Und schon neigt sich mein Austauschjahr in Trondheim dem Ende zu. Momentan gilt es, sich fleissig auf die abschliessenden Semesterprüfungen vorzubereiten. Wobei «fleissig» vielleicht nicht ganz das passendste Wort ist. Denn so eine Lernphase hier in Norwegen läuft so ganz anders ab, als ich es mir von der Schweiz her gewohnt bin. Während in der Schweiz das studentische Sozialleben vor den Prüfungen auf ein Minimum heruntergefahren wird, scheint es in Norwegen richtiggehend aufzublühen. Hier ein kleiner Auszug aus den Geschehnissen der vergangenen Wochen.
Freitag, der 6. Mai, war der letzte Schultag des Semesters. Zur abschliessenden Fragestunde erschienen aber nur drei von rund 65 eingeschriebenen Studenten. So zumindest entnahm ich es dem Mail eines etwas enttäuschten Professors. Ich gehörte nämlich auch nicht zu jenen drei anwesenden Musterschülern. Zu jenem Zeitpunkt weilte ich bereits seit drei Tagen im schwedischen Örebro. Es galt, sich mit dem Trondheimer Studenten-OL-Klub NTNUI auf die 10Mila vorzubereiten, einen der grössten OL-Staffelwettkämpfe überhaupt. Man rennt sie in Mannschaften von zehn Läufern die ganze Nacht hindurch. Massenstart ist um 21:30 Uhr und das Siegerteam läuft ungefähr um 7 Uhr ein. Für den OL-Klub NTNUI ist es jeweils das Highlight des Jahres. Dementsprechend gab es etliche Studierende, die mündliche Prüfungen und Abgaben auf unbestimmt verschoben oder sie völlig verkatert montagmorgens wahrnahmen. Denn nach einer schlaflosen Wettkampfnacht durfte man sich die rund elfstündige Heimfahrt im traditionellen Bankettbus nicht entgehen lassen.
So bestand die erste Prüfungswoche hauptsächlich darin, sich von den Strapazen des Wochenendes zu erholen. Alle konnten sich so erfolgreich ausruhen, dass man am Freitag in aller Frische mit denselben OL-Läufern noch ein zweites Mal auf die 10Mila anstossen konnte. Diesmal auf festem Boden. Spätestens am Folgetag meldete sich zum ersten Mal das schlechte Gewissen. Wie viele Seiten hätte ich zur selben Zeit in der Schweiz schon gelesen und zusammengefasst? Wie viele Aufgaben hätte ich schon gelöst? Auf jeden Fall deutlich mehr als mein norwegisches Ich.
Wahrscheinlich war es nur ein blöder Zufall, dass es sich beim darauffolgenden Dienstag um den 17. Mai handelte. Der norwegische Nationalfeiertag wird derart gross gefeiert, dass es gleichbedeutend mit drei lernfreien Tagen ist. Den ganzen Montag galt es, sich für das grosse Fest am Abend vorzubereiten, wo es dann auch richtig zur Sache ging. Polizeieinsatz mit Hunden inklusive. Am 17. Mai selbst wurde zunächst gediegen gebruncht, bevor man sich in die Innenstadt begab, um dem grossen Umzug beizuwohnen. Die ganze Stadt schien auf den Beinen zu sein und alle hatten ihre schönste Sonntagskleidung aus dem Schrank geholt. Noch nie zuvor hatte ich mehr Männer in Anzügen gesehen. Und die Frauen in ihren traditionellen Trachten liessen jede mir bis dahin bekannte Trachtenschau wie einen Kindergeburtstag aussehen. Kaiserwetter sei Dank endete auch dieser Tag erst spät in der Nacht.
Wie aber kann es sein, dass kaum jemand vor den sich nähernden Prüfungen in Panik verfiel, sondern einfach munter weiter vor sich her prokrastiniert wurde? Womöglich könnte es ein etwas anderes Verhältnis gegenüber Arbeiten sein. In meiner Wahrnehmung definiert man sich in der Schweiz sehr stark über seine Arbeit. Man ist, was man schafft. Der Job steht an erster Stelle und alles andere kommt erst danach. In Norwegen hingegen scheint es mir, dass Arbeiten eher als Mittel zum Zweck angesehen wird, um sich das Leben nach dem Feierabend zu finanzieren. Kaum je drehen sich Gespräche um den nervigen Chef oder die grosse Projektarbeit. Viel lieber thematisiert man Erlebnisse und Vorhaben in der Freizeit. Ich kann diese gewagte Theorie mit keinerlei Studien oder dergleichen belegen. Allerdings haben auch andere Austauschstudenten, mit denen ich darüber diskutiert habe, ähnliche Beobachtungen gemacht.
Ob meine Theorie wissenschaftlich erklärbar ist oder nicht, auf jeden Fall fielen in den weiteren Verlauf der Prüfungsphase noch die inoffiziellen norwegischen Bier-OL-Meisterschaften sowie das Auffahrtswochenende mit vier OL-Wettkämpfen und das Pfingstwochenende mit deren drei. Klar, niemand hat mich gezwungen, das ganze Mammutprogramm mitzumachen. Aber das Angebot war einfach zu verlockend und die Versuchung schlichtweg zu gross.
Nun endet nach Pfingsten die «stressige» Prüfungszeit. Danach darf man die Semesterferien geniessen, auch ganz ohne schlechtes Gewissen. Bleibt einzig abzuwarten, ob ich alle Prüfungen bestanden habe.
*Marius Kaiser (22) kommt aus Starrkirch-Wil und lebt seit vergangenem Sommer für ein Jahr in Norwegen, wo er Bauingenieurswesen studiert.
In Oltens Wäldern sind viele Tiere heimisch: Eichhörnchen, Rehe, Vögel aller Art und unzählige Insekten, die durchs Unterholz kreuchen und fleuchen. Elefanten aber gehören nicht dazu. Warum also gibt es in Olten zwei Elefantenplätze – einer im Säliwald und einer im Bannwald?
In der Schweiz sind die Gemeinden für die Benennung von Strassen und Plätzen zuständig. Also richtete ich meine erste Anfrage an den Stadtplaner Lorenz Schmid. Wie, fragte ich ihn, kamen die Elefantenplätze zu ihrem Namen? «Beide Elefantenplätze», schrieb er mir umgehend zurück, «liegen im Wald und die Bewirtschafterin sei die Bürgergemeinde Olten.» Diese Antwort war zugegebenermassen nicht sonderlich ergiebig. Aber noch war ich guten Mutes.
Die zweite Mailanfrage ging also raus an die Bürgergemeinde Olten. Die Reaktion erfolgte prompt. Die Bürgerschreiberin Arlette Maurer wies mich darauf hin, dass ich mit meinen Fragen bei ihnen an der falschen Adresse sei und ich doch bitte im Stadtarchiv nachfragen solle.
Gesagt, getan. Auch hier musste ich nicht lange auf eine Antwort warten. Der Stadtarchivar Dr. Marc Hofer konnte mir aber ebenfalls nicht weiterhelfen. Immerhin erklärte er mir, wieso diese Frage so knifflig war. Die Bezeichnung Elefantenplatz sei nämlich keine offizielle Strassenbezeichnung und folglich gebe es keine entsprechenden Beschlüsse des Stadtrats oder einer Kommission. Er vermute, dass es sich um eine volkstümliche Bezeichnung handle, die sich irgendwann einmal eingebürgert habe. Auch das Solothurner Ortsnamenbuch helfe leider nicht weiter. Beim Elefantenplatz im Säliwald sei jedoch ein Bezug zum nahegelegenen Tierpark denkbar.
Ich war verwirrt. Gefühlte drölfzillionen Stunden habe ich bereits im Wildpark Mühletäli verbracht. Meist am Wochenende vor acht Uhr morgens. Die Hälfte meines Einkommens habe ich in Tierfutter investiert und ich bin mir trotz Stilldemenz und latenter Müdigkeit sicher, dem Kind kein einziges Mal dabei zugesehen zu haben, wie es einen Elefanten gefüttert hat. Damhirsche und Zwerggeissen: Ja; Elefanten: Nein. Dieser Hinweis schien mir eine Sackgasse.
Die nächsten beiden, bereits leicht verzweifelten Anfragen gingen raus an den Förster Georg Nussbaumer und die Stadtführerin Emma Anna Studer. Beide hatten keine Ahnung, wie die beiden Elefantenplätze zu ihrem Namen gekommen sind. Studer hatte aber einen Tipp für mich: Einer, der immer und auf alles eine Antwort wisse, sei der Alt-Stadtarchivar Martin Eduard Fischer. Ich solle ihn fragen. Und tatsächlich: Hier wurde mir geholfen.
«Der Elefantenplatz hat im Grunde nichts mit Elefanten zu tun», erklärte mir Fischer. Der Name sei vielmehr ein Verweis auf die Pfadfinder. Bei den «Wölfli» – einer Vorstufe der Pfadfinder – spielte das Dschungelbuch mit der Geschichte von Mogli dem Menschenkind, Balu dem Bären und Hathi dem Elefantenoberst eine wichtige Rolle. Samstags seien er und die anderen Pfadi-Kinder in den Wald gezogen, um auf dem Elefantenplatz im Bannwald zu spielen und zu bräteln. Dabei haben sie oft einen Tanz aufgeführt, bei dem jeweils ein Kind den Anfang machte.
«Es bewegte sich wie ein Elefant vor den Kameraden hin und her. Auf ein bestimmtes Wort hin fasste es ein anderes Kind an den Schultern. Und schon tanzten sie zu zweit. Dies ging so weiter, bis alle Kinder bei der Elefanten-Polonaise dabei waren.» Fischers Ehefrau erinnerte sich an den Text des Liedes:
Ei Elefant, dä tanzt e so Imene Spinnefädeli noche. Är findet das halt däwäg nätt, Will är so gärn es Gspänli hätt!
Elefanten sind Herdentiere, die grossen Wert auf Gemeinschaft und Zusammenhalt legen. Dasselbe gilt auch für die Pfadfinder. So scheint es, als bestehe hier tatsächlich ein Zusammenhang. Dies bestätigt auch ein Eintrag auf der Webseite www.ortsnamen.ch: Der Begriff Elefant werde im Schweizerdeutschen ab und an als «Helfant» verballhornt, was wiederum zu «helfen» umgedeutet und in Olten mit der Pfadi in Verbindung gebracht wurde.
Somit scheinen Elefantenplätze schlicht und einfach Plätze im Wald zu sein, an denen sich die Pfadi in der Vergangenheit oft und gerne aufhielt. Ob dem Dschungelbuch und somit den Elefanten von den Pfadfindern heute noch immer eine so zentrale Rolle zugesprochen wird, kann ich nicht sagen. Ginge es allerdings darum, welches Tier die Pfadi-Mamis jeden Samstag am meisten beschäftigt, dann müssten die Elefantenplätze definitiv umbenannt werden – in Zeckenplätze.
*Rebekka Salm (42) wohnt seit einigen Jahren in Olten, arbeitet in Zürich im Asyl- und Flüchtlingsbereich, ist Autorin und Mutter einer Tochter.
«Wer so viel Zeit dort verbracht hat wie ich, liebt oder hasst das Spital.»
Deniz Kadioglu liebt es.
Als er ein Kind war, dachte er, alle Kinder müssten einmal pro Monat zu den Ärzten im Spital. «Noch bevor ich auf der Welt war, wussten meine Eltern, dass ich mit dieser Krankheit zur Welt kommen würde.»
Olten statt Istanbul
Deniz ist das jüngste Kind in der Oltner Familie Kadioglu. Seine Eltern waren vor mehr als 40 Jahren frisch verliebt in die Schweiz immigriert, weil eine Schreinerei in Olten dem Grossvater eine Stelle anbot. An einer Messe in der türkischen Metropole am Bosporus hatte er einem Oltner Schreinermeister mit seinem Handwerk imponiert. Die Kinder zogen nach. Doch das Wirtschaftsstudium von Deniz’ Vater war in der Schweiz nichts wert. Für die Familie liess er zurück, was er in der Heimat aufgebaut hatte, jobbte sich in der Schweiz durch. Gehilfe Restaurant, Maschinenführer. Ende der 80er-Jahre kam der erste Sohn zur Welt.
Ein Kind, das – von Schmerzen geplagt – oft weinte.
Die Ärzte waren ratlos. Die Eltern verzweifelt.
Bis ein Arzt eines Tages das Blutbild des Jungen genauer anschaute. Und dabei entdeckte, dass die roten Blutkörperchen nicht wie gewöhnlich rund, sondern sichelförmig geformt waren.
«Zu jener Zeit war diese Krankheit noch etwas sehr Neues», sagt Deniz Kadioglu. Für sein junges Alter spricht er wie ein Gelehrter. Hin und wieder faltet er die Hände ineinander. «Sie hat sich vor allem in Afrika und im Mittelmeerraum entwickelt, weil sie einen gewissen Schutz vor Malaria bietet.»
Die Ärzte verordneten aufgrund des Blutbilds von Deniz’ ältestem Bruder Gentests in der Familie. Und fanden, was sie vermutet hatten. Die Eltern trugen beide das Merkmal der Sichelzellenkrankheit auf dem Gen, ohne von der Krankheit betroffen zu sein. Ihrem ersten Sohn hatten sie beide das defekte Gen und somit die Krankheit vererbt. «Das ist eine sogenannt rezessive Krankheit», erklärt Deniz. Nur wer zwei defekte Gene hat, muss mit Symptomen leben.
Du darfst nicht
Der mittlere Bruder hatte Glück und bekam die Krankheit nicht vererbt. Bei Deniz aber konnten die Ärzte gut zehn Jahre nach dem ersten Sohn schon vor der Geburt nachweisen, dass er mit einer der weltweit häufigsten Erbkrankheiten würde leben müssen.
Deniz durfte nicht im kalten Wasser baden. Er durfte nicht mit den anderen Kindern Fussball spielen. Und für Deniz konnten stressige Momente lebensgefährlich sein. Denn bei all diesen Dingen verformten sich die roten Blutkörperchen in seinem Körper. Zur Sichel gebogen, durchströmten sie die Blutgefässe nicht gleich gut wie üblich. Das löste starke Schmerzen aus. Für Deniz gehörten sie trotz ständiger Vorsicht zum Alltag. War er mal am Abend lange draussen, büsste er danach wochenlang dafür. «Es fühlte sich an, als würdest du von innen mit Nadeln misshandelt.»
Nur waren die Schmerzen bloss die Spitze des Eisbergs. Das Risiko eines Hirnschlags, Herzinfarkts oder einer Lungenembolie bestand immer. «Durch die Recherche für meine Maturaarbeit konnte ich herausfinden, dass das Hirnschlagrisiko im Falle dieser Krankheit bei Kindern bis zu 300 Mal höher ist als gewöhnlich», sagt Deniz im kühlen Durchzug der Tiefgarage an der Kantonsschule. Sein Schicksal leitete ihn. Wie die Ärzte am Unispital in Basel, die so unglaublich viel wussten, wollte er einmal werden. Schon als Kind hatte er ein überdurchschnittliches medizinisches Wissen.
Blutspezialist, natürlich
Die Maturaarbeit bot ihm die Chance, sich noch vertiefter mit seiner eigenen Krankheitsgeschichte auseinanderzusetzen. Alexander Rauch, Lehrer und Begabtenförderer an der Kanti Olten, machte ihn mit seiner in der Pharmazie-Forschung tätigen Frau Marlene bekannt. Sie half Deniz, Zugang zu wissenschaftlichen Daten Grossbritanniens zu erhalten.
Seit 2006 werden im Vereinigten Königreich alle Babys auf die Sichelzellenkrankheit gescreent. «Meine Hypothese war, dass dadurch das Vorkommen von Hirnschlägen zurückgeht», erklärt Deniz. Für die Datenanalyse schrieb er eigenhändig ein Computerprogramm. Dafür opferte er eine Ferienwoche, die er im Labor in Basel zubrachte. Deniz war bereit, die Extrameile zu gehen.
Das Programm spuckte ein Ergebnis aus, das seine Vermutung bestätigte. «Damit konnte ich nachweisen, dass das Screening eine preiswerte Option sein kann, um der Krankheit vorzubeugen und die Behandlung weiterzuentwickeln. Zum Beispiel auch in ärmeren afrikanischen Ländern.»
Auf dem Vorplatz der Kanti arbeiten die schweren Maschinen am letzten Baustein des siebenjährigen Schulhaus-Umbaus. Vor bald einem Jahr legte Deniz im Betonbau seine letzten Prüfungen ab. Als frischgebackener Alumnus läuft er übers Areal. Eine gewisse Genugtuung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Mit der Maturaarbeit kam er bis ins Finale des Concours «Schweizer Jugend forscht» und wurde ausgezeichnet.
Der 19-Jährige hat bald die ersten beiden Semester als Medizinstudent hinter sich. Wenige Jugendliche schreiten so zielsicher wie er voran. Eigentlich erübrigt sich die Frage fast, ob er Blutspezialist werden wolle. «Ja, ich möchte Hämatologie machen.» Er lächelt.
Der mittlere Bruder als Glücksbringer
Bis er 14 Jahre alt war, hatte Deniz mit vorsichtigem Lebensstil die Krankheit erduldet. Im Frühling 2017 aber, nach einem gewöhnlichen Gesundheitscheck in Basel, unterbreitete ein Arzt ihm, auf dem Computerbild seines Hirns habe er kleine Anfangsschäden – Blutgerinnsel – erkennen können.
«Da wusste ich: Jetzt muss ich mich behandeln lassen.»
Die Risiken des Eingriffs hatten Deniz zuvor abgeschreckt, obwohl er wusste, je früher er sich behandeln liesse, desto besser würde sein Körper auf die Stammzellentherapie reagieren. Sein Glück war, dass sein gesunder Bruder über zu 100 Prozent deckungsgleiche Stammzellen verfügte, womit sich die Suche nach einem Spender erübrigte. Mit einem kleinen operativen Eingriff entnahmen die Ärzte dem Bruder ein wenig Knochenmark aus dem Hüftknochen und extrahierten daraus die Stammzellen.
Zwei Monate verbrachte Deniz danach in strengster Isolation im Spital. Während er die Stammzellen des Bruders injiziert bekam, stoppten die Ärzte zugleich die Produktion seiner eigenen Stammzellen, indem sie das Knochenmark mit einer Chemotherapie abtöteten. Die Haare fielen ihm aus. Auch seinen 15. Geburtstag verbrachte er im Spital. Seine Eltern durften nur im Ganzkörperschutzanzug zu ihm. Jede andere Krankheit hätte wegen dem geschwächten Immunsystem gefährlich werden können.
Dann begann Deniz’ Körper die Stammzellen des Bruders zu reproduzieren. Seine Blutkörperchen hörten auf, sich sichelförmig zu verformen. Behutsam kehrte er nach dem langen Spitalaufenthalt in den Schulalltag zurück. Dank seinen ausgezeichneten Schulnoten musste Deniz nie eine Klasse wiederholen.
Ein gutes Jahrzehnt zuvor war die Schulleitung bei Deniz’ ältestem Bruder noch unnachgiebig geblieben. Ein Arztzeugnis vom Unispital Basel genügte damals nicht zur Dispensation. Man könne sich ja auch nicht von Mathe dispensieren lassen, habe die Schule damals argumentiert, erzählt Deniz. Nach dem Turnen kamen bei seinem ältesten Bruder die Schmerzkrisen und die krankheitsbedingten Abwesenheiten wirkten sich auf die Noten aus. Er wurde von der Schule verwiesen. Der Bruder gab nicht auf: An einer anderen Schule legte er die Matura ab und erlangte später den gewünschten Uni-Abschluss.
Datenbank, die Leben rettet
Nicht alle Menschen haben so viel Glück, wie Deniz es hatte. Viele suchen vergebens nach einer Spenderin und müssen mit der Krankheit leben. Ohne das Blut seines mittleren Bruders hätte er sein Leben als 15-jähriger Teenager nicht neu lancieren können, sondern wäre in ständiger Angst geblieben.
Die Medizin hat in den letzten Jahren rapide Fortschritte erzielt. Die Erbkrankheit lässt sich verschiedentlich behandeln und neue Medikamente kommen auf den Markt. Die Stammzellen-Therapie bleibt aber für viele die grosse Hoffnung, die Krankheit ganz hinter sich zu lassen. Deniz setzt sich deshalb heute in der «League of Hope», einer vom Schweizerischen Roten Kreuz getragenen Organisation, dafür ein, dass Menschen sich in der Spenderdatenbank registrieren.
Gelockt durchs Leben
«Als die Haare nachwuchsen, fühlte ich mich wieder wohl», sagt Deniz auf dem kargen Pausenplatz mit schneebleichen Steinplatten, zwischen deren Spalten der Löwenzahn hervorlugt. Vor der Chemotherapie wuchs ihm das Haar glatt, heute trägt er quirlige Locken. «Ich sehe mein Haar als Symbol für mein neues Ich», sagt Deniz. Die feingelockten Haare ragen über dem Kopfscheitel voluminös in den Himmel. Ganz zum Ausdruck der neuen Lebenskraft.
Wenn er heute seinen Arzt sieht, sagt dieser: «Bitte geh joggen.»
«Inzwischen mach ich sogar gern Sport», sagt Deniz.
Doch oft fällt es ihm schwer, die Vorsicht aus dem alten Leben zu überwinden. Wobei er nicht alles auf den Kopf stellen will. Auch wenn er plötzlich alles tun darf. «Ich war noch nie ein Badimensch und werde es auch nie sein.» Er lacht. Lieber lernt er in der Freizeit Japanisch, spielt Piano oder kocht.
1963 taten sich in Olten die Eltern von Kindern mit Behinderungen zusammen. Sie gründeten die «Vereinigung zur Förderung geistig Invalider» und prägten fortan die Anfänge der Behindertenarbeit in der Region. Die erste geschützte Werkstätte im Kanton entstand. Es folgten Beratungs- und Behandlungsstellen, ein Freizeitklub.
1972, vor genau fünfzig Jahren, wurde aus der Vereinigung eine Stiftung.
Wer diese heute besucht, betritt ein modernes Gebäude im Herzen von Olten. «Arkadis – gemeinsam Lebensqualität schaffen» steht an der gläsernen Eingangstür, und dahinter ist ein Empfangsschalter, an dem eine freundliche Frau in den vierten Stock weist, wo wir von einer Assistentin ins klimatisierte Büro der Direktorin gebeten werden.
Dagmar Domenig nimmt sich Zeit, und sie hat viel zu erzählen. Seit 2011 prägt sie als Direktorin den Kurs der Stiftung Arkadis, die heute rund 270 Mitarbeitende beschäftigt und fast 1700 Klienten – die Mehrheit davon Menschen mit Behinderung aus dem Kanton Solothurn – betreut und begleitet.
In den elf Jahren, seit die Juristin, promovierte Sozialanthropologin und Pflegefachfrau ihre Position angetreten hat, habe sich die Stiftung Arkadis eher qualitativ als quantitativ entwickelt. «Wir müssen immer mehr wie ein klassisches Unternehmen funktionieren», sagt Dagmar Domenig.
So gelten heute etwa bei der Rechnungslegung sehr strenge Vorgaben für die Stiftung, erklärt sie. Auch eine ISO-Zertifizierung hat Domenig in ihrer Amtszeit vornehmen lassen, sie hat die Digitalisierung vorangetrieben, das Personalwesen aktualisiert. «In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren hat sich die Arbeit von sozialen Institutionen stark professionalisiert», sagt sie. «Besonders bei der Rechnungslegung gelten hohe Anforderungen an Transparenz.»
Revision, Budget und Jahresabschluss müssen an den Kanton Solothurn übermittelt werden, der seit 2008 grösstenteils für die Finanzierung der Betreuungsangebote der Stiftung Arkadis zuständig ist. Daneben fungieren die kantonale Finanz- und die Stiftungsaufsicht als Kontrollorgane.
An die Elternvereinigung von damals erinnert heute also nicht mehr viel. Zumindest bei der Unternehmensführung. Und inhaltlich?
Im Wandel
«Auch im Umgang mit Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft hat sich in den letzten fünfzig Jahren viel verändert», sagt Dagmar Domenig.
Der Name Arkadis kommt vom lateinischen Wort Arcus – Bogen, so sieht sich die Stiftung, indem sie sich über ein vielfältiges Angebot von Dienstleistungen spannt. Von ambulanter Therapie für Kinder bis zu vollbetreuten Wohngruppen für Erwachsene, vom lichtdurchfluteten Arcafé, wo Menschen mit Behinderungen in Küche und Service arbeiten, bis zur Wohngruppe Schärenmatte, wo 45 Personen mit schweren kognitiven und körperlichen Beeinträchtigungen 24 Stunden pro Tag begleitet werden.
Mitsprache, Selbstbestimmung und Inklusion seien die Herausforderungen der Stunde für die Arbeit im Behindertenbereich. Angestossen durch die UN-Behindertenrechtskonvention, die die Schweiz 2014 ratifiziert hat, befinde sich auch die Stiftung Arkadis in einem ständigen Prozess der Selbstreflexion, erklärt Dagmar Domenig.
Mitreden – und urbane Wohnung statt ländliches Heim
So hat die Stiftung etwa kürzlich einen Mitwirkungs-Rat bestehend aus Bewohnern und Klientinnen einberufen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, bei Entscheidungen mitzureden, welche sie unmittelbar betreffen.
Auch eine Entwicklung von betreuten Wohngruppen – früher klassischen «Heimen» – hin zu mehr Selbständigkeit sei ein aktueller Diskurs, so Domenig. «Menschen mit Behinderung müssen so weit wie möglich selbst wählen können, wie sie leben möchten», sagt sie. Dieser Anspruch sei in den letzten Jahren stark gewachsen.
Mehr Angebote für selbständiges Wohnen mit ambulanter Betreuung sind deshalb ein Ziel der Arkadis. Da solche Settings jedoch je nach Betreuungsbedarf teurer sein können als betreute Wohngruppen, hängt ihr Ausbau auch von den Finanzierungsmöglichkeiten durch den Kanton ab.
«Oft werden Menschen mit Behinderungen auch räumlich an den Rand der Gesellschaft gedrängt», sagt Dagmar Domenig. «Die Stiftung Arkadis ist aber absichtlich mittendrin.» Sie spricht damit indirekt auch ein Thema an, das unsere Leserschaft umtreibt: Immobilienkäufe. Dazu später.
Zuerst zur Inklusion. Diese sei, so Domenig, nur möglich, wenn Menschen mit Behinderungen im regelmässigen Austausch stehen mit der breiten Bevölkerung. Und genau das werde oft verhindert, indem etwa betreute Wohn- oder Arbeitsangebote in ländlicher Umgebung ohne Nachbarschaft gebaut würden. «Das ist nicht mehr zeitgemäss.» Deshalb sucht Dagmar Domenig wann immer möglich zentrale und urbane Standorte für die Dienstleistungen der Stiftung.
Beispiele dafür sind das erwähnte Arcafé oder der Arkadis-Laden an der belebten Aarauerstrasse, direkt neben Fachhochschule und Bahnhof. Oder ein geplanter Neubau an der Oltner Von-Roll-Strasse, wo früher das Restaurant Wartburg war. Neben Büro- und Therapieräumen soll dort auch günstiger Wohnraum für Menschen mit Behinderungen mit der Möglichkeit für ambulante Betreuung entstehen.
«Mehr Sichtbarkeit ist unsere Vision», sagt Domenig, «deshalb bauen wir gezielt mitten im Quartier.»
Kontroverse Bauprojekte
Die Arkadis baut – und das irritiert manche in Olten. Nicht primär wegen ihren Klientinnen, die so stärker in die Mitte der Gesellschaft gerückt werden, sondern wegen der Immobiliengeschäfte an sich.
So wurden bereits 2013 Vorwürfe gegen den Stiftungsratspräsidenten Daniel Menzi laut im Zusammenhang mit einem Immobilienkauf der Stiftung: Das Oltner Tagblatt berichtete, wie Menzi als Verwaltungsrat einer Immobilienfirma vom Verkauf eines Hauses an der Oltner Hardfeldstrasse an die Stiftung Arkadis profitiert hatte.
Konkret hatte die Immobilienfirma das Haus ersteigert und es danach teurer an die Stiftung Arkadis verkauft – rund eine halbe Million Gewinn soll für die Firma, in deren Verwaltungsrat Menzi sitzt, daraus hervorgegangen sein. Die Stiftung Arkadis hat das Haus umgebaut und nutzt es heute für Wohngruppen.
Im Juni 2021 stand in einer Pressemitteilung: «Die Stiftung Arkadis will Gebiet auf rechter Aareseite städtebaulich überzeugend entwickeln.»
Die Rede war vom erwähnten Neubau von Wohnungen an der Von-Roll-Strasse. Um damit starten zu können, reichte die Stiftung einen Gestaltungsplan für das gesamte Gebiet zwischen Von-Roll-Strasse und Wartburgweg bei der Stadt ein – das war vorausgesetzt, um eine Baubewilligung für ihr Grundstück zu erhalten. Zudem hatte die Arkadis eine weitere Liegenschaft direkt neben dem ehemaligen Restaurant Wartburg gekauft, die laut der Stiftung mit provisorischen Büroräumlichkeiten zwischengenutzt werden soll.
Daniel Menzis Immobilienfirma hat dieses Mal nichts mit dem Kauf zu tun. Trotzdem löste das Vorhaben in Olten eine gewisse Irritation aus. Braucht die Stiftung denn schon wieder neue Liegenschaften? Ist es die Aufgabe einer sozialen Institution, ein «Gebiet städtebaulich zu entwickeln»? Gehen hier Stiftungsgelder in Immobilienspekulationen flöten?
Diese und ähnliche Fragen erreichten Kolt in einem Input. Wir fanden, das 50-Jahre-Jubiläum ist ein guter Moment, um ihnen nachzugehen.
Stiftungszweck und Ehrenkodex
Die rechtliche Lage ist eindeutig: Eine Stiftung darf prinzipiell Immobilien erwerben, veräussern und vermieten, wenn es der Erfüllung ihres Zwecks dient. Im Falle der Arkadis besteht der in der Betreuung, Begleitung, Förderung und Unterstützung ihrer Klienten.
Ein Gebiet städtebaulich zu entwickeln, gehört da grundsätzlich nicht dazu. Das räumt auch Dagmar Domenig ein: «Das ist eine unglückliche Formulierung», sagt sie. Für den Gestaltungsplan, der damit angesprochen wird, gebe es aber eine einfache Erklärung: Die Arkadis will bauen. Die Stiftung könne einen Bedarf am geplanten Neubau nachweisen. Und um den umzusetzen, musste ein Gestaltungsplan für das gesamte Gebiet zwischen Von-Roll-Strasse und Wartburgweg eingereicht werden, so die Vorgabe der Stadt.
Deswegen habe die Arkadis den ganzen Gestaltungsplan umgesetzt und finanziert – also auch für den Teil des Gebiets, der nicht in ihrem Eigentum ist.
Bebauen wird sie jedoch nur das Areal des ehemaligen Restaurants Wartburg. Und das Haus daneben, das die Stiftung ebenfalls erworben hat – ein abbruchreifes Objekt, das die frühere Eigentümerin zum Kauf angeboten habe – dient dazu, bei der angrenzenden Überbauung des restlichen Areals auch «mitreden zu können», so Domenig.
«Es ist uns wichtig, dass die Überbauung attraktiv wird und nach ökologischen Standards erfolgt. Auch, weil sie mitten in der Stadt ist», erklärt Domenig diesen strategischen Kauf.
Das kann den Anschein erwecken, die Stiftung Arkadis sei finanziell auf Rosen gebettet.
Unter Kontrolle
«Nein, das sind wir nicht», sagt Dagmar Domenig. «Wir können marktübliche Preise bezahlen für Immobilien – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Würden wir mit den Preisen viel höher gehen, gäbe es Probleme mit der Finanzierung durch den Kanton.»
Die Stiftung ist zu 98 Prozent durch öffentliche Gelder finanziert. Ein Prozent machen Spenden und Legate aus, und ein weiteres Prozent wird durch die Vermietung von Liegenschaften an Externe erwirtschaftet. «Einerseits sind uns durch den Kanton Grenzen gesetzt bei der Finanzierung von Immobilienkäufen, und andererseits kontrollieren die Finanz- und die Stiftungsaufsicht genau, wofür wir unser Geld ausgeben.»
Das war etwa bei den Vorwürfen gegen Daniel Menzi von 2013 spürbar. «Da hatten wir umgehend die Finanzaufsicht und die Stiftungsaufsicht im Haus», sagt Dagmar Domenig, die sich sehr gut an den Vorfall erinnert, hatte sie doch damals gerade erst ihre Stelle als Direktorin angetreten.
Da der Stiftungsratspräsident Menzi im Vorfeld des Liegenschaftskaufs durch die Stiftung in den Ausstand getreten war und auch sonst kein gesetzeswidriges Vorgehen festgestellt wurde, hatte die Sache keine rechtlichen Folgen für die Stiftung. Der neue Wohnort für rund zwanzig Klientinnen war jedoch eine wichtige Weiterentwicklung ihres Angebots.
«Aber natürlich gehen die Meinungen dazu auf einer moralischen Ebene auseinander», sagt Domenig. Dadurch, dass der Stiftungsrat praktisch ehrenamtlich tätig ist, seien Interessenskonflikte nicht in jedem Fall vermeidbar. «Unser Ehrenkodex sieht dazu aber klare Regeln vor – etwa den Ausstand», erklärt sie und fügt an, dass sie mit dem Alter gelernt habe, dass es manchmal Entscheide gebe, bei denen keine der möglichen Lösungen wirklich gut sei.
«In solchen Fällen macht man sich angreifbar. Und damit muss man manchmal leben.»
Mittendrin
Eines ist klar: Je urbaner der Raum, desto umkämpfter der Immobilienmarkt. Indem die Stiftung Arkadis sich daran beteiligt, bewegt sie sich in einem Bereich, wo viele verschiedene Interessen zusammentreffen.
In einem solchen bewegen sich auch lokale Geschäfts- und Politikmänner und -frauen, die sich für ein Stiftungsratsmandat entscheiden. Daniel Menzi wird sein Präsidium voraussichtlich dieses Jahr an FDP-Gemeinderat Urs Knapp weitergeben.
Klar ist auch, dass dieser Bereich rechtlich abgesteckt ist und die Stiftung Arkadis, die in Olten längst zu einer bedeutenden städtischen Akteurin herangewachsen ist, bei der Einhaltung der Regeln relativ streng überwacht wird.
Die Interessen, die sie dabei verfolgen muss, sind diejenigen ihrer Klientinnen – Menschen mit Behinderungen. Eines davon ist ihre Inklusion in der Mitte der Gesellschaft.
Die Stiftung Arkadis feiert am Samstag, 25. Juni 2022, ihr Jubiläums-Sommerfest an der Hardfeldstrasse 37.
Wein auf Bier, das rat’ ich dir; Bier auf Wein, das lasse sein.
Meine Recherchen im Alkoholbusiness zeigen sofort: Dieses Sprichwort ist kein gut gemeinter Ratschlag, um den Kater am nächsten Morgen abzuschwächen.
Das erste Mal aufgeschrieben tauchte es im 18. Jahrhundert auf. Der Spruch selbst wurde schon lange Zeit vorher verwendet und verwies damals auf den sozialen Stand. «Im Mittelalter konnte das Wasser in den Städten aufgrund von Verseuchungen nicht immer getrunken werden», sagt Weinhändlerin Corinne Frauenfelder vom Fläschehals in Olten. In diesen Fällen tranken die gut Betuchten Wein und die weniger gut Betuchten Bier. Ergo kam der Wechsel von Wein auf Bier einem sozialen Abstieg gleich.
Mehr ist nicht dran? «Ein nachweislicher Unterschied beim Kater gibt es nicht», sagt unser Arzt des Vertrauens aus Lostorf. «Entscheidend ist die Menge Alkohol im Blut, die der Körper abbauen muss.» Forschende haben das sogar in einer Studie wissenschaftlich belegt: Die eine Gruppe trank Bier und erst dann Wein, die andere vice versa. Denn auch im Englischen gibt es dieselbe Phrase: «Beer before wine and you’ll feel fine; wine before beer and you’ll feel queer.» Unterschiede beim Kater? Fehlanzeige. Um diesen vorzubeugen, nennt unser Arzt andere Tipps: nicht auf leeren Magen trinken und immer wieder zum Wasser greifen.
Also gut. Aber kann man heute dem Getränk noch den sozialen Stand ablesen?
Nein, sagen Luc Nünlist und Simon Gomm der Oltner Bierbrauerei Drei Tannen entschieden. Gegründet haben sie die Brauerei, weil die Stadt aus ihrer Sicht ein eigenes regionales Bier braucht. Mit Hopfen aus Wolfwil und aus Oltner Leitungswasser.
Doch das Bier hat in der Schweiz gegenüber dem Wein einen schweren Stand: «Das vielseitige, bewusste Biertrinken ist erst im Aufschwung», sagt Luc Nünlist und verweist damit auf das stetig wachsende Bierangebot. «Ausserdem ist die Schweiz in weiten Teilen ein Weinland. Und damit ist die gehobene Weinkultur in der Gastronomie fest verankert», ergänzt Simon Gomm.
Auf den Restaurantkarten fehlt deshalb neben dem meist grossen Weinsortiment oft die spannende Bierauswahl. Doch Bier hat viel Potential. «Beim Bierbrauen gibt es keine Grenzen», sagen die beiden Brauer, fasziniert von dessen Entstehungsprozess. «Man mischt vier Zutaten: Hopfen, Wasser, Malz und Hefe, die einzeln nicht so spannend sind. Einen Monat später hat man ein facettenreiches Getränk in der Hand.»
Wie Bier für die Brauer Kunst ist, ist es für Corinne Frauenfelder der Wein. «Es ist schlussendlich ein Naturprodukt», sagt sie, «und viele Faktoren haben Einfluss auf die Qualität des Weines: die Trauben, das Klima, der Boden und das Handwerk.» Zudem sei Wein weit mehr als nur ein Getränk: ein Prestigeobjekt.
Sie erzählt von Weinkellern mit 800 Flaschen und von Menschen, die ihn nicht trinken, sondern als Wertanlage aufbewahren. «Wein ist ein Beziehungsgeschäft», sagt Corinne Frauenfelder. «Ganz besondere Flaschen gibt es nur zu kaufen, wenn man die richtigen Leute kennt.»
Wein ist für die Händlerin ein reines Genussmittel, das sie gern in Gesellschaft mit der Familie und im Freundeskreis trinkt. Doch Alkohol kann vom Genussmittel auch zum Suchtmittel werden. «Wenn man mit Alkohol arbeitet, muss man sich dessen bewusst sein», sagt Corinne Frauenfelder. «Bei Degustationen trinken wir den Wein nicht, sondern probieren ihn nur.»
Auch der Brauerei Drei Tannen ist ein gesunder Umgang mit Gewohnheiten und ihrem Produkt wichtig. «In Zusammenarbeit mit der Stadtküche brauen wir ein Leichtbier, das verantwortungsvollen Konsum und vollen Geschmack vereint», sagt Luc Nünlist. Abstinenz scheint keine massentaugliche Lösung zu sein, aber ein bewusster Umgang schon.
Deshalb fragt auch unser Arzt bei Kontrolluntersuchungen standardisiert nach dem Trinkverhalten und fördert damit das Bewusstsein im Umgang mit Alkohol. Denn bereits der Konsum von kleinen Mengen Alkohol birgt grundsätzlich ein gesundheitliches Risiko, sagt er.
Ob Bier, Wein oder beides, es ist längst keine Frage des sozialen Standes mehr, sondern des Geschmacks und des gesunden Umgangs. In diesem Sinne, es lebe der Prosecco!
*Livia Stalder hat früher in Olten Ballett getanzt und ihr erstes Geld – äs Füfzger-Nötli – als Journalistin bei Kolt verdient. Heute tanzt sie in Zürich zu Techno, kommuniziert für eine NGO in Bern und schreibt Kolumnen für Kolt.
Mit 190 Kubikmeter Wasser pro Sekunde zieht die Aare gemächlich am Oltner Freibad vorüber. Es regnet. Es ist kalt. Nicht gerade verlockend für einen Besuch im Strandbad. Strandbad? Woher kommt der Strand im Bad? Die Antwort liegt direkt an der Aare.
«Es heisst so, weil es auch einen Uferbereich zum Baden hat», erklärt Urs Kissling, Leiter Tiefbau der Stadt Olten. «Früher war das Bad nur in der Aare und es war offensichtlich ein Strand vorhanden. Mit den Becken ist der Strand weniger wichtig geworden.» Heute werde aber der Strand wieder vermehrt genutzt, weil die Leute in der Aare schwimmen.
Die Strandbadfrage ist somit geklärt und ich starte in die zweite Mission: Die neue Rutschbahn – produziert in der Schweiz nach Schweizer Qualitätsstandard – wird einem ordentlichen Test unterzogen. Die alte Rutsche hat der Badi einen guten Dienst geleistet und wurde im vergangenen Jahr abgebaut. Sie sei bei den Badegästen sehr begehrt gewesen, weiss der Tiefbauleiter. Nun musste eine Neue her. Eine, die zu den zwei Übriggebliebenen passt.
Vor der Badi ist es gespenstisch ruhig. Niemand da? Doch, drei Frauen sitzen am Empfang und warten auf Kundschaft. Ob sie die Neuheit bereits getestet haben? «Nein, noch nicht.»
Auf dem Weg in die Umkleide denke ich über die Faszination des Rutschens nach. Schliesslich gibt es ganze Parks voll solcher Bahnen und auch auf jedem Spielplatz steht eine. Um den Sprung ins Wasser noch etwas hinauszuzögern, lege ich eine Kurzrecherche auf dem Smartphone ein. Das Thema bewegt im Internet insbesondere Lehrpersonen und Eltern. Anscheinend nutzen Kinder jede Gelegenheit zum Rutschen. Neben Spass und Selbstvertrauen fördere diese Betätigung eine aktive Körperhaltung bei den Kids, weil sie dabei einen dynamischen Umgang mit dem Gleichgewicht üben. Und es führe zu intensiven Sporterlebnissen, kann man in einem Datenblatt des St. Gallischen Gesundheitsdepartements lesen. Also gönne ich mir ebendieses Sporterlebnis.
In Bademontur und auf extrem kalten Füssen begebe ich mich zum Mini-Wasserpark. In frischem Grün erstrahlt die fünf Meter hohe und dreizehn Meter lange Rutschbahn mit dem abschreckenden Namen «Freefall». Aber ich starte natürlich nicht unvorbereitet in dieses Abenteuer. In Deutschland wird Rutschen als Sportart betrieben – das sogenannte Rennrutschen. Es gibt sogar nationale Meisterschaften, wo sich die Sportlerinnen notabene an regionalen Meisterschaften dafür qualifizieren müssen. Ich wollte von den Besten lernen und habe mir zuvor die Rutschtechnik des ehemaligen Rennrutschers Jens Scherer, Deutscher Meister und Weltrekordhalter im Highspeed-Rutschen, via Youtube angeeignet. So ist eine gute Körperspannung wichtig, lerne ich. Arme und Beine überkreuzen – und sobald das grüne Licht aufleuchtet, geht es los.
Pfeilschnell düse ich durch die Röhre. So flott er begonnen hat, endet der Rutsch auch schon im Wasser.
Die ersten Rückmeldungen zur neuen Rutsche seien positiv, sagt Urs Kissling und fügt an: «Die neue Rutschbahn passt in die Badi Olten.» Finde ich auch. Sie ergänzt die beiden anderen, die ich selbstverständlich auch getestet habe, optimal. Die sind zwar etwas länger, dafür weniger steil und dadurch langsamer. Denn das Tempo einer Rutsche wird von ihrem Gefälle, der Länge und dem Belag bestimmt. Die Neigung der neuen Oltner Rutsche lässt keine Zweifel übrig, woher der Name «Freefall» rührt. Auch der neue Belag macht der Tempogenerierung keinen Abbruch. Aber die Kürze, die sorgt dafür, dass auch diese Rutsche kindergerecht bleibt.
Mein endgültiges Verdikt: Das Rutscherlebnis ist rasant, aber kurz. Jens Scherer wird aus diesem Grund bestimmt nicht in Olten vorbeischauen, nur um die Rutsche zu testen. Lustig war es allemal. Trotzdem gehe ich lieber wieder ins Schwimmbecken. Crawlen liegt mir besser.
*Livia Stalder hat früher in Olten Ballett getanzt und ihr erstes Geld – äs Füfzger-Nötli – als Journalistin bei Kolt verdient. Heute tanzt sie in Zürich zu Techno, kommuniziert für eine NGO in Bern und schreibt Kolumnen für Kolt.
Heute ziehe ich mit meiner Frau nach Belp, näher an die geliebten Berge. Mit dabei unsere Holzbank, die bereits in den Bergen gebaut wurde. Bei unserer Hochzeitsfeier auf der Alp Morgeten war das Bänkli auch anwesend, nur hoch zum Gantrischseeli wollten es unsere Trauzeugen dann doch nicht tragen. Diese Geschichte kennt die eine oder der andere bereits.
Es ist ein grosses und lang ersehntes Projekt für die Stadt Olten: Im Kleinholz entsteht ein neues Schulhaus. Mit progressiven Lernräumen, Dreifachturnhalle und attraktiver Parklandschaft. Eine «grüne Oase» soll es auch werden, ein «Generationenprojekt», ein «Raum für kreatives Lernen», wie Thomas Marbet, Marion Rauber und Nils Löffel betonen.
Die Freude des Stadtpräsidenten, der Stadträtin Direktion Bau und des Stadtrats Direktion Bildung und Sport wirkt echt und vor allem berechtigt, als sie an diesem sonnigen Dienstagmorgen auf dem noch unversehrten Rasen hinter der Stadthalle beherzt in ein Mikrofon sprechen.
Im August 2024 soll hier bereits zum ersten Mal die Schulglocke klingeln. 16 Klassen von Kindergarten bis Primarschule werden dann im nigelnagelneuen Schulhaus ins Schuljahr starten, wenn alles gut kommt.
Heute sind die Schüler des Hübeli-Schulhauses schonmal hier, zum Schnuppern sozusagen. Einen Parkour haben sie gemacht auf dem frisch gemähten Rasen, wo sie etwa mit Büchsen ein neues Schulhaus bauen und ein altes abreissen konnten. Jetzt hat ihnen die Stadt ein Znüni spendiert.
«Hallooooooo», antwortet ein Chor aus Kinderstimmen, der ohne Weggli im Mund vielleicht noch etwas lauter gewesen wäre, als der Stadtpräsident höchstpersönlich per Mikrofon ein gut gelauntes «Hoi zäme!» an die zukünftigen Nutzniesserinnen des Grossprojekts richtet. Derweilen wird auf weiss gedeckten Festbänken das Apéro für die Gäste vorbereitet, die ihre Schulzeit schon hinter sich haben.
Wer sich damit auskennt, hat es bereits erahnt: Heute ist der Spatenstich.
Bald fahren im Kleinholz die Bagger auf, um innert nur zwei Jahren einen Gebäudekomplex mit dem Volumen von 65 Einfamilienhäusern entstehen zu lassen.
Bald muss der gepflegte Rasen also weichen. Zwar aus einem durch und durch erfreulichen Grund, da sind sich alle einig. Trotzdem weist der Bildungsdirektor Nils Löffel darauf hin, dass, wenn jetzt der eigentliche Spatenstich folge, beachtet werden soll, auf dem Fussballfeld den Spaten nicht zu tief in die Erde zu stecken, also nicht wirklich ein Loch auszuheben – damit der Rasen unversehrt bleibt.
Und dann folgt, wie angekündigt, der Spatenstich.
Zehn robuste Spaten und zehn gelbe Bauhelme werden verteilt an Vertreterinnen aus Stadtverwaltung, Architektur und Schulwesen. Sie posieren damit vor einem kleinen Bagger.
Den meisten ist es sichtlich unwohl.
Der Fotograf des Oltner Tagblatts hat die rettende Idee: Er ruft die Schulkinder herbei, sie sollen auch aufs Foto. Sofort wirkt die kindliche Magie. Sie löst jede noch so peinliche Spannung, die Erwachsene unter sich so seltsam kultivieren können, in Luft auf.
Cringe: Jugendwort des Jahres 2021. Bedeutet so etwas wie Fremdscham oder eben peinliche Spannung. Kinder kennen keinen Cringe. Ganz im Gegensatz zu Teenager – ein Glück für alle Anwesenden, dass im Kleinholz keine Oberstufe gebaut wird.
Es wird unter gelben Bauhelmen auf einmal echt gelächelt und hochgezogene Schultern entspannen sich, als eine immer grösser werdende Traube von turnsäcklibehängten Kindern in die Lokalmedienkameras grinst und sich ein Junge einen Spaten sogar trophäenartig über den Kopf hält.
Spatenstich: warum?
Woher kommt dieses Ritual? Seit wann wird es gemacht? Wie viele Spatenstiche erlebt der durchschnittliche Lokaljournalist bis zu seiner Pensionierung? Wie viele die durchschnittliche Bürgermeisterin?
Es ist gar nicht so einfach, an fundierte Informationen zu diesem Thema zu gelangen. Sicher ist: Der Spatenstich ist ein alter Brauch. «Seit langer Zeit ein unerlässliches Bauritual bei jedem Neubau», steht etwa in einem Online-Architektur-Ratgeber, wo unter allerlei Tipps und Tricks zum Bau eines Eigenheims auch dem Spatenstich eine ganze Seite gewidmet wird.
Wie lange der Brauch schon existiert, ist ungewiss. Er muss aber mindestens in die Zeit zurückreichen, in der man Baugruben noch mit Spaten, Hacken und Schaufeln aushob.
Und obwohl der erste dampfbetriebene Bagger bereits 1796 in Betrieb genommen wurde, hat sich der symbolische Spatenstich bis heute weitgehend durchgesetzt. Die Werkzeuge werden dabei oft hübsch hergerichtet. Der oben genannte Ratgeber empfiehlt es so: «Häufig wird ein schönes Band um den Griff des am besten noch sauberen Spatens gebunden».
Wikipedia ist allerdings zu entnehmen, dass die Industrialisierung auch an der Symbolik nicht spurlos vorbeigegangen ist: Es gebe mittlerweile anstelle von traditionellen Spatenstichen durchaus auch «erste Rammschläge», «erste Baggerbisse» und Ähnliches, steht da.
Und in fernöstlichen Kulturkreisen ist das Ritual ebenfalls verankert: Den Spatenstich kennt auch die aus China stammende Harmonielehre Feng-Shui, als ersten Eingriff in ein bisher unberührtes Grundstück. Da die Erde in dieser Lehre als lebendiger Organismus gilt und jeder Eingriff im Grunde eine Verletzung darstellt, wird als Ausgleich dazu oft ein Baum gepflanzt.
Eine Feng-Shui-Beraterin aus Biel informiert in einem weiteren Online-Architektur-Ratgeber unter dem Titel «Bauen Sie ein Haus mit Seele» auch über den geeigneten Zeitpunkt für das Ritual: «Früher machte man den ersten Spatenstich nach Möglichkeit an einem Samstag. Baut man nach den Regeln des Feng-Shui, berechnet man einen günstigen Tag für das Spatenstichfest nach den Mondhäusern. Auch eine schöne Möglichkeit ist es, einen Tag auszusuchen, an dem der Mond zunimmt. So können Fülle und Wachstum Einzug halten.»
Ausserdem empfiehlt die Beraterin explizit, auch Kinder in den Akt einzubeziehen. Diese würden «solche Rituale freudig mitmachen», während sie «herumhüpfen und rennen dürfen». Zum Anstossen solle man ihnen danach Traubensaft oder alkoholfreien Champagner anbieten.
Und überhaupt, anstossen solle man unbedingt nach dem Spatenstich, «denn das Klingen der Gläser verbindet alle miteinander und vertreibt gleichzeitig die negativen Energien.»
In diesem Sinne: Prost, aufs Kleinholz und die kindliche Magie!
«Es gibt keine Scheinflüchtlinge. Das ist ein erfundener Begriff», sagt El Uali Said mit ruhiger Stimme ins Telefon. Auf der Website der SVP Solothurn steht:
«Scheinflüchtlinge sind keine echten Flüchtlinge. Vorläufig Aufgenommene sind Personen, deren Asylgesuch abgewiesen und eine Wegweisung verfügt wurde, die Wegweisung aus der Schweiz aber nicht vollzogen werden kann. Sie haben einen Ausweis mit Status F erhalten.
[Mit der Initiative] werden die Solothurner Stimmbürger die Gelegenheit erhalten, sich über die Höhe der Sozialhilfe für falsche Flüchtlinge zu äussern.»
Der Begriff sei reiner Populismus, absichtlich irreführend und überhaupt müsse er aufpassen, dass er keine unangebrachten Worte benütze um zu beschreiben, was dieser Begriff sei, sagt Said und seine Stimme ist noch immer ruhig. Er ist Jurist und Leiter der HEKS-Rechtsberatungsstelle für Asylsuchende in Solothurn. Die Institution unterstützt Personen im Asylverfahren aus dem Kanton Solothurn in asyl- und ausländerrechtlichen Fragen.
Über die Initiative «Weniger Sozialhilfe für Scheinflüchtlinge» stimmt der Kanton Solothurn am 15. Mai 2022 ab. Sie hat bisher wenig Zustimmung erhalten: Der Kantonsrat empfiehlt mit klarem Resultat die Ablehnung (74:19), und ausser der SVP sprechen sich alle Parteien dagegen aus. Trotzdem stösst sie eine Debatte an, die von der SVP immer wieder aufgegriffen wird und die zuverlässig für politischen Zündstoff sorgt: Die nach der Frage, wer ein «echter» Flüchtling sei.
Wer ist es eigentlich, den die Initianten hier meinen? Was bedeutet es, in der Schweiz «vorläufig aufgenommen» zu sein? Wer ist im rechtlichen Sinn ein «Flüchtling» – und wer im umgangssprachlichen?
Der Initiativtext bedient sich zwar der rechtlichen Flüchtlingsdefinition, spricht von der Genfer Konvention und von abgewiesenen Asylgesuchen. Was das bedeutet, erklärt er aber nicht. Sondern zieht den schnellen Schluss: Wer keinen rechtlichen Flüchtlingsstatus hat und trotzdem in der Schweiz bleibt, ist ein Scheinflüchtling.
Ein kleiner Einblick ins Flüchtlingsrecht zeigt, dass es nicht ganz so einfach ist.
Flüchtling ist, wer vor dem Krieg flüchtet?
Um nach dem schweizerischen Asylrecht und nach der Genfer Flüchtlingskonvention, dem internationalen Abkommen, das dem Flüchtlingsbegriff zugrunde liegt, ein «Flüchtling» zu sein, braucht es eine ganz bestimmte Ausgangslage:
Eine Person hat ihr Herkunftsland verlassen. Bei einer Rückkehr würde ihr Verfolgung drohen, sie würde also beispielsweise getötet, gefoltert oder für lange Zeit inhaftiert werden. Verfolgt wird die Person in ihrem Herkunftsland aufgrund einer bestimmten persönlichen Eigenschaft. Das kann ihre Zugehörigkeit zu einer Rasse, Religion, Nationalität oder zu einer bestimmten sozialen Gruppe sein oder ihre politischen Anschauungen. So ist es gesetzlich festgelegt. Diese Verfolgung muss individuell und zielgerichtet sein – muss also ganz konkret diese Person betreffen.
In der Regel hat nur bei einer solchen Ausgangslage jemand die Möglichkeit, den rechtlichen «Flüchtlingsstatus» zu erhalten.
Das kann etwa auf eine Iranerin zutreffen, die Demonstrationen gegen die iranische Regierung organisiert hat. Oder auf einen Mann aus Nigeria, dem dort wegen seiner Homosexualität eine lange Haftstrafe droht. Oder auf einen Syrer, der vom Assad-Regime verfolgt wird, weil er sich öffentlich dagegen aufgelehnt hat.
Aber das trifft nicht auf eine Syrerin zu, die sich in Sicherheit bringen wollte, weil ihre Stadt von Luftangriffen zerstört wurde.
Auch nicht auf einen Afghanen, der aus Angst davor, die Taliban könnten sein Dorf verwüsten, das Land verlassen hat.
Und auch nicht auf eine ukrainische Familie, die vor russischen Panzern geflohen ist.
Mit anderen Worten: Vor einem Krieg zu fliehen alleine bedeutet noch nicht, im rechtlichen Sinne auch ein «Flüchtling» zu sein. Dazu bedarf es einer persönlichen Verfolgung. Eine reine Bedrohung durch Krieg an sich ist dafür üblicherweise zu generell.
Und hier kommt die vorläufige Aufnahme ins Spiel – der sogenannte «Status F», auf den sich die Initiative der SVP bezieht.
Der «Status F»: Du kannst nicht nach Hause, also darfst du vorerst bleiben
Menschen, die aus einem Land flüchten, in dem Krieg herrscht, erhalten also nicht zwingend den Flüchtlingsstatus. Trotzdem wird anerkannt, dass eine Rückkehr in ihr Heimatland ihnen nicht zugemutet werden kann, sofern sich dort die Situation nicht verbessert. Die rechtliche Folge davon: Sie werden vorläufig aufgenommen und erhalten einen «F-Ausweis».
Eine Ausnahme gilt neuerdings für Geflüchtete aus der Ukraine – für diese wurde der sogenannte «Schutzstatus S» ins Leben gerufen, der gegenüber dem «Status F» gewisse Vorteile hat. Aber: Auch der garantiert keinen Flüchtlingsstatus.
Vorläufig aufgenommene Personen dürfen also in der Schweiz bleiben, solange sich in ihrem Heimatstaat nichts zum Guten wendet. Das wird vom Staatssekretariat für Migration (SEM) regelmässig überprüft. Wenn dieses eine Rückreise als zumutbar einstuft, kann die vorläufige Aufnahme beendet werden – und die Personen müssen zurück in ihr Herkunftsland.
In der Schweiz leben laut Asylstatistik des SEM aktuell fast 46’000 Menschen mit einer vorläufigen Aufnahme. Rund 18’000 davon seit mehr als sieben Jahren. Das zeigt, dass «vorläufig» oft nicht besonders kurzfristig gedacht werden kann. Bewaffnete Konflikte dauern oft zahlreiche Jahre – etwa in Syrien oder Afghanistan, wo viele Menschen mit F-Ausweis herkommen.
Vorläufig Aufgenommene dürfen in der Schweiz arbeiten. Für ihr Arbeitgeber besteht aber eine Meldepflicht. Diese und die Unsicherheit darüber, wie lange der Aufenthalt noch gewährt wird, erschweren die Jobsuche häufig – das kritisiert etwa die Fachorganisation Schweizerische Flüchtlingshilfe.
Frühestens nach fünf Jahren ununterbrochenem Aufenthalt in der Schweiz können vorläufig aufgenommene Personen eine Aufenthaltsbewilligung – einen «B-Ausweis» – beantragen. Dazu müssen sie nachweisen können, dass sie ausreichend integriert sind – und dürfen in der Regel seit längerer Zeit keine Sozialhilfe mehr beziehen.
Recht und Sprachgebrauch
Bevor ich auf die Sozialhilfe zu sprechen komme, frage ich El Uali Said, ob er denke, dass dieser rechtliche Flüchtlingsbegriff übereinstimmt mit dem, was sich die meisten Menschen unter einem «Flüchtling» vorstellen.
«Nein», sagt er, «Menschen sind immer wieder erstaunt, wie eng der rechtliche Flüchtlingsbegriff ist.» An Vorträgen etwa mache er diese Erfahrung häufig. «Oft meinen die Leute, dass der Flüchtlingsstatus einfach alle betrifft, die geflüchtet sind. Und sind dann ziemlich überrascht, wenn ich die rechtliche Lage erkläre.»
Gerade jetzt, wo der Krieg in aller Munde ist und die Solidarität mit Geflüchteten aus der Ukraine extrem gross, sei das eine spannende Frage. Folgt man der Argumentation des Initiativkomitees, würden wohl zahlreiche Schutzsuchende aus der Ukraine unter den Begriff «Scheinflüchtlinge» fallen.
Und: auch ihnen würde die Sozialhilfe gekürzt. Denn für den Status S gelten dieselben Ansätze wie für die vorläufige Aufnahme.
«Es ist ein interessanter Zufall, dass genau jetzt über diese Initiative abgestimmt wird», meint Said.
Und die Sozialhilfe?
Die Ansätze für Sozialhilfe liegen bei vorläufig Aufgenommenen per Gesetz bereits tiefer als bei anerkannten Flüchtlingen und bei Schweizer Staatsbürgerinnen. Sie variieren nach Kantonen und sogar nach Gemeinden relativ stark, liegen aber alle unter dem von der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) berechneten Grundbedarf. Die Ansätze im Kanton Solothurn gehören im kantonalen Vergleich noch zu den höheren – mit der Initiative soll dies geändert werden.
«Bei mir waren es 405.- Franken pro Monat», sagt Seifudin Reissi. Er ist 2010 aus Afghanistan in die Schweiz gekommen und wurde nach drei Jahren im Asylverfahren vorläufig aufgenommen. Heute hat er dank einer Härtefallbewilligung den B-Ausweis und lebt und arbeitet in Olten.
Damals wohnte er in einer Kollektivunterkunft in Dornach. «Für eine eigene Wohnung reichte mein Lohn erst 2015», erzählt er bei einem Spaziergang an der Aare. Ich kaufe mir einen Kaffee, er verzichtet. Es sind die letzten Tage Ramadan.
«Von Dornach bin ich jeweils fast zwei Stunden nach Solothurn gereist, um die Deutschkurse zu besuchen, die im Asylverfahren angeboten wurden», erzählt er. Finanziert wurden diese Kurse bis zum Sprachniveau A2. Seifudin hätte gerne weitergemacht – doch dazu reichte das Budget nicht, nur schon wegen der Kosten für die Anreise.
«Ich hätte damals gerne eine Lehre gemacht, aber es war klar, dass meine Deutschkenntnisse noch nicht reichten dafür. Also habe ich mir einen Job gesucht, bei dem ich sofort arbeiten und etwas verdienen konnte», erzählt er. Über Beziehungen fand er einen ersten Job in Basel, erkämpfte sich bei den Behörden eine Arbeitsbewilligung, obwohl sein Asylverfahren noch nicht abgeschlossen war. Danach erhielt er im Hotel Olten eine Anstellung, wo er heute noch arbeitet.
«Ich habe mich im Hotel Olten hochgearbeitet, von der Küchenhilfe bis zum Allrounder, der ich heute bin», erzählt er. «Schlussendlich hat das auch ohne Lehre geklappt – aber es war harte Arbeit.»
Seifudin Reissi hat eine klare Einschätzung, was passieren würde, wenn man die Sozialhilfeansätze im Asylbereich weiter kürzen würde: «Vor allem: mehr Schwarzarbeit. Je knapper das Geld, umso kleiner sind die Chancen, genügend Deutsch zu lernen, eine Ausbildung zu machen und eine reguläre Arbeit zu finden. Und wenn die Perspektive fehlt, dann steigt auch die Kriminalität.»
Seifudin sagt, er wolle sich nicht beklagen. Er sei dankbar für die Möglichkeiten, die er in der Schweiz habe. Denn eine Rückkehr nach Afghanistan sei immer unwahrscheinlicher geworden, spätestens, als die Taliban im letzten Jahr die Macht übernahmen. «Aber daran würde sich nichts ändern, egal, wie die Sozialhilfe ist.»
«Es ist heute bekannt, dass sehr tiefe Sozialhilfeansätze im Asylbereich die Integration massiv erschweren», sagt auch El Uali Said, «und das wiederum führt unter dem Strich zu mehr Kosten für den Staat – nicht weniger.»
Er erklärt, dass Menschen, die sich aus mangelnder Perspektive für Niedriglohn- oder Schwarzarbeit entscheiden, sehr häufig später wieder von der Sozialhilfe abhängig werden. «Die Sozialhilfeabhängigkeit ist deshalb oft ein Teufelskreis, der sich sogar auf die nächste Generation überträgt – etwa, weil Eltern dann auch ihren Kindern keine Ausbildung finanzieren können.»
El Uali Said betont, dass auch heute bereits genügend Anreize bestehen für vorläufig Aufgenommene, um sich von der Sozialhilfe loszulösen: «Erstens sind die Ansätze bereits so tief, dass man damit in einer Kollektivunterkunft leben muss. Zweitens darf man keine Sozialhilfe mehr beziehen, wenn man einen B-Ausweis beantragen möchte.» Und der B-Ausweis, die Aufenthaltsbewilligung also, bringt gegenüber dem F-Ausweis zahlreiche Vorteile: Erst damit sind etwa Reisen ausserhalb der Schweiz erlaubt oder ist ein Familiennachzug einfacher möglich.
«Nach einer schwierigen Zeit war es für mich wie ein riesengrosses Aufatmen, als ich den B-Ausweis erhalten habe», erzählt Seifudin Reissi. «Es war nach fünf Jahren zum ersten Mal erlaubt, eine Reise zu machen. Und vor allem hatte ich diese ständige Angst nicht mehr, dass ich alles, was ich mir hier in der Schweiz aufgebaut hatte, jederzeit wieder verlieren könnte, wenn die vorläufige Aufnahme beendet würde. Ich dachte: Jetzt bin ich jemand hier. Vorher war ich niemand.»
«Die Erfahrung hat es gezeigt: Es lohnt sich, in die Integration von Menschen zu investieren», sagt El Uali Said und spricht damit auf die Erhöhung der Integrationspauschale für Menschen im Asylbereich an, die 2019 von Bund und Kantonen beschlossen wurde. «Die Stossrichtung der Bundesbehörden zeigt eigentlich in die Gegenrichtung der Initiative.»
Er fasst es so zusammen: «Migration mit Mitteln der Sozialhilfe zu regulieren, kommt nie gut.»
Einen Anhänger voll mit Glasflaschen haben wir soeben entsorgt. Ich und mein Hund Piero sind nun auf dem Rückweg zur Suchthilfe, um weitere recycelbare Wertstoffe für das Projekt «Umweltfreunde» zu sortieren. Ich weiss noch nicht, ob es heute nochmals für einen vollen Anhänger reicht. Seit zwei Jahren mache ich das schon. Immer vormittags ab 8 Uhr bis zum Mittag. Heute Nachmittag habe ich frei.
Für einmal wurde im Terminus Club auf Stühlen Platz genommen, schwarzes Holz fürs Publikum, smaragdgrüner Samt auf der Bühne. Gedämpftes Licht, Discokugeln und eine reich bestückte Bar, das passt eigentlich nicht zu einem Montagabend. Auch nicht zu einer Podiumsdiskussion – ausser es geht dabei ums Feiern.
Im einzigen Nachtclub der Stadt lud Kolt zu seinem 7. Treffen, um über das Oltner Nachtleben zu sprechen:
Läuft in Olten zu wenig? Wenn ja, warum? Und wie lässt sich das ändern?
Fünf Männer aus Gastronomie, Eventbranche und Stadtverwaltung wurden sich unter Moderation von Kolt-Concierge Finja Basan und Kolt-Verleger Yves Stuber mehr oder weniger einig:
Ja, es könnte mehr laufen in Olten. Das Bekenntnis der Stadt für ein lebendiges Olten würde helfen. Und doch ist das hiesige Nachtleben auf keinem schlechten Weg.
Kurz: Olten ist nicht tot, aber auch kein Partyparadies.
Nun aber von vorn.
«War früher alles besser?», fragte die Moderatorin einen, der es wissen muss: Aleks, der seit vielen Jahren hinter den Tresen der Stadt steht, früher im Magazin, im Sisième, in der U2 Bar, heute als Chef de Bar der Baroque Bars im Terminus.
«Ob es besser war, weiss ich nicht», eröffnete er die Gesprächsrunde, «aber einiges war früher einfacher.» Die Ansprüche der Gäste seien gestiegen, ebenso die der Behörden. Ballungszentren seien heute grösser und die Menschen mobiler.
Dem stimmte auch August «Gusti» Burkart zu, der das Nachtleben in der Region während vieler Jahre mitgestaltete. «Die Ansprüche der Leute sind heute viel höher», sagte der ehemalige Betreiber der Kettenbrücke, der Opium Lounge und des Platzhirsches in Aarau sowie der früheren Oltner Clubs Metro und El Harem. «Früher hatten wir Freude an vier blinkenden Glühbirnen. Sowas zieht heute nicht mehr.»
Mehr Professionalität ist gefordert und gleichzeitig konsumieren die Gäste weniger als früher, so der Tenor, etwa wegen der Rauchverbote und strengerer Regelungen bei Alkohol am Steuer. Deshalb sei es heute mit mehr finanziellem Aufwand und mehr Risiken verbunden, eine Bar oder einen Club zu betreiben, als noch vor 20 Jahren.
«Wenn du heute eine Bar eröffnest, muss die sensationell aussehen», meinte Dušan Nedeljković gar, für den die Veranstaltung ein Heimspiel war: Er ist der Geschäftsführer des Terminus Clubs.
Dieser ist seit der Schliessung des Metro Clubs im Frühling 2010 der einzige kommerzielle Nachtclub in der Stadt Olten. Auf die Frage, ob er noch andere Möglichkeiten sehe für weitere ähnliche Betriebe, meinte Dušan: «Extrem schwierig. Entweder gibt es zu viele Anwohner oder der Standort wäre nicht zu Fuss erreichbar, wie etwa in der Industrie, oder aber er wäre zu düster, wie zum Beispiel in der Winkelunterführung.»
Wo er aber Potential sieht, wäre in der Oltner Barlandschaft. «Mehr Bars wären toll. Davon würden wir als Nachtclub auch profitieren. Die Leute machen idealerweise eine Tour durch die Bars, und am Ende landen sie im Club.»
Das bestätigt auch Gusti Burkart: «Es ist schön, wenn man in einer Stadt alles kann: essen, trinken, clubben. Die Angebote von Bars, Clubs und Restaurants ergänzen sich. So entsteht ein lebendiges Nachtleben.»
Das sei es, was Aarau gegenüber Olten zu einer attraktiveren Ausgehstadt mache. Das Angebot an verschiedenen Bars und Clubs ist grösser, die Strassen abends belebter als hier. Die Aarauer Altstadt hat sich in den letzten Jahren zur beliebteren Wahl für Nachtschwärmerinnen gemausert.
Woran liegt das?
Ein augenfälliger Unterschied zwischen den beiden Städten: die «Polizeistunde» für den Betrieb auf der Gasse. In Olten ist im Sommer draussen um 00:30 Uhr Schluss. Die Aarauerinnen dürfen hingegen laue Nächte bis um 2 Uhr mit einem Drink in der Gartenwirtschaft geniessen.
«Ich glaube, diese Regelung mit 00:30 Uhr ist im Fall von Olten ein guter Kompromiss», meinte dazu Philipp Stierli, der als Leiter der Abteilung Ordnung und Sicherheit die Stimme aus der Stadtverwaltung ins Terminus brachte. «Eine Verlängerung bis um 2 Uhr wäre ein politischer Prozess, bei dem allen verschiedenen Interessen Rechnung getragen werden müsste. Die aktuelle Regelung ist bereits ein Mittelweg, der sowohl von den Anwohnenden als auch von den Gästen akzeptiert und toleriert wird.»
Auch Mike Zettel, der als Geschäftsführer der «Kein Ding GmbH» diverse Grossanlässe in der Stadt Olten, so etwa die MIO, organisiert, sieht die Öffnungszeiten nicht unbedingt als Problem. «Für uns als Grossveranstalter ist es nicht schlecht, wenn am Abend auch mal Schluss ist.»
Und die Bar- und Clubbetreiber? Auch für sie sind die Öffnungszeiten nicht das Zünglein an der Waage. Der Unterschied zu Aarau sei ein grundsätzlicherer: «In Aarau ist es spürbar, dass sich die Stadt ein lebendiges Nachtleben aktiv zum Ziel gesetzt hat», fasste Gusti Burkart zusammen.
Er erzählte von einer Diskussionsrunde, zu der die Stadt Aarau Anwohnende und Vertreter aus Gastronomie- und Detailhandel eingeladen hatte, um über die verschiedenen Interessen in der Aarauer Altstadt zu beraten. «Daraus resultierte ein politischer Entscheid: In der Altstadt muss Wohnen genauso wie Kultur möglich sein. Die Stadt will beides. So wird es seither durchgezogen in allen Ämtern und Gremien. Als Gastronom bedeutet das: Du kannst, aber im Rahmen.»
Dieses Bekenntnis sei in Olten weniger spürbar. Und trotzdem wurde immer wieder betont: So schlimm wie in Zofingen ist es aber auch wieder nicht. Das Aargauer Städtchen wird regelmässig als besonders partyfeindlich bezeichnet. «Zofingen ist eine Schlafstadt», nannte es Dušan. «Das ist Olten nicht. Man wird hier nicht ausgebremst von der Stadt. Aber es ist eben auch nicht wie in Aarau, wo die Verwaltung für eine lebendige Stadt einsteht.»
«Die Stadt verhindert keine Veranstaltungen», meinte Philipp Stierli. «Wenn jemand eine Veranstaltung durchführen will, dann haben wir eine unterstützende, positive Haltung. Aber wir müssen immer die Waage halten.» Generell findet er, die Stimmung in der Stadt sei grundsätzlich gut. «Gerade seit der Attraktivierung der Kirchengasse floriert die Innenstadt vermehrt. Es fehlt vielleicht die eine oder andere Bar, aber es ist belebter.»
Dem pflichteten auch Dušan und Aleks bei. Mediterraner sei es geworden, hiess es immer wieder. Die Leute seien neuerdings vermehrt draussen auf der Strasse anzutreffen – eine gute Entwicklung, die auch auf eine progressivere und teilweise verjüngte Stadtverwaltung zurückzuführen seien.
«Der Amtsschimmel von früher verschwindet langsam», unterstrich auch Mike Zettel und meinte damit, dass Prozesse wie Bewilligungsverfahren für Veranstaltungen heute von der Stadt effizienter und zuvorkommender behandelt würden als noch vor einigen Jahren.
Dass er einer progressiven Haltung zur Belebung der Oltner Innenstadt nicht abgeneigt ist, zeigte auch Philipp Stierli. So versprach er, dem Stadtrat ein Feedback aus dieser Runde zu geben.
Nein, das Oltner Nachtleben ist nicht tot. Darin waren sich alle einig, und Mike Zettel sprach vielleicht dem gesamten Podium aus der Seele, als er sagte: «Ich glaube an Olten. Und ich werde hier auch weiterhin Events organisieren, die in Bern oder Luzern vielleicht besser laufen würden. Denn Olten ist Herz.»
Dann kann es ja eigentlich nur gut kommen. Schön fühlte es sich deshalb an, nach der Diskussion das Konzert der Dulliker Sängerin Sury und das ein oder andere Bier zu geniessen – und dabei fast zu vergessen, dass Montagabend war.
Das steht an der Wand der Gaststube im Dorf, wo sich die Leute nur für den Unterhaltungsabend der Dorfmusik schön machen, wo am Sonntag die Kirche leer und die Beiz voll ist, wo alle alles wissen und doch nicht die ganze Wahrheit.
Wo alle viel reden.
«Roland wusste, wie das lief. Hatten sie ihn erst einmal im Blick, Mutters Gäste, fielen ihnen plötzlich zahlreiche Geschichten zu ihm ein, die sie ihrem Sitznachbarn im Flüsterton erzählen mussten. Alte Geschichten. Neue Geschichten. Alte Geschichten neu erzählt. Ein Graus war das.»
Alle reden viel – aber eben nur über- und nicht miteinander. Besonders dann, wenn es um die geht, die wirklich betroffen sind.
«Der Tschudin fragte sich, ob Sandra davon wusste. Vermutlich nicht. Sie war zu nahe an der Geschichte dran. Er könnte es ihr sagen. Er müsste es ihr sagen. Aber er schwieg. Er schwieg, weil er Sandra mochte. Und er schwieg, weil alle schwiegen.»
Ein unspektakuläres Dorf irgendwo im Schweizer Hinterland, von Jurahügeln und Kirschbäumen umrahmt, das ist der Schauplatz von Rebekka Salms erstem Roman «Die Dinge beim Namen».
Zwölf in sich abgeschlossene Kapitel erzählen zwölf verschiedene Perspektiven auf dieselbe Geschichte: eine Vergewaltigung nach dem Unterhaltungsabend 1984. Und alle anderen Geschichten, die damit auf die eine oder die andere Weise zusammenhängen.
«Manchmal war eine Geschichte komplexer als die Geschichten, die man sich darüber erzählte, es erahnen lassen würden.»
Es geht um sexuellen Missbrauch, um verhärtete Geschlechterrollen, um häusliche Gewalt, Eifersucht, Prostitution, versteckte Homosexualität – und darum, wie das alles unter den Tisch gekehrt wird. Dem Dorffrieden zuliebe.
Und wie trotzdem alle darüber reden.
Das führt dazu, dass manch einer mehr über den anderen weiss als über sich selbst. Und irgendwie auch, dass niemand richtig glücklich ist im Dorf – und trotzdem alle dableiben.
«Die Dinge beim Namen» liest sich leicht, zumal die zwölf persönlichen Geschichten die eigene Neugier mühelos zu wecken vermögen. Der Leserin wird direkt der Spiegel vorgehalten: Sie liest weiter, weil das eigene klatschsüchtige Herz danach verlangt. Es nimmt einen schrecklich wunder, was die wahren Geschichten hinter all den Gerüchten sind. Und so liest man gierig Kapitel für Kapitel, bis die letzte Seite enttäuschend früh kommt und es sich ein wenig anfühlt, als wisse man zu viel. Als hätte man zu lange hinter gezogenen Vorhängen hervorgespienzelt.
Und immer wieder kommt der Gedanke: Ach, wenn die Protagonistin nur wüsste, was ich weiss. Wenn die Leute nur miteinander reden würden.
Wir haben – wenigstens das – mit der Autorin geredet. Rebekka Salm ist in Bubendorf bei Liestal aufgewachsen. Seit mindestens 20 Jahren hat sie dem Dorfleben den Rücken gekehrt und lebt heute in Olten. Für Kolt schreibt sie seit Kurzem Kolumnen. «Die Dinge beim Namen» hat sie neben ihren Jobs im Asylwesen, als Texterin und als Mutter verfasst. Vor zwei Jahren startete das Abenteuer. Jetzt ist der Roman im Buchhandel zu kaufen.
Rebekka Salm, wie schreibt man ein Buch?
Begonnen hat alles mit Kurzgeschichten. Davon habe ich einige geschrieben und mir dann gesagt, dass ich das kann. Aber einen Roman, das habe ich mir lange nicht zugetraut. Ich hatte es vor Jahren schon einmal versucht, doch da war meine Tochter noch zu klein und meine verfügbare Zeit zu knapp. So hat auch mein jetziger Roman seine Ursprünge in einer Kurzgeschichte. Aus einer wurden mehrere, und plötzlich merkte ich, dass sich daraus ein grösserer Plot entwickelt hatte. Das erklärt auch die in sich abgeschlossenen Kapitel, die jeweils die Geschichte einer Person aus dem Dorf erzählen.
Und plötzlich stand doch ein ganzer Roman?
Ausschlaggebend war der Kommentar einer Freundin. Sie fragte mich, ob ich denn auch irgendwann mal ein Projekt tatsächlich abschliessen würde. Das machte mich wütend genug, um es wirklich zu tun. Also sass ich immer wieder hin und schrieb, im Zug oder morgens, wenn meine Tochter in der Schule war. Das ist auch die Antwort auf die Frage, wie man ein Buch schreibt: Du setzt dich hin und schreibst nieder, was du im Kopf hast. Und lässt dich dabei möglichst wenig ablenken durch ungemachte Wäsche, schmutzige Fenster oder Instagram.
Deine Geschichte spricht patriarchale Strukturen in der ländlichen Schweiz an. Und die Probleme, die daraus resultieren – etwa, dass einer Frau die Mitschuld an einer Vergewaltigung gegeben wird. Hat der Text für dich eine politische Dimension?
Es geht in der Geschichte viel um Geschlechterverhältnisse. Das ist auf jeden Fall politisch, und es ist mir wichtig, dass das thematisiert wird. Ob aber ein explizit politischer Wille dahintersteht, kann ich gar nicht genau sagen. Sehr vordergründig war für mich beim Schreiben die Ebene der Kommunikation. Das Miteinander- und das Darüber-Reden, auch im Zusammenhang mit der Vergewaltigung.
Inwiefern?
Es ist sehr wichtig, wie über Geschehnisse gesprochen wird. Dass eine Vergewaltigung nicht als solche benannt, sondern gesagt wird, eine Frau sei «überstellt» worden, ist enorm prägend. In meiner Geschichte verändert sich mit der gesellschaftlichen Bewertung einer Vergewaltigung – und mit den Worten, die man für sie braucht – sogar die Bewertung des Ereignisses durch das Opfer selbst.
Das «Reden» steht im Zentrum deines Romans.
Ja, ganz klar. Dass wir nicht miteinander kommunizieren, wenn es um schwierige Themen geht, ist ein Riesenproblem. Das Schlimmste ist nicht das Tratschen, das im Dorf exzessiv praktiziert wird. Sondern, dass über die relevanten Themen dann nicht gesprochen wird, wenn es darauf ankommen würde. Dadurch, dass wir nicht offen und ehrlich auch über Unangenehmes sprechen, öffnen wir Türen für weiteres Ungemach.
Beschäftigt dich das in deinem eigenen Leben?
Ich arbeite in der Kommunikation – insofern beschäftigt mich das auf einer professionellen Ebene. Und persönlich sind mir solche Dynamiken nicht fremd. Ich komme selbst aus einer Familie und einem Dorf, in denen kaum über sogenannte Tabuthemen gesprochen wurde. Vieles aus dem Roman ist angelehnt an meine Erinnerungen ans Leben in Bubendorf. Doch es ist überspitzt dargestellt. Und wie es heute im Dorf läuft, weiss ich ja auch gar nicht mehr.
Was hast du dir in Bubendorf abgeschaut für den Roman?
Namen, Kulissen, Requisiten, Tendenzen, Stimmungen – aber keine Geschichten. Die habe ich erfunden. Ich habe nichts aus dem Roman wirklich erlebt, und doch hat er viel damit zu tun, wie ich das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, wahrgenommen habe.
Und wie fühlt es sich an, dein fertiges Buch in den Händen zu halten?
Ich freue mich sehr, bin auch durchaus stolz. Und trotzdem ist da auch Scham. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Scham wofür?
Etwa, dass ich vereinzelt die richtigen Namen verwendet habe von Menschen aus meinem Heimatdorf. Vom Metzger Tschudin zum Beispiel. Oder, dass ich eine dicke Frau als dümmlich darstelle und dabei, ohne es zu merken, stigmatisiere. Das ist mir bewusst geworden, als ich erfuhr, dass eine Bekannte mein Buch liest, die selbst Aktivistin gegen Fat-Shaming ist. Oder ich mache mir Sorgen, dass meine Geschichte als platter Heimatroman wahrgenommen wird. Kurz: Jetzt, wo es draussen ist, ist das Buch den Bewertungen aller Menschen ausgesetzt. Darüber habe ich keine Kontrolle mehr, und damit muss ich umgehen können. Das ist nicht einfach – aber trotzdem überwiegen die guten Gefühle. Immer wieder denke ich: Wow, jetzt ist es draussen. Wie cool. Und die ersten Rückmeldungen, die ich erhalten habe, befeuern dieses Gefühl.
«Die Dinge beim Namen» ist ab sofort online erhältlich beim Oltner Knapp-Verlag oder in der Buchhandlung deines Vertrauens, zum Beispiel bei Schreiber oder Klosterplatz.
Es ist ruhig an der Bleichmattstrasse. An gepflegten Vorgärten spazieren Paare mit Kinderwagen vorbei. Hier unten ist die Hauptstrasse noch knapp hörbar. Weiter oben dann gar nicht mehr, es folgt der Schöngrund, wo die Aussichten schöner und die Immobilien teurer sind.
Die Bleichmattstrasse ist der Eingang zu einem der besseren Quartiere Oltens. Zentral und doch ruhig, mit schmucken alten Häusern, das Schulhaus Frohheim gleich nebenan – kein Wunder, dass sich hier auch Oltens Volksvertretung wohlfühlt.
Die ehemalige Stadträtin Iris Schelbert (Grüne) bewohnt eines der Reihenhäuser im unteren Teil der Bleichmattstrasse, ebenso die junge Gemeinderätin Laura Schöni (Olten jetzt!). Im selben Quartier, nur wenige Spazierminuten entfernt, wohnen auch die Gemeinderäte Urs Knapp (FDP) und Marc Winistörfer (SVP).
Und mittendrin, an der Bleichmattstrasse 21, im beschaulichen Reihenhaus zwischen Schelbert und Schöni, hat der Verein Schlafguet gefunden, wonach er jahrelang mit bemerkenswerter Ausdauer gesucht hat: ein Haus für die erste Notschlafstelle im Kanton Solothurn.
Prolog: eine zähe Suche
«Der Standort ist denkbar ungeeignet», sagt Iris Schelbert am Telefon.
«Das ist nicht sinnvoll in unserem Quartier», stellt Marc Winistörfer klar.
«Es ist eine Chance», meint Laura Schöni.
Das Gebäude biete «ideale Bedingungen für das Konzept, welches vom Vorstand ausgearbeitet wurde», ist auf der Website des Vereins Schlafguet zu lesen.
Seit 2017 hatte der private Verein nach einer Räumlichkeit gesucht, um den Betrieb einer Notschlafstelle aufzunehmen. Der Stadtrat hatte damals die Notwendigkeit für eine Notschlafstelle in Olten verneint. Die Sozialdienste, die KESB und die Polizei würden zusammen ein ausreichendes Netzwerk bilden, um Menschen ohne geregelte Unterkunft zu betreuen, so die Stossrichtung der Stadt. In Ausnahmesituationen werden Personen, die sich bei Sozialdiensten oder Ordnungskräften melden, in Hotelzimmern untergebracht.
Auf eigene Faust
Der rund 50-köpfige Verein Schlafguet hingegen ist überzeugt, dass in der Realität ein Bedarf an niederschwelligen Übernachtungsmöglichkeiten besteht. Dies vor allem, weil randständige Personen sich der Bürokratie der Behörden oft nicht stellen können oder wollen.
Mit dem Haus an der Bleichmattstrasse ist Schlafguet seinem Ziel so nah wie noch nie.
Die Stiftung «Raum für soziale Projekte in der Region Olten» will das dreistöckige Haus dem Verein zur Verfügung stellen. Vorgesehen ist ein Angebot auf drei Etagen: Im Erdgeschoss die eigentliche Notschlafstelle mit kurzfristigen Übernachtungsmöglichkeiten. Im ersten Stock längerfristig vermietete Zimmer für Menschen, die für mehrere Wochen bis Monate eine Bleibe brauchen. Und zuoberst dauerhaft vermietete soziale Wohnräume.
Letzten September folgte eine Infoveranstaltung für die Anwohnerschaft: Im November 2022 soll ein dreijähriges Pilotprojekt starten. Unter professioneller Leitung, mit geregelten Öffnungszeiten und Hausordnung.
Das Oltner Tagblatt berichtete. Urs Knapp und Marc Winistörfer reichten daraufhin eine Interpellation ein. Die wird bald im Parlament diskutiert werden. Es ist zu erwarten, dass der Verein Schlafguet in absehbarer Zeit das Baugesuch einreichen wird, das dem Start des Betriebs vorangehen muss. Natürlich auch zu erwarten sind deshalb: Einsprachen – von der Anwohnerschaft mit der beachtlich grossen Dichte an Politikerinnen.
«Wir müssen mit harten politischen Diskussionen und Einsprachen rechnen», sagt Timo Probst vom Verein Schlafguet. «Aber wir sind überzeugt, dass es funktionieren kann.» Der Standort habe zahlreiche Vorteile wie etwa die Nähe zum Bahnhof und auch die Ruhe – denn es gehe ja darum, einen geschützten Ort für Übernachtungen zu bieten. «Mit klaren Regeln und einer professionellen Führung hat das Projekt an der Bleichmattstrasse gute Voraussetzungen.»
Der Tenor war bereits an der Infoveranstaltung von vergangenem Herbst klar spürbar: Die Anwohnerschaft ist, mild ausgedrückt, kritisch.
Wir haben uns nach deren Bedenken erkundigt. Und sind dann nach Baden gefahren, um zu sehen, wie es dort funktioniert.
«Ich bin links und ich bin grün – aber ich will die Notschlafstelle trotzdem nicht», sagt Iris Schelbert ehrlich. Sie versteht, dass der Verein eine gute Absicht hat, doch findet sie dessen Vorgehen etwas naiv. «Ich glaube, die Initianten sind sich nicht bewusst, wie es dann wirklich zu- und hergehen wird.»
Vor allem die unmittelbare Nähe zum Schulhaus sieht Schelbert als Problem. Drogenhandel und Alkoholkonsum könnten sich auf den Velounterstand des Schulhauses verlagern. Oder Kinder auf dem Schulweg belästigt werden. Überhaupt fragt sie sich, ob der Bedarf nach einer Notschlafstelle vorhanden sei. «Ich befürchte auch, dass damit weitere randständige Personen aus der Region in Olten landen würden.»
Auch sei das Haus extrem ringhörig, und Lärm und Streitereien seien wahrscheinlich. Das Argument des Vereins, dass dann die Polizei gerufen werden kann und dass Betreuungspersonen vor Ort sein werden, helfe ihr nicht weiter: «Ich will gar nicht erst die Polizei rufen müssen.»
Marc Winistörfer sieht es ähnlich. Er spreche für eine grosse Gruppe von besorgten Anwohnenden. Weil die nicht direkte Nachbarn sind, seien sie bis jetzt zu wenig einbezogen worden. Deshalb auch die Interpellation, sagt er. «Die Besorgnis in der Nachbarschaft ist gross, und sie wurde bisher zu wenig ernst genommen.»
Befürchtet werden Lärm, Beschaffungskriminalität, Sachbeschädigungen, Abfall, Drogenkonsum. Und es sei auch möglich, dass sich die Szene, die sich jetzt bei der Stadtkirche aufhält, ins Quartier verlagert. «Wenn Private eine Notschlafstelle errichten wollen, dann ist das ihr gutes Recht. Aber Sinn machen würde das in der Nähe des Bahnhofs oder der Stadtkirche – nicht in diesem ruhigen Wohnquartier.»
Als ich Laura Schöni anrufe, bin ich überrascht. «Unser Quartier ist bisher nicht sonderlich durchmischt. Deshalb könnte die Notschlafstelle eine Chance sein», ist sie überzeugt.
Sie steht dem Projekt offen gegenüber – sowohl als Nachbarin als auch als Politikerin. «Wenn sich Olten als Zentrumsstadt sehen will, dann muss das auch für sozialen Wohnraum gelten.»
Schöni findet das freiwillige Engagement von Schlafguet sehr unterstützenswert und fürchtet nicht allzu sehr um ihren eigenen Schlaf: «Lärm wird sicher ein Thema sein, aber mich beruhigt es, dass Ansprechpersonen da sein werden.»
Die Kritik am Projekt sei bisher stark geprägt von der Debatte um Randständige am Kirchensockel. «Ich habe keine Ahnung, welche Menschen hierherkommen werden. Aber ich will offen sein.» Dafür müsse der Verein proaktiv vorgehen und die Nachbarschaft stark einbeziehen. «Das war an der Infoveranstaltung im September noch nicht optimal.»
Baden: wie es läuft
Die Bedenken aus Olten sind aufgelistet und notiert, als der Zug in Baden einrollt. Von Olten aus gesehen liegt hier die nächste Notschlafstelle. Auch sie ist die Einzige im Kanton Aargau. Im August läuft ihre dreijährige Pilotphase ab.
Das Projekt umfasst – gleich, wie es in Olten geplant ist – sowohl die eigentliche Notschlafstelle als auch eine Notpension, wo Betten längerfristig vermietet werden.
Rot gestrichene Riegel zieren die weisse Fassade der Oberen Halde 23. An der Holztür des schmucken Altstadthauses hängt ein diskretes Schild: Notschlafstelle Aargau. 20:00 – 9:00. Einlass bis 23:00. Davon abgesehen deutet nichts darauf hin, dass in diesem Gebäude Nacht für Nacht Menschen beherbergt werden, die sonst nirgends unterkommen.
Für uns wird die schwere Tür ausnahmsweise am Nachmittag geöffnet – zu Betriebszeiten empfängt die Einrichtung keine Medienschaffende. Umso plastischer erzählen uns Susi Horvath, Leiterin der Notschlafstelle, und Deborah Schenker, Geschäftsleiterin des Trägervereins Hope, von den nächtlichen Abläufen im Betrieb.
Die folgen strikten Vorgaben: Einzel-Einlass, Aufnahme der Personalien, Unterschreiben der Hausordnung, Betten beziehen. Nach den Formalitäten erwartet die Gäste ein warmes Abendessen, Duschen, Wäscheservice, Frühstück und – natürlich – ein Bett. Symbolischer Preis: 5 Franken. Insgesamt stehen 13 Betten zur Verfügung.
«Klare Strukturen und Regeln sind unverzichtbar», sagt Susi Horvath. Sie arbeitet im Vollpensum für die Notschlafstelle und verbringt hier wöchentlich drei bis vier Nächte. «Jede Nacht sind zwei Betreuungspersonen anwesend: eine Mitarbeiterin und ein Freiwilliger», erklärt sie und erzählt, wie alle Mitarbeitenden und Freiwilligen in Brandschutz, Erster Hilfe und Selbstverteidigung geschult werden – und wie, wenn es Probleme gibt, die Polizei jeweils sofort vor Ort ist.
Zum Schutz der Mitarbeitenden dient ein vergittertes Fenster an der Eingangstüre. Das kann bei «renitenten Gästen» zuerst geöffnet werden, bevor man sie ins Haus lässt. Immer wieder dreht sich das Gespräch um Alkohol und Drogen. Die müssen die Gäste am Eingang abgeben. Bei Verlassen des Hauses bekommen sie sie zurück.
Das sind nicht in erster Linie Informationen, die die Oltner Sorgen in Luft auflösen würden, denke ich mir. Denn es ist offensichtlich, auf welches Klientel sich die Ängste der Nachbarschaft in der Oltner Bleichmattstrasse beziehen: Es ist das klassische Bild der Drogensüchtigen. Man erwartet, dass hauptsächlich sie das Angebot einer Notschlafstelle nutzen werden. Aber ob es wirklich so ist, weiss niemand so genau.
Wer also schläft in der Notschlafstelle Aargau?
«Es gibt viele verschiedene Gründe, warum jemand bei uns landet», sagt Deborah Schenker. «Am häufigsten sind Suchtprobleme und psychische Erkrankungen. Daneben gibt es Arbeitsmigranten, Armutsbetroffene oder auch Menschen, in deren Zuhause ein Konflikt eskaliert ist – zum Beispiel wegen häuslicher Gewalt.» Etwa 80 Prozent der Gäste sind männlich. Der grösste Teil von ihnen kommt aus Baden. Gäste aus der näheren und weiteren Region sind aber nicht selten – auch ab und zu aus Olten.
«Die allermeisten Gäste sind sehr dankbar und machen keine Probleme», ergänzt Susi Horvath. Spätestens um Mitternacht sei in aller Regel Ruhe im Haus. Dass Konflikte trotzdem vorkommen, streitet sie nicht ab. «In solchen Fällen, etwa bei Schlägereien, ziehen wir sofort die Polizei bei», sagt sie. Die Zusammenarbeit mit der Polizei sei seit Aufnahme des Betriebes sehr eng und überaus positiv.
«Wir unterstützen uns in unserer Arbeit gegenseitig stark. Die Polizei ist uns dankbar, dass wir unbürokratische und niederschwellige Arbeit verrichten können. Bei gefährlichen oder lauten Situationen hingegen sind uns die Polizeikräfte eine Hilfe.»
Das führt uns zur nächsten Frage, die in Olten brennt.
Wie ist es mit dem Lärm?
«Es hat bisher keine Reklamationen gegeben. Aber wir nehmen grosse Rücksicht auf die Anwohnenden», sagt Horvath. Sie erzählt von Einzelfällen, in denen ein Gast nachts auf der Strasse geschrien oder im Haus laute Musik abgespielt hat. Doch dann hätten die Mitarbeitenden jeweils für Ruhe gesorgt oder die Polizei gerufen, bevor die Anwohnerschaft sich meldete.
Auch an normalen Tagen sorge die Leitung der Notschlafstelle dafür, dass die Nachtruhe eingehalten wird. Und das Fenster in der Küche, wo sich die Gäste am Abend aufhalten, ist immer geschlossen, damit die angrenzenden Wohnungen keinen Lärm abbekommen.
«Wenn man den Betrieb gut führt und organisiert, dann wird er zu einem Ort, wo die Gäste selbst auch zur Ruhe kommen wollen. Das ist uns gelungen: Die Menschen kommen hierher, um zu schlafen. Deshalb gibt es nur selten Probleme mit Lärm», erklärt Horvath.
Es sei sogar schon vorgekommen, dass sich Gäste der Notschlafstelle über nächtliche Feierlichkeiten von Jugendlichen vor dem Haus beklagt hätten. Ausserdem sind die Räumlichkeiten der Notschlafstelle früher als Sozialwohnungen genutzt worden, die weniger Betreuung hatten und damit mehr Konflikte generiert hätten. «Die Situation hat sich also sogar verbessert, seit die Notschlafstelle da ist.»
Das wiederum wirft eine andere Frage auf: Ist der Standort der Notschlafstelle Aargau mit dem Haus in der Bleichmattstrasse vergleichbar?
Wo ist die Notschlafstelle in Baden gelegen?
Wie erwähnt: Die obere Halde 23 ist ein stattliches Haus am unteren Ende der Badener Altstadt. Malerisch, mit Charme, in der Fussgängerzone. Rundherum im Uhrzeigersinn ein Spielplatz, der Sozialdienst, Wohnungen, ein Restaurant. Das Quartier ist zentral, ruhig – und doch nicht gänzlich unbelebt.
«Im Sommer ist es auf den Strassen hier abends ziemlich lebhaft», sagt Deborah Schenker. Das ist in der Bleichmattstrasse, die abgesehen vom Schulhaus in einem reinen Wohnquartier liegt, wahrscheinlich anders.
Und doch ist es nicht selbstverständlich, dass in der friedlichen Badener Altstadt eine Notschlafstelle offenbar so konfliktfrei geführt werden kann. Susi Horvath erzählt Anekdoten, die sich fast märchenhaft anhören: Der Beizer von nebenan lässt die Gäste der Notschlafstelle bei sich tagsüber ihre Handys laden. Nachbarn spenden Kleider. Die Coiffeurin bringt einen Sonntagszopf vorbei.
Wie gelang die Eingliederung in die Stadt?
Dazu holt Deborah Schenker aus. Der Trägerverein Hope, ein christliches Sozialwerk, ist in Baden seit vierzig Jahren engagiert. Zu Zeiten der offenen Drogenszene nahm der Verein seine Gassenarbeit auf.
Mittlerweile führt er ein Zentrum mit über vierzig sozialen Angeboten. Die reichen von Mittagstisch über Strickgruppen bis zu Sozialberatungen und einem Übergangswohnheim.
«Die Notschlafstelle als niederschwelligste und oft erste Anlaufstelle hat unser Angebot optimal ergänzt», sagt Schenker. Aber das Netzwerk, die Akzeptanz und das Vertrauen der städtischen Behörden in den Trägerverein, das alles hätten sie über viele Jahre hinweg aufgebaut.
«Das war einerseits sehr hilfreich für den Aufbau der Notschlafstelle, und andererseits ist das Zusammenspiel zwischen unseren verschiedenen Angeboten sehr wichtig.» Die Notschlafstelle alleine wäre nicht ausreichend, so Schenker. Gerade tagsüber sei es sehr wichtig, den Menschen Beschäftigungen und Aufenthaltsorte zu ermöglichen.
«Denn», räumt sie ein, «man muss sich bewusst sein, dass mit der Öffnung einer Notschlafstelle Menschen in schwierigen Lebenssituationen auftauchen und Hilfe suchen». Das Ziel sei es, diese Menschen in ein stabileres Setting zu führen. «Und dazu ist die Notschlafstelle oft die erste Station in einem Netz, welches umso besser funktioniert, je feinmaschiger es ist.»
Durch die langjährige Erfahrung ist in Baden auch die Zusammenarbeit zwischen Sozialdienst, Polizei und der Gassenarbeit des Vereins Hope sehr eingespielt.
In einem nächsten Schritt versucht der Verein Notschlafstelle Aargau, nach Ablauf der Pilotphase vom Kanton mitfinanziert zu werden. Dazu hat Deborah Schenker in fast schon penibler Arbeit Statistiken zur Auslastung der Angebote und zur Unterkunftssituation von Gästen über zwei Jahre hinweg aufbereitet. Und gerade erst war eine Delegation der Kantonsregierung zu Besuch in der Oberen Halde.
Und die Beziehung zu den Nachbarn?
«Der Austausch war uns von Anfang an extrem wichtig», sagt Horvath. Drei Informationsveranstaltungen habe sie organisiert, an denen auch die Stadtpolizei anwesend war. «Mittlerweile kenne ich alle Anwohnenden persönlich. Ich pflege dieses gute Einvernehmen, das heute besteht, enorm stark», erzählt die Leiterin der Notschlafstelle mit stets fester Stimme nicht ohne Stolz.
Sie spült unsere Kaffeetassen in der Küche, ruft dazwischen einen Handwerker an wegen Problemen mit der Heizung und wischt ein letztes Mal über den Tisch, an dem in wenigen Stunden ein Dutzend Gäste ein warmes Essen serviert bekommen. Susi Horvath ist seit gestern Abend hier. Heute Nacht hat sie frei.
Immer wieder wird offensichtlich, was das Geheimnis hinter diesem offenbar so beispielhaften Betrieb ist: harte Arbeit und Professionalität.
Und wenn wir heute eines gelernt haben, dann, dass sich ein Besuch bei den Nachbarn immer lohnt.
Mentale Stärke hat, wer aktiv bleibt. Ich bin als Bergführer über 20 Mal aufs Matterhorn gestiegen, habe als Gipser gearbeitet und nun spiele ich schon seit zehn Jahren Pétanque – hier im Stadtpark und im Club in Trimbach, drei- bis viermal pro Woche. Bei der letzten Vereinsmeisterschaft wurde ich Meister. Ich bin jetzt 92 Jahre alt.
Um die Frage gleich zu beantworten: Die Wildsau «macht» – im eigentlichen Wortsinn – rein gar nichts. Sie ist ja aus Stein. Seit über sechzig Jahren steht sie an der Aare beim Eingang in die Winkelunterführung und lädt vor allem zwei Sorten Mensch ein, auf ihren Rücken zu klettern. Zur ersten Sorte gehören die Obernaaren. Jedes Jahr werden sie rittlings auf dem steinernen Tier sitzend fürs Fasnachtsarchiv abgelichtet. Vermutlich um ihren Willen zu verdeutlichen, während der fünften Jahreszeit so richtig die Sau rauszulassen.
Die zweite Sorte Mensch sind Kinder. Wer auf der rechten Aareseite wohnt und Nachwuchs hat, kennt folgende Rechnung: Von der Friedenskirche bis zur Stadtbibliothek braucht man zu Fuss 13 Minuten. Multipliziert mit dem Faktor Kinderbeine gibt das eine Wegzeit von gut 20 Minuten. Dazu addiere man zwingend und bei jedem Wetter mindestens 5 Minuten, wo das Kind auf der Wildsau rumturnt, bevor an ein Weitergehen überhaupt zu denken ist. Und voilà, schon ist man völlig entnervt in der Stadtbibliothek.
Aber zurück zum Kunstwerk und zu seinem Erschaffer: Jakob Probst. Der 1880 in Reigoldswil (BL) geborene und 1966 in Gambarone (TI) verstorbene Bildhauer ist mit gleich fünf Kunstwerken – darunter der zweieinhalb Meter hohe «Krieger» im Stadtpark – so prominent im öffentlichen Raum Oltens vertreten wie kein anderer Künstler. Dabei hat er nie hier gelebt. Er bezeichnete Olten jedoch stets als seine zweite Heimat. Grund dafür war unter anderem die enge Freundschaft zu den hiesigen Architekten Emil Frey und dessen Sohn Hermann. Letzterer war übrigens entscheidend am Bau der Kanti und der Badi beteiligt.
Für die Wildsau hat Probst einen vom Wallis ins Tessin geratenen Urgestein-Findling bearbeitet. Fünfzig Jahre lang war dieser Brocken aus vulkanischem Gestein im Besitz des Bildhauers Remo Rossi, der die Reliefplastik an der Fassade des Alpiq-Gebäudes am Bahnhofsquai schuf. Rossi wusste mit dem harten Stein nichts anzufangen und überliess ihn Probst. Dieser rang dem Findling mit viel Kraft die Wildsau ab. Probst, so verriet mir die Oltner Stadtführerin Emma Anna Studer, sei seinen Kunstwerken nicht unähnlich gewesen: kantig, kraftvoll, klobig.
1960 kaufte die Stadt Olten die Wildsau für CHF 30’000. Die Neuanschaffung gab in den Medien und an den Stammtischen viel zu reden. «Ganz bös entgleist» sei der Gemeinderat mit der Anschaffung der Wildsau, so der Leserbriefschreiber W. L. Das Kunstwerk sei zwar solide Bildhauerkunst, aber das Sujet eine Zumutung. Was bitte schön sei dessen tiefere Bedeutung? Auf wen spiele es an? Etwa auf die Oltner Bürger? Schöner wäre es gewesen, so W. L. weiter, man hätte sich für eine filigranere Figur entschieden, ein Reh oder einen Fischreiher.
Allen «Hatern» zum Trotz blieb die Steinplastik, was sie war – eine Wildsau. Stellte sich nun noch die Frage, wie diese platziert werden sollte. Jakob Probst hatte die Vorstellung, das Tier so auszurichten, als wolle es von der Aare her auf die Aarburgerstrasse hinaufpreschen. Der Wunsch des Künstlers war den Oltnern Befehl. Dann aber fiel den Stadtoberen auf, dass die Wildsau in dieser Position der Stadt Olten und in der Verlängerung auch der Kantonshauptstadt Solothurn den Hintern zuwandte. Ein No-Go.
Also liessen sie die Stadtarbeiter nochmals antreten und die Steinplastik um neunzig Grad drehen, so dass sie jetzt ihr Gesäss dem Bezirk Gösgen hinhält. Dies wiederum gefiel den Gösgerinnen ganz und gar nicht. Und vor allem gefiel es dem Künstler nicht. Er fand diese Neuausrichtung seines Werks wortwörtlich eine Sauerei und blieb der Einweihungsfeier 1961 fern. Diese Geschichte wäre vermutlich anders verlaufen, hätte Leserbriefschreiber W. L. Gehör gefunden. Niemand, so vermute ich, hätte sich an einem Reh- oder Fischreiherpopo gestört.
Die Gemüter haben sich längst beruhigt. Heute gehört die Wildsau zu Olten wie die Holzbrücke und der Stadtturm. Der Autor Franz Hohler hat ihr eine Geschichte gewidmet und Christian Schenker, der vor knapp einem Jahr verstorbene Liedermacher, hat ihr ein musikalisches Denkmal gesetzt. Nur einen Fehler machen alle, die über die Wildsau schreiben, singen oder sprechen: Die Wildsau heisst gar nicht Wildsau. Eine Sau ist nämlich ein Weibchen. Jakob Probst hat aber explizit ein männliches Tier geschaffen. Deshalb heisst das Kunstwerk korrekterweise «Eber». Das interessiert in Olten allerdings kein Schwein.
*Rebekka Salm (42) wohnt seit einigen Jahren in Olten, arbeitet in Zürich im Asyl- und Flüchtlingsbereich, ist Autorin und Mutter einer Tochter.
Als Angela Müller Zumbrunn ihren jüngsten Sohn hinter dem Sofa hervorzerren musste, um ihn in den Kindergarten zu bringen, fragte sie sich, mit welchem Recht ein Kind in eine Bildungsinstitution gedrängt werden darf.
Und, ob Lernen nicht auch ohne Zwang geht. Mit den schulbedingten Stresssymptomen ihrer Söhne wuchs auch Angelas Interesse an Alternativen zum vorherrschenden Bildungssystem. Bis sie sich schliesslich sagte: «Ich gründe eine Schule.»
Das war letzten Herbst. Heute steht der Businessplan, das Grundkonzept, das Logo. Interessierte Eltern, die das Angebot gerne für ihre Kinder nutzen möchten, gibt es genügend.
Oft war es Mitternacht, wenn Angela Müller in den vergangenen Monaten die letzte E-Mail absendete, den Laptop ausschaltete, ihre Bücher wegräumte. Sie ist Mutter, Imkerin, studierte Sozialarbeiterin und Erziehungswissenschaftlerin. Früher war sie Personalchefin und Triathletin. Jetzt macht sie neben der Planung ihrer Schule eine Ausbildung in Montessori-Pädagogik.
Was noch fehlt, damit es losgehen kann: ein Schulgebäude, eine Lehrperson. Der «Lernfreiraum» soll diesen Sommer sein Schulzimmer für Kinder im Kindergarten- und Primarschulalter öffnen, wenn alles gut kommt. Das erzählt Angela Müller, als sie uns in Olten besucht. Eine Privatschule in Fulenbach oder der nahen Umgebung, gestaltet als Tagesschule für vorerst rund fünfzehn Kinder. Mit einer Grundhaltung, über die wir mehr wissen wollen.
Angela Müller, was läuft falsch im schweizerischen Bildungssystem?
Ich weiss nicht, ob etwas falsch läuft. Ich will nicht generalisieren. Aber es gibt Aspekte, die mir nicht entsprechen. Einer davon ist, dass alle Kinder zum selben Zeitpunkt denselben Stoff vorgesetzt bekommen.
Was ist daran problematisch?
Es ist erforscht, dass bei Kindern Entwicklungsdifferenzen von bis zu vier Jahren bestehen können. Das heisst, dass eine 7-Jährige beim Lesen auf dem Stand einer durchschnittlichen 4-Jährigen sein kann, beim Rechnen aber schon viel weiter. Es gibt hier enorme Unterschiede bei verschiedenen Kindern. Und man weiss auch, dass sich das Gehirn Schritt für Schritt entwickelt und die verschiedenen Zentren unterschiedlich schnell. Deshalb macht es keinen Sinn, jemanden zum Lesen zu bringen, dessen Gehirn noch nicht bereit ist dazu – sowohl entwicklungstechnisch als auch von der Motivation her. Kinder spüren sehr gut, was bei ihnen ansteht. Darum ist es nicht realistisch, alle zur gleichen Zeit durch dieselben Stoffe durchzudrängen.
Kindern werden in der Schule also Inhalte vorgesetzt, für die sie noch nicht bereit sind. Wie kann das verhindert werden?
Mit altersdurchmischten Lerngruppen. Ich möchte das an meiner Schule umsetzen. Es soll Lern-Inputs geben, und die Kinder, die sich interessieren, können teilnehmen. Egal, wie alt. Daran finde ich auch schön, dass ältere oder erfahrenere Kinder dann den jüngeren Dinge zeigen können. Denn wer Gelerntes in eigenen Worten wiedergibt und es jemand anderem erklärt, festigt auch sein eigenes Wissen. Zwei Fliegen auf einen Streich.
Blockiert das die älteren Kinder nicht in ihrem Fortschritt?
Nein. Wichtig ist, dass es auf Freiwilligkeit beruht. Das Kind muss gefragt werden, ob es einem anderen weiterhelfen will. Da darf kein Zwang dabei sein – der ist im Allgemeinen ein Problem. Mit Zwang entsteht Druck, und mit dem Druck schwindet die Lernmotivation und die Lernfähigkeit.
Damit wären wir bei einem weiteren deiner Kritikpunkte am Bildungssystem – dem Zwang?
Ja, ich habe Mühe damit. Sowohl mit dem Zwang als auch mit dem Bewertungssystem. Aber zuerst zum Zwang: Wenn ein Kind einen bestimmten Inhalt zu einem bestimmten Zeitpunkt lernen muss, wenn extern entschieden wird, wie viel es lernen muss und wann eine Pause angemessen ist, dann gefährdet das sowohl die intrinsische Lernmotivation als auch die Fähigkeit des Menschen, seine eigenen Grenzen zu spüren und wahrzunehmen.
Ist der Mensch denn nicht per se faul? Wenn man ein Kind nur dann und nur das lernen lässt, wann und was es will – lernt es dann, was es braucht, um in der Gesellschaft zu existieren?
Kinder lernen ja auch von alleine sprechen. Es ist meine Grundhaltung, dass der Mensch, wenn er sich wirklich für etwas interessiert, auch gerne lernt. Ich selbst bin ein gutes Beispiel: Ich will jetzt eine Schule gründen. Und plötzlich setze ich mich mit Themen auseinander, die mich noch nie interessiert haben in meinem bisherigen Leben: Selbständigkeit, Firmenformen, Umnutzungsgesuche. Und das Beste: Es macht mir Spass, weil ich ein übergeordnetes Ziel habe, das ich erreichen will. Ich glaube, so funktionieren Menschen – und Kinder insbesondere, weil sie eine gewisse Selbständigkeit erreichen wollen. Und dazu müssen sie Verschiedenes lernen: Du musst lesen können, damit du alleine Busfahren kannst, und du brauchst Grundkenntnisse im Rechnen, um dir etwas zu kaufen.
Deinen Sohn musstest du zwingen, in den Kindergarten zu gehen. Wird das an deiner Schule anders sein? Dürfen die Kinder zu Hause bleiben, wenn sie nicht in die Schule wollen?
Im Idealfall werden wir ein Umfeld anbieten, in dem sich die Kinder so wohlfühlen, dass sie auch kommen wollen und wirklich Lust haben darauf. Ich würde sicher kein Kind in die Schule zwingen. Aber ich möchte einen Raum schaffen, den die Kinder mit Freude aufsuchen, weil sie sich ernst genommen und inspiriert fühlen. Aber natürlich kann es immer noch sein, dass ein Kind nicht kommen möchte. Da müsste man einerseits genau hinschauen, woran es liegt. Und andererseits ist es auch wichtig zu sehen, dass meine Schule nicht für alle Kinder die richtige Lösung sein wird. Das ist ganz normal – Menschen sind unterschiedlich, und das ist auch gut so.
Du hast vorher auch das Bewertungssystem angesprochen.
Ja, auch das sehe ich kritisch. Es wird Kindern damit unter Umständen suggeriert, dass sie schlecht sind, obwohl das nicht stimmt. Sie sind vielleicht einfach noch nicht so weit oder nicht so schnell. Oder ihre Fähigkeiten wurden schlicht nicht getestet.
Zum Beispiel?
Mein Sohn hatte eine 3.5 in einem Test, der zwei Seiten lang war. Die erste Seite hatte er perfekt gelöst, und für die zweite Seite hat ihm die Zeit nicht gereicht. Er kam nach Hause und sagte zu mir: «Ich kann das nicht.» Dabei kann er es – nur nicht im geforderten Tempo. Also wird ihm das Gefühl vermittelt, dass er schlecht sei, obwohl das nicht stimmt. Oder ein Kind schreibt schlechte Noten in Deutsch. Das muss nicht heissen, dass es schlecht ist in Deutsch, sondern vielleicht ist es einfach noch nicht so weit, und in zwei Jahren wäre alles gut. Doch die Bewertung setzt Druck auf, und unter Druck können Lernprozesse gar nicht mehr wirklich stattfinden.
Dann sollte bei Tests nicht auf die Geschwindigkeit geachtet werden.
Ja. Aber auch die unterschiedliche Priorisierung von verschiedenen Fähigkeiten macht mir Mühe. Mathematik, Deutsch, Naturwissenschaften werden viel mehr gewichtet als etwa musische, sportliche, kreative oder technische Fähigkeiten. Auch das gibt Kindern, die ihre Stärken vielleicht dort haben, das Gefühl, sie seien nicht gut genug.
Wären gar keine Leistungsnachweise die bessere Lösung?
Mir gefällt bei diesem Thema der Ansatz von Maria Montessori gut. Hier wird sehr viel mit Selbstkontrolle gearbeitet. Ein Kind kann zum Beispiel eine Rechnung machen und dann selbst überprüfen, ob es richtig gerechnet hat oder nicht. Das finde ich sehr sinnvoll. Aber auch im Austausch mit den Lehrpersonen finde ich es grundsätzlich nicht falsch, Lernfortschritte sichtbar zu machen. Für die Kinder wie auch für die Eltern kann das hilfreich sein. Aber eben lieber im positiven Sinn, sodass das Kind vermittelt bekommt: «Hier bist du einen Schritt weitergekommen.»
Bist du nicht auch verpflichtet, an einer Schule gewisse Leistungsnachweise vorweisen zu können?
Ich habe die kantonale Vorgabe, mich an den Lehrplan 21 zu halten. Es gibt das Tool «Mirrocco», das auf diesem Lehrplan basiert. Damit können Lernfortschritte sichtbar gemacht werden in Form einer Blume, die langsam wächst. Das gefällt mir sehr gut, weil es Fortschritte positiv darstellt. Aufgrund der Eingaben im Tool kann auch ein Sprachzeugnis generiert werden – also ein Zeugnis in Worten statt in Nummern.
Wenn all das in der Schulbildung umgesetzt wird – werden daraus bessere Menschen?
Ich habe von meinen Eltern gelernt, dass nichts besser ist als das andere. Es ist einfach alles gut, wie es ist. Aber ja, klar, ich wünsche mir, dass die Menschen sich mehr auf Kooperation und gegenseitige Unterstützung ausrichten. Mehr miteinander statt gegeneinander. Und die Schulbildung hat ja einen enormen Einfluss auf die Wertehaltung der Gesellschaft – und umgekehrt. Womit wir wieder bei der Bewertung wären: Ich glaube, dass damit tendenziell ein ungesunder Konkurrenzkampf gefördert wird. Ein Wettkampf eben, in dem man dem anderen nichts gönnt. Damit hängt auch unsere Definition von Erfolg zusammen. Und, dass so viele von uns Burnouts haben.
Inwiefern?
Der Leistungsdruck, den teilweise auch Eltern ihren Kindern aufsetzen, der Kampf um gute Noten – das entsteht aus dem fehlenden Vertrauen darin, dass das Kind schon fähig ist und dass alles gut kommt. Und die Definition von Erfolg ist gesellschaftlich ziemlich eng definiert: Du bist erfolgreicher, wenn du Banker oder Anwältin bist, als wenn du Hausfrau und Mutter bist. Ich glaube, erfolgreich muss nicht eine Bankerin sein. Erfolgreich kann auch eine glückliche Reinigungskraft sein.
Wie hängen unsere Burnouts damit zusammen?
Ich glaube, dass uns in der Kindheit abtrainiert wird, auf unsere eigenen Grenzen zu achten. In der Schule ist der Takt sehr stark extern bestimmt: Klar definierte Rhythmen, Pausen nur, wenn Pause für alle ist, weitermachen, auch wenn man müde ist. Damit übt man, auf seine eigenen Gefühle nicht mehr zu hören oder eben darüber hinauszugehen. Diese Haltung, dass man nur unter Druck weiterkommt, dass es «noch niemandem geschadet hat», da bin ich überzeugt: Es geht auch lustvoll. Wirklich. Wenn man etwas gerne macht, dann macht man es meistens auch gut und ist dabei leistungsfähig. Aus der Natur heraus ist Lernen lustvoll, und wenn wir das beibehalten können, glaube ich, geht es uns allen besser. Mit dieser Grundhaltung möchte ich eine Schule gründen – das ist mein kleiner Beitrag an eine bessere Welt.
Mit einer Privatschule schliesst du Kinder, deren Eltern nicht genügend finanzielle Mittel haben, von dieser Möglichkeit aus.
Ja – und das ist mein grosser Wertekonflikt. Ich finde das eigentlich nicht in Ordnung. Es wäre natürlich toll, hätte ich Mäzene, sodass Familien mit weniger Einkommen entlastet werden könnten. Und im Idealfall hätte jedes Kind an jeder Schule die Möglichkeit, sich in seinem Tempo entwickeln und lernen zu dürfen mit Spass und Freude und sich Pausen zu nehmen, wenn es welche braucht.
Eine Privatschule im ländlichen Fulenbach – weshalb dieser Standort?
Ich suche ja auch eine Lösung für meine eigenen Kinder – für die, die wollen. Deshalb wurde mir bewusst, dass es in dieser Region sehr wenige alternative Bildungsangebote gibt. Die Einzugsgebiete von Privatschulen in der Region, etwa in Oensingen, sind gross und die Schulen oft bereits ausgelastet. Und ich fände kurze Schulwege, die die Kinder selbst bewältigen können, eigentlich besser. In Städten ist wahrscheinlich die Nachfrage grösser, aber es gibt auch mehr Angebote von verschiedenen Schulen. Insofern ist der ländliche Standort nicht unbedingt ein Nachteil.
Was braucht es aus deiner Sicht, damit sich auch öffentliche Schulen in die Richtung entwickeln, die du dir wünschst?
Ich bin vernetzt an öffentlichen Schulen und sehe, dass dort sehr viel Arbeit in diese Richtung geschieht. Auch der Lehrplan 21 ist eigentlich eine wunderbare Grundlage, weil er Lernziele in Zyklen darstellt. Es steht und fällt mit der Umsetzung – und die ist je nach Schulleitung sehr unterschiedlich. Ausserdem geschieht gerade ein grosser gesellschaftlicher Wandel, der die klassische Leistungsgesellschaft hinterfragt. Aber öffentliche Institutionen hinken natürlicherweise gesellschaftlichen Entwicklungen, die eher punktuell geschehen, hinterher.
Dann kommt es doch noch gut mit unserem Bildungssystem?
Die meiste Zeit meines Lebens verbrachte ich in einer lauten, lebendigen Grossstadt am Mittelmeer in der Türkei. Als ich nach Olten kam, fühlte es sich zuerst etwas speziell an in dieser so ruhigen Stadt mit wenig Verkehr. Aber jetzt lebe ich sehr gerne hier. Auch wegen dem Wetter: Ich mag es lieber kühl. Meine beiden erwachsenen Kinder leben in der Türkei. Meine Tochter ist Lehrerin und mein Sohn studiert in der Stadt, in der ich aufgewachsen bin.
Aus verschiedenen Gründen verfolgen mich in letzter Zeit Fragen rund um die Altersvorsorge. Und dabei bin ich noch nicht einmal dreissig Jahre alt.
Da ist zum Beispiel der Finanzchef meines Arbeitgebers, der sich mit mir meinen Vorsorgeausweis der beruflichen Altersrente anschauen will – sollten Sie auch unbedingt einmal tun. Dann sind da noch zwei Anzugträger, die sich gerne um meine private Vorsorge kümmern möchten und mir jede Menge Zahlen um die Ohren hauen.
Gründe genug, mich mit der Thematik tiefer auseinanderzusetzen. Also habe ich mich durch Artikel, Dossiers und Studien gekämpft, bis mir der Kopf rauchte. Konklusion: Wir alle müssen uns zwingend und gründlich über die eigene Altersvorsorge informieren. Zum allgemeinen Verständnis erst ein Abriss über unsere Altersvorsorge. Wirklich nur kurz. Versprochen.
Das Schweizer Vorsorgesystem ist darauf ausgelegt, dass wir im Alter trotz Pension ein geruhsames und finanziell unabhängiges Leben leben können. Das System baut auf drei Säulen.
Die erste ist die AHV. Obligatorisch für alle deckt sie die Grundbedürfnisse im Alter. Die berufliche Vorsorge als zweite Säule soll den gewohnten Lebensstandard der Erwerbstätigen sichern. Zusammen entsprechen diese beiden Säulen aber gerade mal 60 % des Einkommens vor der Pension. Nun fehlt nur noch die freiwillige dritte Säule, die der individuellen Aufbesserung der Rente dient.
Nun klingt dies in der Theorie solide. Funktioniert jedoch nur, wenn man jahrzehntelang und hochprozentig arbeitet. Nur dann hat man gute Chancen auf eine hinreichende Rente aus erster und zweiter Säule. Wer einmal längere Zeit nicht arbeitet oder nicht arbeiten kann, hat im Alter das Nachsehen.
Und genau hier ziehen Frauen oft den Kürzeren. Es sind vor allem sie, die Teilzeitarbeit leisten. Es sind vor allem sie, die eine Auszeit für die Familie nehmen. Und es sind vor allem sie, die leider noch immer mit tieferen Löhnen zu kämpfen haben. Deshalb sind die Renten von Frauen rund ein Drittel niedriger als jene der Männer.
Neben diesen aufs Individuum bezogenen Faktoren beeinflussen noch andere Umstände die Altersvorsorge. Sie betreffen uns alle und davon können wir fast wöchentlich in den Medien lesen: Wir leben immer länger, der AHV-Topf hat zu wenig Geld und die monatlichen Renten der Pensionskasse werden laufend nach unten korrigiert. Zudem wächst aufgrund der volkswirtschaftlichen Situation das Kapital der Pensionskassen kaum.
Es müssen Lösungen her. Die Politik will die Hebel an verschiedenen Orten ansetzen. Lohn- und Steuerbeiträge sowie das Rentenalter erhöhen und Renten kürzen. Doch die Rentenreform wird im demokratischen Prozess ausgehandelt. Wie lange das dauert, steht in den Sternen. Wenn überhaupt.
So, nach diesem Exkurs konnte ich nun endlich den Schluss ziehen: Ja, wir brauchen eine dritte Säule, weil die staatliche Altersvorsorge unter Umständen nicht ausreichend ist.
Dies sagen mir auch die beiden adretten Männer, die da in meinem Wohnzimmer sitzen. Gekommen sind sie mit einem meiner Freunde, der mich vor Kurzem anrief, ob ich denn Interesse an einer Finanzberatung habe. War mir recht. Nun sitzen sie da in ihrem Anzug, ich in Trainerhose und Baseballcap. «Je früher Sie in die Altersvorsorge investieren, desto mehr profitieren Sie», sagen die zwei. Dies hat mit der Anlagedauer und den daraus resultierenden Zinseszinsen zu tun.
Zugegeben, im Angebotsdschungel der dritten Säule ist es schwierig, sich zurechtzufinden. Weil ich weder die Zeit noch die Musse habe, mich zur Hobbyfinanzexpertin weiterzubilden, bin ich froh um die Anzugträger. Sie machen mir einen Vorschlag, den ich ablehnen oder annehmen kann. In Trainerhosen und Baseballcap übernehme ich denn also Verantwortung für meine persönliche finanzielle Zukunft.
*Livia Stalder hat früher in Olten Ballett getanzt und ihr erstes Geld – äs Füfzger-Nötli – als Journalistin bei Kolt verdient. Heute tanzt sie in Zürich zu Techno, kommuniziert für eine NGO in Bern und schreibt Kolumnen für Kolt.
Einen ganzen Sonntag lang hat Seu-Jhing gebastelt. Zuerst Windlichter aus Backpapier, dann kleine Plaketten aus Stoff, und schliesslich klebte sie zwei Kissenbezüge aneinander, so dass sie aussahen wie eine Flagge: einen blauen und einen gelben.
Es tat ihr gut, etwas mit den Händen zu machen. Es lenkte sie ab von dem lähmenden Gefühl der Hilflosigkeit, das sie drei Tage zuvor überrollt hatte.
Am Abend trug Seu-Jhing die Windlichter, die Plaketten und die improvisierte Flagge in die Oltner Innenstadt. Etwa fünfzig Menschen trafen nach und nach vor der Stadtkirche ein. Mit einem Selbstverständnis, das kaum Kommunikation erforderte, zündeten sie Kerzen an, 200 insgesamt, bis die Oltner Nacht ein wenig beleuchtet war.
«Wie die Menschen, die sich versammelten, ganz natürlich zusammenarbeiteten, ohne gross miteinander zu sprechen, war sehr berührend», sagt Seu-Jhing drei Tage nach der Mahnwache. Es war das erste Mal, dass die 36-jährige Oltnerin eine Kundgebung organisiert hatte, und es war sehr spontan geschehen.
«Ich wollte mir selbst und den Menschen in Olten die Möglichkeit geben, uns physisch zu treffen, um unsere Emotionen zu teilen und Solidarität mit den Mitmenschen in der Ukraine zu bekunden.» Auf Seu-Jhings roter Jacke prangt kontrastreich ein blau-gelber Anstecker.
«Die Nachricht vom Kriegsausbruch in der Ukraine hat mich kalt erwischt», sagt sie, und wenn sie das Wort «Kriegsausbruch» ausspricht, klingt es, als würde sie noch immer nicht richtig daran glauben. «Ich war bis zum Schluss felsenfest überzeugt, dass das nicht geschehen würde. Und dann, als es wirklich geschah, machte ich in rasendem Tempo verschiedene Phasen der Trauer durch: Schock, Konsternation, Verdrängen, Wut und vor allem – Ohnmacht.»
Der Klimawandel sei die grosse Herausforderung, der sich Europa stellen müsse, habe sie lange gedacht. Keine territorialen Kriege. «Und plötzlich merkte ich, wie fragil das alles ist: unsere Sicherheit, unsere Demokratie», sagt die Oltner Gemeinderätin.
An der Friedensdemonstration in Bern merkte Seu-Jhing, wie gut es tat, sich mit anderen Menschen zu versammeln. Es half gegen die eigene Ohnmacht, gab Mut und die Hoffnung, damit auch die Menschen in der Ukraine irgendwie zu erreichen. Dass sie am Abend die Kerzen kaufte, um tags darauf in Olten eine Mahnwache zu organisieren, geschah wie von selbst, sagt sie.
«Wir können nur hoffen, dass sich solche Aktionen auf Social Media verbreiten. Dass sie die Menschen in der Ukraine und auch in Russland erreichen. Geld spenden und Solidarität bekunden – ich glaube, das ist alles, was wir in diesen Tagen tun können.»
Ihr eigener Gefühlszustand wäre zweifellos schlechter, hätte sie ihre Emotionen nicht an den Kundgebungen mit anderen Menschen teilen können, meint Seu-Jhing. «Ich glaube, dass mich Nachrichten über Krieg und Flucht immer sehr tief betroffen machen, weil das ein Teil meiner Familiengeschichte ist.»
Sie erzählt, wie beiläufig ihre Eltern immer wieder Erlebnisse aus dem Krieg erwähnen. Zusammen mit Seu-Jhings älteren Schwestern sind sie vor vielen Jahren aus dem Vietnamkrieg geflohen. Die Verwandtschaft ist heute über die ganze Welt verstreut. «In meiner Familie wurde der Krieg nie bewusst aufgearbeitet. Es sind vielmehr immer wieder einzelne Erlebnisse, die nebenbei erwähnt werden und die mich umso mehr schockieren, umso beiläufiger sie thematisiert werden.»
Ein doppelter Schrankboden als Versteck. Vier Tage Zeit, um das Land zu verlassen. Die eigene Tochter der Tante auf ein Boot mitgeben, monatelang nicht wissen, wo sie ist. Piraterie auf dem Flüchtlingsschiff. Eine Cousine, die auf der Überfahrt verdurstete.
«Viele solcher Episoden habe ich im Erwachsenenalter zum ersten Mal von meinen Eltern oder von Verwandten gehört. Und wenn ich heute lese, dass Männer an der ukrainischen Grenze an der Flucht gehindert werden, dass ihre Familien mit dieser Ungewissheit leben müssen, dann halte ich das kaum aus.»
Seu-Jhing wird weiter demonstrieren. In Olten oder anderswo, gegen den Krieg, gegen die Ohnmacht und ein wenig auch für sich selbst.
«Der Krieg verunsichert die Kinder stark», sagt Nadine Schweizer am Telefon. Sie ist Primarlehrerin in Däniken. Ihre Schülerinnen sind zwischen acht und zehn Jahre alt.
«Schüler kamen auf mich zu oder diskutierten untereinander. Einige erzählten wirre Gerüchte, andere waren sehr eingeschüchtert oder hatten Angst. Da wurde mir klar, dass ich die Geschehnisse in der Ukraine in der Klasse thematisieren muss», erzählt die Oltnerin. Doch wie erklärt man Kindern den Krieg?
«Man muss sehr behutsam vorgehen. Vor allem, weil in einer Schulklasse Kinder mit sehr verschiedenen Geschichten und Hintergründen sitzen können. Es kann sein, dass manche Kinder selbst oder ihre Eltern eine Fluchtgeschichte haben, während andere noch nie über das Wort Krieg nachdenken mussten. Das sind völlig unterschiedliche Ausgangslagen.»
Allgemein sei es enorm wichtig, die kindlichen Gedanken und Ängste ernst zu nehmen, und ihnen mit Antworten und Aufklärung auf einer verständlichen Ebene zu begegnen. Das helfe, um die schlimmsten Ängste einzudämmen.
Nadine bereitete sich auf ein Gespräch mit ihrer Klasse vor, sprach mit ihrer Familie darüber, las im Internet. Dann setzte sie sich mit den Kindern in einen Kreis und fragte, wie es ihnen gehe. Der Krieg kam sofort zur Sprache.
«Kommt jetzt der dritte Weltkrieg?», fragten einige Kinder. Andere sprachen von einer deutschen Königin, die jetzt nicht mehr Königin war, und wieder andere vermischten das Atomkraftwerk Gösgen mit Horrorszenarien zu Atomangriffen, die sie in den letzten Tagen aufgeschnappt hatten.
«Bilderbücher können hier neben reinen Erklärungen sehr wertvoll sein. Das Ziel muss sein, den Kindern ein Spektrum an Informationen zu liefern, mit denen sie etwas anfangen können. Das geht manchmal viel besser, wenn sie einen Bezugspunkt haben, im Bilderbuch zum Beispiel die Geschichte eines Kindes im Krieg. Abstrakte Erklärungen sind schwierig. Politik etwa habe ich versucht anhand der schulischen Strukturen von Klassen- und Schülerrat zu veranschaulichen», sagt Nadine.
Hinzu komme die Schwierigkeit, als Lehrperson möglichst neutrale Informationen zu vermitteln. «Es darf nicht darum gehen, den Kindern politische Haltungen mitzugeben.»
Ohnehin spürte Nadine schnell, dass es in ihrer Klasse vor allem darum ging, einfache Fakten zu klären und die unmittelbare Angst vor einem Kriegsausbruch in der Schweiz zu lindern. «Wir schauten uns an, wo die Schweiz, Russland und die Ukraine auf der Karte liegen, oder klärten den Unterschied zwischen Atomwaffen und einem Atomkraftwerk.»
Und was, wenn man selbst Angst hat, verunsichert ist, die Lage nicht versteht? Wie beruhigt man dann noch sein Kind?
«Es ist sehr wichtig, ein Kind nicht anzulügen. Wir müssen Kinder nicht absondern von der Realität. Aber wir müssen ihnen jene Ängste nehmen, die schnell sehr irrational werden, wenn Informationen an sie gelangen, mit denen sie nicht umgehen können», sagt Nadine. Es sei eindrücklich gewesen, wie viele Sorgen sich innert kürzester Zeit nach den Meldungen vom Kriegsausbruch im Klassenzimmer eingeschlichen hatten.
«Dabei ist es mir immer auch sehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass wir, wenn wir uns hier in der Schweiz sicher fühlen können, sehr dankbar dafür sein sollten. Und dass es eben nicht allen Menschen so geht.»
Nadine erzählt auch, wie erstaunlich kreativ die Ideen von Kindern sein können, wenn sie etwa gefragt werden, wie man Menschen in Not helfen könnte: In der Schweiz einen Kanton Ukraine machen für die geflüchteten Menschen. Einen Schutzball erfinden wie eine Art Kugel, welche die Menschen sicher in ein anderes Land bringen kann. Die Schweiz als reiches Land soll Geld spenden und für die geflüchteten Menschen Häuser bauen. Oder ihnen unsere Neubauten geben.
Grundsätzlich sei es schlicht essentiell, dass die Kinder nicht vergessen werden im Umgang mit Krisensituationen.
«Sie sind unsere Zukunft. Und in den letzten zwei Jahren wurde unseren Kindern viel zugemutet. Wir müssen Kinder als wichtigen Teil unserer Gesellschaft wahrnehmen, sie einbeziehen, ernst nehmen, Raum und Zeit für ihre Ängste und Bedürfnisse schaffen. Das schulden wir ihnen.»
Es war Fasnacht in der Waadtländerhalle. Girlanden hingen von der Decke, Nelia drängte sich an kostümierten Gästen vorbei, brachte noch eine Stange, noch ein Kafi Lutz, merci, stimmt so, de Räscht esch för de. Nelia arbeitete ihre Schicht ab in der Beiz, die ihr vertraut ist wie kaum ein anderer Ort, räumte Bierdeckel und feuchte Konfetti von den Tischen ausgelassener Trinkrunden, und spürte – nichts.
Es war Fasnacht in der Waadtländerhalle, und Nelia war wie betäubt, während auf ihre Heimatstadt die ersten Bomben fielen.
Die Ukraine war im Krieg. Russische Truppen attackierten Charkiw, die Stadt in der Ostukraine, in der Nelia die ersten 19 Jahre ihres Lebens verbracht hatte.
Sie griff zum Telefon, wann immer sie konnte. In jeder Pause, nach Feierabend, in den frühen Morgenstunden, wenn die Fasnächtler ihren Rausch ausschliefen, rief Nelia ihre Familie an.
Die Mutter, die Schwester, der Schwager – alle sind sie dort, wo sie schon immer waren, und konnten, genau wie Nelia, nicht wirklich glauben, was geschieht. «Ich glaube, kein Mensch auf der Welt hat das kommen sehen», sagt Nelia einige Tage nach der Fasnacht. Der Schock der ersten Tage klingt langsam ab, und es fällt ihr heute schwerer, ihre Emotionen hinter der Professionalität einer erfahrenen Servicefachfrau zu verstecken.
«Plötzlich las ich: Wir haben Krieg. Ich brauchte vier Tage, um es wirklich zu glauben. Du siehst, du liest – und du glaubst nicht, dass das die Wahrheit ist. Jetzt sinkt es langsam ein, und die Gefühle kommen. Aber verstehen? Nein. Verstehen kann ich bis jetzt nichts», sagt Nelia, und die Stimme bricht immer wieder, als sie nach ihrer Mittagsschicht an einem der langen Tische sitzt und erzählt. Die Girlanden hängen noch, aber es ist Ruhe eingekehrt in der Waadtländerhalle.
Nelia hat Russland und die Ukraine nie als etwas Getrenntes wahrgenommen. In der Sowjetunion, in die sie hineingeboren wurde, ohnehin nicht. Aber auch später nicht, als die Ukraine ein unabhängiger Staat war. «Kulturell waren wir eine Einheit. In der Ostukraine war es ganz normal, russische Freundinnen zu haben – und umgekehrt. Diese politischen Differenzen, so dachten wir, gingen uns nie etwas an. Das war auf einer Ebene, die uns im täglichen Leben nicht tangierte.» Nelia ist als 19-Jährige allein aus der Ukraine ausgewandert. Unvorstellbar war es für sie bis vor wenigen Tagen, dass in ihrer Heimat je ein Krieg mit Russland ausbrechen würde.
«Und jetzt wird es nie mehr sein wie früher. Es ist purer Wahnsinn.»
Vor einem Monat noch hatte Nelias Schwester einen Besuch in der Schweiz geplant. Jetzt sitzt sie mit ihrer Familie in einem Untergeschoss in Charkiw. Und hofft. Auf ein wenig Schlaf, auf Gottes Segen, auf ein baldiges Ende dieses Wahnsinns. «Meine Familie will in Charkiw bleiben», erzählt Nelia. «Wohin sollen wir gehen, sagen sie. Wir können nicht unser ganzes Leben in einen Koffer packen.»
Und Nelia ist in Olten, serviert ihren Gästen dasselbe wie immer und sagt, sie fühle sich gesegnet, hier in Sicherheit zu sein. Wie schmerzhaft sich dieses Gesegnet-Sein gerade anfühlen muss, sieht man ihr auch an, ohne dass sie darüber spricht.
Sie ringt um Fassung, holt tief Luft, putzt ihre Brille und lächelt. Das Lächeln sieht echt aus.
Sie sei froh, in diesem Restaurant zu arbeiten, mit dieser Chefin, die sie immer unterstütze, und der Kundschaft. «Ich will bei der Arbeit nicht zu emotional sein. Ich bin erwachsen. Ich brauche Unterstützung, Verständnis – aber Mitleid brauche ich nicht. Doch wenn die Gäste mich fragen, wie es mir geht, dann kann ich nicht lügen.»
Dass die Menschen hier Fasnacht feierten, während anderswo ein Krieg ausbrach, das verurteilt sie nicht, sagt Nelia. «Ich kann nicht erwarten, dass das Leben stoppt.» Dennoch war sie tief berührt, als sie erfuhr, dass die Oltner Stadtkirche in den Farben der ukrainischen Flagge beleuchtet wurde. «Solidaritätsbekundungen und friedliche Demonstrationen sind jetzt so hilfreich. Das erreicht die Menschen in der Ukraine – Nachrichten von überall auf der Welt verbreiten sich im Moment extrem schnell auf ukrainischen Kanälen. Die Menschen dort bekommen das mit. Und das tut gut.»
Selbst kann sich Nelia nicht vorstellen, an einer Kundgebung teilzunehmen. Es ginge ihr zu nahe. Später vielleicht, aber wer weiss schon, was später kommt.
«Jeder Tag ist neu. Irgendwann wird auch das hier vorbei sein. Wir können nichts als hoffen.»
Nelia hat noch drei Stunden Freizeit, bis das Restaurant am Abend wieder öffnet. Die Girlanden bleiben die nächsten Tage noch hängen. Danach erinnert nichts mehr an die Fasnacht.
Ich führe eine Gartengestaltungsfirma und studiere Theologie. Immer wieder staune ich, wie viel ein Garten und die Glaubensprozesse eines Menschenlebens gemeinsam haben. Ein frisch gesäter Rasen braucht in der Anwachsphase viel Geduld, Wasser, Dünger, den richtigen Schnitt und dann eine langfristige Pflege. Bei uns Menschen ist es ähnlich: Lebens- und Glaubensprozesse brauchen Zeit, Begegnungen mit Gott, geistliche Nahrung, Sensibilität und menschliche Begleitung.
Eine Honigbiene wird mit einem gezielten Stich gelähmt, abtransportiert und in eine vorbereitete Sandhöhle gesteckt. Noch lebt sie, ist aber wegen des Gifts in ihrem Körper unfähig, sich zu bewegen. Hilflos wird sie am ganzen Leib abgeleckt. Der Speichel sorgt dafür, dass ihr regungsloser Körper später nicht schimmelt.
Dann wird sie gefressen. Langsam, Stück für Stück, bei lebendigem Leib. Von einer Larve.
Das alles spielt sich vielleicht vor deiner Haustür ab. Jeden Sommer, mehrmals täglich.
«Man muss nicht weit reisen, um dramatische Szenen aus der Insektenwelt zu beobachten», sagt Bähram Alagheband und packt seine Kamera und eine zusätzliche Jacke aus dem Rucksack. Noch fegt ein kalter Nordwind über Olten Südwest hinweg. Wir hoffen, dass er bald nachlässt. Insekten brauchen Sonne und Windstille noch mehr als wir.
«Der Bienenwolf ist brutal», sagt Katrin Luder und streckt mir ein aufgeschlagenes Buch hin. Sie trägt Regenjacke und Wanderschuhe und drei Bücher im Rucksack. Dieses hier heisst «Pareys Buch der Insekten». Philanthus triangulum steht da unter der Skizze eines wespenähnlichen Tieres. Deutsch: Bienenwolf. Er ist es, der seine Larven mit Bienen füttert, die er vorher gelähmt und abgeleckt hat. Makaber? «Ja, schon. Und sehr faszinierend.»
Das Tier wird immer seltener, sein bevorzugter sandiger Lebensraum muss in Europa zusehends Bauprojekten weichen. In Olten Südwest findet man ihn noch.
Der Himmel klärt etwas auf, während wir die Köpfe über dem Insektenbestimmungsbuch zusammenstecken. Ein gutes Zeichen.
Das Biotop an der Dünnern
Bähram Alagheband und Katrin Luder widmen einen grossen Teil ihrer (Frei)zeit den Insekten. Er als Fotograf und Hobby-Entomologe, sie als Biologin. Als Duo «Käfer und kundig» touren die Oltnerin und der Solothurner mit bildgewaltigen Vorträgen durch die Schweiz und erzählen Geschichten aus der Insektenwelt.
Heute nehmen sie uns mit auf eine Tour durch Olten Südwest, wo die beiden schon viele Stunden in den denkbar unbequemsten Körperhaltungen verbracht haben.
Der Ort eignet sich nicht nur, weil Katrin in Olten wohnt und unsere Redaktion ganz in der Nähe ist, sondern primär, weil das Naherholungsgebiet in der ehemaligen Kiesgrube so etwas wie ein Insekten-Hotspot ist.
Kieselsteine, Dornenbüsche, Sandhaufen, ein paar Tümpel – brauchen Insekten nicht eher saftige Wiesen?
«Das ist ein weit verbreiteter Irrtum», sagt Katrin. «Auch wenn die Umgebung etwas trostlos aussieht: Die Bedingungen für viele Insektenarten sind hier ideal.»
Sie erklärt, dass es vor allem die Auenlandschaften sind, natürlicherweise Gebiete an den Ufern mäandrierender Flüsse, die in Europa fast gänzlich verschwinden. Natürliche Flussläufe haben keinen Platz mehr in der heutigen Raumplanung. Damit ist der Lebensraum zahlreicher Arten bedroht. Olten Südwest ist einer Auenlandschaft in gewisser Hinsicht ähnlich. Und weil sich hier sowohl trockene Kiesel als auch Weiher und altes Holz finden lassen, haben sich auf kleinem Raum sehr viele verschiedene Insektenarten angesiedelt.
Entsprechend besorgt blickt Katrin auf die Pfosten, die die Auszonung für eine Vergrösserung der Überbauung Olten Südwest anzeigen.
Es werde hier wichtiger Lebensraum verloren gehen, sagt Katrin, auch wenn weiter hinten eine Fläche zur Kompensation angelegt wird. «Ein Ökosystem braucht Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, bis es das ist, was es ist. Das geht verloren, wenn es überbaut wird – Ausgleichsfläche hin oder her», sagt sie, die beruflich im Naturschutz tätig ist. «Und wo mehr Häuser sind, sind auch mehr Menschen, Hunde, Katzen, Grills und ferngesteuerte Autos, die sich im Gebiet tummeln. Auch das ist nicht gerade förderlich für die Artenvielfalt.»
An diesem Februarnachmittag sind nur wenig Menschen unterwegs. Einsam joggt ein Mann über die Fläche. Bähram und Katrin beachten ihn nicht – ihre Blicke sind gesenkt, seit wir vom Teerplatz auf den kiesigen Spazierweg gelangt sind. Magere Vegetation, Steine und Hundekot säumen den Pfad.
«Schau hier, ein verpupptes Widderchen», sagt Bähram und kniet sich ins braune Gras. Seine Schiebermütze hat er umgedreht, sodass sie beim Fotografieren nicht im Weg ist. «Das ist nur noch der Kokon», sagt Katrin, «daraus ist schon ein Schmetterling geschlüpft». Bähram knipst trotzdem einige Fotos. Seine Kamera ist mit Blitz und einem Schirm aus Karton ausgestattet, der das Blitzlicht fein auf die Bildsujets verteilt. Wir schauen uns den rot gepunkteten Falter, der hier geschlüpft sein muss, in Katrins Buch an.
Action in winzig
Im Weiher schwimmt eine Köcherfliegenlarve, die sich einen Panzer aus Schilf gebaut hat. Nur ihr Kopf ragt hervor, winzig klein unter dem mächtigen Schutzschild. Wir schauen ihr beim Tanzen zu, als sich eine Zikade mit einem rettenden Sprung auf die Wasseroberfläche vor uns, der drohenden Gefahr am Ufer, schützt. Da steht sie also, auf dem Wasser, und hofft, dass ihr Feind nicht schwimmen kann.
Katrin hält Bähram am Rucksack fest, als er sich und seine Kamera beeindruckend nah ans Wasser bringt. Bährams Fotosujets sind nie gestellt: Insekten zu berühren, umzuplatzieren oder gar zu töten sei ein Tabu, sagt er. Selbst das Gras, auf das er sich legt, stellt er mitunter wieder auf.
Die Geschichten, die die beiden erzählen, hören sich an wie Krimis – oder wie Science-Fiction:
Eine Gallwespe spritzt ein Sekret in das Gewebe eines Rosenbusches. Möglicherweise trennt dieses die DNA der Pflanze auf und verändert sie. Man weiss nicht genau wie, doch dem Rosenbusch wächst darauf ein nestartiges Geschwür, in welches die Wespe ihre Eier legt.
Ein Volk von Ameisen hält sich Blattläuse wie Vieh, beschützt sie vor Fressfeinden und melkt sie regelmässig, um ihre zuckerhaltigen Ausscheidungen zu trinken.
Eine Hornissenschwebfliege ähnelt äusserlich einer Hornisse so sehr, dass niemand bei klarem Verstand sie je angreifen würde, obwohl sie nichts als eine harmlose Fliege ist. Unbemerkt mischt sie sich lässig unter gefährliche Wespen.
Und eine Goldwespe glänzt wie ein Juwel, wenn sie ihre Eier in die Nester von Pelzbienen legt, damit ihre Nachkommen sich an deren Larven satt essen können.
«Die Welt der Insekten ist unglaublich spannend, wenn man genau hinschaut», sagt Bähram. Und das genaue Hinschauen sei ihre Stärke, sagen Bähram und Katrin. Das und die Geduld. «Für ein Foto sitze ich manchmal zwei Stunden lang vor einem Grashalm», erzählt Bähram. Katrin musste ihm auch schon aufhelfen, weil ihm die Beine eingeschlafen waren.
Heute sind es eher die Finger, die am Abzug der Kamera immer kälter werden. Noch ist die Hauptsaison der Insekten nicht angebrochen, und doch bleiben wir immer wieder stehen, sehen ein Gallwespennest, eine Spinne, die auf dem Wasser läuft, ein von Parasiten befallenes Schneckenhaus. Katrin zückt ihr Buch, Bähram seine Kamera.
Der Bremse in die Augen schauen
Im Coq d’Or in Olten hielt Bähram, der schon als kleiner Junge Insekten fotografiert hatte, 2019 seinen ersten Vortrag. Da lernte er auch Katrin kennen, die damals noch im Publikum sass und Bähram auf der Bühne ins Schwitzen brachte, als er erfuhr, dass sie Biologin und Insektenkennerin ist. Die beiden merkten bald, dass sie sich gut ergänzen: Er mit Fotografie, sie mit Fachwissen, beide mit Leidenschaft.
Die Vortragsreihe, die sie gemeinsam im November 2021 gestartet haben, heisst «Bling Bling». Mit Bildern und Geschichten aus der funkelnden Welt der Krabbeltiere wollen sie Menschen begeistern, die sich damit bisher nur nach Bienenstichen oder beim Spinnentöten beschäftigten.
«Vielleicht schaut dann irgendjemand einer Bremse auch mal in die Augen und bemerkt, wie wunderschön die sind», sagt Bähram, der die Passion für Insekten an seinem Arbeitspensum als Journalist vorbeijongliert.
«Wenn man ihre Geschichte kennt, fällt es nicht mehr so leicht, eine Wespe zu zerdrücken», sagt Katrin, die Beruf und Leidenschaft nicht wirklich zu trennen scheint. Sie erklärt, wieso der Mensch ohne Insekten gar nicht leben könnte: Nicht nur die Bienen, sondern eine Vielzahl von Insektenarten ist für die Bestäubung von Pflanzen und damit für unsere Nahrung verantwortlich. Insekten selbst sind wiederum Nahrung für grössere Tiere. Und sie bekämpfen Krankheiten, indem sie den Bestand von Parasiten regulieren.
«Die Artenvielfalt von Insekten ist enorm wichtig für ein gesundes Ökosystem. Ausserdem sind Insekten einfach wahnsinnig interessant und noch lange nicht zu Ende erforscht: In der Schweiz vermutet man immer noch zahlreiche unbekannte Arten. Und 30’000 wurden schon entdeckt. Verrückt, oder?»
Die Sonne bricht kurz durch die schwere Oltner Wolkendecke. Irgendwo tief im Sand begraben bereitet sich eine Bienenwolflarve auf ihr Leben als Jägerin vor.
«Käfer und kundig» in Olten
Bähram Alagheband und Katrin Luder zeigen als «Käfer und kundig» ihre Bilder und Geschichten bald in Olten: «Bling Bling» ist am 17. und am 18. März 2022 um 20:00 in der Vario Bar zu sehen. Für die Veranstaltung am 18.3. sind wegen grossen Andrangs im Vorverkauf nur noch Stehplätze und vereinzelte Sitzplätze an der Kasse vor Ort verfügbar. Für den 17.3. läuft ein Vorverkauf.
Es ist die Position, die am meisten abbekommt. Dort, wo geklemmt, gedrängt und gezerrt wird wie sonst nirgendwo auf dem Handballfeld: Kreisläuferin.
Harpa Rut Jónsdóttir wollte nie etwas anderes sein, seit sie als Kind die isländische Herren-Handball-Nationalmannschaft im Fernsehen gesehen hat. «Da war ein Kreisläufer dabei, der sah aus wie ein Wikinger. Und verhielt sich auch so. Ich dachte mir: Das kann ich auch – in weiblich.»
Seit Januar ist Harpa die neue Kreisläuferin des HV Olten. Und will dem Team zum Aufstieg in die höchste Schweizer Liga «Spar Premium League» (SPL1) verhelfen.
Es ist Montag, 17 Uhr und es regnet. Harpa kommt von der Arbeit, hat zwei Stunden Zeit, bis das Training beginnt. Sie trägt ihre blonden Haare offen, ist dezent geschminkt, strahlt Herzlichkeit und Wärme aus.
«Ich bin brutal kämpferisch», sagt sie. Das sei eine Stärke im Handball, wenn auch nicht ihre grösste. «Am besten kann ich das Team pushen. Wenn ich auf der Bank sitze, bin ich die Lauteste. Ich motiviere, wenn es schlecht läuft, und juble und tanze bei Erfolgen, damit die anderen dranbleiben. Das ist extrem wichtig für einen Matchverlauf.»
Nach Olten aufs Feld
Auf der Bank wurde sie vergangene Saison Schweizermeisterin und Cupsiegerin mit dem LK Zug. Und war dort so laut und enthusiastisch, dass sie prompt zum Publikumsliebling gewählt wurde – obwohl sie kaum je auf dem Spielfeld stand. Denn da, auf dem Feld, spielte fast immer eine von zwei Kreisläuferinnen, die jeweils vor ihr zum Einsatz kamen.
«Das waren riesige Erfolge. Aber auf lange Sicht war es frustrierend, so wenig spielen zu dürfen», sagt Harpa und erzählt von einer sportlichen Krise, die es ausgelöst habe, sechsmal die Woche zu trainieren und doch an den meisten Spielen 60 Minuten (so lange dauert ein Spiel) auf der Bank zu sitzen.
Es ist schwierig, sich diese Frau, deren Augen strahlen, wenn sie über Handball spricht, in einer sportlichen Krise vorzustellen.
«Deshalb habe ich von Zug nach Olten gewechselt – von 60 Minuten Bank zu, je nach Spielverlauf, bis zu 60 Minuten Spielfeld pro Match. Das hat mich gerettet.» Der HV Olten spielt zwar eine Liga tiefer als Harpas alter Verein, aber er hat ein klares Ziel: der Aufstieg in die SPL 1. Der Hauptrundensieg ist seit vorletzter Woche gesichert, bald beginnt die Aufstiegsrunde.
Nach Luzern unter Tränen
Wenn Harpa sagt: «Es braucht klare Ziele. Das pusht», dann weiss sie, wovon sie spricht. Aufgewachsen in einer isländischen Kleinstadt, wusste sie schon als 14-Jährige, dass sie nach Dänemark wollte, um dort Handball zu spielen. Also arbeitete sie, sobald es irgendwie legal war, ihre Sommerferien in Restaurants durch oder putzte Spitäler nach der Schule, die sie im Fernstudium absolvierte. Als genug Geld zusammen war, schrieb sie sich an einer dänischen Sportschule ein. Mit 17, für ein halbes Jahr. Und kehrte nie mehr nach Island zurück.
Heute ist sie 24 und gibt Interviews in Olten, auf Schweizerdeutsch, fast ohne Akzent.
«Ich habe in Dänemark meinen Freund kennengelernt», erklärt sie. «Er ist Schweizer, ehemaliger Handballer und spielte damals in einem dänischen Team.» Zusammen mit ihm hat sie sich in Dänemark ein Leben aufgebaut, verbesserte ihr Dänisch, machte weiter mit Fernstudium, spielte Handball. Dann war ihr Freund verletzt, kämpfte mit den Folgen, erhielt plötzlich ein Therapieangebot in der Schweiz.
«Ich muss zurück», sagte er. «Habt ihr euch getrennt?», fragte ihre Mutter, als Harpa sie einige Stunden später weinend anrief. «Nein, Mama», schluchzte Harpa, «wir gehen in die Schweiz.»
Harpa war 20, sprach kein Wort Deutsch und kannte in der Schweiz genau drei Menschen: ihren Freund und seine Eltern, die sie bis dahin dreimal gesehen hatte.
Das Paar zog zu den Eltern nach Luzern, Harpa arbeitete als Au-pair, verlangte von allen Mitmenschen, sie ausschliesslich auf Schweizerdeutsch anzusprechen, schloss die isländische Fernschule ab und – natürlich – spielte Handball. Zuerst in Stans, dann in Zug.
«Bald waren meine Teamkolleginnen wie eine Familie. Ohne Handball hätte ich kaum soziale Kontakte knüpfen können», erzählt sie. Vom LK Zug wegzugehen habe ihr das Herz gebrochen. «Diese Frauen bedeuten mir jetzt noch sehr viel. Aber auch in Olten fühle ich mich bereits wohl. In der Gruppe fühlt es sich an, als wäre ich schon lange da. Das ist wunderschön – und brutal wichtig.»
Alles für das Team
Wenn Harpa trainiert, macht sie es fürs Team, vor allem dann, wenn ihr die eigene Motivation einmal fehlt. Wenn sie spricht, spricht sie viel darüber, was wichtig ist für ein Team. Und wenn sie schreit, dann auch fürs Team. «Mannschaftssport ist mein Ding», sagt sie, und man hätte ihr das auch angemerkt, wenn sie es nicht gesagt hätte.
Dafür trainiert sie sechsmal die Woche an verschiedenen Standorten, spielt von September bis Mai fast jedes Wochenende einen Match und leitet am Mittwochnachmittag eine Kinderhandball-Gruppe. Daneben arbeitet sie 70 Prozent als Klassenassistentin an einer heilpädagogischen Sonderschule.
Wenig für den Frauensport
«40 Prozent wären perfekt, aber das reicht nicht», sagt sie, und sieht trotzdem ganz und gar unerschöpft aus. Im Frauenhandball gibt es kaum Spielerinnen, die sich ein Profi-Dasein leisten können. Im Vergleich zu den Männern sei der Frauenhandball klar benachteiligt, erklärt Harpa. Das reiche von weniger finanziellen Mitteln bis zu kleineren Hallen und unattraktiveren Trainings- und Matchzeiten.
«Natürlich nervt das», sagt Harpa. «Aber wenigstens ist damit eines klar: Handball spielen nur Frauen, die wirklich Freude daran haben. Andere Gründe gibt es nicht, die dafür sprechen.»
Sie lacht. Nicht laut, aber ansteckend. Dann packt sie ihren Rucksack, auf dem weiss eine Trikotnummer prangt, und macht sich auf den Weg ins Training. Montags ist Matchvorbereitung: 30 Minuten Aufwärmen und Kräftigung, 15 Minuten Basketball zum Einlaufen, Videos der nächsten Gegnerinnen analysieren, dann spezifische Angriffs- und Verteidigungsstrategien erarbeiten. Zum Schluss Anwendung im Handballspiel, sechs gegen sechs.
Im März beginnt die Aufstiegsrunde. Harpa freut sich auf «eine richtige Challenge», aufs «110%-Geben», wie sie sagt. Sie ist kaum zu übersehen, diese Freude am Kämpfen.
Es ging um Geld bei den Abstimmungen vom 13. Februar: Der Bund wollte die Unternehmen weniger stark zur Kasse bitten, die Stadt Olten ihre Steuerzahlerinnen stärker. Und den Medien plante man unter die Arme zu greifen.
Die 11’439 Oltner Stimmberechtigten sahen das in jeder Hinsicht anders. Zumindest jene Hälfte, die ihr Abstimmungscouvert in den Briefkasten statt ins Altpapier warf: Mit einer Stimmbeteiligung von rund 50 % entschied sich Olten gegen die Abschaffung der Stempelsteuer, gegen die Genehmigung des städtischen Budgets und auch gegen das nationale Massnahmenpaket zugunsten der Medien.
Ebenso abgelehnt wurde die Volksinitiative zum Tier- und Menschenversuchsverbot. Zugestimmt hat Olten, in Übereinstimmung mit der ganzen Schweiz, einzig der Initiative für ein Verbot von Tabakwerbung zum Schutz von Minderjährigen. Die kostet aber auch nicht besonders viel.
Weshalb auch immer, Geld gibt’s keines
Damit bleibt in finanzieller Hinsicht alles beim Alten. Die Stadt steht erneut ohne Budget da und wir bei Kolt müssen uns weiterhin ohne zusätzlichen Zustupf vom Staat durchschlagen.
Waren die Gegenstimmen zu dominant? Die Pro-Kampagnen für Budget und Mediengesetz zu wenig sichtbar? Die Vorlage zum Mediengesetz ein unbrauchbarer Kompromiss? Hat die Schweiz in Pandemiezeiten Angst vor verschwenderischen Staatsausgaben? Oder gab es einfach bessere Argumente gegen die Vorlagen als dafür?
Wir wissen es nicht genau, also freuen wir uns an den kleinen Fun Facts des Politgeschehens: Auf die Stimme genau 50 % der Oltner Urnengängerinnen haben ein Ja für das Mediengesetz eingeworfen. Damit ist Olten eine von schweizweit 15 Gemeinden, in denen diese Vorlage unentschieden ausging (was im Resultat aber trotzdem ein Nein bedeutet). Die Stadt erreichte mit dieser Punktlandung im Vergleich zum Kanton ein deutlich positiveres Resultat: Der Kanton Solothurn lehnte die Vorlage mit 60.2 % Nein-Stimmen ab. Auch alle umliegenden Gemeinden stimmten klar Nein.
Weiter geht’s
Hat Kolt als unabhängiges Lokalmedium hier eine Rolle gespielt? Haben wir es geschafft, einige der 2’845 Befürworter von den Vorzügen der Medienvielfalt zu überzeugen?
Auch das wissen wir nicht und werden es auch nicht herausfinden. Aber wir nehmen es als Anlass, um dranzubleiben. Und mit oder ohne staatliche Medienförderung guten, leserorientierten Journalismus zu machen. Mit Leidenschaft und Idealismus.
Sollten wir mal ohne Budget dastehen, hätten wir ja immer noch die Stadt Olten, die uns mit ihrer Expertise in einer solchen Situation vielleicht ein paar Tipps geben könnte.
Ich bin Oltner Bürgerin. Nicht etwa weil ich in Olten wohne, sondern weil Olten mein Heimatort ist. Wie ich das einer Freundin aus dem Ausland erklären würde? Keine Ahnung. Ich weiss ja selber nicht, was das genau bedeutet.
Auf jeden Fall hat mich Peter Schafer im letzten Dezember wieder einmal daran erinnert – mit einem Brief, der die Abschaffung der Oltner Bürgergemeinde forderte. Genauer gesagt: ihre Fusion mit der Einwohnergemeinde.
Das wollte der ehemalige Stadtrat Schafer mit einer Motion erreichen, die den Bürgerrat (das Exekutivorgan der Oltner Bürgergemeinde) aufgefordert hätte, mit der Einwohnergemeinde Fusionsgespräche aufzunehmen. Der Brief ging an die rund 1400 in Olten wohnhaften Oltner Bürgerinnen und Bürger, die über dieses Vorhaben abstimmen konnten.
An der Bürgergemeindeversammlung – von deren Existenz ich bis dahin nichts gewusst hatte – hätte ich also über den Weiterbestand der Oltner Bürgergemeinde mitbestimmen können. Im Restaurant Aarhof, am 6. Dezember 2021.
Habe ich aber nicht, weil ich den Brief viel zu spät geöffnet habe. Vielleicht ist das eine dumme Ausrede, und ich hätte auch sonst nicht an dieser Versammlung teilgenommen – ich weiss es nicht genau.
Nun denn, die 51 Bürgerinnen und Bürger, die sich im Aarhof einfanden (viermal mehr als letztes Jahr!), wollten nichts wissen von dieser Idee. Sich selbst abschaffen, wenn man sich schon in den Aarhof bewegt, um sich zu versammeln? Sicher nicht. Die Vorlage wurde abgeschmettert. Die Bürgergemeinde Olten existiert also weiter. Und macht was genau?
Burgen, Wald und Schweizer Pässe
Um das herauszufinden, gehe ich zu Besuch ins Oltner Bürgerhaus. Froburgstrasse, dritter Stock, Bürgerratssaal. Massive Tafel, samtig rote Stühle, an den Wänden Gemälde von altehrwürdigen Oltnern, ihre Namen kunstvoll ins Wandholz geschnitzt.
Bürgerpräsident Felix Frey empfängt mich. Er ist seit 1997 im Amt. Wir setzen uns an die lange Tafel, an der man sich klein fühlt und wichtig zugleich. Von allen Seiten blicken die gemalten Herren auf uns nieder: Wohltäter, Industrielle, ein Bundesrat.
«Hier tagt der Bürgerrat. Und je nach Anzahl Teilnehmenden auch die Bürgerversammlung», sagt Frey. Dann erklärt er, was die Oltner Bürgergemeinde tut: Sie besitzt und verwaltet Wald und Liegenschaften in und um Olten, führt das Altersheim Weingarten und ist für die Erteilung des Bürgerrechts zuständig.
Ein Teil der Liegenschaften befindet sich in der alten Stadtmauer, andere sind Landwirtschaftsbetriebe ausserhalb von Olten, und wieder andere sind die Hofgüter: die Froburg und das Säli-Schlössli.
«Finanziell wirft das alles nicht viel ab. Gerade die Instandhaltung des Säli-Schlössli ist um einiges teurer als der Ertrag des Betriebs», sagt Frey. «Und unsere Kosten werden ja nicht durch Steuern gedeckt. Wir finanzieren uns nur über die Erträge aus unserem Besitz.»
Dann sind da noch die Einbürgerungen. «Hier führt eine Kommission Gespräche mit den Kandidierenden, und der Bürgerrat entscheidet dann abschliessend, ob er das Gesuch gutheisst.»
Heute sei die Entscheidungsmacht des Bürgerrats aber stark eingeschränkt durch nationale und kantonale Gesetzgebung.
«Wir lehnen heute nur noch selten Einbürgerungsgesuche ab», sagt Felix Frey. «Früher waren die Kompetenzen anders, bis Anfang 90er Jahre hatten die Bürgergemeinden mehr Spielraum. Da gab es Gemeinden, die bürgerten per se kaum Ausländer ein.»
Wie demokratisch ist es, dass diese Kompetenz dem Bürgerrat zukommt?
Ehrenamt und Heimatverbundenheit
«Nicht weniger demokratisch, als wenn das die Einwohnergemeinde machen würde», findet Felix Frey, der seit 25 Jahren Präsident ist. Der Bürgerrat werde auch demokratisch gewählt, grundsätzlich per Urnengang (unter den Bürgerinnen) alle vier Jahre.
«Stille Wahlen sind jedoch möglich, wenn bei einer Vakanz nicht mehr Kandidaten als Sitze zur Diskussion stehen. In den letzten Jahren haben wir das so gemacht,» räumt er ein.
Das heisst konkret, dass seit mehr als acht Jahren keine eigentlichen Wahlen mehr durchgeführt wurden. «Ein Urnengang bedeutet auch immer Kosten und Aufwand.»
Kosten und Aufwand für ein Gremium, das abgesehen von kleinen Sitzungsgeldern grösstenteils ehrenamtlich tätig ist. Finanziell trage man wirklich keine Vorteile aus der Bürgerschaft, betont Frey wieder.
Weshalb ist es trotzdem noch wichtig, dass die Bürgergemeinde heute weiter existiert?
«Sie stärkt die Heimatverbundenheit», sagt Frey. «Oltner Bürgerinnen und Bürger haben eine langfristigere Sicht auf die Entwicklung der Stadt. Es sind Menschen, die sich mit diesem Ort identifizieren und die nicht nach zwei, drei Jahren wieder wegziehen. Das beeinflusst ihre Haltung bei Entscheiden. Etwa um nicht unnötig Geld auszugeben für kurzsichtige Projekte.»
Der Gewinn der Bürgergemeinde, wenn sie denn welchen erwirtschaftet, komme der Allgemeinheit zugute, so Frey. Wie, entscheidet die Bürgergemeinde. Bis zu einem Betrag von 100’000 Franken kann der Bürgerrat selbständig bestimmen, wie und wo investiert oder gespart wird. Für höhere Beträge ist die Bürgerversammlung zuständig.
Aus Hintersassen wurden Neubürger: die Geschichte
Um zu verstehen, weshalb es Bürgergemeinden in der Schweiz überhaupt neben den Einwohnergemeinden gibt, ist ein Blick in die Vergangenheit zwingend.
Früher, das heisst vor 1800, waren die Bewohner von Schweizer Städten und Dörfern aufgeteilt in alteingesessene Bürger und rechtlose «Hintersassen» (zum Beispiel Zugezogene). Damit wurden Rechte wie die Nutzung von Gemeindegut, aber auch Pflichten wie die Armenfürsorge auf einen definierten Kreis von Personen beschränkt.
In der Helvetik, der Zeit um 1800, als die Französische Revolution auf die alte Schweizerische Eidgenossenschaft übergriff, wurden die Einwohnerrechte neu definiert: Nun wurden alle Einwohner gleichgestellt. Einwohnergemeinden sollten die historisch gewachsenen Bürgergemeinden ablösen.
Im Gegensatz zur alten Ordnung, die Bürgerrechte nach Geburt verlieh, erhielten die Einwohnerrechte neu alle Personen, die auf dem Gemeindegebiet wohnten.
Damit waren aber nicht alle einverstanden. Wem sollten jetzt die bürgerlichen Güter zustehen? Wald, Allmende, solche Dinge? Doch nicht etwa allen Einwohnern?
Die begüterten Dorfgenossen und Stadtbürger wollten ihre Rechte nicht mit den (meist ärmeren) «Neubürgern» teilen. So gründeten sie die Bürgergemeinden, und denen blieb weiterhin die Nutzung des Gemeindeguts vorbehalten.
Die Gegenwart
Die Kompromisslösung von damals gilt in zahlreichen Kantonen bis heute: Es gibt Einwohnergemeinden und Bürgergemeinden, die nebeneinander existieren. Bürgerrechte erhält man grundsätzlich durch Geburt, Einwohnerrechte durch Wohnsitz.
Deshalb kann ich heute Oltner Bürgerin sein und in einer anderen Stadt wohnen. Und deshalb könnte eine Oltnerin, die zwar hier wohnt, aber nicht Bürgerin ist, nie in der hiesigen Einbürgerungskommission sitzen.
Der Kritiker von Olten
All das passt Peter Schafer offenbar nicht. Ich treffe den Mann, der die Bürgergemeinde abschaffen wollte, im Oltner Bahnhofbuffet. Das passt: Er ist sowohl Lokführer als auch stolzer Oltner.
Er identifiziere sich stark mit dieser Stadt, sagt er, und hat auch deshalb sich vor vielen Jahren einbürgern lassen – ist also auf Antrag Oltner Bürger geworden, zusätzlich zu seinem ersten Heimatort im Kanton Freiburg. Während zwei Jahren sass Schafer sogar im Oltner Bürgerrat.
Und trotzdem wollte er im letzten Dezember die Oltner Bürgergemeinde fusionieren.
«Sie ist absolut unnötig», sagt er. Das habe er schon früher so formuliert, auch vor und während seiner Amtszeit im Bürgerrat. «Die Bürgergemeinde hat keine Funktion, die ihre Existenz rechtfertigt. Einbürgerungen, Wald, Liegenschaften verwalten: All das könnte die Einwohnergemeinde effizienter erledigen. Und wäre dabei erst noch demokratischer.»
«Das Ego der alten Männer»
Undemokratisch findet Schafer vor allem, dass es für den Bürgerrat und die Kommissionen keine transparenten Verfahren gebe. In den Bürgerrat komme, wer nachrutsche, wer dem Präsidenten verbunden sei, wessen Gesicht man kenne. Vakanzen würden nicht ausgeschrieben und schon gar nicht an der Urne gewählt – entgegen dem Öffentlichkeitsprinzip.
«Und diese Menschen verfügen dann über Aufgaben, die das Gemeinwohl betreffen und die erst noch besser von der Einwohnergemeinde erledigt würden. Das ist eine unnütze Doppelspurigkeit.»
Nicht einmal finanziell lohne sich das Bestehen der Bürgergemeinde noch. Die Verwaltung von Vermögen und Liegenschaften koste mehr, als sie einbringe.
Und warum besteht diese offenbar serbelnde Institution dann noch immer? «Es ist das Ego der alten Männer», sagt Schafer. Reine Nostalgie also, wenn es nach ihm geht.
Er rührt im Kaffee, nickt und wiederholt: «Das Ego der Veteranen.»
Wie lange diese verbindende Nostalgie noch ausreicht, um die Bürgergemeinde am Leben zu halten, werde sich zeigen. «Der Ruf nach der Fusion kam für die alteingesessenen Herren und Damen wohl aus der falschen Ecke, weil ich schon immer kritisch eingestellt war. Wir werden sehen, was die Zukunft bringt.»
Bröckelnde Bedeutung, aber nicht überall
Schweizweit gesehen bestehen bei der Bedeutung der Bürgergemeinden grosse kantonale Unterschiede.
In der Westschweiz etwa haben nie Bürgergemeinden existiert, oder sie wurden schon lange abgeschafft. An anderen Orten verschwinden sie langsam. Entweder ganze Kantone, wie 2005 Luzern, oder einzelne Gemeinden lösen ihre Bürgergemeinden vermehrt auf. So haben in den letzten Jahren im Kanton Solothurn 28 Bürgergemeinden mit den Einwohnergemeinden fusioniert.
Wieder andernorts, zum Beispiel in Bern, wäre das undenkbar.
Die Burgergemeinde, so nennt sie sich dort, besitzt etwa einen Drittel des städtischen Bodens, 70 Liegenschaften, ein Spital, ein Casino, eine Bibliothek, das naturhistorische Museum, eine Bank und noch viel mehr. Wo auch immer in der Stadt Bern Kulturgelder fliessen, steht irgendwo «Burgergemeinde» drauf. Sie ist als Institution kaum aus der Stadt wegzudenken.
Berns Säckelmeister
«Die Burgergemeinde vereint Werte wie Tradition und Kontinuität mit den Herausforderungen der Zukunft. Sie steht im Dienste der Bevölkerung und fördert das kulturelle, soziale und wissenschaftliche Leben in der Stadt Bern», lese ich auf der Homepage der Burgergemeinde Bern.
Gleichzeitig führen mich meine Recherchen in virtuelle Berner Rittersäle: Das Surfen auf der Website der Berner Burgergesellschaft, einer Untergruppe der Burgergemeinde, fühlt sich nach Museumsbesuch an. Oben prangt zentral ein Berner Wappen. Darunter finde ich eine Übersicht über die Organe, die heisst «Vorgesetztenbott». Klicke ich an und erfahre: Im Vorgesetztenbott fungiert zum Beispiel ein «Stubenmeister», ein «Rodelführer» und auch ein «Säckelmeister».
Und unter «Anlässe» finde ich heraus, dass man sich regelmässig zum «Stubengesellen-Stamm» oder, je nach Geschlecht, zum «Damen-Stamm» trifft.
Ist das alles einfach schrecklich verstaubt? Ein Treffpunkt für Mittelalterfans? Oder ist dieser aristokratische Touch, der mich irgendwie beunruhigt, tatsächlich ernst zu nehmen angesichts des beachtlichen Vermögens, das diese Säckelmeister verwalten?
Was sind Bürgergemeinden nun wirklich: wohltätig, undemokratisch oder einfach nur veraltet?
Die Kritikerin von Bern
Rahel Ruch hat hierzu eine klare Meinung. «Die Burgergemeinde Bern ist ein Überbleibsel des Ancien Régime», sagt sie in einem Berner Café. «Sie ist vormodern, intransparent – und sehr einflussreich. Das ist das Problem.»
Die Berner Stadträtin (Grünes Bündnis) hat in der Vergangenheit immer wieder gegen die Burgergemeinde politisiert. Dabei ging sie aktivistischer vor als Peter Schafer: 2014 etwa sperrte sie einen Drittel des Berner Waisenhausplatzes ab, um auf die Burgergemeinde als grösste Landeigentümerin Berns aufmerksam zu machen.
«Wer in der Stadt Bern irgendetwas macht, in meinem Fall Stadtpolitik, kommt an den Burgern nicht vorbei», sagt sie.
Zwei von fünf Sitzen in der Stadtregierung sind von Burgern besetzt. Und auch in sämtlichen Parteien seien sie gut vertreten – von rechts bis links. Ausserdem wäre für eine Fusion mit der Einwohnergemeinde eine Änderung der Kantonsverfassung nötig. «Das ist politisch praktisch unmöglich zu erreichen. Auch haben sie sehr viel Geld. Und das schafft Abhängigkeiten.»
Dieses Geld und vor allem all das Land wäre, so Ruch, bei der Einwohnergemeinde besser aufgehoben.
«Es ist schlicht nicht demokratisch. Selbst wenn die Burgergemeinde ihr Vermögen ins Allgemeinwohl steckt – weshalb sollten sie überhaupt darüber verfügen? Warum muss die Stadt verhandeln über Dinge, die sie eigentlich entscheiden können sollte?» Zum Beispiel: soziale Wohnpolitik oder ob im Wald weniger Pestizide gespritzt werden. Oder wer den Schweizer Pass erhält.
Schweizweit sei diese Gemeindedualität ein Unsinn, findet Ruch. Ganz besonders wenn wie im Fall Bern besonders viel Vermögen im Spiel sei. Oder wie im Fall Olten die Entscheidungsmacht über Einbürgerungen.
«Es ist offensichtlich falsch. Aber dagegen vorzugehen ist nicht einfach.»
Zurück in Olten hängt das Säli-Schlössli im Nebel. Ich finde es schön und etwas kitschig und frage mich, ob das jetzt Heimatverbundenheit ist.
«Ich verbrenn’ mein Studio, schnupfe die Asche wie Koks», sang einst Peter Fox. Das Lied geht mir durch den Kopf, als ich im zehnten Stock des Oltner Stadthauses dem Stadtpräsidenten Thomas Marbet lausche. Er erzählt, was Olten vorhat im Jahr 2022. «Alles glänzt, so schön neu», will ich singen.
Mach ich aber nicht, natürlich nicht, denn: Es ist die Jahresmedienkonferenz des Stadtrats, meine erste Medienkonferenz im Oltner Stadthaus und Montagmorgen. Im Raum sitzen an weissen Tischen mit BAG-konformen Abständen zehn Männer und zwei Frauen (Stadträtin Marion Rauber und ich).
Der Reihe nach erzählen die Stadträte und die Stadträtin, was in ihren jeweiligen Direktionen so ansteht in diesem Jahr. Wenn sie erzählen, merke ich: Man kennt sich in der Kleinstadt. Abkürzungen etwa werden nicht erläutert. Man nimmt an, dass die alteingesessenen Herren Journalisten wissen, worum’s geht.
Besonders oft geht es um neue Bauprojekte und um Pensionierungen – beziehungsweise Stellen, die dadurch neu besetzt werden. Es scheint, als wolle sich Olten entrümpeln, abstauben und neu einkleiden.
Wie Peter Fox eben, als er seinen Song schrieb.
Bauen
So beginnt denn auch die ausgehändigte Medienmitteilung mit den Worten: «Die Stadt Olten will investieren – gleich in mehrfacher Hinsicht». Baulich etwa wird im Frühling der Spatenstich für die Schulanlagen Kleinholz erfolgen, der Ländiweg wird nach und nach zur Wohlfühlzone umgestaltet werden und das Aareufer beim Pontonierhaus sollen neu Sitzstufen schmücken.
Und, für Adrenalinjunkies: Die Badi erhält eine neue Rutschbahn! Die steilste der drei Plastikröhren hatte einen Defekt und wird ersetzt werden. Durch ein nicht minder lustiges, aber ein bisschen sichereres Modell, beteuert Baudirektorin Marion Rauber.
Ich denke an Badehosen im Füdlispalt zwecks Temposteigerung. Dann höre ich wieder zu.
Der neue Bahnhofplatz Olten befindet sich in der Vorprojektphase. Übersetzt heisst dies: Noch ziehen ein paar Jährchen ins Land, bevor es losgeht. 2027 könnten die Bagger auffahren. Und für den Projektierungskredit für ein neues Kunstmuseum wird bald eine Parlamentsvorlage ausgearbeitet.
Weitere Projekte stehen an, sobald die finanziellen Mittel da sind: zum Beispiel die Stadtteilverbindung Hammer vorantreiben, ein neues Nutzungskonzept für die Stadthalle erarbeiten oder den Kremationsofen sanieren.
Ja, richtig, sogar der Kremationsofen braucht ein Upgrade. Dafür hat sich die Stimmbevölkerung ausgesprochen. Weil der Tod zum Leben dazugehört oder so.
Budgetblockade überwinden
Es wurde oben angetönt: So einiges, was die Stadt vorhat, hängt noch davon ab, ob sie das Geld dafür kriegt. Und das wiederum hängt vom Stimmvolk ab, welches am 13. Februar über das Budget abstimmen wird (damit hat sich Kolt bereits beschäftigt). Entsprechend wenig überraschend ist eines der generellen Ziele, das der Stadtrat für 2022 definiert: Budgetblockade überwinden.
Blockiert ist er nämlich nicht nur, wenn es um chice Bauprojekte geht.
Direktor für Bildung und Sport Nils Löffel erklärt, dass eine Elternumfrage geplant sei, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu eruieren. So könnte beispielsweise festgestellt werden, ob Olten eine Tagesschule braucht. Dafür soll an alle in Olten wohnhaften Eltern mit Kindern unter 16 Jahren ein Brief verschickt werden – nur fehlt es der Stadt momentan an Budget, um den Postversand zu finanzieren.
Pensionieren
Vielleicht liegt das auch daran, dass Olten offenbar immer mehr Kinder hat und deshalb dieser Briefversand so unsäglich teuer würde. Die geplanten Erweiterungen der Oltner Schulhäuser seien nämlich auch auf steigende Schülerzahlen zurückzuführen, so Marion Rauber.
Eine grosse, neue, gut ausgebildete Generation von Oltnerinnen wächst also heran. Und die alte geht langsam in den Ruhestand, denke ich, als bei den wortführenden Stadträten immer wieder der Begriff «Pensionierung» fällt.
Ob in der Stadtbibliothek, der Abteilung für Ordnung und Sicherheit oder bei der Pensionskasse: Neubesetzung nach Pensionierung, Organisationsüberprüfung anlässlich Pensionierung, Outsourcing.
Der Ruhestand wird zum Anlass genommen, Strukturen zu überdenken und neuen Wind in die Stadtverwaltung zu bringen.
Frischer und sauberer Wind ist das Ziel, und dafür wird sogar eine neue Stelle geschaffen, ohne dass jemand pensioniert wird: Die Fachstelle Energie, Klima und Umwelt wird dieses Jahr ihre Tätigkeit aufnehmen. Diese kümmert sich zukünftig um die Umsetzung der Klimastrategie 2040.
Schade eigentlich, dass niemand pensioniert wird, die sich diesem Anliegen schon früher gewidmet hätte, denke ich. Die ehemalige Umweltfachstelle wurde 2014 weggespart. Jetzt kommt sie wieder. Und bleibt, hoffentlich.
Kiffen
Wie auch immer, eines ist klar: Die Stadtverwaltung will Olten erneuern.
Dabei schnupft sie wahrscheinlich keine Asche wie Koks. Dafür besteht eine reelle Chance, dass sie bald mit einem Joint wieder runterkommen könnte, wenn all das Neue mal zu stressig würde und immer noch kein Budget da wäre: Ein Pilotversuch zur nichtmedizinischen Cannabis-Abgabe in der Stadt Olten ist auf gutem Weg, berichtet der Direktor für Soziales Raphael Schär-Sommer.
Es ist nichts Neues und wird sich wohl auch nie ändern: Bürgerliche mögen keine hohen Steuern, während für Linke eine gute städtische Infrastruktur im Vordergrund steht. Darüber streitet sich der Basler Grossrat genauso wie die politische Elite New Yorks – oder eben das Oltner Parlament.
Bei uns geht es ums Budget für das eben angebrochene Jahr.
Debatten via Kommentarfunktion
Kolt hat im Herbst umfangreich über die umstrittene städtische Finanzplanung berichtet. Hauchdünn hatte das Stadtparlament damals den linken Vorschlag angenommen, der für 2022 eine Steuererhöhung vorsieht.
Es geht konkret um eine Erhöhung des Steuerfusses – um zwei Prozentpunkte für Privathaushalte und um zehn Prozentpunkte für Unternehmen. Dies, nachdem der Kanton Solothurn 2020 die Gewinnsteuern für grössere Unternehmen als Folge der Unternehmenssteuerreform drastisch gesenkt hat (auch darüber hat Kolt berichtet). Das wiederum sorgt für zunehmende Defizite in den Stadtfinanzen. In diesem Kontext ist der Sprung von 10 Prozent für Unternehmen weniger einschneidend, als er auf den ersten Blick scheinen kann.
Am 13. Februar stimmt die Oltner Stimmbevölkerung also über das Budget 2022 ab. Und damit über die Steuererhöhung. Um wie viel mehr Steuern es für die einzelne Bewohnerin geht, das hat Kolt im November ausgerechnet. Fazit: Weder Privatpersonen noch Unternehmen werden unter dem Strich viel stärker zur Kasse gebeten. Aber ein wenig halt schon.
Unsere Leser kommentierten die Berichterstattung umfangreich. «Die Stadt hat ein Ausgaben- und kein Einnahmenproblem», steht da. Oder: «Mit Steuererhöhungen gewinnt Olten keine zusätzlichen Steuerzahlenden». Bekannte Namen aus den Kreisen der Oltner FDP kritisierten via Kommentarfunktion die linke Vorlage scharf.
Was bedeutet das alles konkret? Für Stimmberechtigte und Steuerzahlerinnen? Was hilft, um sich am 13. Februar für oder gegen die Vorlage zu entscheiden?
Wir haben uns einen Überblick über die Hauptargumente und Streitpunkte geschaffen. Und nachgefragt, wo wir nicht weiterwussten.
These 1: Olten braucht eine Steuererhöhung für notwendige Investitionen.
So das Votum der linken Mehrheit im Stadtrat. Es stehen Investitionen an, die Olten durch sein Sparprogramm in den letzten Jahren vernachlässigt habe. «Die geplanten Investitionen sind wichtig und wertvoll für unsere Stadt, weil sie Olten lebenswerter machen», sagt Martin Räber, Gemeindeparlamentarier der Grünen.
Konkret geht es um mehrere grosse Bauprojekte: etwa die Schulbauten Kleinholz und Frohheim, das Kunstmuseum, ein neuer Bahnhofplatz, die Attraktivierung des Ländiwegs, die Fussgängerverbindung Hammer. Und auch bestehende Bauten müssen instandgehalten werden. Rund 18.5 Millionen Franken möchte die Stadt 2022 investieren.
Zumindest zwei Projekte sind unbestritten: Die Stimmbevölkerung hat die Schulanlagen Kleinholz bewilligt, der Ländiweg ist bereits in Umsetzung. Rund 10 Millionen werden dafür im kommenden Jahr gebraucht; in den Folgejahren natürlich noch mehr.
Und die restlichen 8.5 Millionen? Kann die Stadt da nicht etwas sparsamer sein? Ist Steuernerhöhen wirklich nötig?
«Es ist wichtig zu sehen, dass über alle grösseren Investitionen entweder das Stimmvolk oder das Parlament entscheiden wird», sagt Benvenuto Savoldelli, Stadtrat und Finanzdirektor von Olten. «Der Stadtrat entscheidet hier nicht über die Köpfe der Stadtbewohnerinnen hinweg, sondern schlägt Projekte vor. Oft erhalten diese viel Zuspruch – zu einem neuen Bahnhofplatz etwa sagt kaum jemand nein. Aber wenn man sich etwas leisten will, dann kostet das auch.»
Der Vorwurf, die Stadt solle sparsamer sein, müsse immer im Lichte aller Interessen gesehen werden: «Es gibt enorm viele Interessensgruppen in einer Kleinstadt wie Olten. Schlägt man vor, die Stadthalle abzureissen, wehren sich die Sportvereine. Beim Stadttheater die Kultur. Sogar als der Stadtrat das Oltner Krematorium schliessen wollte, weil es in Aarau jetzt ein grösseres und modernes gibt, war die Gegenwehr gross.»
Sparsamer zu sein sei somit leichter gesagt als getan, so Savoldelli.
These 2: Olten braucht keine Steuererhöhung, sondern weniger Ausgaben.
Urs Knapp und Nico Zila von der FDP Olten sind anderer Meinung. Kann Kultur nicht auch ganz ohne Förderung entstehen? Und brauchen tolle Begegnungen immer ein perfektes Aussenraumkonzept? Diese und andere Fragen stellt sich Nico Zila, Präsident der FDP-Fraktion im Gemeindeparlament, in seinem Kommentar auf unseren Artikel. Auch FDP-Gemeindeparlamentarier Urs Knapp findet, die Stadt müsse sich auf Investitionen fokussieren, die die Stadtentwicklung wirklich fördern.
Kurz: weniger ausgeben statt Steuern erhöhen.
Wir haben die beiden gefragt, wie sie das machen würden. «Es ist ein Trugschluss, dass Olten nur attraktiv ist, wenn man möglichst viel Geld ausgibt», sagt Nico Zila am Telefon.
«Der Finanzplan ist eine Wunschliste. Der Stadtrat hat alles reingepackt, was er gerne machen würde, und will dann Steuern erhöhen, um das zu ermöglichen. Aus meiner Sicht müsste man umgekehrt vorgehen: Schauen, was sich die Stadt leisten kann, und dann planen.»
Und wo könnte Olten konkret sparsamer sein?
«Das muss bei jedem anstehenden Projekt neu ausgehandelt werden», findet Zila. «Ich persönlich habe bei Kunstmuseum und Stadthalle meine Vorbehalte, und auch bei Sanierungsarbeiten an der Badi wird man genau hinschauen müssen.»
Urs Knapp sieht bei der Diskussion über Projekte und deren Finanzierung grundsätzliche Probleme: «Mir fehlt besonders bei Abstimmungen über Investitionen eine klare Entscheidungsgrundlage», sagt er. Er findet, man spreche zu viel von neuen Projekten und zu wenig darüber, was diese tatsächlich kosten.
«Müsste man bei der Abstimmung über ein Bauprojekt gleichzeitig über eine Steuererhöhung abstimmen, wären die Resultate wahrscheinlich andere.» Der Stadtrat müsste hier klarer aufzeigen, wie vorgeschlagene Projekte finanziert werden sollen – im Parlament wie auch in den Abstimmungsunterlagen. Dann würde die Stadt automatisch effizienter haushalten, so seine Vermutung.
These 3: Die Stadt erwartet für 2021 ein viel besseres Resultat, als im Budget vorgesehen war. Damit wären die Kosten für Investitionen gedeckt, ohne die Steuern zu erhöhen.
Auch dieses Argument wird in den Kommentaren aufgeworfen. Nico Zila findet die vorgesehene Steuererhöhung umso unnötiger, als dass Olten in der Rechnung 2021 knapp 8 Millionen besser als budgetiert abschliessen wird: «Damit wären die fehlenden Beträge für das Jahr 2022 gedeckt, ohne an den Steuern zu schrauben.»
So einfach? Wir haben nachgefragt.
Nein, sagt Benvenuto Savoldelli. Es gehe nicht um den Gewinn, den die Stadt gemacht hat, sondern um die Frage, wie die anstehenden Investitionen bezahlt würden. «Die Verbesserung der Rechnung von letztem Jahr ist zu einem grossen Teil auf die Neubewertung des Finanzvermögens zurückzuführen. Das ist reiner Buchgewinn. Daraus fliesst aber kein Geld. Wir können damit keine Projekte finanzieren.»
Also doch nicht ganz so einfach.
Was wäre denn, wenn die Vorlage vor dem Stimmvolk scheitern würde? Müsste Olten dann auf seine Bauvorhaben verzichten?
«Nicht direkt im Jahr 2022», meint Savoldelli. Es würden vorerst keine geplanten Investitionen gestoppt. Die Stadt müsste sich jedoch im 2022 um 2.5 Millionen Franken – so viel würde mit der Steuererhöhung in diesem Jahr zusätzlich eingenommen – mehr verschulden. Und das könnte problematisch werden, weil die Pro-Kopf-Verschuldung im Fall Olten das Damoklesschwert ist: Sie muss unter einem Wert von 5000 Franken bleiben. Ansonsten droht ein Eingreifen durch den Kanton. «Ohne die Steuererhöhung wird Olten längerfristig sehr nahe an diesen Grenzwert kommen. Insofern stehen wir unter einem gewissen Druck.»
These 4: In Olten leben und arbeiten wird durch die Steuererhöhung zu teuer.
Wir wissen es alle: Olten hat zu viele leere Wohnungen. Und die bezahlen bekanntlich keine Steuern. Also braucht es Menschen, die nach Olten ziehen. Gibt es aber nicht genug – und mit Steuererhöhungen erst recht nicht, findet Kommentar-Autor Knapp. Diese würden einen Umzug nach Olten unattraktiv machen. Ganz besonders habe die Erhöhung um zehn Prozentpunkte für Unternehmen eine abschreckende Wirkung.
Stimmt das? Auch wenn die Zuzüglerin ihr Kind dank der höheren Steuern in eine attraktivere Schule schicken kann? Und könnte das Kleingewerbe nicht auch von einer lebendigeren Stadt profitieren?
Martin Räber, selbst KMU-Geschäftsleiter, hat dazu eine klare Haltung. «Mit der Steuererhöhung kann Olten definitiv aufgewertet werden, und davon profitieren Privatpersonen wie auch Unternehmen ungemein viel mehr, als dass sie verlieren», sagt er. Die tatsächlichen Erhöhungen seien marginal, wenn man die Beträge ausrechnet. «Unter dem Strich dienen die geplanten Investitionen allen.»
Auf der Suche nach Klarheit fragen wir einen Experten um Rat. Aber selbst Kurt Schmidheiny, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Basel, kommt zum Schluss: «Es ist kompliziert, und es ist grundsätzlich. Mit den Steuern entscheidet eine Stadt auch ein Stück weit, was und für wen sie sein will.»
Trotzdem gibt es Anhaltspunkte, die die Wissenschaft liefern kann.
Grundsätzlich gilt: Ja, Steuererhöhungen können zu Abwanderung führen. Wenn ein Ort durch tiefere Steuern attraktiver wird, dann steigen aber wegen der grösseren Nachfrage die Wohnkosten – und sinken umgekehrt bei höheren Steuern. Im Resultat kann das den Effekt der Abwanderungen durch Steuererhöhungen wieder aufheben.
Dabei verhalten sich einkommensstarke Haushalte anders als einkommensschwache: Menschen mit hohen Einkommen werden von tiefen Steuern angelockt und von hohen Wohnkosten weniger abgeschreckt, bei Menschen mit tiefen Einkommen verhält es sich umgekehrt.
Zieht man jedoch die bessere öffentliche Infrastruktur in Betracht, so weicht sich auch dieser Effekt wieder auf. Zum Beispiel sind Haushalte mit hohen Einkommen tendenziell bildungsnaher und schätzen deshalb gute Schulen.
Welchen Einfluss nun ein schönes, neues Schulhaus und welchen eine geringfügige Steuererhöhung hat, ist also sehr schwer abzuschätzen.
Auch bei den Unternehmen gibt es keine einfache Formel. Schmidheiny verweist auf Studien, die aufzeigen, dass die Wichtigkeit eines Standortes einen grossen Einfluss haben kann darauf, wie örtliche Unternehmen auf Steuerveränderungen reagieren. Olten ist als Standort für Firmen relativ wichtig. Es sei damit gut möglich, dass sich die Stadt auch etwas höhere Unternehmenssteuern im Vergleich zum Umland leisten kann, ohne sofort Firmen zu verlieren.
Fazit: Es ist kompliziert
Es wird wieder einmal klar: Geht es um Finanzen, sind die Fronten verhärtet in der Oltner Politik. Welche Investitionen tatsächlich notwendig sind und mit welchen Mitteln sie finanziert werden sollen, sind politische Fragen, die polarisieren. Und die deshalb oft nicht so einfach zu beantworten sind.
Trotzdem bleibt festzuhalten: Der finanzielle Spielraum einer Kleinstadt ist begrenzt. Besonders wenn grössere Bauprojekte per Abstimmung bewilligt wurden. Viel mehr Geld auszugeben ist genauso schwierig, wie viel sparsamer zu sein. Schlussendlich geht es um Gewichtungen von einzelnen Projekten.
Es wird sich zeigen, ob sich die Stimmbevölkerung darüber ebenso uneinig ist wie ihre Repräsentation im Gemeindeparlament.