung unterstützten oder zumindest tolerierten», sagt Bertolacci. «Ob Patriarch oder nicht, lässt sich nicht anhand der politischen Gesinnung der Männer definieren.»

Alles andere als ein Patriarch war beispielsweise Urs Dietschi, der nach dem Zweiten Weltkrieg für die FDP im Nationalrat sass und sich für das Frauenstimmrecht einsetzte. Seiner Sache ganz sicher war aber auch er nicht, wie ein Zitat aus der Ausstellung verdeutlicht: «Ich bin dafür und dagegen zugleich […]. Der Frau würden auch Lasten auferlegt, unter denen sie als sensibles Wesen leiden könnte.»

Gedanken, wie Dietschi sie formuliert hat, mögen heute grotesk wirken. Doch ist es noch nicht lange her, dass Frauen nur die Wahl blieb, sich entweder mit der Bevormundung abzufinden oder aber entschlossen dagegen aufzulehnen und für die Gleichstellung ihres Geschlechts einzustehen. Ohne Gewissheit, ob sich ihr Einsatz einst bezahlt machen würde.

Pionierinnen. Eine Würdigung
Eine Sonderausstellung des Historischen Museums Olten
30. Oktober 2020 bis 5. April 2021
Haus der Museen, Konradstrasse 7, 4600 Olten

Historisches Museum Olten, Haus der Museen, Frauenstimmrecht, Kultur

Wie lebt es sich als Fussgänger in Olten?

Es gibt Sprichwörter, die gelten für die Ewigkeit, und es gibt solche, die müssten gelegentlich dem Lauf der Zeit angepasst werden. «Wer keinen Kopf hat, der hat Beine» ist so ein Beispiel. Wenn es nach dem Verband Fussverkehr Schweiz geht, müsste die neue Form heissen: «Wer Kopf hat, der hat Beine». Der Verband der Fussgänger setzt sich seit Mitte der 1970er-Jahre für die Bedürfnisse des Langsamverkehrs ein. Der Rückenwind blies in der Verbandsgeschichte wohl nie so heftig wie in der heutigen Zeit. Niemand wird die Vorteile des Autos verneinen wollen. Doch für die gegen Ende des letzten Jahrtausends Geborenen ist das Auto zunehmend bloss ein praktischer Nutzgegenstand geworden, um schnell von einem Ort zum anderen zu gelangen. Der Lack des früheren Vorzeigeobjekts und glänzenden Symbols für den sozialen Status blättert.

Auf den Status der Fussgänger hat sich der Trend zum Langsamverkehr bisher jedoch wenig ausgewirkt. Niemand brüstet sich damit, seinen Wocheneinkauf zu Fuss zu erledigen. Doch vielleicht sind Schrittzähler-Apps auf unseren Handys und der englische Begriff «Walkability» Vorboten für den kommenden Boom des Fussgängertums. Die Zukunft wird es zeigen. Fakt ist, dass Fussgängerinnen zahlenmässig zur stärksten Gruppe im Verkehr zählen.

Oltens Walkability im Fokus

Mit der Erhebung GEHsund – Städtevergleich Fussverkehr wird ein Projektteam der Umweltschutzorganisation umverkehR, der Hochschule für Technik Rapperswil und dem Verband Fussverkehr Schweiz die Fussgängerfreundlichkeit in kleineren Städten wie Olten, Frauenfeld und Thun sowie in Agglomerationsgemeinden prüfen und einander gegenüberstellen. Der Vergleich von fünfzehn Gemeinden soll Potenziale aufzeigen und Hinweise geben, wie diese nutzbar gemacht werden können.

Doch welchen Stellenwert hat der Fussverkehr für die Stadt Olten, die Mitglied bei «Fussverkehr Schweiz» ist? «Der Fussverkehr ist die ‘Maschine’, die den öffentlichen Raum attraktiv macht und Begegnungen ermöglicht. Ohne Fussverkehr gibt es keine Aufenthaltsqualität», sagt Stadtplaner Lorenz Schmid. Auch der gesundheitliche Aspekt sei nicht zu vernachlässigen. Aus der Forschung wisse man, dass die medizinisch relevante Gesundheit weniger im Vereinssport erarbeitet wird, sondern im Individualsport und allem voran in der Alltagsbewegung. «Bei der anstehenden Ortsplanung ist die Fuss- und Velonetzplanung fester Bestandteil», so Schmid. Die Resultate der Erhebung sollen in die Planung einfliessen.

Um die Daten zur Fussgängerfreundlichkeit zu erheben, soll voraussichtlich im kommenden Sommer eine Begehung stattfinden. «Wir machen der Stadt einen Vorschlag für eine Route. Sie muss repräsentativ sein, einen Querschnitt der Situation darstellen, so dass wir nicht nur die schönsten Spazierwege in Augenschein nehmen können», sagt Veronika Killer von umverkehR. Die Stadt könne im Anschluss ihre Inputs zur vorgestellten Route anbringen. Weiter wird die Bevölkerung mittels einer Onlinebefragung zur Zufriedenheit in Sachen Fussgängerfreundlichkeit befragt. Drittes Element der Untersuchung ist ein Interview mit den Verantwortlichen der Stadt, bei dem es herauszufinden gilt, wie die Verwaltung und Politik mit dem Thema umgehen. «Uns interessiert unter anderem, ob bereits ein Fussverkehrskonzept existiert und welche Fördermassnahmen in der Vergangenheit getroffen wurden», so Killer.

Im Fall von Olten existiert ein Langsamverkehrskonzept aus dem Jahr 1999, das 2009 aktualisiert wurde und verschiedene Massnahmen für den Velo- und Fussverkehr enthält. Ziel der aktuellen Erhebung ist es, ein ganzheitliches Bild der gegenwärtigen Situation zu zeichnen. Die Resultate sollen 2022 präsentiert werden.

Trennung von Fuss- und Veloverkehr

In einer ersten Phase wurden sechzehn grössere Schweizer Städte untersucht. Die Ergebnisse hätten gezeigt, dass es deutliche Defizite in der Infrastruktur und beim politischen und planerischen Umgang mit dem Fussverkehr gebe, heisst es in einer Mitteilung von umverkehR. Im Schlussbericht der ersten Phase (PDF) werden Empfehlungen kommuniziert, wie die Fussgängerfreundlichkeit verbessert werden kann.

Beispiele sind eine Trennung der Infrastruktur für Fuss- und Veloverkehr, kürzere Wartezeiten an Querungen und die Schaffung einer Fachstelle Fussverkehr in der städtischen Organisation. Während der Fussverkehr in grossen Städten immerhin einen gewissen Stellenwert als Verkehrsmittel geniesse, bestehe jedoch besonders in Agglomerationsgemeinden die Gefahr, dass die Grundmobilität des Gehens in Vergessenheit gerate, heisst es von Seiten der Projektverantwortlichen.

Stadtentwicklung, Fussgänger, Langsamverkehr

Begleiterin auf Reisen aller Art

«Nächsten Samstag, 10 Uhr. Zeit mitbringen. Am Mittag gibt’s Spaghetti», stand in der kurzen SMS, die Gabi Born als Antwort auf ihre Anfrage bekam. Sie hatte Bestatter Ricco Biaggi im aargauischen Gipf-Oberfrick gebeten, ihm bei einem Besuch über die Schulter schauen zu dürfen. Sie wollte einen Einblick ins Bestattungswesen gewinnen. Das war 2013. Der Wunsch, sich um die letzte Ruhe von Verstorbenen zu kümmern, kam bei Gabi Born jedoch schon viel früher auf. Tochter Gina Born erinnert sich, dass ihre Mutter immer wieder mit diesem Gedanken gespielt hatte und sich erkundigte, ob sie sich vorstellen konnte, mitzuhelfen.

Zu Beginn habe sie sich mit der Idee schwergetan. «Als junge Frau sah ich mich als absolut ungeeignet für das Bestattungswesen», erzählt Gina. Doch ihre Mutter liess nicht locker. Eines Abends lief im Fernsehen eine Dokumentation über eine deutsche Hebamme. Nachdem die Frau sich über Jahre mit dem Beginn des Lebens befasst hatte, wollte sie die andere Seite kennenlernen. Sie begann, im Bestattungswesen zu arbeiten. Aufgeregt rief Gabi Born ihre Tochter hinzu: «Schau mal, eine Bestatterin!»

Faszination Kardanwelle

Hebamme, das war auch Gabi Borns ursprünglicher Berufswunsch. Die Voraussetzung dafür: eine bereits abgeschlossene Ausbildung. Born entschied sich für die Verkaufslehre, weil diese mit zwei Jahren vergleichsweise kurz war. Als jedoch im Unternehmen des Vaters überraschend ein Mitarbeiter verstorben war, sprang sie 1984 nach der Ausbildung in dessen Büro ein. Die Arbeit gefiel ihr dermassen gut, dass sie ihren Traum, Hebamme zu werden, kurzerhand beerdigte und ihren bereits zugesicherten Ausbildungsplatz freigab. Sie nahm Lastwagenfahrstunden, machte später die Carprüfung und sorgte am Steuer dafür, dass Schüler im Winter sicher ins Skilager fuhren und Reisegruppen im Sommer bequem an die Adria gelangten. 1998 übernahm Gabi Born schliesslich die Führung von «Born Reisen».

Zurzeit wenig nachgefragt: Das Angebot von «Born Reisen»

Drei Mädchen und kein Junge in der Familie. Für viele Leute im Umfeld sei das Schicksal des Carunternehmens damit besiegelt gewesen, erzählt Gabi Born. Doch sie hatten die Rechnung nicht mit der jüngsten Born-Tochter gemacht. «Als Schulmädchen bin ich jeweils in der Mittagspause nachhause gerannt, habe den Schulsack in die Ecke geworfen und bin so rasch wie möglich zu meinem Vater in die Garage gelaufen», erinnert sie sich. An der Seite ihres Vaters liess sie es sich nicht nehmen, in die Werkstattgrube zu steigen und einen Blick unter die grossen Reisecars zu werfen. «Die Kardanwelle, das Getriebe. Solche Dinge haben in meiner Kindheit eine unheimliche Faszination auf mich ausgeübt.»

Pippi Langstrumpf und der Himmel

«Im Leben gibt es Augenblicke, die erlebt man nur ein einziges Mal», sagt Gabi Born. Zu diesen Momenten zählt sie die Geburt eines Kindes, aber auch der Tod eines lieben Menschen. «Umso wichtiger erscheint mir unsere Aufgabe als Bestatter. Sie ist mit einer grossen Verantwortung verbunden. Nicht selten sind wir diejenigen, die einem Menschen zum allerletzten Mal ins Gesicht schauen, bevor er die Welt für immer verlässt.» Gabi Born ist überzeugt, dass nach dem Tod etwas Schönes wartet. «Irgendwie geht es weiter.» Selten habe sie einen verstorbenen Menschen gesehen, der nicht einen zufriedenen Ausdruck im Gesicht hatte, sagt sie.

«Als ich meinen Vater 2008 in der Halle auf dem Friedhof verabschieden wollte, nahm mir die dicke Glasscheibe zwischen uns jede Möglichkeit, ihn noch einmal zu berühren und seine Haut zu spüren.»

Gabi Born

Nach dem ersten Besuch bei Bestatter Biaggi entschieden sich die Borns, bei ihm ein Praktikum zu machen. Damit war der Grundstein für das eigene Bestattungsinstitut gelegt. «Es war nur noch eine Frage der Umsetzung», erinnert sich Gina. Ihr Bruder Samuel war bereits während seiner Ausbildung zum Möbelschreiner mit dem Bestattungswesen in Kontakt gekommen. Er baute schliesslich die einstige Autogarage neben dem Reisebüro an der Aarauerstrasse 114 zu einem Aufbahrungsraum um.

Die beiden Betriebe der Borns stehen heute Tür an Tür. Die Glastür führt ins Reisebüro, die Tür aus erlesenem Eichenholz in den kleinen Aufbahrungsraum. Mittels eines Codes haben Angehörige zu jeder Tages- und Nachtzeit Zutritt zum Verstorbenen. Entsprechend ihrer Wünsche wird der Raum geschmückt. Bis zu einer Woche bleibt ihnen Zeit, Abschied zu nehmen.

Bestattungsunternehmen und Reisebüro liegen Tür an Tür.

Anders als beispielsweise in der Aufbahrungshalle des Friedhofs Meisenhard, bahren die Borns die Verstorbenen in einem sogenannten Katafalk auf, dessen Oberseite offen ist. «Als ich meinen Vater 2008 in der Halle auf dem Friedhof verabschieden wollte, nahm mir die dicke Glasscheibe zwischen uns jede Möglichkeit, ihn noch einmal zu berühren und seine Haut zu spüren», blickt Gabi Born ungern zurück.

Im kleinen Besprechungszimmer hinter dem Aufbahrungsraum erinnern grosse Porträtbilder an ihre verstorbenen Eltern. «Als vor eineinhalb Jahren meine Mutter gegangen ist, haben wir uns selbst um die Bestattung gekümmert.» Sie nicht in fremde Hände zu geben und die Bestattung selbst durchzuführen, sei selbstverständlich gewesen für die Familie.

«Nicht jeder Todesfall ist durch und durch von Traurigkeit erfüllt.»

Gabi Born

Wandert der Blick im kleinen Aufbahrungsraum gen Himmel, springt einem die goldfarbene Decke ins Auge. «Wie schön muss es erst im Himmel sein, wenn er von aussen schon so schön aussieht.» Kein Zitat von Gabi Born, sondern von Pippi Langstrumpf. Es ziert die Website von «Born Bestattungen». Im kleinen Raum wird nicht nur geweint und getrauert, sondern auch gelacht. Wenn Geschichten und Anekdoten die Runde machen und die Erinnerungen an schöne gemeinsame Momente im Leben der Verstorbenen hochkommen. «Nicht jeder Todesfall ist durch und durch von Traurigkeit erfüllt», sagt Gabi Born, «besonders wenn der Tod als eine Erlösung von einer Krankheit wie beispielsweise einer Demenz wahrgenommen wird, fällt es den Angehörigen leichter, Abschied zu nehmen.»

Gestorben wird immer

Eine Tür weiter, im Büro nebenan, klingelt das Telefon. Tochter Gina geht ran und meldet sich mit «Born Reisen». Am Klingelton erkenne man, ob die Nummer des Reisebüros oder jene des Bestattungsdienst gewählt wurde, erzählt sie später, «aber es kommt vor, dass Leute wegen einer Bestattung anrufen und dazu die Nummer des Carunternehmens wählen.» «Unser erster Anruf heute?», fragt Gabi Born etwas bedrückt und erwartet keine Antwort. Derzeit herrscht Endzeitstimmung im Carunternehmen.

Die Fahrzeuge, neun an der Zahl, sind in der Garage an der Haslistrasse eingestellt. Die Nummernschilder abmontiert und bei der Motorfahrzeugkontrolle hinterlegt, um Kosten zu sparen. Einzig der Bestattungswagen, der die Garage mit den Reisecars teilt, verlässt in diesen Tagen seinen Parkplatz hin und wieder, wenn die Borns ausrücken, um einen Verstorbenen abzuholen. Zuhause, im Spital oder an einer Unfallstelle.

Stillstand beim Reiseunternehmen: Wann das nächste Mal ein Car die Garage verlässt, kann niemand sagen.

Zum momentanen Stillstand bei den Carreisen sagt Gabi Born: «In der 84-jährigen Firmengeschichte gab es eine solche Situation noch nie.» Mit ruhiger Stimme erzählt sie, dass das Reisegeschäft bis Mitte März normal lief, bis zum Zeitpunkt des Lockdowns. Seither ging nichts mehr. Neunzig Prozent des Umsatzes von «Born Reisen» sind weggebrochen, die Buschauffeure seit Monaten in Kurzarbeit. Man sei froh, mit dem Bestattungsunternehmen ein zweites Standbein zu haben. Ein krisensicheres dazu, gestorben wird immer.

Jährlich bestattet die Familie Born durchschnittlich 100 Verstorbene, beim Carunternehmen zählt man in pandemiefreien Zeiten zirka 60’000 Reisende. «Reisen aller Art», meint Gabi Born, «sind unsere Spezialität.» Es ergebe sich, dass Angehörige auf uns zukommen, deren Eltern zu Lebzeiten viel mit «Born Reisen» unterwegs waren und für die es keine Frage sei, dass die letzte Reise ebenfalls mit uns zusammen ihren Anfang nehme, erzählt sie.

Bestatterin – ein krisensicherer Beruf

Reisen in der Fantasie

«Bevor meine beste Freundin 2013 nach längerer Krankheit starb, interessierte sie sich sehr für unsere Pläne mit dem Bestattungsdienst. Ihr Tod kam für alle schneller als erwartet, wenige Tage, nachdem wir unser Bestattungsfahrzeug gekauft hatten. Der Wagen war noch nicht eingelöst und nur mit Hilfe verschiedener Stellen schafften wir es, das Auto rechtzeitig für die Bestattung parat zu haben», blickt Gabi Born zurück.

Behilflich bei diesem Unterfangen war ein junger Bestatter aus Zürich. Er war es auch, der die Familie beim Start mit seiner Erfahrung unterstützte. Dazu reiste er im ersten Jahr regelmässig nach Olten. Heute ist er der Lebenspartner von Gina. «Im Leben passieren Dinge, die man nicht für möglich gehalten hat», sagt Gabi Born. Nie hätte sie geglaubt, ihre beiden Leidenschaften, das Reisen und das Bestatten, eines Tages miteinander verbinden zu können. «Umso schöner ist es, wenn man sieht, dass es funktioniert.»

Gabi Borns drei Labradore Mex, Joshi und Bridget sorgen für Leben im Reisebüro – und haben sich daneben schon als willkommene Trostspender für Hinterbliebene bewiesen.

Den Koffer zu packen, aufzubrechen und sich eine Auszeit vom Alltag zu gönnen, dazu kommt Gabi Born kaum noch. 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag ist sie in ihren beiden Unternehmen verfügbar. An Fernweh leide sie deshalb nicht, sagt Born, die sich als überzeugte Oltnerin beschreibt. «In Olten fühle ich mich wohl. Hier ist mein Zuhause.»

Gerade einmal vier Jahre ihres Lebens verbrachte sie ausserhalb ihrer Heimatstadt. Ausserdem sei sie mit einer blühenden Fantasie gesegnet. Wenn sie für ihre Kundschaft eine Reise plane, reise sie in ihrem Kopf immer ein wenig mit. So sei es vorgekommen, dass sie von der Realität einer Reisedestination enttäuscht wurde. «Wie wenn man ein Buch liest und sich dann den Film ansieht», sagt Gabi Born, nimmt den frischen Lavendelzweig aus der Teetasse und legt ihn behutsam beiseite.

Der Lavendel steht symbolisch für die Stille und Demut, aber auch für die Erinnerung. Von der ersten Schulexkursion bis hin zur allerletzten Reise, für Gabi Born ist es eine Herzensangelegenheit, den Menschen ein Andenken zu schenken.

Bestattungen, Reisen

«Die Eröffnung eines weiteren Nagelstudios bringt keinen Mehrwert»

Romana Waller ist die erste Citymanagerin von Aarau. Mitte Oktober hat sie ihre Arbeit in einem Pensum von vierzig Prozent aufgenommen. Finanziert wird der Posten zu einem grossen Teil von der Stadt. Der Gewerbeverband sowie einzelne Detaillisten und Gastrobetriebe beteiligen sich. Die Stelle ist vorerst auf drei Jahre befristet.  

Frau Waller, wenn Sie an Olten denken, was kommt Ihnen da in den Sinn?

Ich kenne die Fachhochschule und die Stadt soll eine gute Adresse sein, wenn man fein essen gehen möchte. Das ist das, was ich zu hören bekomme, wenn es um Olten geht. Da ich mich vor allem in Aarau und Zürich bewege, bin ich in unserer Nachbarstadt leider selten zu Gast. Deshalb kann ich das nicht aus eigener Erfahrung beurteilen.

Vor kurzem haben Sie die Stelle als Citymanagerin angetreten. Welches sind die Herausforderungen in Aarau?

Wie in anderen Städten und auch in Shoppingcentern sind die Kundenfrequenzen in der Aarauer Altstadt in den letzten Jahren zurückgegangen, was mit einem veränderten Konsumverhalten zu erklären ist. Der Onlinehandel spielt hier eine tragende Rolle. Früher konnten Hauseigentümer ihre Mieter auswählen, für Geschäftsflächen an zentraler Lage gab es gar Wartelisten. Das ist heute anders.

Was sind die Aufgaben, die Sie als Citymanagerin übernehmen?

Zunächst stellen wir uns die Frage, in welche Richtung sich Aarau in den Bereichen Detailhandel und Gastronomie entwickeln will. Es gilt, eine Strategie und eine Vision für die Stadt zu entwickeln, die auf die nächsten fünf bis zehn Jahren ausgerichtet ist. Ein wichtiges Thema als Citymanagerin ist der Ladenmix, das heisst die richtige Mischung aus unterschiedlichen, sich ergänzenden Branchen. Dabei spielt auch die Gastrobranche eine wichtige Rolle. Sie bringt generell Menschen in die Stadt und Abwechslung in den Ladenmix. Unser Ziel ist es, mehr Leute dazu zu bewegen, in Aarau einzukaufen und zu verweilen. Als Citymanagerin sehe ich mich auch als Bindeglied zwischen Stadt, Detailhandel und Gastronomie sowie Immobilieneigentümern.

Welche Aspekte haben einen Einfluss auf den lokalen Ladenmix?

Zum einen sind es harte Faktoren wie die Infrastruktur, das Einzugsgebiet, die Erreichbarkeit, das bestehende Angebot, aber auch das Flächenlayout der Geschäftsräumlichkeiten. Gerade in einer Altstadt sind die Geschäfte naturgemäss klein und eher verwinkelt. Modeketten mit grossem Flächenbedarf zum Beispiel lassen sich hier nicht ansiedeln. Zum anderen sollen unsere Vision und Ziele für Aarau den Ladenmix in Zukunft beeinflussen.

Wie zufrieden sind Sie mit der Ladenvielfalt in Aarau?

Wir haben einen guten Mix aus grösseren, nationalen Unternehmen mit bekanntem Namen und lokalen, kleineren Fachgeschäften, die mit Charme und innovativen Konzepten ihre bescheidene Grösse wettmachen. Künftig möchten wir weitere gute Marken nach Aarau holen. Kunden sollen in unsere Stadt kommen, weil das Einkaufen hier sich von demjenigen im Shoppingcenter unterscheidet und mit den Facetten dieser schönen Stadt und Gastronomiemöglichkeiten ein einzigartiges Einkaufserlebnis bietet.

Welche Rolle spielen grosse Namen nationaler und internationaler Ketten?

Bekannte Marken und Ketten haben eine Magnetwirkung und bringen Menschen in die Stadt, die sonst vielleicht eher online einkaufen würden oder ins Shoppingcenter fahren. In Aarau gilt der City-Märt mit Manor, Coop, Migros und C&A als Magnet. Lebensmittelhändler sind wichtige Frequenzbringer, bei ihnen deckt man sich für den täglichen Bedarf ein.

Leere Ladenlokale sind in Schweizer Städten zum Alltagsbild geworden. Wie sieht die Situation diesbezüglich in Aarau aus?

Davon haben wir glücklicherweise relativ wenige. Wenn es einen Mieterwechsel gibt, ist es meiner Ansicht nach wichtig, darauf zu achten, dass die neuen Geschäfte eine gewisse Einzigartigkeit aufweisen. Die Eröffnung eines weiteren Nagelstudios bringt punkto Vielfalt keinen Mehrwert. Ziel muss es sein, den Mix nachhaltig zu gestalten, so dass es nicht zu viele Wechsel gibt.

Welchen Einfluss haben die Mietpreise auf die Vielfalt der Geschäfte?

Oft stehen sie für die Eigentümerin der Liegenschaft im Vordergrund. Wie viel das Gewerbe für die Fläche bezahlen kann, hängt jedoch stark vom erzielten Umsatz ab. Wir wissen, dass die Umsätze im Detailhandel rückläufig sind. Kleine Start-up-Unternehmen, die innovationsfreudig sind und Vielfalt in die Gewerbelandschaft bringen würden, haben gerade zu Beginn nicht die finanziellen Mittel, Marktpreise zu bezahlen. Hier können neue Mietmodelle Abhilfe schaffen. Anstelle einer Fixmiete kann beispielsweise ein umsatzabhängiger Mietzins treten. Auch eine Staffelung mit einem über die Jahre steigenden Mietpreis ist eine Möglichkeit, um die Vielfalt zu fördern.

Über welchen Trumpf verfügt die Einkaufsstadt gegenüber Shoppingcenter und Onlinehandel?

Sicherlich die Stimmung und das Ambiente, welche nur die hübschen Gassen und schönen Ecken einer historischen Altstadt bieten können. Aber auch die vielfältigen Gastromöglichkeiten für unterschiedliche Zielgruppen und Geschmäcker. Es geht auch darum, Plätze in der Stadt zu schaffen, wo sich Menschen treffen können. Wo es vielleicht einen Spielplatz gibt oder man sich über den Mittag, nach der Arbeit und in der Freizeit gern mit Freundinnen trifft. Die Menschen suchen in der Stadt den sozialen Kontakt, daran wird auch die Digitalisierung nichts ändern. Dieser menschliche Austausch fehlt beim Onlinehandel gänzlich. Damit sich Besucher wohlfühlen, muss die Stadt sich herausputzen, Gastfreundlichkeit ausstrahlen und Geschäfte bieten mit guter Beratung und Services.

Ladenmix, Aarau, Stadtentwicklung

Auf zwei Rädern durch Olten: Hier macht Velofahren gute Laune

Letzte Woche haben wir in einem Beitrag einige mühselige und gefährliche Stellen für Velofahrerinnen kommentiert. In der Folge erreichten uns zahlreiche Meldungen von Kolt-Lesern zum Thema. Herzlichen Dank dafür! Weil wir der Meinung sind, dass man das Glas nicht nur halb leer betrachten sollte, nutzen wir die Gelegenheit, nachzuschenken und präsentieren an dieser Stelle eine Handvoll positive Beispiele, welche die Velofahrt in Olten zum Vergnügen machen.

Olten Hammer: Im Windschatten des Intercitys

Im vergangenen Beitrag war das kürzlich verlegte Gummiprofil in den stillgelegten Bahngleisen auf der Stationsstrasse Thema. Trotz dieser Verbesserung sollte weiterhin achtsam gefahren werden, worauf uns Fiona Müller auf Facebook hingewiesen hat. 

Hat man die Gleise auf der Stationstrasse erst einmal sicher passiert und hinter sich gebracht, ist der weitere Weg frei von Hindernissen. Am Bahnhof Hammer vorbei geht es zügig der Bahnlinie entlang bis zum Aldi und zur Usego-Brücke. Wer im richtigen Moment unterwegs ist, nutzt den Windschatten des vorbeifahrenden Intercitys, um noch schneller vorwärtszukommen.

Usego-Brücke: Hoch hinaus statt unten durch

Pedalend ins Naherholungsgebiet oder ins Sporttraining. Über die Usego-Brücke sind das Bannfeld- und Schöngrundquartier für Velofahrer ausgezeichnet verbunden mit dem Gheid und den Sportanlagen im Kleinholz. Die Topografie der Landschaft wartet ausserdem mit einem zusätzlichen Trainingsnutzen auf. Ideal für das Workout nach der sportlichen Betätigung oder eine Verdauungsrunde auf der Heimfahrt vom Picknick an der Dünnern.

Solothurnerstrasse: Luxus-Linksabbiegen

Für Velo- und Autofahrer gleichermassen praktisch: Die Rede ist von Mehrzweckstreifen, die als sichere Linksabbiegehilfe dienen. Im Rahmen der ERO-Umgestaltungen wurden solche Streifen auf zahlreichen Hauptachsen in Olten eingerichtet. Im Bild zu sehen: der Mehrzweckstreifen auf der Solothurnerstrasse. Von dort lässt sich sicher auf den Katzenhubelweg abbiegen. Zusätzlich wurde das einstige Stoppschild am Katzenhubelweg durch ein Kein-Vortritt-Signal ersetzt.

Eggerallee: Ohne Süfzger der grünen Aare entlang

Auf der Eggerallee, besser bekannt als Süfzgerallee, heisst es freie Fahrt bis Winznau. Während oben auf der Gösgerstrasse der Verkehrslärm röhrt, kommt unterhalb, an der Aare entlang, Reisefieber auf. Hier lässt es sich wunderbar stressfrei pedalen. Wer nicht bremst und stets dem Wasserlauf folgt, erreicht nach rund 1’300 Kilometern die Nordsee.

Velostation Ost: Veloparking erster Klasse

Ein Parkhaus für Pendlerinnen: Eine tolle Sache. Eingereiht und übereinander versorgt finden rund 700 Fahrräder Platz in den Hallen der Velostation Ost. Das Veloparkhaus wird rege genutzt. Derzeit macht sich zwar der Trend zum Homeoffice bemerkbar. Vor allem am Donnerstag und Freitag habe es etwas mehr freie Plätze als üblich, heisst es. Spätestens wenn die Arbeiten am neuen Bahnhofplatz losgehen und die dortigen Abstellmöglichkeiten beeinträchtigen, dürfte die Parkplatznachfrage im Parkhaus explodieren. Eine Spur grösser hat man übrigens in Utrecht gebaut. Seit Kurzem haben unter dem Hauptbahnhof der niederländischen Stadt 12’500 Velos ein trockenes, sicheres Plätzchen.

Alte Aarauerstrasse: La vie est belle

Ein gelungenes Beispiel für eine Strassensanierung ist die alte Aarauerstrasse auf der rechten Stadtseite. Vom Oltner Tagblatt schon als «Gasse mit französischem Flair der gemächlichen Betriebsamkeit» beschrieben, bietet sie sich für Velofahrer als ruhige Alternative zur stark befahrenen Unterführungsstrasse an. Einzige Gefahr: Unvermittelt aussteigende Autofahrer und unaufmerksame Schülergruppen. Aber dafür kann die Strasse nichts. Positiv auch die Einbahnstrasse, die für Velofahrerinnen freigegeben ist. 

FHNW-Abkürzung: Das Leben ist zu kurz für lange Wege

Umwege erhöhen die Ortskenntnis. Dennoch ist man als Lenker eines muskelkraftangetriebenen Gefährts nicht unglücklich über kurze, möglichst flache Wege, die einen sicher ans Ziel führen. Eine solche willkommene Abkürzung führt an der FHNW vorbei. Zwischen den Geleisen und der Fachhochschule blasen einem zudem der Fahrtwind sowie die ein- und ausfahrenden Züge Oltens urbane Seite um die Ohren. 

Quartierstrassen: Probier’s mal mit Gemütlichkeit

Eine willkommene Entschleunigung, dazu weniger Lärm und Abgase und mehr Sicherheit für Velofahrerinnen und Fussgänger. Dank der Tempo-30-Zonen in den Oltner Quartierstrassen ist die Heimfahrt von der Schule und der Spaziergang zum Nachbar schon fast ein tiefenentspannendes Erlebnis. Bei aller Entkrampfung aber auf dem Velo bitte den geltenden Rechtsvortritt nicht vergessen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass Tempo-30-Zonen auch auf Hauptverkehrsachsen grundsätzlich möglich sind. Dies sehen zum Beispiel aktuelle Pläne in den Städten Freiburg und Lausanne vor.

Gäubahnbrücke: Direkte Verbindung vom Grau ins Grün

Der Kontrast könnte nicht grösser sein. Hier das Brummen der Motoren auf der Aarburgerstrasse, dort das Zwitschern der Vögel im friedlich ruhigen Idyll im Gheid. Vom einen Ort zum anderen kommt man schnell und komfortabel über die Gäubahnbrücke und mit etwas Anstrengung verbunden die Rampe hinauf via Kleinholz. Und wenn man möchte, geht es bequem weiter bis nach Wangen. 

Sälikreisel: Kleiner Nachtrag

Aus dem Stadtzentrum führt der offizielle Velostreifen kurz vor dem Sälikreisel rechts zur Aare hinunter und unterquert die ERO-Brücke. Die Unterführung ist für Velofahrer in eine Richtung befahrbar und für Fussgänger in beide Richtungen gedacht. Danach geht für Radfahrer die Fahrt ins Säliquartier über den Zebrastreifen – warte, luege, lose, schiebe – über die Aarburgerstrasse weiter.

Velo, Mobilität, Verkehr

Hier leben die glücklichsten Velofahrerinnen der Schweiz

Pro Velo Schweiz verleiht alle vier Jahre den «PRIX Velostädte». Gleich dreimal in Folge wurde Burgdorf von seiner velofahrenden Bevölkerung zur velofreundlichsten Stadt der Schweiz gekürt – noch vor den grossen Städten wie Basel, Bern oder Winterthur. Ausserdem hat es Burgdorf auch in der Kategorie «Kleine Städte» (mit weniger als 30’000 Einwohnern) aufs Podest geschafft. Wie macht die Stadt das? Ein Interview mit Rudolf Holzer, Leiter der Baudirektion.

Rudolf Holzer, Leiter der Baudirektion in Burgdorf

Herr Holzer, sind Sie heute Morgen mit dem Velo zur Arbeit gefahren?

Leider nein. Mein aktueller Arbeitsweg ist dazu schlicht zu weit.

Wie kam es, dass dem Veloverkehr in Burgdorf früh einen hohen Stellenwert beigemessen wurde?

Von 1996 bis 2006 war Burgdorf Velo- und Fussgängermodellstadt. In dieser Zeit war die Stadt ein Experimentierlabor für innovative Ansätze zur Förderung des Langsamverkehrs. Unter anderem wurde die erste Begegnungszone der Schweiz im Bahnhofsquartier realisiert und getestet. Seither sind die Themen Koexistenz der verschiedenen Verkehrsträger und gegenseitige Rücksichtnahme zentrale Elemente. Die Fussgänger als schwächste Verkehrsteilnehmer haben dabei immer Priorität.

Welche Projekte wurden in Burgdorf in den letzten Jahren realisiert, die sich für Velofahrerinnen positiv ausgewirkt haben?

Es konnten grossflächige Tempo-30-Zonen und Begegnungszonen umgesetzt werden. Mittlerweile sind alle Wohnquartiere in Burgdorf verkehrsberuhigt. Wo möglich wurden die Einbahnstrassen für die Velofahrer in Gegenrichtung geöffnet. Sogenannte Netzwiderstände, welche das Velofahren unattraktiv machen, werden im Rahmen von anstehenden Bauprojekten behoben.

Wo gibt es Schwierigkeiten?

Zum Beispiel bei den Personenunterführungen in den insgesamt vier Bahnhöfen auf dem Stadtgebiet. Aufgrund der verfügbaren Verkehrsfläche haben Fussgängerinnen Priorität. Der Raum fehlt, um diese auch für Velos zu öffnen.

In Olten ist der Weg durch die Altstadt mit einem Fahrverbot für Velofahrer belegt. Wie handhabt das Burgdorf?

Die Altstadtgassen in Burgdorf sind für den Veloverkehr durchgehend geöffnet.

Existieren in Burgdorf Schnellrouten für Velofahrer?

In Burgdorf gibt es den Veloring und die Velohochstrasse entlang des Bahntrassees. Dies sind jedoch Mischverkehrsflächen für den Langsamverkehr und nicht Schnellrouten im eigentlichen Sinn. In Planung ist zudem eine separate Verbindung für den Langsamverkehr vom Bahnhof SBB in das Industriequartier Buchmatt. Damit wollen wir dieses grosse Gewerbe- und Industriegebiet für den Langsamverkehr besser, direkter und sicherer erschliessen.

Verfügen Sie bei der Stadt über ein eigenes Kompetenzzentrum für Velo- und Fussgängerfragen?

Die Baudirektion beschäftigt sich im Bereich Stadtentwicklung mit diesen Fragen und koordiniert diese direktionsintern mit den anderen Bereichen, zum Beispiel mit dem Tiefbauamt und anderen Stellen.

Wie beziehen Sie die Bevölkerung bei der Umsetzung neuer Massnahmen ein?

Die Stadt Burgdorf verfolgt bei neuen Verkehrsberuhigungsprojekten den Ansatz, dass diese von den Quartieren initiiert werden sollen. Auf Antrag der Quartiervereine wird ein Verkehrsberuhigungsprojekt (Tempo-30-Zone/Begegnungszone) ausgelöst. Hierzu müssen über fünfzig Prozent der Quartierbewohner das Projekt unterstützen. Dies belegt der Quartierverein mittels einer Umfrage.

Wie stellen Sie sicher, dass die Interessen der Autofahrerinnen und Velofahrer nicht gegeneinander ausgespielt werden?

Wir berücksichtigen die Interessen aller Menschen im Verkehr gleichermassen. Der Konflikt zwischen Auto- und Velofahrer besteht heute inzwischen weniger, die Interessenskonflikte auf unserem Stadtgebiet sind eher zwischen Velofahrern und Fussgängerinnen zu verorten. Auch hier gilt das Prinzip: Der Schwächere hat Priorität.

Wo sehen Sie für Burgdorf Verbesserungspotenzial beim Veloverkehr beziehungsweise welche Schritte planen Sie für die Zukunft?

Die Stadt muss das Thema der Koexistenz im Bereich Langsamverkehr koordinieren und den dazu notwendigen Raum schaffen. In der laufenden Nachverdichtung des Stadtgebietes ist das eine Herausforderung. Zudem müssen die Mobilitätsbedürfnisse der Nutzerinnen der Stadt miteinbezogen und diese auf die vielfältigen Möglichkeiten und Angebote im Bereich Mobilität abgestimmt werden. Die Betrachtung des Velos allein reicht heute nicht mehr, um unsere Städte auf die zukünftigen Anforderungen vorzubereiten. Im Rahmen des kommunalen Siedlungsrichtplans “Vision Burgdorf 2035” werden auch diese Themen in den Partizipationsprozessen mit der Bevölkerung wichtig sein.

Das Interview wurde schriftlich geführt.

In Burgdorfs Altstadt gilt freie Fahrt für Velofahrerinnen

Das sind die 10 velofreundlichsten Schweizer Kleinstädte 

Städte mit weniger als 30’000 Einwohner

  1. Burgdorf
  2. Reinach (BL)
  3. Solothurn
  4. Muttenz
  5. Riehen
  6. Baar
  7. Grenchen
  8. Münsingen
  9. Kreuzlingen
  10. Martigny

Olten landete im Ranking 2018 auf Platz 13 von 18 Kleinstädten. Der Schlussbericht hält fest, dass Olten während der letzten zwölf Jahre, in denen die Befragung durchgeführt wurde, «bemerkenswerte Fortschritte» gemacht habe. Am meisten kritisierten die 155 Oltnerinnen, die an der Umfrage teilgenommen haben, den mangelnden Stellenwert des Velofahrens bei den Behörden.

Die nächste Umfrage von Pro Velo Schweiz in Zusammenarbeit mit Schweizer Städten und dem Bundesamt für Strassen ist für den Herbst 2021 geplant.

Velo, Mobilität, Verkehr

Eintritt in die farbglühende Atmosphäre von Maya Rochat

Die Werke der Lausanner Künstlerin Maya Rochat lassen sich nur schwer fassen beim Vorbeisurfen auf Facebook und Instragram. Das reicht höchstens, um ein paar Däumchen und Herzchen dazulassen. Wer Rochats Werke erleben will, muss erst einmal aufbrechen, ankommen und eintreten. Nähertreten, Abstand nehmen. Sich auch einmal im Kreis drehen. Je weniger man verharrt, umso mehr lässt sich entdecken. Die Gelegenheit dazu bietet die Ausstellung «Language of Color», welche von Anfang November bis Mitte Dezember an der Baslerstrasse zu sehen sein wird. Und ausschliesslich dort. Denn Maya Rochat gibt in Olten ein exklusives Gastspiel.

Maya Rochats jüngstes Projekt «Breathe Mother» im Quartier Général in La-Chaux-de-Fonds

Die Bühne für ihr Farbenuniversum bietet das derzeit leerstehende Ladenlokal des Kleidergeschäfts «Zebra Fashion». Wo früher unter schwarz-weissem Logo Fast Fashion fürs schmale Portemonnaie vertickt wurde, erhält Rochat eine Carte blanche, oder vielmehr eine Carte colorée. Die Ausstellungsfläche umfasst 188 Quadratmeter. Ein kreativer Spielraum für Rochat, in einer Dimension, die Museen und Galerien der Künstlerin nur in den seltensten Fällen bieten können. Bei einem Vorabbesuch an der Baslerstrasse hat sie die Raumstimmung auf sich wirken lassen. Denn Rochats Kunst beansprucht den Raum in all seinen Ausprägungen. Wände, Boden, Decke. Selbst einfallendes Licht und den Schattenwurf nimmt sie in ihrer Arbeit auf. «Language of Color» soll sich dem verlassenen Kleidergeschäft anschmiegen wie ein massgeschneiderter Anzug, so das entworfene Schnittmuster.

Maya Rochat ist mit ihren 35 Jahren bereits eine international geachtete Künstlerin. Ihre Werke waren unter anderem in der Tate Gallery of Modern Art in London, im Palais de Tokyo in Paris und im Musée des Abattoirs in Toulouse ausgestellt. In einem Interview mit dem Tagesanzeiger aus dem vergangenen Jahr beschreibt sie die Motivation hinter ihren lebendigen Farbschöpfungen. Mit ihrer Kunst wolle sie Türen aufstossen, damit sich Menschen durch die Schönheit berühren lassen und wieder lernen, genauer hinzuschauen. Sie wolle aufrütteln und die Menschen aus ihrer Distanziertheit dem herrschenden Elend in der Welt gegenüber herausholen. Im Oltner Stadtzentrum darf die studierte Fotografin im Rahmen von «Language of Color» aus dem Vollen schöpfen und ans Limit ihrer Kreativität gehen. Sie erhält alle Freiheiten, die Räumlichkeiten nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Die Wände mit ihrer unterschiedlichen Beschaffenheit dürfen von ihr frei bearbeitet werden und eine grosszügige Schaufensterfront bietet sich für den Einbezug in das Projekt an.

Language of Color – Maya Rochat
Das Plakat zur Ausstellung wurde von Roger Lehner entworfen, der sich auch um den gestalterischen Auftritt des Kolt kümmert.

Hinter «Language of Color» steht der Ausstellungsmacher Christoph Oeschger und sein Kunstlabel «Nomadic Art Projects». Oeschgers Name ist aufmerksamen Oltnerinnen ein Begriff. Seine letztjährige Ausstellung «Spirit of Exploration» gastierte im ehemaligen Herren-Globus an der Kirchgasse. «Für meine Kunstprojekte suche ich nach offenem Geist und einem Mix aus Menschen, die sich für Kunst interessieren und begeistern. Olten ist eine kulturell wache Stadt», sagt Oeschger über den Grund, weshalb er in die Stadt zurückkehrt. Dieses Mal in Begleitung von Maya Rochat.

«Die Sprache und Schönheit der Farben sind universell verständlich. Unsere Ausstellung soll die Menschen glücklich machen.»

Christoph Oeschger, Ausstellungsmacher

Als Musiker wird Oeschger den musikalischen Teppich zu «Language of Color» kuratieren. Sphärische Sounds von Pink Floyd, Ronin und Boris Blank sollen das Eintauchen in Rochats Farbkosmos zu einem schwerelosen, allumfassenden Erlebnis machen und die Wirkung der Farben zusätzlich verstärken. «Die Sprache und Schönheit der Farben sind universell verständlich. Unsere Ausstellung soll glücklich machen», erklärt Oeschger. Das Publikum werde dazu angehalten, die Welt um sich herum nicht grau in grau zu sehen. Die Sprache der Farben will die Belastungen des Alltags vergessen lassen und die Ängste der Gegenwart sollen der Zuversicht weichen. Die Besucher sollen hoffnungsvoll und mutgestärkt aus der Ausstellung hinaus ins Leben treten können.  

Maya Rochat, Language of Color
Eröffnung: 31.10.2020, 17–20 Uhr
Ausstellung: 1.11.–12.12.2020, FR 17–19 Uhr, SA/SO 12–17 Uhr
Nomadic Art Space, Baslerstrasse 9, 4600 Olten

mayarochat.com
nomadicartprojects.com

Kultur, Ausstellung, Maya Rochat

Der Bienenflüsterer

Fürs Feierabendbier ist der Tag noch zu jung. Schär-Sommer bestellt sich eine Cola, ohne Eis und ohne Glas, und zeigt sich zufrieden, als er auf dem Etikett liest, dass das Getränk nachhaltig gebraut wird. Die Galicia Bar, die sei fast so etwas wie sein zweites Wohnzimmer. Die schummrig leuchtende Schirmlampe in seinem Rücken verleiht seiner Aussage gemütlich Nachdruck. Zu Gast im Galicia ist der Grüne Gemeindeparlamentarier regelmässig dann, wenn er an einer Sitzung von «Olten im Wandel» teilnimmt. Auch an freien Tagen trifft man ihn öfters in Alex Capus’ Lokal. «Weil ich gleich um die Ecke wohne und mich bislang nicht entscheiden konnte, welches der Drei-Tannen-Biere mein absoluter Favorit ist», erzählt der 33-Jährige, während er seine blaue Windjacke abstreift und den schwarzen Hoodie zurechtrückt.

Der Ostschweizer Dialekt ist nur noch ein Schatten seiner selbst. «Du tönst wie ein Zürcher», heisst es in Olten nicht selten, wenn Schär-Sommer den Mund aufmacht. Aufgewachsen in Grabs, im sonnenverwöhnten St. Galler Rheintal, reiste Schär-Sommer in seiner Kindheit mindestens einmal im Jahr mit der Familie ins Mittelland. Jeweils zu Weihnachten, wenn ein Besuch bei seiner Grossmutter in Rothrist anstand. Der Nebel der längst vergangenen Dezembertage hängt bis heute in seiner Erinnerung. Vor sechs Jahren, nach dem ETH-Studium als Maschinenbauingenieur, kam Schär-Sommer mit seiner damaligen Partnerin und heutigen Ehefrau nach Olten, um zu bleiben. Jobs in Basel und Olten gaben den Anlass.

Raphael Schär in der Galicia Bar in Olten

Seither engagiert sich Schär-Sommer im hiesigen Gemeindeparlament für die Grünen und ist an verschiedenen lokalen Projekten und Initiativen beteiligt. Als Mitgründer von «Olten im Wandel» versucht er unter anderem mit der RestEssBar an der Rosengasse, der Verschwendung von Lebensmitteln Einhalt zu gebieten, er sitzt im Vorstand der Grünen Olten, und als Helfer im Naturfreundehaus auf dem Rumpel steht er regelmässig früh auf, um als Koch, Kellner und Hüttenwart müdes Wandervolk aufzupäppeln.

«Weil ich die Debattenkultur in unserer Wohngemeinschaft aufrechterhalten wollte, kam für mich der Beitritt zu den Grünliberalen nicht in Frage.»

Raphael Schär-Sommer

Die Entscheidung, einer Partei beizutreten, fiel bei Schär-Sommer vor rund zehn Jahren. Ein Mitbewohner seiner damaligen Wohngemeinschaft trat bei den Jungen Grünliberalen ein und fragte Schär-Sommer, ob er es ihm gleichtun möchte. «Weil ich die Debattenkultur in unserer WG aufrechterhalten wollte, kam für mich der Beitritt zu den Grünliberalen nicht in Frage. Ich entschied mich für die Jungen Grünen.» Wo er sich von Beginn weg wohlgefühlt habe, schiebt er nach. Theoretisch hätte das mit der Parteiwahl aber auch andersherum herauskommen können.

Nach seinem Entscheid, für den Oltner Stadtrat zu kandidieren, beschäftigt Schär-Sommer zurzeit die Frage, wie es für ihn nach einer Wahl weitergehen würde. Feststeht, dass er weiterhin in einem Teilzeitpensum als Ingenieur im Bereich Gebäudesimulation arbeiten möchte. «Ich vergleiche das mit der Situation von werdenden Eltern, die nach der Geburt der Kinder die berufliche Tätigkeit nicht komplett einstellen möchten.»

Das politische Klima in Olten nimmt er als zweischneidig wahr. «Die Zusammenarbeit ist einerseits freundschaftlich. Anderseits stört die Polarisierung.» Die angestrebte bürgerliche Listenverbindung sieht er als ungutes Produkt dieser zwei Fronten. «Ich würde mir eine stärkere Mitte wünschen, die Akzente setzt und damit vermehrt mitentscheidet und mitträgt, wohin es mit der Stadt geht.» Mit der Listenverbindung der Bürgerlichen habe man sich davon aber komplett verabschiedet. Versöhnlich stimmt: Auch wenn im Parlament zuweilen die «Köpfe eingeschlagen werden», stehe einem Feierabendbier nach hitziger Debatte nie etwas im Weg.

Als Ingenieur glaubt Schär-Sommer nicht an Wunder, sondern an Zahlen und Fakten. «Wenn man etwas nur aus einem Gefühl heraus erklären kann, reicht mir das nicht. Ich will die Gründe erfahren, weshalb etwas ist, wie es ist.» Dafür scheut er sich auch nicht, das Telefon in die Hand zu nehmen und bei den Verantwortlichen nachzufragen, wenn für ihn eine Aussage oder ein Entscheid nicht nachvollziehbar ist. Selbst wenn ihn die Sache nicht persönlich betrifft.

Zuhause unterwegs

Auf ein eigenes Auto verzichtet Schär-Sommer. Weniger sei manchmal mehr. «Je nachdem, wie man es sieht, gehören uns 2’500 Autos», sagt er, der ein Fahrzeug bei «Mobility» mietet, wenn das Reiseziel nicht zu Fuss, per Zug oder Velo erreichbar ist. Sein erstes und gleichzeitig letztes Auto war ein VW-Bus, den er für einen Europatrip gemeinsam mit Kollegen umbaute. Das war zwischen Kantizeit und Studium, also ziemlich lang her. Heute reist das Ehepaar bevorzugt mittels Muskelkraft statt Treibstoff. Für den vergangenen Sommer war eine Veloreise in Schottland geplant. Corona geschuldet war die Tour jedoch zu Ende, bevor man lospedalen konnte, und man entschied sich, die freien Tage in der Nähe zu verbringen. Der neue Plan: Einmal rund um die Schweiz. Drei Wochen, knapp tausend Fahrkilometer. Tagsüber auf dem Sattel, die Nächte in der Jugendherberge oder zu Gast bei Freunden. «Höllisch heiss war es teilweise, aber auch wunderschön, die Schweiz auf diese Art zu entdecken.»

«Unser Garten steht vor einem totalen Neuanfang.»

Raphael Schär-Sommer

Vor Kurzem wurden im Gemeinschaftsgarten an der Klarastrasse zwei Erdsonden für die Heizung und Warmwassergewinnung installiert. Gut für die Nachhaltigkeit, ein Desaster fürs Gärtnerauge. «Unser Garten steht vor einem totalen Neuanfang», erzählt Schär und schmunzelt, wenn er an den heimischen Acker denkt. Gestalterische Arbeiten gehören nicht zu Schärs Stärken, wie er sagt. «Geht es darum, ein Projekt umzusetzen, ist die Technik nie das Problem. Soll es aber optisch etwas hermachen, ziehe ich lieber jemanden bei, der etwas von der Materie versteht.» Dank der Nachbarschaft im Genossenschaftshaus, wo er gemeinsam mit seiner Frau in einer der vier Wohnungen lebt, ist Hilfe immer nur eine Bitte entfernt. 

Für den engagierten Naturliebhaber ist der Garten mehr als nur Erholungsraum. Derzeit liegt sein Augenmerk auf den Wildbienen. «Herkömmliche Nistkästen mit hohlen Niströhren, wie sie heute in vielen Gärten stehen, sind nur für zwanzig Prozent aller Arten geeignet.» Deshalb experimentiert Schär-Sommer zurzeit mit zwei verschiedenen Sandsorten, deren Mischung – trägt sein Plan Früchte – sich als ideales Bausubstrat für Wildbienen eignet. Auch die Vorbereitungen auf die Stadtratswahlen im kommenden Frühling sind angelaufen. Schär-Sommer hat sich dazu ein kleines Wahlkampfteam zusammengestellt. Ein paar Freunde unterstützen ihn auf seinem Weg, nicht zuletzt bei der ansprechenden Gestaltung der Website und des Wahlkampfmaterials.

Grüne Olten, Stadtratswahlen Olten

Auf zwei Rädern durch Olten: An diesen Stellen wird es für Velofahrer bisweilen ungemütlich

Der Trumpf der Kleinstadt: Alles Wichtige und weniger Wichtige liegt immer nur einen Katzensprung entfernt. Die perfekte Ausgangslage, um die Wege im Alltag auf dem Velo zurückzulegen. Eine gesunde Dosis Frischluft und sportliche Betätigung gibt es umsonst obendrauf. Aber Vorsicht! Schmale Radstreifen, parkierte Autos und Fahrverbote können der unbekümmerten Velofahrt einen herben Dämpfer versetzen. Wir haben uns umgehört und umgesehen, um zu erfahren, wo es in Olten für Velofahrerinnen zuweilen ungemütlich wird und wo man sich nicht nur während der kalten Saison warm anziehen muss.

Sälikreisel: Oh, mein Kreisel!

Sälikreisel Olten

An sich eine schlaue Erfindung, kann ein Kreisel für Velofahrer gefährlich werden. Vor allem dann, wenn er zweispurig und dazu noch stark befahren ist. Wer als Velofahrerin beim Sälikreisel vom Postplatz herkommend einfährt, um beispielsweise Einkäufe im Sälipark zu erledigen, sieht sich der Herausforderung gegenüber, heil da wieder rauszukommen. Auch die Einfahrt von der Sälistrasse ist während der Rushhour kein leichtes Unterfangen. Entsprechend selten sind im Sälikreisel Velofahrer anzutreffen.

Postkreuzung: Stadtseitenwechsel für Fortgeschrittene

Postkreuzung Olten

Um von der Holzbrücke kommend auf die andere Stadtseite zu gelangen, bietet sich die Postkreuzung an. Vorsicht ist geboten beim Weg über die Aarburgerstrasse die Unterführungsstrasse hinunter auf dem schmalen Radstreifen entlang der Unterführungsmauer. Bevor die Unterführung erreicht ist, wartet jedoch, besonders im abendlichen Stauverkehr, eine weitere Gefahr: Als Radfahrer geht man inmitten der Blechlawine schnell unter. Insbesondere dann, wenn die Veloampel zwar Grün zeigt, die Automobilistinnen von Dulliken nach Aarburg fahrend aber im selben Moment möglichst rasch ans Ende des Staus aufholen wollen.

Winkelunterführung: Verwinkelt, verlockend, verboten

Winkelunterführung Olten

Wer Olten sein Revier nennt, dürfte sämtliche Winkel der Winkelunterführung kennen. Zum Lieben zu verschroben, zum Hassen zu praktisch. Für Menschen auf dem Velo eine lockende Alternative zur verkehrsgeplagten Postkreuzung. Obwohl in der Winkelunterführung offiziell ein Fahrverbot gilt, wird dieses tagtäglich von unzähligen Velofahrern unbeachtet gelassen.

Gösgerstrasse: Velostreifen führt ins Nirgendwo

Gösgerstrasse Olten

Auf der Gösgerstrasse Richtung Gösgen, gleich nach dem Bahnhof auf Höhe der Velostation, endet der Fahrradstreifen ohne jegliche Vorankündigung im Nichts. Schluss, aus, fertig.

Holzbrücke/Salzhüsliweg: Lass dich überraschen

Holzbrücke, Salzhüsliweg Olten

Eine Sekunde abgelenkt, kann es an der Abbiegung bei der Holzbrücke hinunter Richtung Badi schnell einmal brenzlig werden. Der Salzhüsliweg ist schmal und von Fussgängerinnen und Velofahrern gleichermassen oft und gern benutzt. Es ist jedes Mal eine neue Überraschung, was einen nach der Verzweigung erwartet. Überraschungen an sich sind eine gute Sache, solange es keine bösen sind. Abhilfe schaffen und eine Übersicht gewährleisten würde ein Verkehrsspiegel. Ein kleiner Helfer mit grosser Wirkung.

Marktgasse: Hier kommst du nicht rein

Marktgasse Olten

Umstritten und bei Velofahrern unbeliebt, aber respektiert: Das Fahrverbot in der Marktgasse. Ein Augenschein zeigt: Ein Grossteil der Menschen, die mit dem Velo unterwegs sind, hält sich ans Verbot, steigt ab und schiebt das Velo oder nimmt den Umweg über die Zielempgasse und den Klosterplatz (siehe nächster Punkt). Für die trainierten Waden der Velofahrerinnen verkraftbar, finden wir.  

Klosterplatz: Die Götter müssen verrückt sein

Die Kapuzinermönche am Klosterplatz lassen sich an einer Hand abzählen. Anders die Zahl der vielen Autos. Weil Bodenmarkierungen fehlen, kann es schnell chaotisch werden auf dem kleinen Platz im Stadtzentrum. Velofahrern, die vom Graben her unterwegs sind, kommen nicht selten Automobilisten auf der Suche nach freien Parkplätzen frontal entgegen. Oder diese stehen beim Manövrieren Velofahrerinnen auf der nationalen Jurasüdfuss-Route mitten auf der Fahrbahn im Weg.

Citykreuzung: Paradise City, aber nicht für Velofahrer

Citykreuzung Olten

Auf der Citykreuzung herrscht den ganzen Tag über ein kleines bisschen Grossstadtfeeling. Die Ampeln ändern ihre Farben in stetem Wechsel und der Verkehr rollt in alle vier Himmelsrichtungen. Hier sind keinerlei Fahrradstreifen auszumachen beziehungsweise nur noch klägliche Reste davon. Darum müssen Velofahrer ruhig Blut bewahren und die Kreuzung möglichst rasch und unbeschadet hinter sich bringen. Stay strong, little rider!

Stationsstrasse: Mit Dings kein Bums

Zu guter Letzt erfreuliche Neuigkeiten für Velofahrerinnen, die zum Beispiel vom Kleinholz herkommend ins Hammerquartier wollen und Abkürzungen schätzen. Über die Stationsstrasse geht das bequem, ohne zuerst hinunter bis zur Schützi zu fahren, um dann gleich wieder hinaufstrampeln zu müssen. Vor gar nicht langer Zeit wurden die Geleise, die neben dem Silo die Strasse queren, mit einem Gummiprofil versehen. Weder beim Werkhof noch bei der Stadt war mit letzter Sicherheit zu erfahren, wer für die gute Tat verantwortlich ist, aber sie verrichten ihren Zweck und schützen Velofahrer vor gefährlichen Stürzen. Eine sehr feine Sache.

Velo, Mobilität, Verkehr

Timmermahn knöpft sich die Liebe vor

Die gute Nachricht zuerst: Timmermahn ist wieder unterwegs. Die schlechte: er ist bereits weitergezogen. Schwarzer Kapuzenpulli drunter, lässige Jeansjacke drüber und mit einem Haarschopf gesegnet, von dem sich das Gros seiner Altersgenossen bereits vor Jahrzehnten verabschiedet haben dürfte – so nimmt Timmermahn Platz am kleinen Tisch auf der Bühne des Theaterstudio Olten und wirkt, als wäre er schon immer dort gesessen. Ohne grosses Tamtam beginnt er mit dem, wofür sein Publikum die Maske ohne zu stänkern auch gerne eine Stunde länger aufsetzen würde. Und ehe die Gäste sich verhören, hängen sie an Timmermahns Lippen, schmunzeln, lachen und schütteln bisweilen die Köpfe ob seiner Formulier- und Fabulierkraft und der wahnwitzigen Wendungen in seinen Geschichten.

Timmermahn könnte einen Abend lang über Nachttöpfe, Krankenkassenwechsel oder Konfektionsgrössen schwadronieren, ohne dass beim Publikum nur ein Hauch von Langeweile aufkäme. In seinem aktuellen Programm «Love Stories» widmet der Erzähler, Maler, Autor und Regisseur sich jedoch einem gehaltvollen Thema, nämlich der Liebe. In sechs zusammenhangslosen Kapiteln nimmt er die Zuhörerinnen mit auf eine sonderbare Reise, unter anderem auf die Balearen, wo sich die adelige Rosmary von Bergen kurz vor ihrer Heirat in den braungebrannten, wassermelonenjonglierenden Strandboy Carlos Rodriguez verguckt. In einer anderen Geschichte verlässt Heidi ihren Grossvater und den Geissenpeter, um der Enge der Bergwelt zu entkommen. Mit einem gewissen Henry Miller bezieht sie im Pariser Vorort Clichy eine kleine Wohnung und findet dort ihr Glück.

Love is in the air bei Timmermahn im Theaterstudio Olten.

Bei «Love Stories» sind nur Programmtitel und hie und da die Namen der Protagonisten englisch gefärbt. Alles andere kommt im heimeligen Berndeutsch daher, das für Oltner Ohren nicht allzu fremd klingen mag, «in Zürich aber schon Exotenstatus geniesst», wie Timmermahns Agentin, Katha Langstrumpf, nach der Show erzählt. Es sei ein gutes Gefühl, nach der Coronapause endlich wieder mit Timmermahn auf Achse zu sein. Gleich zweimal hintereinander hat Timmermahn Anfang Oktober in Olten seine Geschichten zum Besten gegeben. «Love Stories» hätte bereits vergangenen April im Theaterstudio aufgeführt werden sollen, wäre nicht die Pandemie dazwischengekommen und hätte den Liebesgeschichten ein Ende gesetzt, bevor sie in Fahrt kommen konnten. «Wir spüren noch immer eine gewisse Zurückhaltung beim Publikum», sagt Daniel Hoch vom Theaterstudio zum Ticketverkauf für die Timmermahn-Vorstellungen. Seit Mitte September zeigt das Theater wieder Produktionen. Das Publikum trägt Maske und zwischen den Besuchergruppen bleibt jeweils ein Sitz frei.

Typisch für Timmermahns Geschichten sind unter anderem seine absurd in die Länge ausschweifenden Aufzählungen. Derer bedient er sich vorzugsweise, wenn er Mahlzeiten beschreibt, aber auch die Sommerluft am Meer duftet bei Timmermahn nicht einfach nur nach «Salz und Wasser», sondern nach «Kapuzinerblumen, Verveinen, Granium- und Heliotrop- und Asphodelusblüten, Türkenbundlilien, Hibiskus, Orchideen, Strauchmalven, Rotklatschdahlie, Malven- und Lavendelrosen, Iristrichter, Winterziermohn, Beduinen, Rhododendron und Passionsblumen». Zum Abschluss des Abends, nachdem Timmermahn das letzte Kapitel seiner Liebesgeschichten geschlossen hat, folgt ein langer Videoabspann, in dem er einer Hundertschaft «Involvierter» dankt. Darunter dem «Nabucco-Chor Olten», der «Autobahnraststätte Deitingen» und «Roscher Federer». Die Ideen scheinen bei Timmermahn unendlich zu sprudeln und es sieht danach aus, als denke er nicht so schnell daran, mit dem Erzählen aufzuhören. In zwei Jahren, im Oktober 2022, feiert er seinen achtzigsten Geburtstag in seinem Stammlokal, in der Mühle Hunziken in Rubigen. Die Tickets zu Timmermahns grosser Birthdaysause sind bereits jetzt erhältlich.

«Usflug mit Grosi» zählt zu Timmermahns Klassikern.

Kultur, Timmermahn, Theaterstudio Olten