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Der Quereinsteiger

Wer Benvenuto Savoldelli per Mail kontaktiert, darf es nicht eilig haben. Der Finanzdirektor und Jurist nimmt sich die Freiheit, nicht immer erreichbar zu sein und in Ruhe der Sammlerei nachzugehen.
15. Januar 2021
Text: Adrian Portmann, Fotografie: Timo Orubolo

Wie aus dem Nichts erschallt ein durchdringendes Klingeln aus dem Nebenraum. Das Mobiltelefon kann es nicht sein, denn ein Handy besitzt Benvenuto Savoldelli keines. Habe er nie, und werde er voraussichtlich auch nie, wie er bestimmt sagt. Nachdem der schrille Schrei nach Aufmerksamkeit so abrupt endet, wie er erklungen ist, klärt Savoldelli auf: «Die Notstromsicherung des Servers, der bald die Batterien ausgehen.» Wie war das noch mal? Ein Stadtrat, Anwalt und Verbandsgeschäftsführer ohne Handy? «Ich lass mich ungern ablenken.» Ein Leben im Flugmodus führt der 58-Jährige deshalb nicht. Um seine Mails zu checken, hat er sich am Morgen, Mittag und Abend Zeitfenster reserviert. «Ich will meinen Tagesablauf selbst bestimmen und nicht durch ein Gerät diktieren lassen.» Manchmal lässt er sich auch einen Tag Zeit beim Beantworten einer Nachricht. «Dann kommt es vor, dass sich die Leute telefonisch bei mir erkundigen, ob ich das Mail gesehen habe», erzählt Savoldelli leicht amüsiert.

Weniger amüsant findet er es, wenn die Leute an einer Sitzung unter dem Tisch ständig an ihren Handys herumdrücken. «Das empfinde ich als respektlos.» Wenn sich die Kollegen an der montäglichen Stadtratssitzung über die Neuigkeiten in der umtriebigen Olten-Facebookgruppe unterhalten, kann Savoldelli nicht mitreden. Denn soziale Medien nutzt er nicht. «Meistens geht es dort nur um Dinge, die einen aufregen. Dafür ist mir die Zeit zu schade.» Auch während seiner Stadtratskandidatur will er abstinent bleiben, schliesslich habe er auch bei den Wahlen 2013 und 2017 Facebook und Konsorten nicht genutzt und sei trotzdem gewählt worden.

Stossgebete für bessere Noten

Als einer der wenigen Kandidierenden stammt Savoldelli nicht aus der Region, sondern ist in Bergamo zur Welt gekommen. Seine ersten Schuljahre verbrachte er in einem Internat, das von katholischen Nonnen und Priestern geleitet wurde. Seine Eltern lebten derweil bereits in der Schweiz. Savoldellis Vater kam mit fünfzehn Jahren nach Genf und arbeitete dort auf einem Bauernhof. Später lebte er im sankt-gallischen Bazenheid und im Bündnerland und war im Tunnelbau tätig. Die Mutter arbeitete im Gastgewerbe. Eigentlich wollten die beiden nach Italien zurückkehren, sobald Savoldellis jüngerer Bruder schulpflichtig würde. Doch so weit kam es nicht. Stattdessen holten sie ihren älteren Sohn 1971 zu sich in die Schweiz, nach Olten, wo sie sich in der Zwischenzeit niedergelassen hatten. Savoldelli erinnert sich an die Einführungsklasse im Säli-Schulhaus und an seine erste Schweizer Lehrerin, Frau Grassi, mit der er regelmässig «Unstimmigkeiten» hatte.

«Also betete ich ein Ave-Maria und Vaterunser nach dem anderen.»

Benvenuto Savoldelli

Im Quartier Erlimatt, wo die Savoldellis wohnten, nannte man sie «die Tschinggen». «Wenn mir das zu Ohren kam, bin ich richtig durchgedreht und habe mich fast nicht mehr gespürt», erzählt Savoldelli, der nach der Einführungsklasse den regulären Unterricht im Bannfeld besuchte. Zu den sprachlichen Defiziten des Einwanderersohnes kam die Tatsache, dass er der Jüngste und Kleinste in der Klasse war. Alles in allem sei er aber gut aufgenommen worden von seinen Mitschülern. Man verstand sich, auch wenn die neuen Freunde ein ganz anderes Deutsch sprachen, als er es in der Schule lernte. Mathematik zählte zu seinen Lieblingsfächern. «Weil die Zahlen in beiden Sprachen dieselben sind.» Weniger gute Erinnerungen verbindet er mit dem Deutschunterricht. In Diktaten habe er zuverlässig Einser geschrieben. Seine Grossmutter habe ihm geraten, vor den Prüfungen auf dem Schulweg zu beten. «Also betete ich ein Ave-Maria und Vaterunser nach dem anderen.» Leider bescherte auch die Beterei keine besseren Noten.

Vom Eisfeld aufs Politparkett

Bevor Savoldelli 2013 zum ersten Mal in den Stadtrat gewählt wurde, habe er mit Politik nichts zu tun gehabt. Drei Tage vor der Nominationsversammlung der FDP habe man ihn angefragt, ob er für die Partei kandidieren würde. «Du hast den EHCO gerettet, dann wirst du auch dafür sorgen, dass die Stadt gut durch die Krise kommt», habe man ihm gesagt, erzählt Savoldelli, der als ehemaliger Präsident des EHCO den Verein vor dem Ruin bewahrte. In der Oltner Stadtkasse klaffte zu diesem Zeitpunkt ein Loch von 25 Millionen Franken. Sieben Jahre später und kurz vor einer möglichen dritten Amtszeit fühlt sich Savoldelli noch immer nicht so richtig als Politiker. Grosse Reden zu schwingen, sei nicht seine Art. «Das stinkt mir.» Dafür, dass er sich im Parlament nur selten zu Wort meldet, werde er kritisiert. Vielleicht hat es mit dem Klima im Gemeindeparlament zu tun, das sich seiner Ansicht nach in den letzten Jahren verändert hat. «Ich habe den Eindruck, dass die Sachebene öfters mal nebensächlich ist und es persönlicher geworden ist», sagt Savoldelli. Auch die Tonart in den Diskussionen sei aggressiver geworden, was ihm missfalle. Dagegen schätze er die Stimmung im Stadtrat, wo Ansichten und Meinungen voneinander abweichen könnten, ohne dass jemand persönlich angegriffen werde.

Obwohl Savoldelli sich als Quereinsteiger in Sachen Politik bezeichnet, war er in seiner Jugend nicht ganz unpolitisch. In der Kanti habe man ihm den Übernamen «der rote Ben» gegeben. Zu dieser Zeit habe er sich für die Legalisierung von Cannabis eingesetzt, obwohl er als ambitionierter Velofahrer selbst nie gekifft und sein allererstes Bier an der Maturabschlussfeier getrunken habe. Als in Olten die Reithalle noch stand, seien die Feierlichkeiten zum 1. Mai die grössten Feste der Italiener gewesen, erinnert sich Savoldelli. Damals sei die SP noch eine richtige Arbeiterpartei gewesen und die italienische Gemeinschaft habe die Gelegenheit zum Feiern genutzt, darunter auch viele Leute, die mit der Politik nichts anzufangen wussten.  

Auch heute noch ist er der Meinung, dass es weit grössere Probleme gibt als «ein paar Kiffer». Savoldelli verweist auf die Selbstverantwortung. Mit Drogen befasst sich Savoldelli auch in seiner Funktion als Richter und Vizepräsident in der Disziplinarkammer für Dopingfälle von Swiss Olympic. In den Gremien von Swiss Olympic sitzen jeweils drei Personen – zwei Juristinnen und ein Arzt. Gemeinsam urteilen sie über Sportler, die beim Dopen erwischt werden. Beim jüngsten Fall habe es sich um einen Fussballer gehandelt, der mit seinem aufgemotzten Auto in eine Kontrolle kam und bei dem in diesem Zusammenhang Dopingmittel gefunden wurden. «Er erhielt eine Sperre von vier Jahren», sagt Savoldelli, während er den Ordner mit den Urteilen zurück ins volle Regal stellt. 

«Wir haben ein so wunderbares Land und es geht den Menschen in kaum einer anderen Gegend so gut wie hier.»

Benvenuto Savoldelli

Einen Ausgleich zu seiner Arbeit findet Savoldelli im Sammeln. Seit er fünfzehn Jahre alt ist, ist er Mitglied im Philatelistenverein Olten. Briefmarken sammelt er zwar nicht mehr, dafür historische Ansichtskarten. Dabei beschränke er sich neben seiner Heimatstadt Olten auf Gemeinden in den Kantonen Solothurn und Aargau. Die Karten sind fein säuberlich in Ansichtsbüchern abgelegt. Jene Exemplare, die er verkaufen will, warten in hölzernen Karteikistchen auf der Fensterbank des Anwaltsbüros darauf, versteigert zu werden. «Dafür ist das Internet ganz praktisch.» Die älteste Ansichtskarte in seiner Sammlung stammt aus dem Jahr 1878. Es handelt sich um eine schön illustrierte Neujahrskarte in deutscher und hebräischer Sprache, adressiert nach Lengnau (AG). Im 18. und 19. Jahrhundert waren Lengnau und das Nachbardorf Endingen die einzigen Orte der Schweiz, wo sich Juden niederlassen durften. «Eine solche Karte ist ein Zeitdokument. Das fasziniert mich.» Savoldelli ist aber keiner, der vergangenen Zeiten nachtrauert. Im Gegenteil. Er findet, dass sich die Schweizer immer viel schlechter machen als sie sind. Er stört sich an der negativen Grundhaltung. «Wir haben ein so wunderbares Land und es geht den Menschen in kaum einer anderen Gegend so gut wie hier.» Eigentlich hätte man allen Grund dazu, viel stolzer zu sein auf das eigene Land.

Dasselbe wünscht er sich für Olten. «Ich glaube, wir sollten viel positiver unserer Stadt gegenüber eingestellt sein. Das gäbe eine ganz andere Ausstrahlung gegen aussen.» Nicht ohne Grund beantragte Savoldelli 1998 den Schweizer Pass. Kaum erwähnt, ist er auch schon mit einem dicken Bundesordner in Schweizer Rot unter dem Arm zurück. Er legt ihn auf den Tisch und schlägt ihn, ohne lange suchen zu müssen, auf. Der Bericht zu seiner Einbürgerung vor 22 Jahren kommt zum Vorschein. Damals stellte er sich dem «Verhör» der Bürgerkommission. «Ein Ausländer ohne Süchte», steht in charakterloser Schreibmaschinenschrift im Leumundsbericht der Kantonspolizei abschliessend. Auch eine Art Wahlempfehlung.


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