Zu dieser Frage diskutierten wir am letzten Kolt-Treffen. Nina Knapp war dabei und warf die Frage auf, wo die Angebote für die Jugendlichen bleiben. Daraus entstand die Idee, die neue Geschäftsleiterin in der Schützi zu besuchen. Kolt bleibt am Thema dran.
Mitte März standen die Kinder auf dem Platz mit den mächtigen Bäumen vor dem gelben Haus. In der langen Schlange warteten freudige Gesichter. 350 Kinder und Eltern kamen, um an diesem Nachmittag die «Grüüveli Tüüfeli» zu hören. Die Band von Christian Schenker lässt die Lieder des verstorbenen Kinderliedermachers weiterleben. Die alte Turnhalle wurde für eine gute Stunde zur kindlichen Fabelwelt.
Irgendwo weit hinten weilte Nina Knapp und beobachtete die Szenerie. Knapp zwei Jahrzehnte zuvor hatte sie selbst noch vorne gestanden, inmitten der Kinderschar, und hatte in der Kinder-Disco Christian Schenker an den Lippen gehangen.
Heute war sie als Gastgeberin am Konzert dabei, als Geschäftsleiterin des Kulturzentrums Schützi.
Den Vater abgelöst
«Jeder Oltner hat eine Beziehung zu diesem Lokal», sagt Nina Knapp. Ein früher Maimorgen. Türen und Fenster sind weit aufgerissen. Die Morgenluft zieht durchs Lokal. Im Entrée leuchtet die Cornichon-Farbe der Kabaretttage. Während zwei Wochen ist der Oltner Leuchtturmanlass Hausherrin der Schützi.
Auch wenn Nina Knapp die Schlüssel für diese Zeit abgegeben hat, gibt sie gern die Gastgeberin, wenn die Menschen am Abend ins Lokal strömen. Und sobald sich auf der Bühne etwas regt und das Publikum gebannt nach vorne blickt, zieht sich die Geschäftsleiterin gerne in den Hintergrund zurück und tut, was sie mit Freude erfüllt: Sie beobachtet die unterschiedlichsten Menschen, die den Saal füllen. Mal sitzen da Banker, mal Handwerkerfirmen, mal gebildetes Kabarett-Publikum, mal tanzen Punk-Fans, und manchmal Kinder, wie eben im März, als die Grüüveli Tüüfeli kamen.
«Die Schützi kann Eleganz ausstrahlen, aber auch ein alternatives Konzertlokal für Subkulturen sein», spricht sie über ihre Faszination für den Ort, den sie seit April offiziell verwalten darf. Schon im letzten Sommer begann sie schrittweise die Chargen ihres Vaters Thomas Knapp zu übernehmen. Während rund vier Jahren führte er das Haus als Geschäftsleiter und modernisierte die Infrastruktur – kulturell wirkte die Pandemie als Bremsklotz.
Nina Knapp erhielt während diesen Monaten die Chance, sich dem Schützi-Vorstand vorzustellen. «Mir war wichtig, dass meine Jobbewerbung nicht über meinen Vater läuft. Sonst hätte ich abgesagt», sagt sie. Knapp weiss, wie schnell in der Kleinstadt der Vorwurf der Vetterliwirtschaft laut wird. Sie wollte diesen nicht an sich haften lassen.
Der Vorstand des Trägervereins der Schützi stellte Nina Knapp nach mehreren Gesprächen ein. Mit 25 Jahren ist die Oltnerin also bereits Geschäftsleiterin des – neben dem Stadttheater – grössten Kulturlokals der Stadt. Sie erfüllt die Rolle mit so viel Selbstverständnis und ohne jugendliche Nervosität, dass viele die Augen aufreissen, wenn sie ihren Jahrgang erfahren. Nina Knapp lacht. «Ja, 1996erin.»
Die kurzen Wege
Primarschule im Sälischulhaus, Bezirksstufe im Froheim, Lehre als Fachfrau Gesundheit bei der Spitex Olten. «In meinem Leben waren die Wege immer kurz», sagt Knapp. Auf ihrem angestammten Beruf arbeitete sie nie, denn eigentlich wusste sie, dass sie in die Kultur gehen wollte. Nur wie? Sie bildete sich in Kulturmanagement und Marketing weiter. Die Tür öffnete sich: Nina Knapp erhielt am Theater Orchester Biel Solothurn (TOBS) eine Stelle und leitete das Betriebsbüro des Sinfonieorchesters. Zwei Jahre, die sich für sie wie Wanderjahre anfühlten. Zurück in Olten sind ihre Wege wieder kurz.
Das Schicksal meinte es gut mit der neuen Geschäftsleiterin der Schützi. Ausgerechnet mit den Grüüveli Tüüfeli, jener Kindheitserinnerung von Nina Knapp, die sie eng mit diesem Ort verbindet, wurde das Kulturlokal im Frühjahr wieder zum Leben erweckt. Die Schützi ist für die Monate März bis Juli voll ausgelastet, wobei vor allem Firmenanlässe dominieren. Durchschnittlich fünf Anfragen bearbeitet Knapp derzeit pro Tag, wovon die Mehrzahl die Schützi als Tagungszentrum nutzen möchte. «Die Kultur ist noch nicht voll zurück», sagt Knapp.
Das möchte Knapp ändern, soweit es in ihrer Macht liegt. Die Schützi soll wieder mehr Livekultur bieten, mehr Konzerte. «Auch für Jugendliche, die in der Region etwas zu kurz kommen», sagt sie. Bisher trat die Schützi nur vereinzelt als Veranstalterin auf. In Zukunft könnte Nina Knapp sich vorstellen, auch eigene Veranstaltungen zu planen. «Vermietungen bleiben aber Priorität, wir können nicht ein zweites Kofmehl werden», sagt sie und zieht den Vergleich mit dem bekanntesten Kulturzentrum der Kantonshauptstadt Solothurn. Ihr Credo: Die Schützi soll für 16-Jährige, deren Eltern und bestenfalls auch deren Grosseltern ein Angebot bereithalten.
«McDonald’s und zurück»
Neulich war Nina Knapp an der Oltner Berufsschule eingeladen, um Einblicke in ihre Arbeit zu geben. Sie nutzte den Besuch, um bei den Jugendlichen Bedürfnisse abzuholen. Für die 25-Jährige waren die Rückmeldungen doch einigermassen verblüffend. «Die Schützi empfinden die 16- bis 20-Jährigen als Tagungszentrum.»
Auf ihre Frage, was ihr Freitagabendprogramm sei, hätten viele der Schulklasse gesagt: «McDonald’s und zurück.» Wer dürfe und es sich leisten könne, gehe hin und wieder ins Kofmehl nach Solothurn. Nina Knapp kann sich vorstellen, die Teenager für grössere Anlässe in Zusammenarbeit mit dem Jugendwerk auch zu sich in die Schützi zu holen. Die Jugendlichen hätten ihr aber gesagt, sie kämen nur an ein Konzert, wenn danach noch eine Party steige, erzählt Knapp mit einem Lächeln.
Partylust verspürt die Mittzwanzigerin kaum mehr. Bars und Konzerte seien mehr nach ihrem Gusto, sagt Knapp. Was sie sich am liebsten anhöre? «Mega unterschiedliche Genres. Aber Patent Ochsner liebe ich über alles.» Gut möglich, dass die mit den beiden Oltner Musikern René Mosele und Alex Hendriksen bestückte Berner Band bald wieder einmal die Schützi-Bühne beehrt. Wenn dann 600 Menschen in der alten Turnhalle die «W. Nuss vo Bümpliz» mitsängen, ob Nina Knapp dann noch immer im Hintergrund stehen und das Publikum aus der Ferne beobachten würde?
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Krieg: Russland erobert das Stahlwerk von Mariupol, die Ukraine macht um Charkiw Boden gut
Der ukrainische Militärgeheimdienst strebt einen Gefangenenaustausch an. Ob sich Russland auf einen solchen Deal einlässt, ist offen. In Moskau gibt es Forderungen, die Gefangenen als Kriegsverbrecher zu behandeln. Der russische Unterhändler Leonid Slutski sprach sich gar für die Todesstrafe aus. Beobachterinnen bangen um die Sicherheit der Gefangenen. Der oberste Gerichtshof in Russland will in einer Anhörung kommende Woche entscheiden, ob das Asow-Bataillon, dessen Kämpfer das Stahlwerk verteidigten, als Terrororganisation einzustufen ist. Ein solcher Entscheid könnte einen Gefangenenaustausch verhindern. Wie viele Soldaten zurzeit noch im Industriekomplex ausharren, ist unklar. In der Stadt Mariupol sollen noch über 100’000 Menschen leben.
Im Osten der Ukraine kam es diese Woche zu weiteren heftigen Gefechten mit zahlreichen Toten. Noch immer versuchen die russischen Streitkräfte, das Gebiet vollständig zu erobern und einen Landkorridor zwischen der Halbinsel Krim und Russland zu schaffen. Besonders die Stadt Sewerodonezk in der Region Luhansk kam massiv unter Beschuss. Das ukrainische Militär will die Gegner laut eigenen Angaben jedoch zurückgedrängt haben. Auch um Charkiw machten die ukrainischen Streitkräfte weiter Boden gut. Sie sollen inzwischen bis zur russischen Grenze vorgestossen sein.
Auch wenn sich die russische Offensive auf den Osten konzentriert, kam es auch diese Woche in anderen Landesteilen zu Angriffen. So wurden Tschernihiw im Norden, Odessa im Süden und Lwiw im Westen mit Raketen beschossen.
In Kiew hat derweil der erste Prozess wegen möglicher Kriegsverbrechen durch die russischen Streitkräfte begonnen. Gemäss Medienberichten soll der 21-jährige Angeklagte seine Schuld gestanden haben. In der Region Sumy, die ebenfalls diese Woche wieder unter Beschuss kam, soll der russische Soldat kurz nach Beginn der Invasion einen älteren Zivilisten erschossen haben. Ihm droht eine lebenslange Haftstrafe.
Die Reaktionen: Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat in der Nacht auf Donnerstag das Kriegsrecht bis 23. August verlängert. Die Ukraine versuche «so schnell wie möglich», die besetzten Gebiete im Süden des Landes zu befreien, sagte er in einer Videoansprache. Sein Berater Oleksij Arestowytsch erklärte im ukrainischen Fernsehen, der Krieg werde bis in den Herbst andauern.
Die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland kommen nicht voran, im Gegenteil: Die Ukraine habe den russischen Entwurf eines Friedensabkommens von Mitte April bis heute nicht beantwortet, meldete die russische Delegation. Gemäss dem ukrainischen Unterhändler Mykhailo Podoljak seien die Verhandlungen «pausiert».
Die EU versucht weiter, ihre Abhängigkeit von Russland zu verringern, namentlich im Energiebereich: Bis zu 300 Milliarden Euro sollen gemäss EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bis 2030 in eine neue Energiestrategie investiert werden. Ein verringerter Verbrauch, mehr erneuerbare Energien und neue Infrastruktur für Strom, Gas und Öl sollen die Mitgliedstaaten aus der Abhängigkeit von Russland befreien. Eigentlich hat die EU seit Wochen ein Ölembargo gegen Russland auf dem Tisch, das noch dieses Jahr in Kraft treten soll. Die Pläne werden jedoch noch immer durch Ungarn blockiert, das für seine Zustimmung bis zu 18 Milliarden Euro an Investitionen fordert. An einem Treffen der EU-Aussenministerinnen sagte der litauische Vertreter, die Union würde «von einem Mitgliedstaat als Geisel genommen». Auch der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba äusserte seinen Frust über die ungarische Blockadehaltung.
Während sich die EU weiter von Russland entfernt, sucht eine umkämpfte Region die Nähe: In der georgischen Separatistenregion Südossetien sollen die Bewohnerinnen am 17. Juli über den Beitritt zur Russischen Föderation entscheiden können. Anatoli Bibilow, der abtretende Präsident der Region, hat das entsprechende Dekret unterzeichnet. Die georgische Regierung verurteilt die Pläne.
Die Nahrungsmittelkrise: Der Angriffskrieg von Russland gegen die Ukraine, beides wichtige Getreideexporteure, steigert je länger je mehr die Gefahr einer globalen Ernährungskrise. Die Weizenlager in der Ukraine sind gefüllt, das Getreide kann wegen der russischen Seeblockade jedoch kaum exportiert werden. Wegen der heftigen Hitzewelle im Land und steigender Preise hat Indien – ein weiterer wichtiger Exporteur – nun beschlossen, keinen Weizen mehr ins Ausland zu verkaufen. Das treibt die Preise weiter in die Höhe. Indien hatte aufgrund des Krieges eigentlich rekordhohe Exporte angekündigt. Bestehende Verträge würden jetzt zwar erfüllt, weitere Auslieferungen jedoch gestoppt.
Darum geht es: Finnland will der Nato beitreten. 188 der 200 Parlamentarierinnen votierten am Dienstag für den Beitritt zum Verteidigungsbündnis. Die schwedische Regierung hatte sich zuvor zum gleichen Schritt entschieden. Die Länder haben ihre Gesuche am Mittwoch gemeinsam bei der Nato eingereicht.
Warum das wichtig ist: Finnland und Schweden sind neutrale Staaten. Schweden ist seit über 200 Jahren nicht mehr Mitglied eines Militärbündnisses; Finnland wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges neutral (auch wenn die Neutralität durch die EU-Mitgliedschaft und die bereits bestehende Nähe zur Nato seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben sei, wie Historiker betonen). «Ein neues Zeitalter beginnt», verkündete diese Woche der finnische Präsident Sauli Niinistö an einer Medienkonferenz. Finnen wie Schwedinnen stellten sich in Umfragen lange Zeit mehrheitlich gegen einen Nato-Beitritt. Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine und die akute Bedrohung aus dem Osten änderten dies besonders in Finnland, ein direkter Nachbar Russlands, schlagartig. Nachdem Moskau auf die Beitrittspläne zunächst Konsequenzen angedroht hatte, reagierte Präsident Putin nun auf die offiziellen Gesuche überraschend gelassen: Die Mitgliedschaften von Schweden und Finnland seien «keine unmittelbare Bedrohung für Russland», kommentierte er, obwohl er die Nato-Erweiterung als einen der Gründe für die Invasion in die Ukraine benennt.
Was als Nächstes geschieht: Der Aufnahmeprozess für die Nato kann Jahre dauern. Da Finnland und Schweden die grundlegenden Kriterien für eine Mitgliedschaft erfüllen, erwarten Analystinnen jedoch ein schnelles Verfahren von wenigen Monaten oder gar Wochen. Damit die Aufnahmegespräche beginnen können, müssen die Kandidaten zuerst von den Nato-Mitgliedstaaten einstimmig eingeladen werden. Angeblich aus Sicherheitsbedenken hat die Türkei die Gespräche vorerst blockiert. Der Präsident Recep Tayyip Erdoğan warf den beiden skandinavischen Staaten vor, «Terroristen» der kurdischen Separatistenpartei PKK nicht ausliefern zu wollen. Dass Ankara die Beitritte dauerhaft blockiert, ist jedoch nicht zu erwarten.
USA: Zehn Tote nach rassistischem Attentat
Darum geht es: Am Samstagnachmittag wurden in einem Supermarkt sowie auf dem Parkplatz davor in der Stadt Buffalo (US-Bundesstaat New York) zehn Menschen erschossen und drei weitere verletzt. Fast alle Opfer waren Schwarze. Die Polizei konnte den mutmasslichen Täter überwältigen und festnehmen. Er war aus dem Süden des Staates gezielt in die Gegend mit einer hohen schwarzen Bevölkerungsdichte angereist. Ein online veröffentlichtes Statement legt nahe, dass er die rassistisch motivierte Tat monatelang plante. Noch in der Nacht zum Sonntag wurde Anklage wegen Mordes gegen den 18-jährigen Mann erhoben.
Warum das wichtig ist: Seit Jahren kommt es in den USA immer wieder zu gezielten Angriffen auf schwarze und jüdische Menschen. Extremisten, die aus Hass und rassistischen Motiven töten, gelten als die gefährlichste Form des nationalen Terrors. Der mutmassliche Täter von Buffalo verbreitete im Internet die Theorie des «Great Replacement». Diese Verschwörungstheorie behauptet, dass weisse Menschen von einer globalen Machtelite systematisch ersetzt werden sollen. US-Präsident Biden verurteilte die Tat in einer Rede am Dienstag als Terrorismus und bezeichnete die Theorie der «weissen Überlegenheit» (white supremacy) als Gift.
Was als Nächstes geschieht: Die Diskussion darüber, welche Gefahrrassistische Theorien für die Demokratie darstellen und welche Rolle dabei republikanische Politikerinnen spielen, nimmt neue Fahrt auf. Im Bundesstaat New York wird über die Sinnhaftigkeit des sogenannten «Red Flag Law» (Rote-Fahne-Gesetz) diskutiert, das eigentlich greifen soll, wenn Schusswaffenbesitzerinnen eine Gefahr für andere darstellen könnten. Der mutmassliche Täter von Buffalo musste sich im vergangenen Jahr nämlich einer psychologischen Evaluation unterziehen, weil er angekündigt hatte, nach dem Abschluss der High School eine Gewalttat verüben zu wollen. Er wurde ohne Konsequenzen wieder entlassen und konnte sich danach legal eine Schusswaffe kaufen.
Frauenrechte: Spanischer Gesetzesentwurf sieht Mensdispens vor
Darum geht es: Am Dienstag wurde in Spanien ein Gesetzesentwurf vorgestellt, der Frauenrechte stärken soll. Er sieht zum einen vor, dass Frauen im Land zukünftig nicht mehr arbeiten müssen, wenn sie unter starken Regelschmerzen leiden. Darüber hinaus hält der Entwurf aber auch Bestimmungen zu Schwangerschaftsabbrüchen fest: Frauen ab 16 Jahren sollen für einen Schwangerschaftsabbruch nicht mehr die Zustimmung ihrer Eltern benötigen. Die übliche Bedenkfrist von drei Tagen vor einem Abbruch soll entfallen. Weit stärker diskutiert als die Abtreibungsfrage wurde im Kabinett allerdings der Teil des Entwurfs, in dem es um die Krankschreibungen bei Regelschmerzen geht.
Warum das wichtig ist: Gut die Hälfte der Menschen ist ab dem Teenageralter jahrzehntelang von einer Monatsblutung betroffen. Die Menstruation kann heftige Konsequenzen psychischer und physischer Art haben, die sich auch stark auf das unmittelbare Umfeld der Betroffenen auswirken. Laut dem spanischen Gesetzesentwurf sollen sich Frauen während ihrer Menstruation drei – mit Hilfe eines ärztlichen Attests bis zu fünf – Tage unkompliziert von der Arbeit befreien lassen dürfen und weiter ihren Lohn erhalten. In einigen Ländern der Welt, unter anderem in Japan und Indonesien, dürfen Frauen bereits heute aus diesem Grund offiziell Urlaub nehmen. Bislang melden sich Frauen mit heftigen Regelschmerzen in Europa – je nach Kulanz des Arbeitgebers – krank oder ziehen die Arbeit mit Schmerzmittel durch.
Was als Nächstes geschieht: Der spanische Gesetzesentwurf ist bei Frauenrechtlerinnen, Gewerkschaftern und Politikerinnen nicht unumstritten. Die spanische Wirtschaftsministerin warnte vor Stigmatisierung und einer Benachteiligung von Frauen bei der Jobsuche. Ihre Sorge: Unternehmen könnten zukünftig eher Männer einstellen, weil sie bei Frauen monatliche Krankheitsausfälle befürchten. Die Gleichstellungsministerin Irene Montero dagegen plädierte mit der Vorstellung ihres Gesetzesentwurfs dafür, dass Frauen sich nicht länger einer Männerwelt anpassen müssten.
Zum Schluss: Der alte Mann und die Invasion
Der ehemalige Präsident George W. Bush ist bekannt für seine Versprecher. Sie unterliefen ihm schon im Amt so häufig, dass sich dafür der Begriff Bushism etablierte. Einen neuen Bushismus lieferte er diese Woche bei einer Rede in Dallas. Er wetterte gegen manipulierte Wahlen und die Unterdrückung der Opposition in Russland. Die fehlende Gewaltenteilung habe nun fatale Folgen gezeitigt: «Die Entscheidung eines Mannes, eine völlig ungerechtfertigte und brutale Invasion des Iraks zu starten … ich meine der Ukraine.» Wenn man selber schon mal so eine Invasion angeordnet hat, kann es halt passieren, dass man über Ländernamen stolpert. Allzu tragisch nahm Bush seinen Versprecher deshalb nicht, sondern verwies auf sein Alter: 75. Dass es nicht okay ist, wenn ein Mann beschliesst, eine komplett ungerechtfertigte und brutale Invasion in ein anderes Land zu starten, das hätte ihm allerdings schon vor 20 Jahren in den Sinn kommen können.
Was sonst noch wichtig war
Die Corona-Lage: Sie ahnen, was jetzt kommt: Weniger Fälle, weniger Hospitalisierungen und eine sinkende Positivitätsrate. Seit Wochen entspannt sich die epidemiologische Lage in der Schweiz, wie auch in den meisten europäischen Ländern. Deshalb haben wir diese Woche den Beschluss gefasst, die Kurzübersicht an dieser Stelle bis auf weiteres ruhen zu lassen. Und geben Ihnen hiermit zwei Versprechen mit: Wir bleiben am Thema Covid-19 dran, und wir werden die globalen Entwicklungen weiterhin beobachten und im Wochenbriefing vermelden. Und: Sollte sich die Lage in der Schweiz ändern, werden Sie hier oder an anderer Stelle wieder regelmässig von uns hören. Bis dahin: Halten Sie die Ohren steif und bleiben Sie gesund!
Frankreich: Präsident Emmanuel Macron hat Elisabeth Borne zur Premierministerin ernannt. Die bisherige Arbeitsministerin gilt als Technokratin mit Erfahrung in der Sozial- und Umweltpolitik. Wie lange sie und das neue Kabinett im Amt bleiben, hängt vom Ausgang der Parlamentswahlen Mitte Juni ab.
Deutschland: Der Journalist Deniz Yücel ist als Präsident der Schriftstellervereinigung PEN zurückgetreten. Zuvor hatte er ein Misstrauensvotum überstanden. Seine Gegnerinnen kritisierten seinen Führungsstil und seine Forderung nach einer Flugverbotszone über der Ukraine. Yücel erklärte bei seinem Rücktritt: «Ich möchte nicht Präsident dieser Bratwurstbude sein.»
Grossbritannien: Die Regierung arbeitet an einem Gesetz, um das sogenannte Nordirland-Protokoll auszuhebeln. Dieses regelt seit dem Brexit den Warenverkehr zwischen England und der irischen Insel. London will damit die Regierungsbildung in Belfast erleichtern, riskiert aber Gegenmassnahmen der EU.
Libanon: Bei den Parlamentswahlen haben die Hizbollah und die mit ihr verbündeten Parteien ihre Mehrheit verloren. Zahlreiche Sitze gingen an unabhängige Kandidaten, die nicht zum Establishment gehören.
Israel: Bei der Beerdigung der letzte Woche erschossenen Al-Jazeera-Journalistin Shirin Abu Akleh gingen Polizisten mit Schlagstöcken auf die Sargträger los, als der Trauerzug den Hof des katholischen Spitals in Ostjerusalem verlassen wollte. Der höchste Vertreter der katholischen Kirche in Israel wirft den Behörden schwere Rechtsverletzungen vor.
Somalia: Der ehemalige Präsident Hassan Sheikh Mohamud ist erneut zum Staatschef gewählt worden. Er setzte sich damit gegen Amtsinhaber Mohamed Abdullahi Mohamed durch. Somalia leidet unter den Folgen einer verheerenden Dürre und Aufständen von Islamisten.
Sri Lanka:Erstmals in seiner Geschichte ist das Land zahlungsunfähig. Dadurch verschärft sich die aktuelle wirtschaftliche und politische Krise. Es fehlt an Devisen für Importe. Die Zentralbank warnt, die Inflation könnte in den kommenden Monaten auf 40 Prozent ansteigen.
USA: Präsident Biden hat das Verteidigungsministerium angewiesen, mit seinen Flugzeugen Babynahrung aus dem Ausland in die USA zu fliegen. In den USA herrscht ein dramatischer Mangel an Milchpulver für Säuglinge, weil der grösste Hersteller wegen bakterieller Verunreinigungen die Produktion gestoppt hat.
Die Top-Storys
Verbrannt im Versandhandel Bis 19 Uhr bestellt, am anderen Tag geliefert. Was für die Kundschaft super praktisch ist, bedeutet für die Angestellten von Digitec Galaxus mega Stress. Nun packen ein paar von ihnen aus über die Arbeitsbedingungen bei der Nummer eins im Schweizer Onlinehandel. Eine Reportage des «Sonntagsblick».
Plötzlich Weltklasse Wer in einer Sportart brillieren will, muss früh damit anfangen, so heisst es. Die Niederländerin Nienke Brinkman beweist das Gegenteil. Nach ihrem Umzug nach Zürich 2016 beginnt sie, gelegentlich zu joggen. Sechs Jahre später bricht sie beim Marathon in Rotterdam den niederländischen Rekord. Das Porträt einer unverhofften Spitzensportlerin, zu lesen in der NZZ.
Dinner for one Ins Restaurant zu gehen, ist für die meisten Menschen eine Sache, die sie mit anderen Menschen gemeinsam tun. Die New Yorker Fotografin Nancy A. Scherl interessiert sich für die Ausnahmen: 30 Jahre lang hat sie Alleinesser und Alleintrinkerinnen abgelichtet. Der «Guardian» zeigt einige von Scherls mal melancholischen, mal kuriosen Fotos aus ihrem neuen Fotoband.
Härzlich wöukomme zo de vellecht letschte Turmred i de Gschicht vo de Kabarett-Täg. Auso ned, wöu das jetzt e sehr schlächti Turmred wird, wo sich d’Verastauterinne und Verastauter drufabe dänke: «Goht’s eigentlich no, Herr Ziegler? Auso für sone Chabis hei mir Sie auso nid engagiert, das Format ghört mit dem Uftritt per sofort abgschafft!» Nei. Es wird ou ned e Skandal-Turmred, wo a d’Gränze vom guete Gschmack wird go, oder massig wird polarisiere, so, dass de Blick am nöchste Mäntig titlet: «Junger, gutaussehender und bescheidener Trimbacher Slam Poet entblösst sich auf dem Ildefonsplatz, Zuschauerinnen fallen in Ohnmacht, mittlerweile ausser Lebensgefahr.» Das ou ned.
Nei, es isch vellecht die letschti Turmred i de Gschicht vo de Kabarett-Täg, wöu’s d’Kabarett-Täg eventuell scho bau nömm gett. Verstöit mi ned fausch, d’Kabarett-Täg kämpfe ned oms Öberläbe, sie si ned finanziell am Schwömme, zomindest nid, dassi wüsst. Sösch hätte sie mi äuä ned engagiert, e be sehr tüür.
Nei, d’Kabarett-Täg und demit d’Turmred, getts vellecht scho bau nömm, wöu’s üs aui vellecht scho bau nömm gett. Simmer ehrlich, om d’Spezies Mönsch stohts ned auzu guet. Die Welt geht vor die Hunde. Aber leider sis ned härzigi Hönd. So Golden Retriever, oder für die Ärmere onder üs: Silver Retriever oder M-Budget Retriever. Ou ned eine vo dene öberzöchtete Chiuahuas, wo ned weisch: Isch’s Hund? Isch’s Muus? Isch’s Ratte? Nei, es si zähneflätschendi, aggressivi Kampfhönd, wo nor druf warte, ehri Opfer gnadelos z’zerbisse.
Egau, wo me häneluegt, sinnlose Wahnsinn und ned ändewöuendi Katastrophene. De Planet wird immer wärmer, d’Stimmig immer chöuter. Dezu e voreilig fertig-gloubti Pandemie und e onmönschliche, grausame russische Agriffschrieg. Und als wär das ned aues scho schlimm gnue, si jetzt ou d’Büetzer Buebe wieder uf Tournee.
Bi so vöune Problem, weiss me gar ned wo afo häneluege. Nämme mer s’Klima. D’Temperature stiige, in Indie herrscht grad e klimawandu-bedingti Tempera-Tortur vo 50° Celsius und no meh. Und wenn mer ned ufpasse ischs bi üs vellecht ou ergendwenn sowiit. Das dörf ned si, eg persönlich has gärn chaut, e bene coole Typ. Vor churzem hett mer im Usgang sogar e Franzos gseit, eg sigg e Kühltruhe. Auso är hett mer gseit Truh-de-Kühl. 50°, das muess me sich mou vorstöue. Wärmer uf de Wäut isch’s fasch niene… guet, vellecht no im Muul vomene Haifisch. Dir wüsst vellecht: In Haifischmäulern ist es immer warm… denn darin hat es Hai-Zungen. D’Wäut goht auso vor d’Hönd. Öberau Problem. Do frogt me sich scho: Dörf me i denne Ziite öberhoupt lache? Esch das ned pietätlos? De Situation völlig onagmässe?
Und so stohni do obe ufem Turm, vouer Ehrfurcht und Höheangst, haute die «mer-wird-ufem-Torm-bau-storm-Red» und froge mi: Beni de Richtig für dä Job? Was qualifiziert mi, i derer Ziit vom Tumult und Ufruhr, derer Ziitewändi öppis Substantiells biizstüüre. Was chan eg scho leiste? S’einzige woni cha mache, isch d’Lüüt zom Lache bringe, aber eg ha keni geniali Idee, wie me d’Mönschheit chönti vor sich säuber rette. Eg ha kei geopolitischi Lösigsvorschläg. Nei, mini Gedanke si meistens rächt domm. Erst grad hani mer zom Bispöu öberleit: Isch ächt schomou de James Bond im Coop uf d’Woog ghocket und hett 007 dröckt?
Wenni ned wiiter weiss, und verzwiiflet be, de gangi go recherchiere, i de Hoffnig, dass mer das Klarheit verschafft und eg d’Wäut es betzeli besser verstoh. Genau das hani gmacht, bim Schriibe vo derer Red, und ha wöue wösse, was hett’s eigentlich mit de Outner Kabarett-Täg genau uf sich? Mit denne Täg, wo Oute zom Mittelpunkt vo de Wäut macht. Zomindest vo de Kabarett-Wäut. Wo üsi Drü-Tanne-Stadt sich verwandelt vom Isebahn- zum Kabarett-Chnoteponkt. (Es isch jo scho gäbig, vo Oute us hesch mit em Zug immer e Haubstond. Z’Oute chasch i Zug istiige, inere Haubstond bisch in Bärn. Chasch z’Oute istige, inere Haubstond bisch in Zöri. Du hesch immer e Haubstond: Zöri, Basu, Bärn, Luzern, Chur, Hamburg, New York. Grossartig. Mer hei, so för die Uswärtigi, öbrigens 10 Gleis vo 1 bis 12, auso 1, 2, 3, 4, denn aber ned 5 und 6, sondern grad 7, 8, 9, 10, 11, 12. Me cha säge: D’Gleis am Bahnhof Oute sie wie mini Zügnisnote, damaus im Fach Turne: Egau, wie lang du suechsch, du fendsch niene es Füfi oder Sächsi. Bsonders schlächt gse beni im Schwimmunterricht. Mi Spitzname isch gsi: Shisha. Auso: Wasserpfiife. Aber e schweife ab.)
Uf jede Fau beni de im Vorfäud me go schlau mache, i de Hoffnig, dass das minere Red wird häufe:Wie sie d’Kabarett-Täg entstande, vo wem und werom und sowieso?! Wenn mini Recherche stimme, denn isch de Grönder vo de Kabarett-Täg e gwösse Jean Corni. Salopp besser bekannt aus de Corni, Jean.
Är hett unbekannterwiis s’erste Festival 1988 mitbegröndet. Luut em Mythos isch de Corni, Jean grosse Fan gse vo Gwörzgurke. Wenner ned wiiter gwösst hett und a de Wäut schier verzwiiflet isch, hetter i Chüehschrank gluegt, es Gurkeglas vöregnoh und d’Gurke drin i auer Rueh verzehrt.
Är heig immer gseit: Wenn s’Läbe di agurkt, gönn der es Cornichon. Für ehn isch s’Cornichon meh gse aus e Gurke. S’isch es Symbol gse. Jedesou, wenn er e Gurke gässe hett, hett er sich chli weniger trurig gfühlt und das hett ehn zom Lache brocht. Mit jedere Gurke usem Essig, hetter gmeint, es-sig e chli besser. Und us dem Gedanke use, hetter d’Kabarett-Täg gröndet, schliesslich si Gurke gsond, genau wie s’Lache ou. Frei nachem Motto: A Gurke a Day keeps the Apple away which keeps the doctor away.
Das isch ou de Grond, werom’s i Sandwich Gurkene hett, das hett me nämlich a de erste Kabarett-Täg etabliert. Im Sandwich hetts ke Gurke, wöu sie fein si, im Gägeteil, sondern wöu si störe – das isch mini Meinig, s’gett nüüt Grusigers aus e Gurke imene Sandwich. Aber das isch genau de Sinn! E Gurke muess onagnähm si. Sie muess störe. So wiene gueti Kabarettistin, e guete Kabarettist muess störe. E guete Kabarettist muess de Mächtige und Böse ufhocke. Und s’ehne eifach ned eifach mache.
S’beste Bispöu isch de frischkürti Cornichon-Priisträger, de Mike Müller. Är isch eine, wo unagnähm cha si, wo seit, waser dänkt, uf de Bühni, i de Medie, uf Twitter. De Mike Möuer isch [und ig hätti nie dänkt, dassi das mou werde säge] e richtig geili Gurke. Und de Kabarett-Priis für ehn längst öberfällig! Ned vergäbe isch de Mike Möuer zwöifache Prix Walo Pristräger. Zwöi Prix Walos! De George Clooney hett nedemou eine! E be öberzüügt devo, de Mike chönnt jedi Roue spelle und s’wörd glorios. Jo, de Mike Möuer chönnt i Erotikföume mitmache und es wörd en Erfoug wärde, Stichwort: Der Begatter.
Was vöu Lüüt ned wösse, de Wäg zo sim Cornichon isch in Trimbach g’äbnet worde. Es Stöck wiit ou vo mer. De Mike Möuer isch nämlich, und das isch wörklich wohr, woner no bi Viktors Spätprogramm gse isch und bevor är so richtig bekannt worde isch, es Johr lang Ushöufslehrer a de Oberstufe z’Trimbach gse. Miner Klass hetter Gschicht gäh. Die erste zwöi, drü Woche z’erst no seriös, denn immer lockerer und immer meh zo Witze ufgleit.
Eg gloube, die Erfahrig us Lehrer hett am Mike Möuer si Erfoug erst möglich gmacht, wahrschiinlech wird är sich dänkt ha: S’Künstlerläbe isch hert, undankbar und brotlos, aber immer no besser aus Lehrer z’si. Jetzt starti aus Könstler döre, schlimmer chas ned wärde. Me cha säge, mer si ned nor zo ehm id Schueu, sondern gwössermasse är ou betzeli zo üs.
Är hett mer dör sini Art bibrocht, Wösse loht sich am beste vermittle, wenn me dezue cha lache. Lache schafft Bewosstsii. Schafft Verständnis. Lache regt zom Dänke a. D’Wäut wird doch ohni Glächter schlächter. Lache macht us trist Trost. Us happig happy. Im Usdrock Lustig steckt s’Wort Lust. Aues andere wäri doch glacht. Eg säge immer: «Es Läbe ohni Humor wär wienes Chind, wo dusse öbernachtet… Es liit nid drin.»
Das isch doch das, was me cha mache gäge die herrschendi Ohnmacht i dene melan-komische Ziite: Lache! Grad ou öber sich säuber, es duet so guet. Mer si doch aui lächerlich. Eg gloube, de Mönsch isch denn am beste, wenn är mit andere Mönsche gmeinsam debatiert und dänkt und lacht. Wenner ned stuur uf sini Meinig beharrt, sondern sich ustuuscht. Und merkt: es gett verschedeni Asichte. Aues hett zwöi Sitte. Osser s’Wallis, das hett nor eis Sitte.
Genau das schaffe d’Kabarett-Täg. Do chonnt me zäme, luegt sich intelligänti Vorstöuige a, tuuscht sich nächäne dröber us, und böudet sich dör das e Meinig.
Es isch doch so: Du chasch ned die Mächtige eigehändig vom Thron stosse, du chasch ned d’Grosskonzärn im Elleigang dra hindere dass si us purer Lust ar Gwönnoptimierig ehri Arbeiterschaft und de Planet usbütte, du chasch ned ellei d’CO2-Emissione sänke, oder verhindere dass de Elon Musk für 44 Milliarde Twitter chouft. (Guet, eg ha mer zwar öberleit, eg wörd gärn es Gäge-Agebot unterbreite und be jetzt am Spare. Eg lo nächäne de Huet lo omegoh. E be momentan bi 47 Franke 80. Das heisst es fähle mer no: 43 Milliarde, 999 Millione, 999 Tuusig, 953.50. Bitte sitt grosszögig, s’chonnt guet.)
Nei, du chasch nüüt mache, wenn in Russland eine Vladimir-nichts-dir-nichts arrogant oben ohne uf sim Ross rittet, wiene Chippendale mit Midlife Crisis, z’obe im Kreml gnüsslich sis Tyrann-isue verzehrt und mit rotem Chopf de roti Chnopf aluegt und debi no gloubt, är siggi de Atomar-tyrer. Du chasch nüüt mache, gäge eine, wo öber Liiche goht und sich eifach nimmt, was är wott. Wo seit: «I have a Krim». Und wenig spöter isch sie anekdiert. Dezue chonnt, Autokrate und Despote si ungloublich onhöflich. Sie chöme zom Bispöu ou nie pönktlich. Es heisst jo: De-Spot.
Nei, me cha diräkt nüüt mache, gäge au die Egomane. Aber was mache chasch: Du chasch satirisch gäge obe trätte. Die Mächtige mächtig närve. Ehne uf d’Finger luege und – ebbe jo – öber sie lache.
E gloube, das isch das, was d’Kabarett-Täg chöi leiste. D’Kabarett-Täg wärde d’Wäut rette, schliesslech heisse sie jo Kaba-RETT-Tage. Wenn ou nor im Chliine. D’Kabarett-Täg mache üs aui zo bessere Mönsche.
Scho ei Vorstöuig vo de Kabarett-Täg längt und usere oninteressierte, onwössende, und onbehoufne Person wird en ufklärte Bürger. Es brucht nur ei Vorstöuig vo Flegel zu Hegel, vo Prolet zu Prophet, vom Unhold zum Held. (Jede vo üs chane Höud si, för me esch en Höud jo öpper, wos schafft, s’Abstimmigscouvert ufzriise, ohni dass es kapott goht.)
D’Kabarett-Täg zeige: Mitem Cornichon kämpfsch gäge s’Böse uf de Wäut! Mit Gurken gegen Schurken. Mer bruche ned Friedenstuube, mer bruche Friedensgurke. Osserdem mache Gurke schön, ned nor aus Schiibe uf de Ouge. Studie hei zeigt: Kabarett-Täg-Bsuecher*inne wärde aus intelligänter, charmanter und attraktiver wohrgnoh. Das hani uf Wikipedia gläse… nachdem igs säuber dört hänegschriebe ha.
Jo, d’Kabarett-Täg böudet ehri Bsuecher*inne. On zwar vo Jong bes aut. Guet, vo nömm-ganz-so-jong, bes aut. Ganz under üs, Kabarett hett jo in Sache Publikum es Nachwuchsproblem. Der wösst jo, wie me under de Kabarettiste en 50-jährige Kabarett-Zueschouer nännt? Jung.
Kabarett isch e mächtigi Form. Wenn in Russland, oder China kritischi, kabarettistischi Kunst konsumiersch, wersch verhaftet. Das cha me sich bi üs gar ned vorstöue. Guet, i säutne Fäu gett’s das ou i de Schwiiz. Zom Bispöu de Pierin Vincenz isch ou is Gfängnis cho wäge Kabarett-Bsüech.
Kabarett, das isch e Läbensistöuig. Das hett scho de Jean Corni erkönnt. Wenn Schwangeri gsehsch Gwörkgurke ässe, denn isch das im Fau ned, wöu sie gfräsig si, nei, das isch kabarettistischi Früehförderig! So wird scho de Fötus mitem Cornichon uf de Geist vo de Kabarett-Täg igstimmt. Apropos Chind: Wenni mou eis sett ha, de nännis zu ehre vo de Kabarett-Täg Cornichon. Cornichon Ziegler, was füre Name! «Das si mini Chind: Peter, Lena und Cornichon.» «Das isch aber e komische Name?!» «Jo, e weiss, aber mini Frou hett unbedingt Peter wöue.»
Uf d’Frog: Dörf me i dene Ziite lache? Isch d’Antwort: Nei, me dörf ned, me muess. Z’Lache, das isch ned bloss e Form vo Eskapismus. E Form vor Ablänkig, om sich ned müesse uf s’Wäsentliche z’konzentriere. Nei, Lache isch e Form vo Hautig. Wär lacht, dä zeigt schliesslich Zähn. Und de Mächtige d’Zähn zeige isch das, was die Witzfigure dört obe verdient hei.
Wär weiss, vellecht füehrt jo meh Kabarett zo meh Wösse, meh Wösse zo meh Engagement und meh Engagement zonere bessere Wäut, wo ned vor die Hunde goht. Und denn wird das ou ned die letschti Turmred i de Gschicht vo de Kabarett-Täg oder sogar de Mönschheit gse si. Sondern de Afang vomene neue Afang.
Und wenn mer aus Mönsche, trotz auem, doch sette undergo, de immerhin miteme Lache im Gsicht.
I dem Sinn: Eg wönsche euch aune zäme wunderbari, unvergässlichi, beriicherndi und vor auem lustigi Kabarett-Täg. Hebe Sorg zunanend. Make Love, not War. Oder wie’s uf Schwiizerdüütsch heisst: Mach Liebi, ned wohr.
Dieses Nachrichtenbriefing wurde uns von der Republik zur Verfügung gestellt.Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur.
Ukraine: Die aktuelle Lage
Das Kriegsgeschehen: Seit mehr als zwei Monaten wird die im Südosten der Ukraine gelegene Hafenstadt Mariupol belagert. Mittlerweile konnten alle Zivilistinnen aus dem lokalen Stahlwerk evakuiert werden, wo sie Sicherheit gesucht hatten. Doch noch immer harren dort Hunderte von ukrainischen Kämpfern in den Bunkern aus. Die russischen Streitkräfte beschiessen das Werk wieder intensiv. Das im Stahlwerk verschanzte Asow-Regiment hat diese Woche erstmals Fotos aus dem Industriekomplex öffentlich gemacht; sie zeigen zahlreiche schwer verwundete und ausgemergelte Soldaten. Die Bilder lassen sich jedoch nicht unabhängig verifizieren. Die ukrainische Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk verhandelt mit der russischen Seite inzwischen über einen Tausch: Kiew kann die Soldaten aus dem Stahlwerk evakuieren und lässt dafür gefangene russische Soldaten frei. Das russische Militär fordert aber nach wie vor eine Kapitulation.
Bei den Kämpfen um Mariupol seien tausende Menschen getötet worden, sagte diese Woche Matilda Bogner, die Uno-Menschenrechtsbeauftragte in der Ukraine. 4000 Todesfälle seien dokumentiert, die tatsächliche Zahl dürfte aber deutlich höher sein. Bogner berichtet zudem von zahlreichen Menschenrechtsverletzungen in der Stadt.
Im Süden der Ukraine wurde die Hafenstadt Odessa am Montag – dem wichtigsten russischen Feiertag – so schwer beschossen wie noch nie seit Beginn des russischen Angriffskriegs. In Cherson im Osten des Landes drohen die russischen Besatzer derweil mit einer Annexion. Es ist unklar, ob es sich dabei um einen konkreten Plan handelt oder um leere Drohungen, die Kiew unter Druck setzen sollen.
In der Gegend um Charkiw, der zweitgrössten Stadt der Ukraine im Osten des Landes, verzeichnet die ukrainische Armee derweil Geländegewinne. Mehrere Ortschaften konnten zurückerobert werden. Die russische Armee wiederum hat den Angriff im Donbass gemäss ukrainischen Angaben verstärkt und dabei Boden gutgemacht.
Nicht nur in der Ukraine, auch im russischen Grenzgebiet kam es diese Woche erneut zu Explosionen. Laut russischen Angaben soll die Ukraine die Regionen Belgorod und Kursk angegriffen haben, eine Person sei getötet worden.
Bereits mehr als eine Million Menschen seien aus der Ukraine nach Russland deportiert worden, sagt die Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments. Das US-Pentagon nennt keine Zahlen, bestätigt aber, ebenfalls entsprechende Hinweise erhalten zu haben. Der russische Generaloberst Michail Misinzew soll gemäss einer russischen Nachrichtenagentur die Unterstützung von internationalen Organisationen gefordert haben, um Zivilisten aus ostukrainischen Orten zu evakuieren.
Einem neuen Bericht der NGO Human Rights Watch zufolge haben sowohl die russische als auch die ukrainische Armee in den vergangenen Monaten Streumunition eingesetzt. Die Organisation spricht von Hunderten Einsätzen seit Beginn der russischen Invasion. Mehrere hundert Zivilistinnen seien dadurch ums Leben gekommen. Weder Russland noch die Ukraine haben ein 2010 in Kraft getretenes internationales Abkommen unterzeichnet, das Einsatz, Handel und Lagerung der geächteten Munition verbietet.
Die Reaktionen: Der Angriffskrieg führte diese Woche zu einer historischen Meldung, die dem russischen Präsidenten Wladimir Putin kaum gefallen dürfte: Der Nachbarstaat Finnland will der Nato beitreten, und zwar «unverzüglich», wie Präsident Sauli Niinistö und Regierungschefin Sanna Marin bekannt gaben. Das Parlament wird in wenigen Tagen über das Beitrittsgesuch entscheiden. Finnland würde damit seine militärische Neutralität aufgeben. Ein Entscheid, der auch in Schweden in den kommenden Tagen erwartet wird.
Der Kreml hat «militärische und politische Konsequenzen» angedroht, sollten die beiden Länder ihre Pläne wahr machen. Ob diese Drohungen konkrete Folgen haben, bleibt vorerst offen. Gemäss Kreml-Sprecher Dmitri Peskow betrachtet Russland den nahenden Beitritt «eindeutig» als Bedrohung, der Anlass für eine «symmetrische Antwort» gebe. Konkreter wurde Peskow nicht. Die Nato-Mitgliedsstaaten könnten Ende Juni über das finnische Beitrittsgesuch entscheiden.
Ebenfalls im Juni könnte die EU-Kommission entscheiden, ob die Ukraine offiziell EU-Beitrittskandidatin werden soll. Das meldete Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Die dafür benötigten Unterlagen hat die Ukraine in Rekordzeit erstellt und eingereicht. Votiert die Kommission dafür, können die Verhandlungen zum EU-Beitritt starten. Es könnte jedoch Jahre dauern, bis ein definitiver Entscheid fällt.
Zudem plant die EU-Kommission, im Rahmen eines neuen Sanktionspakets einen Importstopp für russisches Öl zu verhängen. Doch Ungarn lehnt das ab. Die vorgesehene Ausnahmeregelung geht der Regierung in Budapest nicht weit genug. Der ungarische Aussenminister Péter Szijjártó forderte Entschädigungen in Milliardenhöhe, damit Ungarn den Entwurf durchwinke. Während die Verhandlungen in der EU andauern, haben die G-7-Staaten diese Woche einem Ölembargo zugestimmt.
Neben dem russischen Öl stand auch das russische Gas diese Woche im Fokus: Die Ukraine hat den Transit durch die russisch besetzte Region Luhansk abrupt gestoppt. Der ukrainische Gasnetzbetreiber macht Störungen durch die russischen Besatzer dafür verantwortlich. Das Gas soll nun über einen anderen Knotenpunkt nach Europa fliessen. Auswirkungen auf die europäische Energieversorgung soll der Stopp bisher kaum gehabt haben. Ebenfalls diese Woche haben sich die EU-Länder darauf geeinigt, eine Mindestmenge an Gasreserven bis 2026 gesetzlich vorzuschreiben. Das Gesetz könnte diesen Winter in Kraft treten.
Wladimir Putin gibt derweil unbeirrt den Furchtlosen. An der Militärparade auf dem Roten Platz zum Jahrestag des Sieges über Nazideutschland befeuerte er am Montag Verschwörungstheorien und bezeichnete den Angriff auf die Ukraine als Reaktion auf eine zuvor geplante «Invasion» der Nato. Befürchtungen, wonach Putin an der Parade eine Generalmobilmachung erklären könnte, bestätigten sich aber nicht.
In einem Gespräch mit französischen Studenten machte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski derweil erneut seinen Standpunkt klar: Der Krieg würde erst enden, wenn die von Russland besetzten Gebiete zurückerobert sind.
Philippinen: Der Marcos-Clan kehrt zurück an die Macht
Darum geht es:Ferdinand Marcos Jr. wird neuer Präsident der Philippinen. Bei den Wahlen, die am Montagabend zu Ende gingen, holte er mehr als doppelt so viele Stimmen wie seine Konkurrentin, die bisherige Vizepräsidentin Leni Robredo. Neue Vizepräsidentin wird Sara Duterte-Carpio, die Tochter des abtretenden Machthabers Rodrigo Duterte.
Warum das wichtig ist: Mit Ferdinand Marcos kehrt der Marcos-Clan zurück an die Macht. Ferdinand, seit seiner Jugend unter dem Spitznamen «Bongbong» bekannt, ist der Sohn des Diktators Ferdinand Marcos Sr. Dieser hatte das Land jahrzehntelang ausgeplündert und floh nach einem Volksaufstand 1986 ins Exil nach Hawaii. «Bongbong» erzielte besonders viele Stimmen bei jungen Philippinerinnen, die erst nach dem Sturz seines Vater geboren wurden. In einer aufwendig inszenierten Social-Media-Kampagne verbreiteten bezahlte Influencer und Trolle Fake News und attackierten politische Gegner, während Marcos Jr. bei seinen Auftritten die Einheit des Landes beschwor. Bei den Wahlen selbst wurden Beobachtern zufolge tausende Bürgerinnen an der Wahl gehindert. Zudem hätten Stimmenzählmaschinen teilweise nicht funktioniert.
Was als Nächstes geschieht: Weil Marcos Jr. enge Verbindungen zu China pflegt, gehen Beobachter davon aus, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Philippinen und China weiter intensiviert wird. Am Dienstag kam es bei Protesten gegen den neuen Präsidenten zu Zusammenstössen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften.
Sri Lanka: Regierungschef tritt zurück, Proteste eskalieren
Darum geht es: Ministerpräsident Mahinda Rajapaksa ist nach wochenlangen Protesten zurückgetreten. Er schickte sein Rücktrittsschreiben an seinen jüngeren Bruder, den Präsidenten Gotabaya Rajapaksa. In der Hauptstadt Colombo kam es danach zu gewaltsamen Protesten, die Regierung bot Soldaten gegen Demonstrantinnen auf. Anhänger der Regierung gingen mit Knüppeln und Eisenstangen auf Protestierende vor dem Regierungssitz los. Am Montag eskalierten die Proteste, es gab sieben Tote und 250 Verletzte. Zudem wurden Dutzende Häuser in Brand gesteckt, die Politikern der Partei des Präsidenten gehörten. Das Verteidigungsministerium erteilte einen Schiessbefehl gegen Leute, die Besitz beschädigen oder Leben in Gefahr bringen.
Warum das wichtig ist: Sri Lanka befindet sich in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. Das Land steht am Rande des Bankrotts und zahlt seine ausländischen Kredite nicht mehr zurück. Es fehlen Medikamente, aber auch Devisen, um Treibstoff zu kaufen. So kommt es bereits seit Februar zu langen Schlangen vor den Tankstellen und zu täglichen Stromunterbrüchen.
Was als Nächstes geschieht: Die Vereinten Nationen zeigen sich «zutiefst beunruhigt» über die Eskalation in Sri Lanka und die Aushöhlung der Menschenrechte, verursacht durch «tiefere politische und systemische Ursachen». Derzeit gilt im Land eine Ausgangssperre. Der zurückgetretene Ministerpräsident Mahinda Rajapaksa ist auf einen Marinestützpunkt geflohen. Das Parlament wird nun einen Nachfolger bestimmen.
Hepatitis-Fälle bei Kindern: Viele offene Fragen
Darum geht es: Seit Anfang April sind 348 Kinder in 20 Ländern weltweit wahrscheinlich an Hepatitis erkrankt. Diese Zahlen gab die Weltgesundheitsorganisation (WHO) diese Woche bekannt. Die meisten Fälle verzeichnen bisher Grossbritannien und die USA, wo inzwischen mehrere erkrankte Kinder verstorben sind.
Warum das wichtig ist: Die plötzlich auftretenden Cluster haben die WHO sowie Gesundheitsämter verschiedener Länder in Alarmbereitschaft versetzt. Denn die Ursache ist noch völlig unklar. Eine Erkrankung an Hepatitis, also einer Leberentzündung, erfolgt in aller Regel durch die Hepatitis-Viren A bis E. Nicht so bei den nun erkrankten Kindern: Gemäss WHO war keines mit diesen Viren infiziert. Zudem waren die meisten Kinder vor ihrer Hepatitis-Erkrankung gesund – auch das ist untypisch. Als möglicher Auslöser werden zurzeit vor allem Adenoviren untersucht. Diese verursachen bei Kindern normalerweise Atemwegs- oder Magen-Darm-Erkrankungen und können bei Kindern mit unterdrücktem Immunsystem auch zu einer Leberentzündung führen. 70 Prozent der erkrankten Kinder sollen positiv auf Adenoviren getestet worden sein. Auch eine Co-Infektion mit Sars-CoV-2 wird von der WHO als mögliche Ursache unter die Lupe genommen.
Was als Nächstes geschieht: Adenoviren sind in Grossbritannien gerade wieder stark verbreitet. Britische Daten sollen deshalb zeigen, ob tatsächlich ein Kausalzusammenhang mit den Hepatitis-Fällen besteht. Laboruntersuchungen hätten die Hypothese bisher nicht gestützt, sagte Philippa Easterbrook vom globalen Hepatitis-Programm der WHO an einer Pressekonferenz. Antikörpertests sollen zudem zeigen, ob sich mehr erkrankte Kinder als bisher bekannt zuvor mit Sars-CoV-2 infiziert hatten.
Zum Schluss: Ich glaub, meine Fledermaus surrt!
Wer gern am Wochenende nachts durch die Gassen streift, kennt den Tipp: Willst du nicht angepöbelt werden, pluster dich auf, schau böse, geh breitbeinig. Mach einen auf gefährlich – auch wenn du in einem Handgemenge natürlich nicht die geringste Chance hättest. Diese Methode, um sich Feinde vom Hals zu halten, nennt man in der Tierwelt Bates’sche Mimikry. Eine Fledermaus-Art mit dem herzigen Namen Grosses Mausohr hat diese Taktik für sich perfektioniert, wie italienische Forscher in einer Studie zeigen. Um nicht von Eulen gefressen zu werden, surren die Tiere wie Hornissen. Weil die Vögel nicht gestochen werden wollen, bleiben sie fern. Dass Säugetiere Insekten imitieren, und das auch noch akustisch, soll in der Tierwelt eine Premiere sein. Ob es auch hilft, nächtens auf dem Heimweg mit tiefer Stimme rumzubrüllen, oder ob das Angreifer nicht eher noch zum Anpöbeln verleiten könnte, beantwortet die Studie leider nicht.
Was sonst noch wichtig war
Die Corona-Lage: Sinkende Fallzahlen, sinkende Hospitalisierungen: Die Corona-Lage ist weiterhin relativ entspannt. Zwei Aspekte lohnt es sich dennoch zu beachten: Noch immer infizieren sich in der Schweiz offiziell jeden Tag rund 1000 Menschen mit dem Virus, wobei die tatsächliche Zahl deutlich höher sein dürfte. Und: In verschiedenen Ländern, zum Beispiel Südafrika oder den USA, sorgen neue Omikron-Varianten für steigende Fallzahlen und Hospitalisierungen. In der Schweiz sind bisher erst einzelne solche Fälle dokumentiert.
Spanien: Die Regierung hat die Chefin des Geheimdienstes entlassen. Sie reagiert damit auf die unlängst bekannt gewordene Überwachung von katalanischen Separatisten.
Israel: Bei einer Razzia im Westjordanland wurde die Al-Jazeera-Reporterin Schirin Abu Akle erschossen. Al-Jazeera wirft Israel vor, die Journalistin gezielt getötet zu haben. Die israelische Armee sagt, möglicherweise sei sie von militanten Palästinensern getroffen worden.
USA: Die Zahl der Todesfälle durch Überdosen ist letztes Jahr um 15 Prozent gestiegen. Im Jahr davor lag der Anstieg gar bei 30 Prozent. Eine massgebliche Rolle spielen dabei Opioide sowie Methamphetamine.
Afghanistan: Die Taliban-Regierung hat verfügt, dass Frauen nur noch in Vollverschleierung aus dem Haus dürfen. Zudem hat sich die Regierung entgegen früheren Ankündigungen gegen eine Wiedereröffnung von Schulen für Mädchen ab der sechsten Klasse entschieden.
Die Top-Storys
Streit um Selbstbestimmung Das Thema Abtreibung wurde in der US-Politik nicht immer so kontrovers diskutiert wie heute. Was Ronald Reagan damit zu tun hat und wie sich Jane Roe, das Gesicht der Abtreibungsbefürworter, selbst zur Gegnerin wandelte, erklärt die «New York Times» in zweiArchivfolgen des Podcasts «The Daily».
Mein Nachbar, der Feind Wie ist es eigentlich, wenn man Tür an Tür mit feindlichen Soldaten wohnt? In einer Siedlung im Kiewer Vorort Irpin wurde dieses Szenario Realität. Nun erzählten die Bewohnerinnen einem «Spiegel»-Reporter vom Besatzungsalltag zwischen kleinen Gesten der Menschlichkeit und Gewaltexessen. (Paywall)
Der Heimwerkerkönig exposed Mit lustigen Heimwerkervideos auf Youtube hat sich der deutsche Fynn Kliemann einen Namen gemacht. Inzwischen ist der Unternehmer auch wohltätig unterwegs: Während der Pandemie liess er Masken produzieren. Eine Recherche des «ZDF Magazin Royale» stellt dieses vorgeblich soziale Engagement nun infrage. Zahlreiche Unterlagen sollen zeigen, das Fynn Kliemann nicht der selbstlose Wohltäter ist, den er vorgibt zu sein.
Vor zwölf Jahren gewann sie den Schweizermeistertitel der Slam-Poetinnen in Olten. Für die Kabaretttage kehrt Lara Stoll erstmals zurück. Geschmückt mit etlichen Titeln, Preisen. Wie schafft Frau das? – Immer diese platten Journalistenfragen. «Es gibt keine Poetry-Slam-Schule», sagt Lara etwas wirsch am Telefon.
Fakt ist, dass die Ostschweizerin wie derzeit kaum sonst wer den Irrsinn des Alltags zu einem Bühnenstück vermengt. Ein Stück, das mit einfachen Geschichten unseren Lebenssinn reflektiert. Lara Stoll macht einfach lieber, als zu erklären – und sie macht fast alles. Film, Musik, Buch, Kabarett, Lesung, Poetry-Slam.
Für ein kurzes Gespräch mit uns hat sie sich aber trotz allem Zeit genommen. Auch wenn sie sich dann doch erklären muss.
Lara Stoll
Letztes Jahr erhielt die Ostschweizer Künstlerin für ihr Schaffen den Salzburger Stier, den wichtigsten Kabarettpreis im deutschsprachigen Raum. Die 35-Jährige studierte Film an der Zürcher Hochschule der Künste, ist Gründungsmitglied der Band «Stefanie Stauffacher», hat eben ihr erstes Buch «Hallo» herausgegeben und tourt nebenbei mit ihrem Programm «Gipfel der Freude» durch die Schweiz.
Magst du über Olten sprechen?
Es gibt ja Viele, die irgendwas Schlechtes über Olten zu sagen haben. Ich kenne die Stadt schlicht zu wenig, als dass ich das tun könnte. Allzu viel umsteigen muss ich nicht. Meine Auftritte sind momentan meist in der Ostschweiz oder im Luzernischen und staune immer wieder, wie viele kleine Dörfer es da gibt.
Du hast dich also für deine Satire noch nicht von Olten inspirieren lassen?
Deville hat ja eine ganze Sendung zu Olten gemacht. Ich komme jetzt mal an die Kabaretttage, dann schauen wir weiter. Ah, ich wurde ja mal Poetry-Slam-Schweizermeisterin in Olten! Und ich hätte einmal noch gespielt, wenn Corona nicht gewesen wäre. Hey, Olten ist ganz gut. Schreib, Olten sei unterbewertet (lacht).
Du reist viel durch die Deutschschweiz. Wo liegen die besten Geschichten rum?
Meine Programme sind nicht an Orte gebunden. Sobald ich aufstehe, geht es los. Wenn ich es schaffe, den Staubsauger zu verstopfen, kann das eine gute Geschichte werden. Oder die Pizza, die nicht ankommt. Was ich erzähle, sind alles Dinge aus meinem Leben, die mich triggern. Zu meinem Glück hab ich ein Händlein dafür, mich in dumme Situationen zu manövrieren. Es ist, als hätte ich im Alltag einen Stock zwischen den Beinen (lacht).
Und wie bringst du solch banale Dinge witzig rüber?
Indem das Publikum sich darin erkennt: von meinem Mikrokosmos zum grösseren Ganzen. Es ist etwas sehr Schweizerisches, sich ertappt zu fühlen. Ich schreibe nur über Dinge, die einen sehr wahren Kern haben.
Wann langweilt dich der Schweizer Diskurs?
Wenn etwas zu Tode diskutiert wird. Wenn alle während einem halben Jahr nur noch über ein bestimmtes Brennthema sprechen. Da gebe ich mich weniger rein. Die politisch aktuellen Dinge überlasse ich lieber andern. Privat motiviere ich die Menschen aber auch dazu, abzustimmen.
Was macht für dich den Charakter der «Schweiz» aus?
Dass man immer Dinge über die Schweiz fragt. Immer die Nationalität hervorheben muss. Das Klischee finden will. Ich weiss nicht, ob die Schweizer in ihrem Naturell so mega viel Humor haben. Wenn ein Zug drei Minuten zu spät kommt, sind wir nervös. Schlangestehen können wir auch nicht. Wenn ich hingegen erzähle, wie ich auf den Zug warten musste, dann finden die Menschen es sehr lustig.
Genau solche Dinge erzählst du in deinem aktuellen Programm «Gipfel der Freude»: Welchen Schrecken des Alltags hast du heute Vormittag erfahren?
(Überlegt kurz.) Heute ist tatsächlich noch nichts Aufregendes passiert. Aber ich muss nachher noch zu einem Auftritt fahren. Das ist immer recht abenteuerlich. Letzte Woche bin ich im Autobahntunnel stehengeblieben. Die Veranstalter mussten mich abholen, den Soundcheck machte ich vor Publikum. Ja, das Schicksal fordert mich.
Was bereitet dir persönlich grosse Freude?
Meine Freunde – ich verbringe sehr viel Zeit mit ihnen. Und die Musik ist eine meiner grössten Freuden. Eine Pizza im Bett. Dass ich’s schaffe, joggen zu gehen. Auch kleine Dinge eben. Auf der Bühne möchte ich nicht nur Leute bespassen. Auch ich muss Freude an meinem Job haben. Sonst bin ich nur am Geben.
Was ist deine Arbeit für dich: Ein Spiegel für die Gesellschaft? Eine Mitteilung an die Menschheit?
Ich weiss imfall auch nicht. Ich bin einfach froh, dort zu sein, wo ich heute bin. Dass ich so viele Freiheiten habe. Ich bin Künstlerin, egal ob Film, Band oder Bühne. Ich will gar nicht zu viel überlegen, mich nicht verkrampfen. Im besten Fall kann ich ein Vorbild sein. Ich suche nicht bewusst eine tiefere Essenz als Botschaft an die Menschen.
Die Oltner Kabaretttage finden vom 11. bis 21. Mai statt und bieten in diversen Lokalen der Stadt ein reichhaltiges Programm. Die Aufführung von Lara Stoll im Theaterstudio Olten ist bereits restlos ausverkauft. Für andere Vorstellungen sind noch Tickets verfügbar. Die Programmübersicht und Tickets findest du hier.
Vom Leinenfabrikanten für Emmentaler-Käse zum Teppichhersteller der internationalen Flugbranche: Geschichten wie jene der Textilweberei Lantal gibt es in der Schweiz wohl hunderte. Aber in einem Punkt ist sie doch einzigartig: In den tiefen Oberaargauer Hügeln dauert die Epoche der Industrialisierung bis heute an.
Fabrikhallen mit ratternden Webmaschinen. Ein grosser Teil der Produktion findet noch in Melchnau statt. Aus Schafswolle webt der Familienbetrieb Teppiche und Sitzbezüge. Bilder wie aus einer anderen Zeit. Nicht viele Geschäftsleute können wie der Oltner Luzius Rickenbacher am Abend noch ein vor Ort gefertigtes Produkt in den Händen halten.
Das klassische Industriegebäude mit hölzernen Flügelfenstern und nüchterner Fassade erinnert von aussen an ein Kloster. Mitten ins Dorf gepflanzt, zwischen alte Berner Bauernhäuser. Die Strassen nach Melchnau führen über grüne Felder in liebliche, aus Molasse geformte Hügel – die Vorboten der rauen Alpen. Das perfekte Schweizer Postkartensujet.
Und ein gutes Verkaufsargument.
«Wenn asiatische Kunden kommen und wir mit ihnen übers Land fahren, bei einem Bauernhof etwas Käse kaufen und ihnen die Kühe zeigen, drehen die fast durch», sagt Luzius Rickenbacher. Einwöchiger Bart. Mit weiten Schritten führt er in den Schauraum. Teppichmuster an den Wänden geben dem Raum etwas Mondänes, erinnern an eine Flughafenlounge. Das bäuerliche Melchnau scheint hier drin weit weg.
Während gut zweier Jahre verschlug es keine Kundinnen mehr in die Fabrikgebäude im Oberaargau. Die Pandemie bremste die Mobilität rund um die Erdkugel abrupt aus. Bilder von gegroundeten Flugzeugflotten gingen um die Welt. Und in Melchnau wurden die Webmaschinen runtergefahren. Im August 2020 kam die Firma – als grosse Arbeitgeberin eigentlich stolzes Vorzeigebeispiel der Region – in die Schlagzeilen.
Textilfirma in der Krise. Stellenabbau. Der Umsatz brach ein. Die Firmengeschichte, die wie ein American Dream klingt, war in ihren Grundfesten erschüttert. Luzius Rickenbacher sitzt im Schauraum-Ledersessel und rollt die bald 150-jährige Firmengeschichte auf.
In die weite Welt
In Langenthal gründet Albert Brand 1886 die Leinenweberei Baumann & Brand. Sie webt Leinen für die Käseproduktion im Emmental. Als die Söhne Fritz und Willy Baumann übernehmen, ist die Harmonie bald vorbei.
Willy Baumann geht eigene Wege und gründet eine Möbelstoffweberei. Diese hebt 1954 ab: Ihre Produkte finden in der jungen Flugindustrie Absatz, die Firma produziert Sitzbezugsstoffe für die holländische Fluggesellschaft KLM. Der Betrieb wächst rasch und kauft andere branchenverwandte Firmen auf. In den 80er-Jahren etwa die Melchnauer Teppichfabrik, die ursprünglich Matten aus Kokosfasern produziert hatte.
«Heute machen wir Textilien für alle möglichen Verkehrsmittel», sagt Luzius Rickenbacher. Die Stoffe und Teppiche aus Langenthal und Melchnau gehen hauptsächlich an Bus-, Bahn- und Flugbetriebe.
Der klobige Namen «Möbelstoffweberei» taugte für Geschäfte mit den Airlines rund um die Erdkugel nicht. Lantal Textiles – angelehnt an die Wurzeln in Langenthal – lautete deshalb der neue Firmenname Ende der 90er-Jahre. In dieser Nische gedieh der Betrieb prächtig, und wie der weltweite Transport über Jahrzehnte fast ungebrochen wuchs, so tat es auch die Textilweberei in Melchnau.
Und genauso waren grosse Ereignisse draussen in der Welt in Melchnau unmittelbar spürbar. Der Vulkanausbruch des Eyjafjallajökull in Island. Die Terroranschläge von 9/11 in New York. Sobald der Flugverkehr stockte, stockten auch die Melchnauer Webmaschinen. Aber der Rhythmus von vorher kehrte jeweils bald zurück.
Bis das Coronavirus kam. Die Flugzeugproduktion wurde runtergefahren. In den stillstehenden Flugzeugflotten gab es keinen Verschleiss der Teppiche und Sitzbezüge. Kurz: Die Airlines brauchten vorübergehend kaum noch Teppiche aus Melchnau.
«Vor der Pandemie machte die Aviatik 70 Prozent unseres Umsatzes aus, jetzt noch ungefähr 50 Prozent», sagt Luzius Rickenbacher an diesem Märztag. Doch die Verlagerung fusste nur bedingt auf einem Wachstum in den Bereichen Bahn und Bus. Der Firmenumsatz schrumpfte insgesamt. Die guten Neuigkeiten in der Krise waren rar. Positive Signale spürte die Firma immerhin von der anderen Seite des Atlantiks mit dem Präsidentschaftswechsel zu Joe Biden. «Die USA investiert seither massiv in den Zugverkehr, das spüren wir», sagt Rickenbacher.
Trotzdem musste Lantal auf die verschiedenen Ableger in Portugal, Tschechien, England und den USA verteilt fast die Hälfte der Belegschaft entlassen. In der Schweiz strich sie fast 100 Stellen – heute sind in Langenthal und Melchnau noch 170 Menschen beschäftigt.
Dankbar, noch hier zu sein
Alle grüssen sie Luzius Rickenbacher aufrichtig, während er durch die Fabrik führt. Kurzer Smalltalk hier und dort. Die Stimmung wirkt trotz schwieriger Jahre wenig bedrückt. Seit gut vier Jahren gehört der Oltner zur Geschäftsleitung und verantwortet den Bereich Aviatik, der zuletzt am stärksten litt. Sein Onkel Urs Rickenbacher übernahm in den Nullerjahren den Betrieb von Urs Baumann, der die Lantal in dritter Generation führte.
Die Familie Baumann habe sich viel Zeit gelassen bei der Nachfolgesuche, erzählt Rickenbacher. Denn eines war den Baumanns wichtig – Lantal sollte weiterhin im Oberaargau produzieren. Hätte eine international tätige Firma den Traditionsbetrieb geschluckt, wären die Fabrikhallen in Melchnau wohl bald leer gestanden. Teppiche, Sitzbezüge und andere Textilien wären fortan in einem Billiglohnland produziert worden.
Swissness ist deshalb bei der Lantal nicht nur Fassade, sondern ein glaubwürdiges Verkaufsargument, auch wenn die Firma mittlerweile einen Teil ihrer Textilien in den USA und in Portugal produziert. Luzius Rickenbacher führt in eine Halle, in der handgetuftete Teppiche gefertigt werden. Mit einer Tufting-Pistole schiesst der Mitarbeiter das Garn in die grossdimensional aufgespannte Leinwand. Hier entstanden schon Teppiche für die Air Force One – die Präsidentenmaschine der USA. Viele der handgemachten Teppiche sind für Privatjets oder Jachten von Scheichen aus dem Mittleren Osten bestimmt. Manchmal kommen auch Anfragen von Hotels. «Diese Teppiche sind unsere Liebhaberstücke», sagt Luzius und nimmt die Treppe, die nach draussen zu den hinteren Fabrikhallen führt.
Die Stahlkolosse
Dort lebt die Industrialisierung noch. Was man in der Schweiz sonst fast nur noch im Museum sehen kann, ist für die Mitarbeiterinnen der Lantal Alltag. Gross wie Bücherregale der Nationalbibliothek sehen die Gestelle aus, in welchen die Garnrollen wie Aktenordner aneinandergereiht eine eigene Geometriesprache bilden. Wie ein Strahl wird das Garn zusammengeführt, ehe es in der Maschine verschwindet, die ein zusammenhängendes Stück daraus fertigt. Der Stahlkoloss spuckt ratternd den Teppich aus, der aus verschiedensten Grautönen ein Ganzes bildet: Einen Teppich, der bald in den Flugzeugen der Qatar Airways ausgelegt sein wird.
Man fragt sich, wie der Mann hinter der Maschine im Garn-Wirrwarr den Überblick behält. Viele arbeiten schon Jahrzehnte in der Firma, kennen jedes Teil der alten Maschinen, die zuverlässig dienen. «Unsere Mitarbeiter hören am Geräusch der Maschine, wenn etwas kaputt ist, und können es selbst reparieren», sagt Luzius Rickenbacher.
Im Untergeschoss zeigt der Oltner ein weiteres Prunkstück des Maschinenparks. Der Standort scheint nicht zufällig gewählt, steht doch die mehrere Meter lange Maschine in einem dunklen Bereich, als habe sie ein Geheimnis zu hüten. «Hier steckt viel Wissen drin», sagt Luzius Rickenbacher.
Seit Jahrzehnten schon tut die Beschichtungsmaschine unermüdlich ihren Dienst. Mit ihr überziehen die erfahrenen Angestellten die fertiggewobenen Teppiche mit einer Kunststoffschicht. Die Rezeptur dafür ist geheim. Sie gibt den Teppichen die Feuerfestigkeit, die in Flugzeugen vorgeschrieben ist.
Lantal müsse sich trotz bewährter Maschinen wie dieser immer weiterentwickeln, um am Markt zu bestehen, erklärt Rickenbacher. «Uns treibt immer die Frage um, wie wir Gewicht sparen und trotzdem langlebige Produkte bieten können.»
Gegenüber in der Färberei wird das weisse Garn in grosse Behälter getüncht. Es kommt frisch angeliefert von der Tochterfirma in Huttwil. Sie spinnt das Garn aus Rohwolle, die hauptsächlich aus Neuseeland und England importiert wird. Ein Mitarbeiter begrüsst uns im Labor, wo entschlüsselt wird, was es für den richtigen Farbton braucht. Er demonstriert, wie er im Experimentkasten testet, ob das gefärbte Garn auch bei möglichst allen Lichtverhältnissen im gleichen Farbton erscheint.
Das Karussell dreht weiter
In den Melchnauer Fabrikhallen rattern die Maschinen. Noch nicht wie vor der Pandemie, als die Maschinen im Dreischichtbetrieb durchliefen. In den Oberaargauer Hügeln ist aber zu spüren, dass der Verkehr nach der Pandemie allmählich wieder Fahrt aufnimmt.
«An unserer Strategie ändern wir nichts, wir glauben, dass die Aviatik zurückkommt», sagt Luzius Rickenbacher. Mit weltweit vier anderen Firmen konkurriert die Lantal im Bereich der Textilproduktion für Fluggesellschaften.
Wer aufs globale Karussell aufgesprungen ist, will nicht mehr runtersteigen. Die Rickenbachers planen für die Zukunft. Unabhängig der Pandemie, die sie zurückgeworfen hat. Luzius Rickenbacher bleibt hinter den ratternden Webmaschinen stehen. Die Stahlkolosse in dieser Hallenhälfte sind stillgelegt. Mit den Armen zeichnet der Oltner eine Schneise und sagt: «Hier kommt unsere neue Innovation hin. Wir haben uns lange überlegt, ob wir die Maschine in der Schweiz installieren. Ein klareres Bekenntnis zu Melchnau könnte die Geschäftsleitung nicht geben.» Wie die neue Maschine die Teppichproduktion revolutionieren wird, verrät er nicht. Die Konkurrenz lauscht mit.
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Ukraine: Die aktuelle Lage
Das Kriegsgeschehen: In der fast vollständig eingenommenen Hafenstadt Mariupol ist die Lage weiterhin desaströs. Noch immer harren Hunderte Zivilistinnen und Soldaten im Stahlwerk der Stadt aus. Mit Unterstützung von internationalen Hilfskräften gelang es diese Woche erstmals, mehr als 100 Menschen aus dem Werk zu evakuieren, wie die Uno meldete. Moskau hatte angekündigt, ab Donnerstag mehrere Fluchtkorridore zu öffnen, damit Frauen, Kinder und Arbeiter das Stahlwerk verlassen können. Die russischen Streitkräfte scheinen sich jedoch nicht an die Waffenruhe zu halten. Sie sollen inzwischen zum Industriekomplex gelangt sein und versucht haben, ihn zu stürmen.
Die russische Offensive konzentriert sich weiterhin grösstenteils auf den Osten und den Süden der Ukraine, täglich kommt es zu zivilen Opfern. Immer wieder werden aber auch Städte in den restlichen Teilen des Landes von Drohnen oder mit Raketen beschossen. In Lwiw, im Westen, wo viele ukrainische Geflüchtete Schutz suchen, sollen Raketen am Dienstag nach Angaben des Bürgermeisters mehrere Kraftwerke getroffen haben. Die Stromversorgung sei teilweise unterbrochen gewesen. Weiterhin ein Fokuspunkt der russischen Armee ist das ukrainische Bahnnetz. Anhaltende Beschüsse sollen Waffenlieferungen aus dem Westen verhindern, heisst es aus Kiew.
Für die russische Armee wird der Krieg je länger, desto mehr zum Verlustgeschäft: Ein Viertel der 120 aktiven russischen Bataillone soll inzwischen nicht mehr einsatzfähig sein, meldete das britische Verteidigungsministerium diese Woche. Die Ostoffensive erweist sich laut Pentagon in Washington als «blutleer» und «schwerfällig». Grosse Teile der russischen Streitkräfte litten unter tiefer Moral und Versorgungsproblemen, die Fortschritte seien «bestenfalls minimal».
Mit dem Abzug der Russen aus Gebieten um die Hauptstadt Kiew offenbart sich das Ausmass der Gräueltaten. Über 1200 getötete Zivilistinnen sollen gemäss ukrainischen Angaben in den Vorstädten vorgefunden worden sein. An einer Pressekonferenz in der Kiewer Vorstadt Irpin sprach Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa von mutmasslichen Vergewaltigungen von Frauen, Männern und Kindern, die untersucht würden. Gemäss Aufzeichnungen der Uno sollen im russischen Angriffskrieg bisher über 3000 Zivilisten getötet worden sein. Die tatsächliche Opferzahl soll jedoch deutlich höher sein, wie die Organisation selber anmerkt.
Die Reaktionen: Die EU bereitet den Weg für ein Embargo auf russisches Öl. Die EU-Kommission hat den Importstopp im Rahmen des sechsten Sanktionspakets am Mittwoch vor dem europäischen Parlament offiziell vorgeschlagen. Innerhalb einer Übergangsfrist von sechs Monaten soll demnach kein russisches Rohöl mehr in die EU gelangen, bis Ende Jahr soll das auch für raffinierte Ölprodukte gelten.
Ein Ölembargo benötigt die Zustimmung von allen 27 Mitgliedsstaaten der EU. Ein schwieriges Unterfangen, denn im Osten des Staatenverbunds formiert sich Widerstand. Der ungarische Präsident Viktor Orbán hatte bereits Anfang April angekündigt, einen entsprechenden Vorschlag abzulehnen. Ungarn fordert nun Sicherheitsgarantien der EU – und das, obwohl im Entwurf explizit Ausnahmeregelungen für Ungarn und die Slowakei festgehalten sind. Auch Tschechien und Bulgarien wünschen in der Ölfrage eine Sonderbehandlung.
Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck hält das veranschlagte Embargo für Deutschland für umsetzbar. Er warnt aber vor Preisanstiegen, wie sie sich auf dem Ölmarkt auch tatsächlich bereits zeigen, und schliesst besonders regionale Lieferschwierigkeiten nicht aus. Ein Entscheid des EU-Parlaments ist in den nächsten Tagen zu erwarten. Von einem Gasembargo, das unter anderem Deutschland deutlich härter treffen würde, ist bisher nicht die Rede. Wissenschaftler des Kieler Instituts für Weltwirtschaft gehen davon aus, dass ein Ölembargo den russischen Präsidenten Wladimir Putin kaum zum Einlenken bewegen wird. Nebst dem Ölboykott sieht die EU-Kommission weitere Sanktionen vor. So soll unter anderem die Sberbank aus dem internationalen Zahlungssystem Swift ausgeschlossen werden.
Der Kreml lässt sich davon nicht einschüchtern. Die EU würde trotz Embargo weiterhin russisches Öl beziehen, und zwar aus Drittstaaten, heisst es aus Moskau.
Darüber hinaus versucht Putin, seine Drohkulisse aufrechtzuerhalten. In Kaliningrad soll gemäss russischen Angaben ein Angriff mit Atomwaffen simuliert worden sein. Internationale Spezialistinnen sehen darin keine reale Gefahr, sondern typische Drohgebärden. Nebst diesen arbeitet Putin weiter an seiner Propaganda, die am 9. Mai – dem Tag, an dem Russland den Sieg über die Nazis und das Ende des Zweiten Weltkrieges feiert – neuen Auftrieb bekommen soll. Ausländische Beobachterinnen befürchten, dass Putin den Feiertag für eine neue Mobilisierung in Russland nutzen könnte.
Aussenminister Sergei Lawrow legte diese Woche schon mal vor. In einem Interview im italienischen Fernsehen befeuerte er das Narrativ, wonach in der Ukraine Nazis an der Macht seien. Zudem sagte er: Wenn er sich nicht täusche, habe Hitler – wie der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski – ja auch jüdisches Blut in sich gehabt. Die israelische Regierung zeigt sich über Lawrows Äusserungen empört und bestellte den russischen Botschafter ein. Wenige Tage später doppelte Lawrow nach: Israel würde demnach «das Neonazi-Regime» in Kiew unterstützen.
An einer Geberkonferenz in Polen am Donnerstag sind 6,5 Milliarden US-Dollar an Hilfsgeldern für die Ukraine zusammengekommen.
Grenzagentur Frontex: Direktor Leggeri tritt ab
Darum geht es: Fabrice Leggeri, Direktor der europäischen Grenzagentur Frontex, ist am vergangenen Freitag zurückgetreten und kam damit wohl disziplinarrechtlichen Massnahmen der EU-Antibetrugsbehörde Olaf zuvor. Diese hatte vor einem Jahr Leggeris Büro in Warschau durchsucht, gegen Leggeri und weitere Kader ermittelt und kürzlich erste Erkenntnisse vorgelegt: Dabei soll es unter anderem um die Vertuschung von Menschenrechtsverletzungen gehen. Leggeri trug als oberster europäischer Grenzbeamter die Verantwortung für zahlreiche Pushbacks an den EU-Aussengrenzen, die dank Medienrecherchen ans Licht gekommen waren, die Leggeri aber stets abstritt. Leggeri beklagte in einer Mail an seine Mitarbeiter nach dem Rücktritt, dass Frontex «in eine Art Menschenrechtsagentur» verwandelt werde. Die Grenzbehörde soll in den nächsten Jahren massiv ausgebaut werden: Bis 2030 soll Frontex 10’000 eigene Beamtinnen beschäftigen – davon 40 Grundrechtsbeamte.
Was als Nächstes geschieht: Der Schlussbericht der EU-Antibetrugsbehörde Olaf ist nach wie vor unter Verschluss, nur wenige Personen kennen den Inhalt. Das Amt von Leggeri übernimmt vorläufig die bisherige Vizedirektorin Aija Kalnaja aus Lettland. Ob Frontex damit zur Ruhe kommt, ist zu bezweifeln: Das EU-Parlament vertagte am Mittwoch die Haushaltsentlastung für die Grenzagentur, die Bedingungen des vorherigen Entlastungsberichts seien nicht umgesetzt worden. Die Schweiz stimmt am 15. Mai über eine Beteiligung am Frontex-Ausbau ab.
USA: Nach fast 50 Jahren drohen wieder Abtreibungsverbote
Darum geht es: Am Montag wurde ein Urteilsentwurf des Supreme Court geleakt, des obersten Gerichts der USA. Gemäss dem Entwurf ist geplant, das seit 1973 geltende Recht auf Abtreibung rückgängig zu machen. Damals hatte eine schwangere Texanerin unter dem Pseudonym Jane Roe den Staatsanwalt Henry Wade verklagt, weil es ihr verboten war, abzutreiben. Roe wehrte sich gerichtlich dagegen, ein drittes Kind austragen zu müssen, das sie, wie ihre vorherigen Kinder, wieder zur Adoption freigeben würde. Das oberste Gericht gab ihr schliesslich recht, und der Fall ging als «Roe versus Wade» in die Geschichte ein. Seit dieser Entscheidung ist es in den USA untersagt, Mütter in den ersten 24 Wochen einer Schwangerschaft an einer Abtreibung zu hindern. In der Praxis haben konservativ geprägte Staaten wie Kentucky oder Georgia dennoch Bestimmungen, die es den Frauen stark erschweren, eine Abtreibung vornehmen zu lassen.
Warum das wichtig ist:Gemäss Zahlen des Forschungsinstituts Guttmacher enden 18 Prozent der Schwangerschaften in den USA mit einer Abtreibung. Die Mehrheit der betroffenen Mütter hat ein geringes Einkommen und bereits ein Kind. Abtreibung ist in den USA ein klassisches Wahlkampfthema; seit Jahrzehnten arbeiten Abtreibungsgegnerinnen darauf hin, die Entscheidung von 1973 umzukehren. Die Bevölkerung unterstützt Abtreibungen mehrheitlich. Dass sich das Gericht nun trotzdem wieder grundsätzlich mit dieser Frage befasst, ist Donald Trump zu verdanken, der während seiner Präsidentschaft gleich drei Richterstellen am Supreme Court neu besetzte. Die dadurch entstandene konservative Mehrheit von sechs gegen drei Richterinnen macht es nun möglich, «Roe vs. Wade» rückgängig zu machen – ein Erfolg für die amerikanische Pro-Life-Bewegung.
Was als Nächstes geschieht: Mit dem Leak des Entwurfs wurde öffentlich, dass fünf der neun Richter des Supreme Court diesen stützen – eine Mehrheit. Eine Entscheidung des Gerichts wird im Sommer fallen. Sollte der Supreme Court das Gesetz von 1973 zurücknehmen, dürfte jeder US-Bundesstaat seine eigenen Bestimmungen zur Abtreibung erlassen. Laut dem Guttmacher Institute würde das für 26 Staaten sehr wahrscheinlich ein Abtreibungsverbot bedeuten.
Schweiz: Nicht mehr in den Top Ten der Pressefreiheit
Darum geht es: Die Organisation «Reporter ohne Grenzen» publiziert jährlich ihr Urteil zur Pressefreiheit weltweit. Nach sechs Jahren in den Top Ten ist die Schweiz nun auf Platz 14 der Rangliste gerutscht, 2021 lag sie noch auf Platz 10. «Reporter ohne Grenzen» schreibt dazu: «Die Situation der Pressefreiheit in der Schweiz ist nach wie vor sehr gut. Doch die Medienkonzentration hat zugenommen, vielen Printverlagen geht es finanziell schlecht und sie bauen Personal ab.» Auf dem ersten Platz der Rangliste steht Norwegen, gefolgt von Dänemark, Schweden, Estland und Finnland.
Warum das wichtig ist: Neben der Medienkonzentration ist die schlechtere Bewertung der Schweiz auf das verschärfte Bankgeheimnis zurückzuführen. Aufgrund dessen durften Schweizer Publikationen wie das Recherchedesk von Tamedia nicht über ein Credit-Suisse-Datenleck berichten. Den Journalistinnen hätten Strafverfahren gedroht, hätten sie über die geleakten Namen geschrieben. Irene Khan, Uno-Berichterstatterin für Meinungsfreiheit, kritisiert die Schweiz scharf: Das Gesetz führe zu einer «Kriminalisierung von Journalismus», sagte sie diese Woche in einem Interview.
Was als Nächstes geschieht: Für die SP waren die Enthüllungen rund um das CS-Datenleak ein politischer Steilpass. Die Partei forderte bereits kurz nach der Publikation eine erneute Verschärfung der Regulierung der Banken. Die SP will die Finanzmarktaufsicht unter anderem mit neuen Kompetenzen und Instrumenten stärken. Das Bankengesetz wiederum wird auf Druck der SP aktuell im Parlament neu geprüft, aktuell liegt es bei der Wirtschaftskommission des Nationalrats. SP-Nationalrätin Samira Marti will mit einem Vorstoss den «Zensur-Artikel» streichen.
Zum Schluss: Das Virus, das mich heilte
Viren hatten in den letzten zweieinhalb Jahren nicht unbedingt den besten Ruf. Zweifellos zu Recht. Doch lohnt es sich, zu differenzieren – es gibt nämlich auch Viren, die Leben retten. Zum Beispiel jenes eines 56-jährigen Mannes in Boston, der mit einer schweren Infektion ins Spital kam, gegen die Antibiotika nichts ausrichten konnten. Heilung brachten dann eben Viren, nämlich Bakterien vernichtende Viren, genannt Bakteriophagen. Der Fall wird in einer Studie beschrieben, die diese Woche erschienen ist. Bekannt sind Bakteriophagen schon seit über 100 Jahren, nur zum Einsatz kommen sie kaum – ausser in Georgien, wo sie schon lange erforscht werden. Das könnte sich bald ändern: Antibiotikaresistenzen sind, das sagen Forscherinnen wie auch die Weltgesundheitsorganisation, eine der aktuell grössten Bedrohungen der Menschheit. Und, so unglaubwürdig es nach gefühlt 15 Corona-Wellen auch klingt: Genau hier könnten uns diese eigentümlichen Viren den Allerwertesten retten.
Was sonst noch wichtig war
Die Corona-Lage:Weniger Fälle, weniger Hospitalisierungen – seit Wochen entwickelt sich die Corona-Lage in der Schweiz positiv. Gleichzeitig lassen sich immer weniger Menschen testen, ist den Zahlen also zu trauen? Als sehr gutes Kontrollinstrument haben sich in dieser Pandemie die Abwasserdaten erwiesen. Wer infiziert ist, scheidet Genmaterial des Virus aus, ob getestet oder nicht. Auch hier gehen die Kurven abwärts. Das BAG hat nun diese Woche verkündet, die Abwassermessung in der Schweiz auszubauen – von 6 auf über 100 Kläranlagen. Gemessen wird schon seit Februar, öffentlich publiziert werden die Daten ab kommendem Monat.
Corona weltweit: Es sind deutlich mehr Menschen als direkte oder indirekte Folge der Covid-19-Pandemie verstorben, als die offiziellen Covid-Todeszahlen ausweisen. Die Weltgesundheitsorganisation hat die Übersterblichkeit von fast allen Ländern weltweit berechnet. Allein in Indien, das die Veröffentlichung des Berichts blockiert hatte, soll sich ein Drittel der weltweit fast 15 Millionen zusätzlichen Todesfälle zugetragen haben.
Spanien: Die Mobiltelefone von Ministerpräsident Pedro Sánchez und der Verteidigungsministerin Margarita Robles wurden vergangenes Jahr mit der Spionagesoftware Pegasus infiziert, wie die Regierung meldete. Das Sondergericht Audiencia Nacional hat eine Untersuchung gestartet. Wochen zuvor waren Spähangriffe auf Mitglieder der katalanischen Separatistenbewegung bekannt geworden.
Nordirland: Bei den Parlamentswahlen zeichnet sich ein historischer Machtwechsel ab. Erstmals seit der Abspaltung Nordirlands könnte die nationalistische Sinn Fein gewinnen – die einzige Partei, die im Norden wie im Süden von Bedeutung ist. Die Sinn Fein strebt eine Vereinigung Irlands an.
Nordkorea: Am Mittwoch, wenige Tage vor Amtsantritt des neuen südkoreanischen Präsidenten Yoon Suk-yeol, hat Nordkorea erneut eine ballistische Rakete getestet. Machthaber Kim Jong-un hat das Testprogramm in den vergangenen Monaten enorm hochgeschraubt.
Die Suche nach den Kriegsverbrechern In einer Vorstadt von Damaskus, im syrischen Krieg, richten im Jahr 2013 syrische Militärs über 40 Zivilisten hin und lassen sich dabei filmen. Zwei Akademiker in den Niederlanden identifizieren die Verantwortlichen des Massakers. Der «Guardian» berichtet, wie sie das geschafft haben.
Du, sie und Tucker Von kruden Verschwörungstheorien bis zu offenem Rassismus: Der US-amerikanische Politkommentator Tucker Carlson does it all. Wie genau er es tut, zeigt eine interaktive Story der «New York Times». Über 1000 Folgen seiner Show auf Fox haben die Journalistinnen auseinandergepflückt – mit erwartungsgemäss grusligem Resultat.
Manhattan ist eine Insel. Zu Fuss dauert es knapp eine Stunde von der Westseite am Hudson River auf die andere Seite zum East River. Schnelle Fähren, schicke Segelboote und auch grosse Transportschiffe sorgen für regen Verkehr auf den beiden Flüssen, die die Insel in die New Yorker Bucht einbetten. Woran man aber vielleicht nicht gleich denkt, ist, dass New York am Meer liegt. Knapp eine Stunde mit der Subway und ich grabe meine Füsse in den Sand des Atlantischen Ozeans.
Ich liebe die Stadt New York, aber meine erste Liebe ist und bleibt das Meer. Und so nehme ich die Subway-Fahrt mindestens alle paar Monate – im Sommer wöchentlich – nach Far Rockaway oder Brighton Beach, auch Little Odessa genannt, auf mich. Mein Lieblingsausflug startet in Brighton Beach mit einem ukrainischen Lunch und führt dann über den gut vier Kilometer langen Boardwalk, gewöhnlich mit Sonne und starkem Wind im Gesicht, nach Coney Island. Coney Island ist ein spezieller Ort mit viel Geschichte. Einst Bade- und Ferienort für die Wohlhabenden im 19. Jahrhundert entwickelte sich Coney Island zu einem beliebten Strandziel für die Massen, zeitweise zum zwielichtigen Vergnügungsort und nach Jahren der Stagnation zu einem wiederauflebenden und lebendigen Platz, welcher die unterschiedlichsten Leute anzieht.
Für mich strahlt Coney Island Nostalgie aus, ohne dass ich genau benennen könnte, wonach ich mich sehne oder an was ich mich erinnern möchte. Coney Island hat etwas Verstaubtes und Raues, aber gleichzeitig sehr Authentisches. Das Publikum ist weniger chic als in SoHo, kümmert sich nicht um die Kalorien in den berühmten Nathan’s Hot Dogs. Kreischende Kinder und Erwachsene amüsieren sich auf Bahnen. Sie bieten nicht die neusten Attraktionen, aber lösen das kribblige Gefühl im Magen aus, das die Alltagssorgen und den Stress, zurückgeblieben in der Stadt, leicht vergessen lassen. Spätestens wenn ich im 1920 eröffneten Wonder Wheel (empfehlenswert ist übrigens Woody Allens gleichnamiger Film) über diesem kleinen Mikrokosmos schwebe und auf der einen Seite auf den Atlantischen Ozean sehe und auf der anderen Seite die Skyline von Manhattan erahne, fühle ich mich ein bisschen wie im Urlaub. Oder zumindest einfach woanders.
Wer also bei einem nächsten Besuch nach New York die Stadt von einer leicht anderen Perspektive erleben will, sollte sich einen Abstecher nach Coney Island überlegen. Die Oltner Kilbi ist natürlich schwer zu toppen, aber in Coney Island bietet sich die einmalige Chance, die zweitsteilste hölzerne Achterbahn der Welt – The Cyclone –, gebaut 1927 und zugegebenermassen etwas holprig, zu fahren.
Auf der entspannten Subway-Fahrt zurück nach Manhattan habe ich nach meinem letzten Besuch vergangenen Sonntag gelesen, dass in der 90-jährigen Geschichte der Achterbahn drei Leute auf The Cyclone verstarben. Verwundert bin ich nicht. Trotzdem werde ich bald wiederkommen. Für meinen nächsten Besuch steht der Thunderbolt auf dem Programm, die erste Achterbahn aus Stahl in New York.
*Anna-Lena Schluchter (32) ist in Olten aufgewachsen und lebt seit drei Jahren in New York. Sie arbeitet als First Secretary bei der ständigen Mission der Schweiz bei der UNO.
Wie benommen steh ich da. Stehen wir da. Inmitten der tausenden, tobenden Menschen. Wieder jubeln die Falschen. Rauchschwaden unter dem Hallendach. Die blauen Leibchen verschwimmen im Oval zu einem Band. Weit unten übersähen die Handschuhe, Stöcke und Helme das Eisfeld. Die Kloten-Spieler liegen sich in den Armen. Eine euphorische Menschentraube in Blau wiegt auf dem Eis hin und her.
Und die Weissen knien am Boden. Stützen sich an der Bande oder auf dem Stock. Ausgelaugt. Ihre Reise endet hier. Olten bleibt sieglos. Bleibt die ewige Verliererin: ohne Meistertitel seit zwei Generationen.
Der Adrenalinspiegel sackt ab, plötzlich vernebeln die paar Bier aus den drei Stunden davor den Geist. Wie in Trance heben wir in der kleinen Oltner Kurve ein letztes Mal den Schal über den Köpfen. Die Arme wiegen schwer. «Grüen-wiss, grüen-wiss, du besch euses Läbe, Läbe. Mir singes immer witer, witer» …. «EHC Oute, mir stöi zu der, stöi immer hinter dir» … «Kämpfe Oute, kämpfe!».
Durchhalteparolen. «Einisch Oute, immer Oute», schreiben die Fans am Tag danach in den Foren.
Wieder nichts
Dabei hatte ich dieses Jahr wahrhaftig daran geglaubt. Hatte ich die Vorstellung wieder zugelassen: Das Kleinholz-Eis von einer Menschenmasse bedeckt, mittendrin dieser orangenfarbene Pokal. Die ganze Stadt im Siegestaumel.
Wer mich kennt, weiss: Im Bann des Eishockeyspiels bin ich ein anderer Mensch. Mich bindet eine Amour fou zu diesem Sport. Bis heute konnte ich nicht ergründen, woher die Faszination, die bisweilen fast an Besessenheit grenzt, herrührt.
Seit unsere Mutter uns damals Ende der 90er-Jahre ein erstes Mal ins Kleinholz nahm, hat das Eishockey mich nicht mehr losgelassen. Im Pyjama huschte ich frühmorgens zum Briefkasten, um im Oltner Tagblatt das Resultat vom Vorabend nachzulesen. Als Teenager kurvte ich dann mit Wunderkind Denis Malgin auf dem Eis herum. Im Maturajahr machten wir uns einen Spass daraus, über eine Saison an fast jedes Auswärtsspiel der Oltner zu fahren.
Das Eishockey öffnete mir die Tür zum Journalismus. Immer mal wieder schrieb ich über den EHCO, das Monument des Sports in der Region Olten. Auch wenn in mir drin das Fansein aufschrie, konnte ich Distanz wahren. Die Rolle des nüchternen Betrachters spielen. Die Liebe zum Sport stand in diesen Momenten über meiner Nähe zum Klub. Aber als Sportjournalist machte ich mir nicht vor, vollkommen neutral zu sein. Wusste, wenn diese Nacht käme, würde ich auf dem Eis stehen und die Hand nach dem Pokal ausstrecken.
Aber Olten muss warten.
Wer mit diesem Klub mitleidet, beginnt in den schwierigen Stunden sich dem Schicksal hinzugeben. Zu grübeln, was nun Sieg oder Niederlage ausmacht. Fühlt sich, als hätte die Welt sich verschworen gegen Olten. Alle haben sie schon was gewonnen. Nur Olten verliert. Warum?
Im Februar begebe ich mich auf die Suche nach Antworten: Was braucht es, um endlich, endlich einmal den Titel zu gewinnen?
Leuenbergers Geheimnis
Trainer kamen und gingen. Sie alle wollten dem Lauf der Geschichte einen anderen Twist geben. Das Los des ewigen Verlierers aufbrechen. «Das ist ein DNA-Wechsel, den wir machen», sagt Lars Leuenberger bei unserem ersten Treffen und spricht von «Winnermentalität». Er sagt: «Was es braucht, ist einfach unglaublich harte Büez.»
Leuenberger hat in der vergangenen Saison die Hoffnung neu keimen lassen in der Kleinstadt. Wie im Rausch eilte der EHCO unter ihm bis ins neue Jahr von Sieg zu Sieg. Alle Zeitungen riefen den Oltner Trainer an und schrieben die gleiche Geschichte nieder. Sie handelte davon, wie er im Sommer gekommen war und die Spieler ans Limit gebracht hatte. Wie die Mannschaft klagte, vom hohen Tempo überfordert war.
Erst am Anfang dieses Jahres musste sich die neue Mannschaft ernsthaft mit dem Verlieren auseinandersetzen. Eine kleine Baisse kam.
Als Lars Leuenberger Mitte Februar im Restaurant der ehemaligen Curlinghalle sitzt, die den Charme einer Walliser Après-Ski-Hütte hat, stehen noch zehn Qualifikationsspiele bevor. Das Haar hat er wie immer nach hinten gekämmt. Im mit bernischen Einflüssen durchsetzten Ostschweizerdialekt erzählt er.
Vom Prozess, den eine Mannschaft durchläuft, bis jeder einzelne Spieler sein Maximum abrufen kann. «Mein Ziel ist es, jeden dorthin zu bringen, wo er sein Limit selbst sucht. Ohne mein Zutun. Nicht jedem wohnt diese Charaktereigenschaft inne.»
Er selbst will sie vorleben. Den Ehrgeiz brachten ihm seine Eltern bei. «Mein Vater hat mir schon früh gesagt, wenn ich was erreichen wolle, müsse ich wissen, welchen Weg ich einschlage.» Gegen seinen sechs Jahre älteren Bruder zu verlieren hasste er.
Später erlebte Lars Leuenberger als Eishockeyspieler einen Schlüsselmoment, als er «vom Weg abkam», wie er sagt. Mit 31 Jahren hörte er auf mit dem Hockeyspielen – überraschend, ohne Vorankündigung, ohne offenkundigen Grund. Warum seine Profikarriere so früh endete, hat er bis heute nie öffentlich gemacht. Und auch im Kleinholz schweigt er dazu. Er sagt bloss: «Ich schwor damals, dass ich nie mehr zulassen werde, was mir widerfahren war. Diesen Gedanken will ich auf meine Mannschaft übertragen.»
Und so tanzte sich Olten durch die Qualifikation. Mal furios, zerzausten sie ihren Gegner mit wirbligem Sturm und Drang. Mal zermürbten sie ihn, indem sie vor dem eigenen Tor nichts zuliessen, um dann vorne zuzuschlagen.
«Was hast du mit ihnen gemacht? Das ist ja wie Tag und Nacht, wie diese Mannschaft sich entwickelt hat», habe er aus der Eishockeyszene immer mal wieder zu hören bekommen, erzählt Leuenberger. Das schönste Kompliment.
Die Goldbarren im Tresor
Gut einen Monat später sind die Playoffs angelaufen. Die historische Qualifikation mit Punkterekord brachte Olten Rang zwei hinter Kloten. Die beiden Teams waren in einer eigenen Sphäre unterwegs.
Doch der Quali-Tanz ist vorüber. Die Leichtigkeit des Hockeys verflogen. Im Playoff zählt gegen jeden Gegner nur noch: Wer gewinnt zuerst vier Spiele? In diesen Serien, die zu einem Drama aus sieben Akten werden können, stehen kleine Mannschaften manchmal auf und grosse versagen. Der Davoser Trainer-Papst Arno Del Curto sagte einst: «Wer dieses Format erfunden hat, ist ein Genie. Denn in einer solchen Serie kann auf der psychologischen Ebene unheimlich viel passieren.»
Lars Leuenberger jagt anfangs März seine Mannschaft übers Eis. Er lässt das Überzahlspiel trainieren, das den Oltnern schon in den ersten zwei Spielen gegen den HC Sierre zum Sieg verholfen hat. Auch an diesem Donnerstagabend werden die Oltner über die Walliser hinwegrollen und einen 8:2-Sieg einfahren. Und das vor bloss 3000 Zuschauerinnen – irgendwie scheint es, als warte die ganze Stadt und Region bloss auf das Finale.
Marc Grieder grüsst mit der Faust und seinem Oberbaselbieterdialekt, der nach vielen Jahren auf der Jura-Südseite nur wenig verblasst ist. Er nimmt mich mit ins Stadiongemäuer: «sein Bunker», wie er es nennt. Das Sportchef-Büro aus nacktem Sichtbeton entstand bei der Stadionsanierung 2013, als Grieder noch selbst für den EHCO auf dem Eis stand.
Im Frühjahr 2018 spürte der ruppige Verteidiger, dass sein Körper nicht mehr dem Profi-Eishockey standhielt. Also schrieb er eine vierseitige Bewerbung für das Amt des Sportchefs. Eine Stelle, die damals im Verein vorübergehend gar nicht mehr existierte. Er erhielt den Job.
Eben erst war Marc Grieder noch als Spieler im Finale gegen die Rapperswil-Jona Lakers unterlegen. Nun sollte er im Sportchef-Amt mithelfen, im Folgejahr den Titel zu holen. Stattdessen erlebte er ein Erdbeben. Halbfinal-Aus gegen den späteren Meister – Erzrivale Langenthal.
Bis 2018 waren die Oltner drei Mal binnen sechs Jahren am späteren Aufsteiger gescheitert. Rapide stiegen die Zuschauerzahlen über diese Jahre hinweg und parallel dazu die Euphoriekurve. Immens war auch das Frustpotenzial, wenn Ende Saison die Hoffnungen wieder in einer letzten Niederlage zerbarsten. Im Hintergrund begann der Klub übereifrig zu agieren. Ein dreijähriger Aufstiegsplan scheiterte. Mit Spielerverpflichtungen übernahm sich die Führung, gab zu viel Geld aus. Und so folgte im Klub nach dem neuerlichen Scheitern 2019 abermals ein grosser Umbruch. Nicht zum ersten Mal in der EHCO-Historie musste der neue Verwaltungsrat die Finanzen sanieren.
«Das ist Geschichte», sagt Marc Grieder in seinem Bunker. Seine Ankunft steht auch für das neue Olten. Nach dem Erdbeben 2019 konnte der Klub sich als «Grosser» in der zweithöchsten Liga behaupten. Er operiert nach wie vor mit einem vergleichsweise hohen Budget über rund 6 Millionen Franken. Aber der Verein musste die Löhne senken, wie der Klub immer wieder betont. Obwohl der Blick auf den Kader dies kaum vermuten liesse, ist die Mannschaft besser besetzt denn je. Verhandlungsgeschick des Sportchefs oder blankes Understatement? Darauf angesprochen, gibt sich Grieder ironisch: «Jeder Spieler, der unterschreibt, kriegt bei uns einen Goldbarren. Nur weiss das niemand.» Er lacht trocken.
Wie die Finanzbücher der Klubs tatsächlich aussehen, bleibt in der Schweiz der Öffentlichkeit verborgen. Zumindest in der Swiss League habe die Pandemie die steigenden Löhne gebremst, erklärt Grieder. Zudem entwickelten sich junge Spieler wie Stéphane Heughebaert, Cédric Maurer oder Dominic Weder, welche der EHCO einst für niedrige Saläre verpflichten konnte, in Olten positiv.
Nichts zu verlieren?
Der erste Trainer, den Marc Grieder im Frühling 2019 einstellte, war der Schwede Fredrik Söderström. Der kommunikative Erfolgscoach aus dem hohen Norden erlebte inmitten der Pandemie zwei schwierige Saisons.
2020 enttäuschte Olten im Viertelfinale gegen den Erzrivalen Langenthal. Der Saisonabbruch kam gerade recht. Die Playoffs im Jahr darauf fanden ohne Zuschauer statt. In Geisterstadien schlug sich der EHCO beachtlich. Söderströms Team überzeugte im Playoff mehr denn je, scheiterte im Halbfinale knapp an Kloten.
Trotzdem entschied sich Sportchef Grieder, den Vertrag nicht zu verlängern. Kurz nach Saisonende präsentierte er Lars Leuenberger den Medien. Bald ein Jahr später, an diesem Märztag, erklärt Grieder den Trainerwechsel: «Wir verfolgen die gleiche Idee, wie eine Mannschaft auftreten soll. In unserem Spiel fehlte die Struktur, um sich weiterzuentwickeln. Lars bringt sie rein, kann die Spieler transformieren.»
Kurz vor Weihnachten sieht der Sportchef auf dem Eis, was er sich im Kopf ausgemalt hat. Ein Team zerreisst sich und holt gegen den Favoriten Kloten einen prestigeträchtigen Sieg. «Da wusste ich, es muss viel passieren, dass wir auseinanderfallen.»
Über das, was kommen könnte, mag der Sportchef fast nicht sprechen. Beim Wort «Finale» verspannen sich seine Gesichtszüge. Dann sagt er aber doch: «Wenn wir es ins Finale schaffen, gehen wir so krass als Underdog rein.» Die Vergangenheit Oltens schwingt mit. Zu gerne möchte der Klub endlich der Kleine sein, der den Überraschungscoup schafft. «Wir haben nichts zu verlieren. Nüt», wiederholt Grieder mehrfach.
Die Shitstorms sind (fast) passé
Halbfinale gegen La Chaux-de-Fonds.
Die Corbusier-Stadt, wie ein Schachbrett angelegt – von deren Struktur ist im Spiel der Neuenburger nichts wiederzuerkennen. Viel eher wie ein Wirbelwind fegen sie übers Eis. Die Mannschaft hat in lichten Momenten einen Extragang, dem Mythos nach der Höhenluft wegen. Aber Ende März lässt Olten ihr keinen Raum, die Chaux-de-Fonniers können ihr Tempo gar nicht erst entfalten. Mit einer taktisch überaus reifen Leistung gewinnt der EHCO das Auftaktspiel.
Vor dem ersten Auswärtsmatch zwei Tage später sitzt Andreas Hagmann im Café Ring. «Hagi», wie ihn alle nennen, ist beim Bezahlfernsehen MySports Kommentator. Der Oltner kennt die Liga in- und auswendig, hat zu jedem Spieler eine lange Karteikarte angelegt, pflegt Kontakte zu allen Klubs. Er weiss oft, was hinter den Kulissen läuft.
Innerlich wünscht wohl auch er sich den Oltner Meistertitel herbei. Aber er wahrt die Fassade und sagt: «Glauben tu ich gar nichts mehr, ausser wenn es so weit ist.» Es entspreche genau der Oltner Mentalität, nicht an den Titel zu glauben, konfrontiere ich ihn. Er gibt mir recht, analysiert aber lieber nüchtern, warum es für Olten in diesem Jahr klappen könnte. So wie Hagi das für den TV-Sender immer tut.
Weil die halbe Eishockeyschweiz aber weiss, dass er aus Olten stammt, wird er in den Internetforen immer mal wieder angegriffen, er nehme Partei. Hinter dem Mikrofon gibt es für ihn aber nur noch das Spiel – die tiefe Verbundenheit zum EHCO blendet er aus. So sehr, dass bisweilen der Oltner Anhang moniert, er nehme für die Gegner Partei.
Hagi nimmt dies mit einem Lächeln und Schulterzucken hin, spricht lieber über das Oltner Spiel. «Unter Söderström konnten sie die neutrale Zone nicht mehr überbrücken. Mit Leuenberger schafften sie dies nun problemlos mit langen Pässen. Eine so hohe Passqualität wie in der ersten Qualifikationshälfte hat das Kleinholz-Publikum kaum je gesehen.»
Abgesehen vom Sportlichen gibt’s für den 33-Jährigen einen Aspekt, warum Olten mitunter so lange titellos blieb: das Umfeld. «Wenn es sportlich mal lief, fand man immer einen Weg, die Mannschaft mit einem Nebenschauplatz zu destabilisieren.» In diesem Jahr aber sei eine aussergewöhnliche Ruhe da. Die Fans bombardierten den Klub nicht gleich mit destruktiven Kommentaren nach einer Niederlage. Die Klubführung tat alles, um die grün-weissen Farben in die Stadt zu tragen.
Für eine heikle Episode sorgte der Klub aber doch noch: Vor dem Halbfinal erhöhte er die Ticketpreise empfindlich stark. «Man munkelte, die Geschäftsstelle sei mit Mails bombardiert worden», erzählt Hagi. Der Klub reagierte prompt, sah davon ab und glättete die Wogen.
Bis der Hexenkessel Kleinholz brennt
Vom früheren, unruhigen Umfeld kann Romano Pargätzi ein Lied singen. Neun Jahre lang trug er die Klubfarben des EHCO. Der Bündner wurde in dieser Zeit in Olten heimisch und blieb. Heute noch streift er sich als Verteidiger das Leibchen des SC Altstadt Olten über und jagt in einer höheren Amateurliga mit anderen EHCO-Legenden wie Martin Wüthrich, Remo Meister und Cédric Schneuwly dem Puck nach. Sie alle prägten Oltens Auferstehung aus den finanziell schwierigen Nullerjahren, in welchen knapp 1000 Zuschauer ins Stadion kamen. Und trotzdem sind sie auch die «Titellosen».
Pargätzi war bei zwei der drei Finalserien dabei. «Wir sind jedes Mal an einer Übermannschaft gescheitert», sagt er. Lausanne (2013), Langnau (2015) und Rapperswil (2018) – alle siegten sie danach auch in der Ligaqualifikation und stiegen auf. Was die Oltner Fans besonders schmerzt: Über dieselbe Dekade erkämpfte sich der Erzrivale aus dem kleinen Langenthal drei Meistertitel. «Langenthal war immer in den umgekehrten Jahren zur Stelle», analysiert Pargätzi unter dem Dachstock der Usego, wo er heute als Treuhänder arbeitet.
Und eben, das Umfeld. «Der Titeldruck, die Sehnsucht danach – der Verein wollte den Erfolg zwischenzeitlich fast zu sehr forcieren. Die Strategie war aber auch verständlich, da die Zukunftsperspektive der NLB damals sehr ungewiss war.»
Daraus ergab sich immenser Erwartungsdruck, der oftmals toxisch auf die Stimmung wirkte. Pargätzi weiss, was ein tobendes Kleinholz bewirken kann. Ligaweit wusste man, wenn die Oltner mal das Publikum im Rücken haben, wird’s schwer. Die Mannschaft vermochte in jenen Augenblicken Druckphasen zu erzeugen, die auf das Tor des Gegners niederprasselten.
Wenn aber der Erfolg greifbar scheint, das Momentum jedoch zugunsten des Gegners zu kippen droht, verstummt das Kleinholz. Die prall gefüllten Ränge gleiten in eine kollektive Apathie, die Menschen schauen zu, wie die Mannschaft unten auf dem Eis mit sich selbst hadert.
Am Vorabend des Gesprächs mit Romano Pargätzi gibt es einen solchen Moment. Nach drei Oltner Siegen en suite beginnen die Chaux-de-Fonniers doch noch zu wirbeln. Gewinnen zuerst daheim und dann auch in Olten. Rund fünfzig Neuenburger machen das Kleinholz zu ihrem Tollhaus. Und den EHCO-Fans hat’s derweilen die Sprache verschlagen.
«Diese Niederlage kam für mich enorm überraschend. Oltens Konzept war nie am Bröckeln bis hierhin», sagt Pargätzi. Er weiss, wie es sich mit dem Oltner Hexenkessel verhält. «Wenn sich die Mannschaft auf dem Eis zerreisst, kann das Publikum ein Spiel noch mitentscheiden. Aber der Funken muss vom Spielfeld auf die Zuschauer übergehen. Anders als in Ambri oder in der Ajoie.»
Es tut nicht mehr weh
«Les Abeilles» – die Bienen aus La Chaux-de-Fonds sind geweckt. Aber im sechsten Akt im Neuenburger Jura findet Olten auf wundersame Art zurück zu seinem Spiel und eliminiert die Neuenburger dank drei Toren innerhalb von zwei Minuten im letzten Drittel.
Das heiss erwartete Finale ist geschafft. Mit Ligakrösus Kloten steht den Oltnern vermeintlich wieder eine Übermannschaft im Weg. Nichts zu verlieren also, wie Marc Grieder es sagte?
Im ersten Finalspiel in Kloten geht diese Maxime beinahe auf. Aber in der zweiten Verlängerung, Montagabend, kurz nach elf Uhr, liegt der Puck doch im Oltner Kasten. Im Zug heimwärts schwankt ein betrunkener Fan in den Wagon und lallt. «Uns Oltnern tut ja nichts mehr weh. Hattest du schon mal Zahnschmerzen? Das tut weh. Olten hat es nie weh getan, darum gewinnen wir nicht.» Er verschwindet im nächsten Zugwagen. Eine Szene spätnachts, die bezeichnend für die negative Mentalität der Oltner steht. Abgestumpft von den vielen zerbrochenen Träumen.
Vom Oltner Trübsal ist beim zweiten Finalspiel nichts zu sehen. Keine Tore über geschlagene 60 Minuten. An diesem Abend ist die Stimmung so, als wäre Olten für den Favoriten Kloten unbezwingbar. Entsprechend spielen die bärtigen Männer in den grünen Leibchen auf dem Eis. Lukas Lhotak versetzt in der Verlängerung das Stadion in Ekstase.
Hinterher sagen viele, so laut sei es im Kleinholz seit Jahrzehnten nicht mehr gewesen. Klaus Zaugg, der polemischste Eishockey-Journalist der Schweiz, ist auch dabei und schreibt:
«[…] Es ist, als sei mit diesem Sieg ein Bann gebrochen. Als sei allen bewusst geworden, dass ein Aufstieg für die Unaufsteigbaren möglich ist. Dass Olten nicht für alle Ewigkeit in der Zweitklassigkeit darben muss. Es ist wie eine Auferstehung der Oltner Hockeykultur. Wir sind dazu in der Lage, Kloten zu besiegen, also sind wir.»
Das rätselhafte dritte Spiel
Zaugg irrt. Die Auferstehung Oltens endet am Osterwochenende abrupt. In Kloten kommt eine Mannschaft aufs Eis, die zu zweifeln scheint. Die Zürcher spüren dies und überrollen den EHCO. Lars Leuenberger wird hinterher sagen, seine Spieler seien naiv aufgetreten. Warum? Darüber wird der Trainer über das Saisonende hinaus grübeln.
Olten findet den Tritt nicht mehr, hat die mentale Stärke verloren. Im vierten Spiel folgt ein weiterer Dämpfer. Nach einem 0:3 im Startdrittel ist der EHCO angezählt. In den verbliebenen 40 Minuten fehlt die benötigte Wucht für die Wende. Kloten bringt Sieg Nummer drei heim und der Aufstieg wird für die Zürcher immer greifbarer. Einen Sieg vor eigenem Publikum brauchen sie noch.
Olten würde wieder zuschauen müssen, wie die Gegner den Pokal heben. Würde das letzte Saisonspiel abermals verlieren. Wie gross die Wahrscheinlichkeit sein mag, dass dem EHCO erneut das Verlierer-Los zufällt, frage ich mich.
Ein in sich gekehrter Lars Leuenberger kommt nach der dritten Niederlage bloss für ein zweiminütiges Interview aus der Garderobe.
Am Tag darauf hat er das Lächeln wiedergefunden. Als versuche er bewusst, Optimismus zu versprühen. «Jetzt haben wir drei siebente Spiele», sagt er in der milden Aprilsonne.
Nothing to lose. Aber Olten bleibt am Ende eben doch wieder das Los des Verlierers.
Im tobenden Schluefweg wirkt die Oltner Mannschaft allein. Sie beisst sich ins Spiel. Aber die Zürcher schaffen das 1:0. Olten versucht bis zuletzt vergebens anzurennen. Lattenschuss. Sirene. Aus.
Bärte und abgetautes Eis
Zwei Tage später, Freitagmittag. Abgetautes Eis statt Nervosität vor einem Spielabend. Weit unterhalb der Sponsorenlounge kratzt der Eismeister im aufgetauten Wasser bereits die Werbung weg. Medien und Klub finden an einem grossen Tisch zusammen – eine Männerrunde. Die Playoff-Bärte sind noch nicht gestutzt. Man verteilt sich gegenseitig Komplimente. Für eine ausgezeichnete Saison. Wieder fehlte am Ende nur das eine Quäntchen «Etwas». Man blickt zurück. Analysiert. Schöpft Zuversicht.
Als Sportchef Marc Grieder durchs leere Stadion schreitet, sagt er noch: «Gibt’s das Gewinnergen? Das würde ich sofort einkaufen.»
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Ukraine: Die aktuelle Lage
Das Kriegsgeschehen: Bemühungen um eine Feuerpause in der Ukraine während der orthodoxen Ostern blieben ohne Erfolg. Die russischen Streitkräfte führten ihre Angriffe auch diese Woche unbeirrt fort.
In der beinahe komplett zerstörten Hafenstadt Mariupol sollen Russen das Stahlwerk Asowstal offenbar weiterhin mit Artillerie beschiessen und aus der Luft attackieren. Mehrere Tausend ukrainische Soldaten und Zivilistinnen harren zurzeit in dem Industriekomplex aus. Der russische Präsident Wladimir Putin hatte zuvor angekündigt, Asowstal würde zwar weiterhin belagert, die Sturmversuche würden jedoch gestoppt. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein.
Im Osten und Süden des Landes setzt sich die russische Offensive fort. Unter anderem in den Gebieten um Sumy, Charkiw, Cherson und Odessa ist es zu Angriffen und zivilen Todesopfern gekommen. Gemäss ukrainischen und westlichen Angaben versuchen Putins Truppen in erhöhtem Tempo, aus dem Osten, Süden und Norden ihre Gegner einzukesseln. Dabei seien ihnen geringe Geländegewinne gelungen, meldete das britische Verteidigungsministerium. Die Ukraine kontrolliere jedoch den grössten Teil ihres Luftraums.
Im Westen der Ukraine soll Russland gezielt Infrastruktur beschiessen, um Waffenlieferungen aus dem Westen zu blockieren und die Ukraine militärisch wie auch ökonomisch zu schwächen. So sollen das Bahnnetz, eine kritische Brücke sowie Tanklager durch russische Geschosse getroffen worden sein, wie das ukrainische Militär und Verteidigungsministerium melden.
Nicht nur die Ukraine, auch in verschiedenen russischen Grenzgebieten soll es diese Woche zu Explosionen gekommen sein. Besonders Berichte über Anschläge in Transnistrien, einem prorussischen Separatistengebiet in der Republik Moldau, schüren Ängste, dass der Krieg auf weitere Länder übergreifen könnte. Noch ist nicht klar, wer für die Angriffe verantwortlich ist. Die Führung in Transnistrien beschuldigt Kiew, Kiew wiederum sieht den russischen Geheimdienst FSB als Drahtzieher. Die angeblich ukrainischen Angriffe könnten für Russland als Vorwand dienen, um in dem Separatistengebiet einzugreifen. Ein russischer Generalmajor hatte Transnistrien zuvor als neues Übernahmeziel deklariert. Das Gebiet wäre für die russischen Streitkräfte ein günstiges Aufmarschgebiet. Es ist jedoch unklar, wie ernst die Ankündigung zu nehmen ist.
Nebst Angriffen vom Boden und aus der Luft attackiert Russland seine europäische Nachbarin auch vom Netz aus. Ein aktueller Bericht von Microsoft dokumentiert mehr als 200 russische Hackerangriffe auf die Ukraine, häufig zeitlich abgestimmt auf Attacken an der physischen Front.
Die Reaktionen: Am Dienstag ist Uno-Generalsekretär António Guterres als selbst deklarierter «Botschafter des Friedens» für ein Gespräch mit Wladimir Putin nach Moskau gereist. Er konnte einen kleinen Erfolg verzeichnen: Putin habe «grundsätzlich» zugestimmt, dass das Rote Kreuz und die Uno Evakuierungen aus dem Stahlwerk in Mariupol unterstützen dürfen. In einem vorangehenden Treffen mit dem russischen Aussenminister Sergei Lawrow hatte Guterres für eine rasche Waffenruhe und ein Ende des Kriegs plädiert. Beides ist noch immer nicht absehbar. Tags darauf ist der Generalsekretär in die Ukraine gereist und hat mehrere schwer getroffene Vororte von Kiew besucht. Darauf folgte ein Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski, wo erneut ein Fluchtkorridor aus Mariupol besprochen wurde. Selenski ging optimistisch aus dem Gespräch. Guterres’ Besuch wurde durch neue Angriffe der russischen Streitkräfte auf Kiew überschattet. Raketen seien im Stadtzentrum eingeschlagen, meldete Bürgermeister Witali Klitschko.
In einem Interview im russischen Staatsfernsehen Tage zuvor hatte sich der russische Aussenminister Sergei Lawrow für weitere Verhandlungen mit Kiew ausgesprochen – jedoch nicht, ohne Warnungen gen Westen zu richten. Es bestehe die «ernste Gefahr» eines dritten Weltkriegs und des Einsatzes von nuklearen Waffen, sagte er. Ein solches Szenario versuche er jedoch mit allen Mitteln zu verhindern. Weiter bezichtigte Lawrow die Nato aufgrund der Waffenlieferungen an Kiew eines Stellvertreterkriegs. Auch Präsident Putin setzt weiter auf Drohgebärden: Wer sich in die Ukraine einmischen wolle, habe mit einer «blitzschnellen» Antwort zu rechnen, sagte er in einer Ansprache in St. Petersburg.
Auf dem US-Luftwaffenstützpunkt im deutschen Ramstein trommelten die USA derweil zu einem symbolträchtigen Krisentreffen mit diplomatischen Vertreterinnen aus über 40 Nationen. Ziel des Treffens: die militärische Unterstützung der Ukraine besser zu koordinieren. Man werde «Himmel und Erde» in Bewegung setzen, so US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, um die Ukraine in ihrer Verteidigung gegen Russland zu stärken. Die internationale Gruppe will sich nun monatlich treffen.
Lloyd Austin lobte am Treffen besonders Teilnehmer Deutschland. Denn die deutsche Bundesregierung hatte entschieden, schwere Waffen an die Ukraine zu liefern – obwohl sie dies die Woche zuvor öffentlich noch vehement abgelehnt hatte. Etwa 50 Luftabwehrpanzer vom Typ Gepard will Deutschland nun aus den eigenen Beständen nach Kiew schicken, wie die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht in Ramstein verkündete. Der Druck auf Kanzler Olaf Scholz, der sich aus Angst vor einer Eskalation gegen eine Lieferung gestellt hatte, war in den Tagen zuvor immens angestiegen. Die Munition für den Panzer wird unter anderem in der Schweiz produziert. Das Staatssekretariat für Wirtschaft hatte ein Gesuch aus Deutschland für den Export jedoch abgelehnt. Nebst dem Gepard könnte Deutschland künftig auch Panzer vom Typ Marder oder Leopard in die Ukraine liefern, entsprechende Offerten der Rüstungsunternehmen liegen vor.
Am Donnerstag stellte auch US-Präsident Joe Biden zusätzlichen Support für die Ukraine in Aussicht. Weitere 33 Milliarden US-Dollar an Hilfe sollen die USA leisten, der grösste Teil soll an Sicherheit und militärische Ausrüstung gehen. Das Paket ist damit mehr als doppelt so gross wie das letzte. Weiter sollen in den USA beschlagnahmte russische Vermögen nach Kiew fliessen.
Der Gasstopp: Seit Mittwoch fliesst kein russisches Gas mehr nach Polen und Bulgarien. Das russische Unternehmen Gazprom hatte den Schritt tags zuvor angekündigt – und durchgezogen. Es ist der erste offene Schlag Russlands gegen die Energieversorgung der EU. Bulgarien wie Polen hätten das Gas nicht in Rubel bezahlen wollen, wie von Russland gefordert, so die offizielle Begründung von Gazprom. Polen reagiert relativ gelassen: Die Gasspeicher seien gut gefüllt, Versorgungsunterbrüche gebe es bisher keine. «Polen ist schon lange darauf vorbereitet, ohne Rohstoffe aus Russland klarzukommen», sagte die polnische Klimaministerin Anna Moskwa. Auch Bulgarien, das bisher etwa 90 Prozent des Erdgases aus Russland bezogen hat, ist seit längerem daran, die Abhängigkeit von Moskau zu verringern. Im Juni soll Bulgarien ans griechische Gasnetz angeschlossen werden. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bezeichnete den Lieferstopp als «Erpressung». Die EU sei jedoch darauf vorbereitet: Die Mitgliedsstaaten seien daran, Gaslieferungen aus anderen Ländern sicherzustellen, und verfügten über Notfallpläne.
Frankreich: Macron bleibt Präsident, aber …
Darum geht es: Am Sonntag haben die Wählerinnen den amtierenden Präsidenten im Amt bestätigt. Emmanuel Macron entschied die Stichwahl für sich – mit 17 Prozent Vorsprung auf Marine Le Pen. Die rechtsextreme Politikerin anerkannte Macrons Sieg noch am Wahlabend, deutete ihr Abschneiden aber als moralischen Sieg.
Was als Nächstes geschieht: Macron gab sich am Wahlabend versöhnlich und demütig: Er wisse, dass viele nicht für ihn, sondern gegen die extreme Rechte gestimmt hätten. Nun wolle er ein Präsident für alle sein. Allerdings hatte er dasselbe Versprechen bereits 2017 abgegeben und nicht eingelöst. Programmatisch will er Frankreich in seiner zweiten Amtszeit zur «grossen ökologischen Nation machen». Wie viele Freiheiten er dabei hat, wird sich im Juni zeigen. Dann wird ein neues Parlament gewählt.
Social Media: Elon Musk will Twitter kaufen
Darum geht es: Der US-Techunternehmer und nachweisbar reichste Mensch der Welt, Elon Musk, hat ein Kaufangebot für Twitter abgegeben. Das Management des Unternehmens hat sich erst dagegen gewehrt, schliesslich aber zugestimmt. Musk will den Aktionärinnen für den Kurznachrichtendienst insgesamt 44 Milliarden Dollar bezahlen. Sollte die Übernahme klappen, will Musk Twitter von der Börse nehmen.
Warum das wichtig ist: Das 16-jährige Unternehmen Twitter schreibt zuverlässig rote Zahlen. Für Musk spielt das keine Rolle. Ihm gehe es um die Redefreiheit, die aus seiner Sicht im sozialen Netzwerk zunehmend eingeschränkt werde. Zu seinen konkreten Motivationen äussert sich Musk widersprüchlich. Im Zentrum steht offensichtlich die Attraktivität, die Twitter für politische Bewegungen und Verlautbarungen von öffentlichen Personen ausstrahlt. Zu den prominentesten Usern zählen Donald Trump, der nach dem Sturm aufs US-Kapitol auf Twitter gesperrt wurde, und Musk selbst, der 88 Millionen Follower zählt. Beobachter glauben, dass Musks Übernahme den Weg für Trump zurück zu Twitter ebnen würde. Doch Trump selbst lehnt das ab, während Musk seine politische Neutralität beteuert.
Was als Nächstes geschieht: Zwar rät das Twitter-Management den Aktionären zum Verkauf, doch die Übernahme ist damit noch nicht in trockenen Tüchern. Die Frage ist, ob alle Aktionäre den offerierten Preis von 54.20 Dollar pro Aktie akzeptieren. Er liegt nur knapp über dem aktuellen Börsenwert. Die grössten Twitter-Aktionäre sind neben der US-Bank Morgan Stanley die drei grössten Vermögensverwalter der Welt: Blackrock, Vanguard und State Street Global. Ihre Zustimmung ist noch offen. Schwierig dürfte es auch bei den kleineren und mittelgrossen Aktionären werden, von denen mehrere Widerstand signalisiert haben. Um sein Ziel zu erreichen, muss Musk 90 Prozent der Aktien kaufen.
Indien und Pakistan: Bis zu 50 Grad Hitze
Darum geht es: Der indische Subkontinent ist fest im Griff einer Hitzewelle. In Indiens Norden werden Temperaturen um die 44 Grad gemessen, und es kommt zu Stromausfällen, weil die Kühlungen am Limit laufen. In Teilen von Pakistan sind es sogar bis zu 50 Grad. «Die Temperaturen steigen schnell im Land, und sie steigen viel früher als gewöhnlich», warnte Indiens Premierminister Narendra Modi diese Woche.
Was als Nächstes geschieht: Über eine Milliarde Menschen werden von dieser Hitzewelle betroffen sein, rund ein Achtel der Weltbevölkerung, wie der Extremwetterspezialist Scott Duncan voraussagt. Meteorologinnen erwarten den Höhepunkt der Hitzewelle über dieses Wochenende.
Türkei: Kulturförderer muss lebenslang ins Gefängnis
Darum es geht: Ein Istanbuler Gericht hat den türkischen Kulturförderer Osman Kavala wegen des Vorwurfs des versuchten Umsturzes der Regierung zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt – ohne Möglichkeit auf Bewährung. Gleichzeitig mit dem Verleger und Milliardär wurden sieben Mitangeklagte zu 18 Jahren verurteilt, weil sie Kavala unterstützt hätten.
Warum das wichtig ist: Kavala war seit vier Jahren unter anderem im Zusammenhang mit den Gezi-Protesten 2013 in einem Hochsicherheitsgefängnis in Haft. 2020 wurde er für ein paar Stunden entlassen und danach im Zusammenhang mit dem Putschversuch gegen Erdogan im Jahr 2016 wegen Spionagevorwürfen erneut verhaftet. Kavala hat sämtliche Vorwürfe stets zurückgewiesen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Haft als politisch motiviert eingestuft. Der Richterspruch gegen Kavala ist für viele Beobachter symptomatisch für die Politisierung der türkischen Justiz und die Aushöhlung des Rechtsstaates.
Lange ist es her, seit Sarah Palin, damals Gouverneurin des US-Bundesstaats Alaska, bei den US-Präsidentschaftswahlen 2008 von den Republikanern als Vizepräsidentin nominiert wurde – und doch erinnern sich viele noch an sie. Das hat nicht zuletzt mit ein paar legendären Interviews zu tun, in denen sie unter anderem auf die Frage nach ihrer Perspektive auf Russland betonte, man könne Russland von Alaska aus sehen. Palin will nun zurück in die Politik: Diesen Monat gab sie bekannt, dass sie sich für den einzigen Sitz im US-Repräsentantenhaus bewirbt, der Alaska zusteht. Doch im Rennen ist ein weiterer illustrer Kandidat: Er hat einen langen weissen Bart, ein freundliches Lächeln, wohnt in einer Kleinstadt namens North Pole und heisst – Santa Claus. Kein Witz. Geboren unter dem Namen Tom O’Connor, wurde er 2005 offiziell zu Santa Claus. Und nun zieht es den Bernie-Sanders-Fan in die nationale Politik, wo er sich gegen Rassismus einsetzen will, für ein gerechtes Krankenkassensystem und für freie und faire Wahlen. In das Repräsentantenhaus wolle er, um positive Veränderungen zu bewirken, sagt der 74-Jährige. Zudem sei Alaska bekannt dafür, aussergewöhnliche Persönlichkeiten nach Washington zu schicken. Das zumindest wäre sowohl bei Claus als auch bei Palin der Fall.
Was sonst noch wichtig war
Die Corona-Lage: Sinkende Positivitätsrate, sinkende Hospitalisationen: Die positive Entwicklung der letzten Wochen zieht sich in der Schweiz fort – Impfungen und warmem Wetter sei Dank. Diese Woche erschien zudem die extern durchgeführte Evaluation der Pandemiebekämpfung durch das Bundesamt für Gesundheit. Sie gibt der Behörde im Grossen und Ganzen gute Noten, vermahnt aber unter anderem die Verantwortungsdiffusion in der Behörde und die strengen Massnahmen in den Pflegeheimen. Wissenschaftler kritisieren, dass es dem evaluierenden Gremium an Expertise in essenziellen Feldern wie der Epidemiologie oder Infektiologie fehle.
Slowenien: Der nationalpopulistische Ministerpräsident Janez Jansa muss sein Amt abgeben. Mit fast zehn Prozentpunkten mehr gewann Quereinsteiger Robert Golob mit seiner liberalen Partei «Freiheitsbewegung» die Parlamentswahlen am Sonntag. Umfragen hatten noch ein Kopf-an-Kopf-Rennen vorhergesagt.
Myanmar: In einem unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführten Prozess wurde Regierungschefin Aung San Suu Kyi erneut verurteilt. Wegen Korruption soll die Friedensnobelpreisträgerin weitere fünf Jahre in Haft. Menschenrechtsorganisationen sprechen von einem Schauprozess.
China: Wegen Corona-Ausbrüchen sind mehrere Stadtteile in Peking abgeriegelt. In der Hauptstadt Peking wächst die Furcht vor einer strikten Ausgangssperre wie in Shanghai. In der Millionenstadt Guangzhou wurden wegen eines Verdachtsfalls Massentests angeordnet.
Dieselskandal: In mehreren europäischen Städten ist es am Mittwoch bei verschiedenen Autoherstellern zu Razzien gekommen. Gemäss der Staatsanwaltschaft in Frankfurt wird unter anderem das japanische Unternehmen Suzuki verdächtigt, mehr als 22’000 Fahrzeuge mit illegalen Abschalteinrichtungen verkauft zu haben.
Ungarn: Die EU-Kommission startet wegen mutmasslicher Verstösse gegen die Rechtsstaatlichkeit ein Verfahren gegen Mitgliedsstaat Ungarn. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte den Schritt Anfang April angekündigt. Ungarn wird unter anderem Korruption vorgeworfen. Dem Land droht damit ein Verlust von EU-Mitteln in Milliardenhöhe.
Mali: Nach dem Abzug der französischen Armee verkündete das Militär in Mali, ein Massengrab beim Stützpunkt Gossi entdeckt zu haben. Gemäss französischen Drohnenaufnahmen sollen russische Söldner das Grab gezielt inszeniert haben. Die Militärjunta bezeichnet die Aufnahmen als Fälschungen.
Die Top-Storys
«I don’t do mea culpa» Nein, Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder entschuldigt sich nicht für seine Verbundenheit zu Putin, wie er der «New York Times» sagt. Sein Porträt in der Zeitung zeigt, wieso er das nicht tut: wegen Macht, Geld und einer guten Portion Realitätsverweigerung.
Einige sind gleicher Die Solidarität mit Geflüchteten aus der Ukraine im restlichen Europa ist riesig. Zum Glück. Die Aufnahmebereitschaft löst manchmal aber schwierige Situationen aus. Zum Beispiel dann, wenn die deutschen Behörden einen geflüchteten Afghanen aus dem Aufnahmezentrum versetzen, so beschreibt es die «Zeit» (Paywall), um für die Neuankömmlinge Platz zu schaffen. Bezahlt Mahmoud Nuri den Preis für eine misslungene Asylpolitik?
Die Pharma und der Profit Auch in der Schweiz gibt es einen Mangel an verschiedenen Arzneimitteln, und das nicht erst seit Corona. Warum? Eine «Arte»-Dokumentation legt umfangreich dar, wie die Pharmaindustrie das Medikamenten-Business nach den eigenen Bedürfnissen gestaltet und im Streben nach maximalem Profit gern mal eine Variable in der Rechnung vergisst: den Menschen.
Weisst du, woher der Ausdruck «ins Gras beissen» kommt? Diese Redewendung taucht schon in der Bibel auf. Jemand, der «ins Gras beisst», stirbt unfreiwillig. Auf den Feldern grosser Kriege kam es immer schon vor, dass Verwundete am Boden liegend zurückgelassen wurden. Während sie ihren Schmerzen erlagen, bissen sie wortwörtlich ins Gras.
Ums Sterben soll es in dieser Kolumne aber nicht gehen. Im Gegenteil: Der Verzehr von Gras – beziehungsweise der für mich wie Gras aussehenden Wildkräuter – soll einem langen Leben zuträglich sein. Dies zumindest versichern mir Anna-Lena Holm und Celina Schärli vom Verein «Kraut & Wiese».
Gemeinsam mit den beiden kräuterkundigen Frauen stehe ich vor dem unscheinbaren Streifen Wiese, der sich zwischen der Rückseite der Oltner Badi und dem ein gutes Stück höher liegenden Hausmattrain entlangzieht. Was ich sehe, wenn ich auf die grüne Fläche blicke: Gras und Löwenzahn. Was Anna-Lena und Celina sehen: Wiesenschaumkraut, Löwenzahn, Brennnesseln, Gefleckte Taubnesseln, Spitzwegerich, Knoblauchsrauke, Giersch, Scharbockskraut, Ehrenpreis, Gundelrebe und Bärlauch. Und all das, versichern mir die beiden, kann man essen. Mehr noch: All das soll man essen. Es ist gratis, in grossen Mengen vorhanden und viel gesünder als handelsübliches Gemüse wie Grünkohl oder Karotten.
Wildkräuter wachsen überall auf Wiesen, an Waldrändern und in Gärten. Beim Sammeln sollte man darauf achten, dass man sich ein gutes Stück vom Weg entfernt (Achtung Hundepipi) und gedüngte Weiden meidet (Achtung Pipi aller Art). Was aber nun mit dem gesammelten Grünzeug anfangen? Drei Pflanzen – drei Rezeptvorschläge:
Nur schon beim Gedanken daran, mir Brennnesseln in den Mund zu schieben, wirft meine Zunge schmerzhafte Blasen. Tatsächlich aber ist das wehrhafte Kraut eine alte Gemüsepflanze, deren Blätter wie Spinat zubereitet gegessen wurden. Gekocht oder im Mixer verarbeitet verlieren sie ihre Brennhaare. Besonders empfehlenswert sind auch die Samen, die ab Sommer gesammelt werden können. Sie enthalten viel Eiweiss, gesunde Fettsäuren, Vitamin E und Mineralien wie Magnesium und Kieselsäure – ein heimischer Superfood also. Man kann sie frisch oder getrocknet als schmackhafte Beigabe für Salat und Müsli verwenden oder damit Suppen und Gemüsegerichte verfeinern. (Es gibt weibliche und männliche Brennnesseln. Als Superfood eignen sich eher die Samen der weiblichen Pflanzen. Das lässt sich ganz einfach googeln. Go for it!)
Als Nächstes macht mir Celina die Gundelrebe schmackhaft. Die kleine Pflanze mit den fingernagelgrossen, dunkelgrünen Blättern und den violetten Blüten wächst gefühlt überall. Zerreibt man die Blätter zwischen den Fingern, riecht man einen herb-würzigen Duft, der an Sommernachmittage in Grossmutters Garten erinnert. Die Gundelrebe kann man nicht «hampfelweise» essen, dafür hat sie einen zu starken Eigengeschmack. Sie macht sich aber prima als Dessert. Und das geht so: Gundelrebenblätter sammeln. Schokolade im Wasserbad schmelzen. Die Blätter einzeln durch die flüssige Schokolade ziehen und auf einem Backpapier im Kühlschrank auskühlen lassen. Fertig ist das sogenannte «Wiesen-After-Eight».
Die Gefühle gegenüber der dritten Pflanze sind kontrovers. Wildkräuterköchinnen lieben sie. Hobbygärtner hingegen beschimpfen sie als schlimmes Unkraut. Die Rede ist vom Giersch. Geschmacklich erinnert er an Möhren, Petersilie oder Sellerie. Der milde Giersch macht sich wunderbar in einer Gemüsepfanne oder auf einem Gemüsequiche. Oder man verarbeitet ihn zu Pesto. Dafür röstet man 60 Gramm Pinienkerne und wirft diese mit zwei Handvoll frisch gepflückten und gewaschenen Gierschblättern, 100 Gramm Parmesan und einer Knoblauchzehe in den Mixer. Anschliessend füllt man die Mischung mit etwa eineinhalb Deziliter Olivenöl auf. Mit Salz und Pfeffer abschmecken, fertig. Das Pesto hält sich im Kühlschrank eine gute Woche.
Aber Achtung, was für alle Wildkräuter gilt, gilt für den Giersch ganz besonders. Nur essen, was man wirklich kennt. Eine Bauernregel hilft, den Giersch sicher zu identifizieren: Drei, drei, drei – bist beim Giersch dabei. Soll bedeuten: Der Giersch hat einen dreieckigen Stängel und an jedem Stängel drei dreiteilige Blätter. Wer den Giersch dummerweise mit dem ihm verwandten (aber sehr seltenen) gefleckten Schierling verwechselt, ja, der könnte tatsächlich Gefahr laufen, ins Gras zu beissen.
*Rebekka Salm (42) wohnt seit einigen Jahren in Olten, arbeitet in Zürich im Asyl- und Flüchtlingsbereich, ist Autorin und Mutter einer Tochter.
Kurz vor Redaktionsschluss klingelt das Telefon doch noch. Naomi Lareine ruft an – wir kriegen ein kurzes Interview mit ihr. «La Reine» – die neue Königin der Schweizer Musikszene. Zuletzt ging bei der Zürcherin alles ziemlich schnell. Hunderttausende hören ihre Songs im Netz. Auftritte in der TV-Sendung «Sing meinen Song». Eine Homestory in der Schweizer Illustrierten. Indizien dafür, dass sie auf dem Weg nach oben ist, in den Schweizer Musikolymp.
Zuvor war sie ambitionierte Fussballspielerin bei GC. Nun erreicht sie die Massen mit ihren Rhythm & Blues-Klängen. Die Medien haben sie unlängst zur verheissungsvollsten Stimme unter den Schweizer Musikstars ernannt. Vor zwei Jahren schon hätte Naomi Lareine nach Olten zum Wandelbar Festival kommen sollen. Die Pandemie verhinderte ihren Auftritt. Damals war Lareine erst in der Musikszene bekannt, galt als talentierte Newcomerin.
«Schon zwei Jahre?!», fragt sie ungläubig und lacht. Viel hat sich seither getan in ihrem Leben. Ihre Musikerinnenkarriere wurde durch Corona kaum gebremst. Trotzdem holt Naomi Lareine das Konzert im kleinen Olten nach und beehrt am 28. Mai das Wandelbar Festival.
Weshalb hast du für die «kleine» Bühne am Wandelbar Festival zugesagt?
Naomi: Für mich kommt es nicht darauf an, wie gross die Bühne ist. Ich geniesse einfach jeden Auftritt, den ich nach der Coronazeit haben kann. Mir spielt es keine Rolle, ob ich 100 oder 1000 Menschen eine Freude machen kann.
Du bist mittlerweile eine gefragte Sängerin – was hat die neue Berühmtheit mit dir gemacht?
Persönlich hat es bei mir nichts geändert. Als Künstlerin hatte ich während Corona extreme Existenzängste. Nachdem ich bei den Swiss Music Awards nominiert gewesen war, kam ein Loch. Aus dem grossen Hype fiel ich plötzlich ins Nichts. Ich hatte Angst, als Künstlerin vergessen zu werden. Umso schöner ist für mich, dass trotzdem alles gut kam. Ich bin extrem dankbar.
Zur Person
Naomi Lareine – die 28-Jährige stammt aus Wallisellen und ist Tochter einer aus Senegal stammenden Französin und eines Schweizer Ex-Eishockey-Profis. Lareine heisst mit richtigem Namen Naomi Bruderer. In ihrer Kindheit spielte sie Eishockey, dann Fussball. Der albanische Rapper Noizy entdeckte ihr Musiktalent und förderte sie. 2019 begann ihr rascher Aufstieg.
Was lehrt dich dein eigener Weg zur Musikerin, die den Durchbruch geschafft hat?
(Lacht) Auch wenn du im Radio läufst und gewisse Dinge richtig gemacht hast, werden die Hürden nicht kleiner. Die Ziele werden immer grösser und schwieriger zu erreichen. Du kannst dich nicht ausruhen. Die richtige Arbeit beginnt erst richtig. Auch jetzt ist das Musikerin-Sein kein einfacher Weg.
Wie hast du die Existenzängste der Pandemie weggekriegt?
Da waren einfach viele negative Gedanken und eine grosse Traurigkeit, keine Konzerte mehr spielen zu können. Als Musikerin ist das so essenziell. Es wird dir weggenommen. Phasenweise kämpfte ich mit Panikattacken. Nach solchen Momenten raffst du dich wieder auf.
Ich habe gelesen, dass du eine schlechte Verliererin bist. Hat das auch mit deiner sportlichen Vergangenheit zu tun?
Das ist ein Charakterzug von mir. Schon als Kind war ich eine kompetitive Person. Ich will eigentlich immer in allem die Beste sein. Das ist meine Mentalität. Nur ist das nicht möglich. Aber ich brauche diesen Ansporn, um Gas zu geben. Ich muss nicht über etwas oder jemandem stehen. Aber voll gut sein bei dem, was ich mache.
Wie schmeckt dieser «Sieg» für dich, nun «oben» zu stehen?
Ich bin mega glücklich darüber, was ich alles erreicht habe. Doch es fühlt sich nicht wie ein Sieg an. Wenn man weitergeht in einer Karriere, will man immer irgendwie mehr. Darum stellt sich nie das Siegesgefühl ein wie nach einem Match. Wenn ich glücklich dorthin komme, wohin ich mich sehne, bin ich erfüllt.
In fast allen Porträts zu deiner Person ist zu lesen, dass du in der Schule viel Mobbing erfahren musstest. Was wäre heute dein Ratschlag an eine von Mobbing betroffene Person?
Ich würde auf jeden Fall empfehlen, mit einer vertrauten Person darüber zu sprechen und es nicht in sich hineinzufressen. Bei mir war es in der Sek, weil ich im Sport extrem gut war. Das passte Gewissen nicht und gab Streit. Mein supergutes Umfeld hat mich gestützt. Ich konnte mit meiner Grossmutter und Schwester darüber sprechen. Mobbing muss man aussprechen.
Wie spielt deine eigene Geschichte in deine Musik rein?
Mein Ziel ist es, Musik zu machen, die authentisch ist. Ich schreibe die Texte so, wie ich mich gerade fühle. Das ist das Rezept, wie du die Leute am besten abholst. Zudem ist es mega selbsttherapierend. Also eine Win-Win-Situation (lacht).
Das Wandelbar Festival findet am Samstag, 28. Mai 2022, an verschiedenen Standorten in Olten statt. Mehr Informationen zu Künstlerinnen und Locations auf wandelbarfestival.ch
Dieses Nachrichtenbriefing wurde uns von der Republik zur Verfügung gestellt.Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur.
Ukraine: Die aktuelle Lage
Das Kriegsgeschehen: Die seit dem 1. März durch die russischen Streitkräfte belagerte Küstenstadt Mariupol steht kurz vor dem Fall. Die letzten ukrainischen Soldaten, die noch Widerstand leisten, haben sich im Stahlwerk Asowstal verschanzt, zusammen mit möglicherweise Tausenden Zivilistinnen, die in Bunkern unter dem Werk ausharren. Die genaue Anzahl ist nicht bekannt, gemäss den ukrainischen Streitkräften sollen sich 500 Verletzte vor Ort befinden. Aufforderungen zur Kapitulation fanden im Stahlwerk bisher kein Gehör, dafür gibt es erschütternde Hilferufe. «Der Feind ist uns 10 zu 1 überlegen», sagte Kommandant Serhi Wolina in einem am Mittwoch veröffentlichten Video und bat um eine Evakuierungsmission: «Wir stehen vor unseren letzten Tagen, wenn nicht Stunden.» Eine Evakuierung von Zivilisten aus Mariupol ist gleichentags gescheitert. Der ukrainische Chefunterhändler Mykhailo Podoljak meldete über Twitter, er sei bereit, für eine «besondere Verhandlungsrunde» mit der russischen Delegation in die Hafenstadt zu fahren, um die Evakuierung der verbleibenden Zivilistinnen und Soldaten zu ermöglichen. Am Donnerstag hätten Busse die Stadt verlassen können. Über 20’000 Bewohner der Stadt sollen seit Invasionsbeginn getötet worden sein, heisst es von ukrainischer Seite.
Russland hat den Schwerpunkt seines Angriffskrieges auf den Osten der Ukraine verlagert, es ist von einer zweiten Kriegsphase die Rede. An der gesamten Frontlinie in den Gebieten Donezk, Luhansk und Charkiw ist es diese Woche zu Angriffen und heftigen Explosionen gekommen.
Luhansk soll inzwischen zu 80 Prozent von Russland kontrolliert sein, meldete der Gouverneur am Mittwochabend. Charkiw, die zweitgrösste Stadt des Landes, steht unter Dauerbeschuss. In den letzten Tagen sollen gemäss dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski mindestens 18 Zivilisten getötet und Hunderte verletzt worden sein. In seiner Videobotschaft vom Montag verkündete der ukrainische Präsident, die «Schlacht im Donbass» habe begonnen. Der Sekretär des ukrainischen Sicherheitsrates sprach in einem späteren Radiointerview von «Probeangriffen». Es sei jedoch nur eine Frage der Zeit, bis Russland seine Grossoffensive mit voller Kraft starte.
Auch im Westen der Ukraine ist es diese Woche zu russischen Angriffen gekommen. In der bisher vergleichsweise verschont gebliebenen Stadt Lwiw haben russische Raketen erstmals Menschen getötet. Auch die Hauptstadt Kiew wurde mit Raketen beschossen. «Kiew war und bleibt ein Ziel des Aggressors», sagte Bürgermeister Vitali Klitschko. Im Vorort Borodjanka wurden derweil weitere Massengräber entdeckt. Einige Leichen sollen laut der Kiewer Polizei Folterspuren aufweisen.
Die Reaktionen: Wladimir Putin habe seinem Militär den Befehl erteilt, das Stahlwerk in Mariupol nicht zu stürmen. Ein solcher Angriff sei «unpraktisch», verkündete der russische Präsident am Donnerstag bei einer im Fernsehen übertragenen Sitzung mit Verteidigungsminister Sergei Schoigu. Die Anlage bleibe jedoch umzingelt, man gebe den Soldaten die Chance, sich zu ergeben. Schoigu hatte zuvor verkündet, Mariupol befinde sich nun unter russischer Kontrolle. Der Bürgermeister der Stadt widersprach dem.
Putin gibt sich weiterhin unbeirrt in seinem Vernichtungskrieg. Der Brigade, die in der Stadt Butscha stationiert war, als Zivilisten massakriert wurden, hat er diese Woche einen Ehrentitel verliehen. Er bezeichnete sie als «Vorbild für die Ausführung der militärischen Pflichten, für Mut, Entschlossenheit und grosse Professionalität».
Die US-Regierung hat diese Woche weitere Sanktionen erlassen, unter anderem gegen die Handelsbank Transkapitalbank und mehrere Dutzend Einzelpersonen. In einem nächsten Schritt wolle man stärker auf die russische Rüstungsindustrie fokussieren. Weitere Sanktionen und Exportkontrollen sollen «Russlands Kriegsmaschinerie Stück für Stück zerlegen», so Vize-Finanzminister Wally Adeyemo. Am Donnerstag kündigte US-Präsident Joe Biden zudem zusätzliche 800 Millionen US-Dollar an militärischer Hilfe für die Ukraine an. Gemäss einer neuen Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft haben die USA im ersten Monat des russischen Angriffskrieges mehr militärische, humanitäre und finanzielle Hilfe an die Ukraine geleistet als alle EU-Staaten gemeinsam.
In Deutschland wird zurzeit heiss über die Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine debattiert, zum Beispiel Schützenpanzer oder Artilleriesysteme. Bundeskanzler Olaf Scholz zeigt sich bisher zögerlich, die Bundeswehr habe schlicht nichts mehr übrig, das man liefern könne. Über einen sogenannten Ringtausch sollen die Waffen nun von osteuropäischen Nato-Bündnispartnern in die Ukraine gelangen und diesen von Deutschland ersetzt werden.
Auf EU-Ebene stehen weitere Sanktionen an. Für das sechste Sanktionspaket sei eine Blockade der Sberbank vorgesehen, der grössten Bank in Russland, verkündete EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Die USA haben die Bank vor zwei Wochen bereits sanktioniert. Auch ein mögliches Ölembargo liegt nach dem bereits beschlossenen Embargo auf Kohle weiterhin auf dem Tisch.
Die Ukraine tritt in die nächste Phase eines möglichen EU-Beitritts: Wolodimir Selenski hat diese Woche den ausgefüllten Fragebogen der EU-Kommission zurückgegeben. Das Dokument gilt als Basis für Beitrittsgespräche, Selenski hatte es vor 10 Tagen erst erhalten.
In Finnland debattiert das Parlament seit Mittwoch über einen Nato-Beitritt. Es sei «sehr wahrscheinlich», dass Finnland ein entsprechendes Gesuch stellen werde, sagt die finnische Europaministerin Tytti Tuppurainen. Am Nato-Gipfel Ende Juni sollen die Bündnispartner über das Gesuch entscheiden.
Der Raketentest: Am Mittwoch hat Russland erstmals eine ballistische Interkontinentalrakete vom Typ Sarmat getestet. Die Rakete lässt sich mit Atomsprengköpfen bestücken und kann jedes Ziel auf der Erde erreichen. Die Gegner Russlands müssten es sich nun «zweimal überlegen», bevor sie Russland drohten, kommentierte Wladimir Putin. Der Test kam mit Ankündigung: Russland hatte ihn, so sieht es ein nukleares Abrüstungsabkommen vor, zuvor dem Pentagon gemeldet. Die USA reagierten gelassen: Der Test sei «Routine» und nicht als «Bedrohung» für die USA und ihre Verbündeten zu sehen, so das Pentagon. Bevor die Rakete einsatzfähig sei, müsse sie nun ein Testprogramm durchlaufen, meldete Russland.
Spanien: Regierung soll Separatisten ausspioniert haben
Darum geht es: Ein Spionageskandal erschüttert Spanien. Zahlreiche Mitglieder der katalanischen Separatistenbewegung sollen mit der umstrittenen israelischen Spionagesoftware Pegasus überwacht worden sein. Wie die Organisation The Citizen Lab enthüllt, wurden die Mobiltelefone von mindestens 65 Separatistinnen gehackt, 63 mit Pegasus; darunter auch die Geräte der Ehefrau und von engen Mitarbeitern des früheren katalanischen Regionalpräsidenten Carles Puigdemont. The Citizen Lab ist eine auf Cybersicherheit und Menschenrechte spezialisierte Forschungsgruppe der Universität Toronto.
Darum geht es: Die Hypothekarzinsen klettern derzeit in die Höhe wie seit dem Frankenschock 2015 nicht mehr. Innerhalb eines Monats stiegen sie um bis zu 0,5 Prozent, wie ein Vergleich zwischen Hypothekargebern zeigt. Dabei ist es unerheblich, ob jemand die Hypothek kurz-, mittel- oder langfristig zurückzahlen will. Ein Beispiel: Wer heute eine zehnjährige Hypothek über eine Million abschliesst, zahlt dafür jährlich 22’100 Franken Zins. Vor einem Monat lag er noch bei 16’800 Franken.
Warum das wichtig ist: Die Schweiz ist ein Land der Mieterinnen. Im internationalen Vergleich ist der Anteil der Eigenheimbesitzer mit 40 Prozent eher klein. Nur gerade 10 Prozent der Mieter könnten sich ein Eigenheim leisten. Doch die Förderung von Wohneigentum ist in der Bundesverfassung verankert. Es gibt also ein politisch legitimiertes Interesse an tiefen Hypozinsen. Das war in den letzten Jahren auch kein Problem, im Gegenteil: Dank des tiefen Zinsniveaus an den Kapitalmärkten blieben auch die Hypozinsen tief. Doch jetzt steigen auch die Zinsen für Anleihen, an denen sich die Hypozinsen orientieren. Schuld ist die steigende Inflation, die von den Zentralbanken wiederum mit Zinserhöhungen bekämpft wird.
Was als Nächstes geschieht: Die Hypozinsen werden voraussichtlich in den nächsten Monaten volatil bleiben, aber nach Ansicht von Expertinnen nicht mehr so stark ansteigen wie zuletzt. Dies, weil Fachleute nur eine moderate Zinserhöhung von der Schweizerischen Nationalbank erwarten, auch weil die Inflation in der Schweiz deutlich tiefer ist als etwa in der EU oder den USA. Zudem dürfen potenzielle künftige Eigenheimbesitzer davon ausgehen, dass die Preise für Immobilien bestenfalls noch leicht steigen werden.
Zum Schluss: Der geläuterte Schwurbler
Xavier Naidoo war früher bekannt als Sänger. Dann wurde er zum Posterboy von rechtsradikalen Reichsbürgern, Verschwörungstheoretikern und Corona-Leugnerinnen. Er wurde als homophob kritisiert und darf laut dem deutschen Bundesverfassungsgericht als Antisemit bezeichnet werden. Doch nun hatte der selbst ernannte «PR-Agent des Herrn» (Xavier wird ausgesprochen wie saviour, also Erlöser) ein Erweckungserlebnis. Ausgelöst wurde es durch den russischen Einmarsch in die Ukraine, denn Naidoos Frau ist Ukrainerin. Vielleicht hinterfragte sich der Popstar, weil sich viele Corona-«Experten» – schwupp! – in Putin-Versteherinnen verwandelt hatten. Sicher ist, dass er ein Video publiziert hat, in dem er bekennt, dass er sich verrannt habe: «Ich war von Verschwörungserzählungen geblendet und habe sie nicht genug hinterfragt. (…) Bei der Wahrheitssuche war ich wie in einer Blase und habe mich manchmal vom Bezug zur Realität entfernt. Das habe ich leider jetzt erst erkannt. Ich habe Dinge gesagt und getan, die ich heute bereue.» Die Reaktionen fallen heftig aus. «Ein Schutzheiliger der Aluhutträger dankt ab», schreibt der «Spiegel» in einem ansonsten recht differenzierten Kommentar. Von ehemaligen Gesinnungsgenossen hagelt es Verratsvorwürfe und wilde Mutmassungen über seine Beweggründe; auf Social Media regnet es Häme. Da muss Naidoo nun durch. Wie heisst es in seinem bekanntesten Song: «Dieser Weg (die Strasse nach Damaskus?; d. Red.) wird kein leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer.»
Was sonst noch wichtig war
Die Corona-Lage: Vor drei Wochen sind die letzten Corona-Massnahmen in der Schweiz gefallen. Die Lage entwickelt sich dennoch positiv, bei den Fällen wie bei den Hospitalisierungen sinken die Zahlen in der Schweiz weiterhin. Gemäss Abwasserdaten dominiert in der Schweiz klar die Omikron-Subvariante BA.2. Wie lange das so bleibt, ist ungewiss. Der Weltgesundheitsorganisation WHO liegen weltweit mehrere Dutzend Fälle von den neuen Subvarianten BA.4 und BA.5 vor, unter anderem in Deutschland. Bisher zeigten sich die beiden Subvarianten weder als ansteckender noch als gefährlicher als die ursprüngliche Omikron-Variante. Dies könne sich mit steigenden Fallzahlen jedoch ändern, betont die Organisation.
Israel: Bei gewalttätigen Zusammenstössen zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften auf dem Tempelberg gab es am Wochenende viele Verletzte. Daraufhin beschloss die Raam-Partei, die arabische Israelis vertritt, ihre Beteiligung an der Regierung auszusetzen.
Schweden: Über Ostern kam es in mehreren Städten zu heftigen Krawallen. Die Polizei setzte Schusswaffen ein. Es gab zahlreiche Verletzte. Auslöser waren bewilligte Demonstrationen von Rechtsextremisten, die angekündigt hatten, den Koran verbrennen zu wollen.
Grossbritannien I: Asylsuchende sollen künftig in Ruanda auf ihren Bescheid warten. Premierminister Johnson behauptet, er wolle die Menschen dadurch von der gefährlichen Passage des Ärmelkanals abhalten. Menschenrechtler und die britische Opposition reagierten empört.
Grossbritannien II: Ein Gericht in London hat der Auslieferung von Julian Assange an die USA zugestimmt. Nun muss die britische Innenministerin Priti Patel der Auslieferung zustimmen. Dem Wikileaks-Gründer drohen in den USA bis zu 175 Jahre Haft.
China: Der Demokratie-Aktivist Tam Tak-chi ist in Hongkong erneut verurteilt worden, diesmal zu 40 Monaten Haft. Es war der erste Prozess seit der Rückgabe der früheren britischen Kronkolonie, in dem Anklage wegen Aufruhrs nach altem Kolonialrecht erhoben worden war.
Grenzerfahrungen Die Berichte über illegale Pushbacks an den EU-Aussengrenzen – also von Flüchtenden, die von Grenzwächtern zurückgejagt werden – sind inzwischen zahlreich. Einen weiteren liefert die «NZZ am Sonntag». Zwei Autorinnen sind in die Grenzregion zwischen Türkei, Griechenland und Bulgarien gereist und schildern erschütternde Flüchtlingsgeschichten.
Krisenstatistik Wie viele PCR-Teststäbchen wurden in dieser Pandemie in Zürcher Nasen gesteckt? Wie viele SMS hat das Contact-Tracing eigentlich verschickt? In einer Datengeschichte rückt die NZZ zahlreiche Corona-Zahlen aus dem Kanton Zürich ins Verhältnis.
Mediensterben 1993 waren sie beim «Giessener Anzeiger» noch 500 Mitarbeiterinnen. Heute sind es 24. «Die Zeit» hat Redaktionen von Lokalzeitungen in Deutschland besucht – beziehungsweise das, was von ihnen noch übrig ist. Die Geschichte über abserbelnde Lokalmedien ist mal sehr unterhaltsam, mal sehr schockierend. Und sie könnte so ähnlich auch in der Schweiz spielen.
Diese leicht säuselnde Stimme, in der gleichwohl eine ergreifende Wucht und Tiefe liegt. Wenn Sury ihre Lieder ins Mikrofon schmettert, geht wohl bei mancher Hörerin ein Bild auf. Ein Bild dieser ikonischen Sängerin. Tief geschminkte Augenlider. Wuchtig dunkle Haarpracht. Ja, Amy Winehouse. Diese eigentlich unvergleichbare Stimme der grössten Bühnen der Welt, die nach einem Leben voller Abgründe und ebenso vieler Höhen 2011 verstarb.
Es ist das Schicksal der kleinen Musikerinnen, mit den grossen Idolen verglichen zu werden, die so unerreichbar scheinen. Aber Olivia Bärtschi verwehrt sich der Anlehnung nicht. Im Videoclip zu ihrer Single «Doll» – zu Deutsch: «Puppe» – singt Sury frontal aus der Porträtperspektive in die Kamera und erinnert durch das Make-up auch optisch stark an die britische* Sängerin.
Die 31-Jährige lächelt fast schon schüchtern, wenn sie den Namen Winehouse hört. «Lieder von mir bewegten sich schon immer in diesem Genre», sagt Olivia mit Blick auf die Oltner Altstadt. Spricht sie, bleibt die wuchtige Gesangsstimme verborgen. Zurückhaltung schwingt mit. Auf der Bühne wird sie zu Sury. Da verblasse ihr introvertierter Charakter, erklärt Olivia. «In der Musik getraue ich mich, aus mir rauszukommen.»
Das Gefühl dafür hat sich bei ihr damals im Schulchor eingeprägt, als sie ein Solo singen musste – und dies erst noch vor Menschen, die sie alle kannte. Es sollte jener Abend sein, der in ihr ein Ventil löste. «Seit ich denken kann, habe ich gesungen. Nur wusste ich nicht, ob ich es auch kann oder nicht.»
Die Musik und die Liedtexte dazu schaffen für Olivia Bärtschi einen Zugang zu ihrer eigenen Vergangenheit. In «Doll» singt sie von der ausgeloschenen, ausweglosen Liebe und davon, dass sie nicht zur Marionette verkommen will, die in einer Ecke landet. Auf ihrem ersten Album «Do My Thing» verarbeitet Sury auch ihre vaterlose Kindheit. «Daddy’s Girl» widmet sie ihrem aus Indien stammenden Vater, den sie kaum kennt, obwohl er im Nachbardorf lebt.
Die migrantischen Wurzeln ihres Vaters blieben für Olivia unerschlossen, weil sie mit ihrer alleinerziehenden Schweizer Mutter in Dulliken aufwuchs. Sie lernte weder die Sprache, noch reiste sie je nach Indien. Erst vor kurzem begann sie einen Bezug zur indischen Kultur aufzubauen, als eine Halbschwester sie kontaktierte. «Es war eindrücklich zu sehen, wie grundverschieden wir aufgewachsen sind. Meine Halbschwestern sind völlig in der indischen Kultur verankert», erzählt Olivia. Das rühre daher, dass auch deren Mutter aus Indien stamme. Vom Gefühl dieser ersten Begegnung mit den beiden Halbschwestern singt sie im Lied «Flashback».
So wenig sie ihre Wurzeln begreifen konnte, so sehr waren sie doch irgendwo ein Teil von ihr, auch ihrem dunklen Timbre wegen. Mit ihrem Künstlernamen Sury – angelehnt an ihren zweiten Familiennamen Surinder – stellte sie einen Bezug her. Der Drang, sich mit der ihr unbekannt gebliebenen Familiengeschichte zu identifizieren, war immer da. «Um nach Indien zu reisen, fehlte mir bisher der Mut», sagt Olivia. Jetzt nähere sich der Punkt, an welchem sie sich bereit dazu fühle.
Auch dank der Musik. Sie hat Olivia seit dem Teenageralter begleitet. Als Mädchen hätte sie gerne Geige, Klavier oder Schlagzeug gespielt. «Wir waren nicht so reich und meine Mutter hatte ein Saxophon, also spielte ich eben dieses Instrument», erzählt sie. Durch eine Bekanntschaft am Greenfield-Festival im Berner Oberland fand sie erstmals eine Band. Sie sang Rock und Metal. Aber in sich trug sie auch die Soul-Stimme. Vor vier Jahren lancierte sie ihre Eigenständigkeit als Künstlerin Sury. «Ich habe mich weiterentwickelt und wollte meine eigene Chefin sein», sagt sie. Seit einer Weile schon begleitet Roger Peier (Gitarre) sie bei ihrem Projekt. Für die erste eigene Platte kamen Martin Stebler (Schlagzeug) und Jonas Lüscher (Bass) hinzu.
In ihrer neuen Identität als Sury nahm Olivia Bärtschi auch wieder das Saxophon der Mutter aus der Ecke hervor und baute es bei einigen Liedern des neuen Albums ein. Die Klänge des souligen Instruments könnten besser zu ihrer Stimme nicht passen. Und mit ein paar Jahren Distanz hat Sury auch Gefallen an ihrem Saxophon gefunden. Sie nimmt es auch jetzt wieder hervor, wenn sie neue Lieder komponiert.
Sury Live: Am Samstag, 23. April, präsentiert Sury ihr Debütalbum «Do My Thing» in der Vario Bar in Olten. Zwei Tage später ist sie am 25. April live am Kolt-Treffen zum Oltner Nachtleben im Terminus Club zu hören.
*Korrigendum: In einer ersten Version schrieben wir irrtümlicherweise, Amy Winehouse sei eine US-amerikanische Sängerin gewesen. Wir entschuldigen uns für diesen Fehler.
Seit ich 20 Jahre alt bin, lebe ich in Trimbach. Wann immer es die Arbeit zulässt, gehe ich mit meiner Arbeitskollegin und ihrem Sohn Finley spazieren. Er ist fast wie ein Enkel für mich. Bei diesem tollen Frühlingswetter heute gab es die erste Glace an der Aare – Pistazie.
Video-Kolumnist, Baywatch-Kenner und Flussflüsterer Kilian Ziegler findet darum, man müsse ihr unbedingt Tribut zollen und sie weiter aufwerten! Aber wie? Renaturieren ist das Zauberwort: Bäume am Ufer pflanzen, kleine Nilpferde ansiedeln (also Nilponys) sowie Kurven, Kreuzungen und Loopings einbauen. Danach wird es keine Zweifel mehr geben, dass die Dünnern in der gleichen weltmeisterlichen Liga mitfliesst wie der Nil, die Donau und der Trimbacher Dorfbach.
Bahn und Brache. Mittendrin die Wand. Graffitis auf türkisfarbenem Hintergrund. Eine Zäsur in der Landschaft, komponiert aus dem urbanen Nichts und dem noch wintergefärbten Jurahügel dahinter. Als wolle es die beiden Räume verbinden, ragt das Silo in den milchigen Himmel empor.
«Wir wollen Farbe an Orte bringen, wo sie überrascht», wird Sorbe hinterher sagen. Schwarze Sonnenbrille mit dunkeln Gläsern, schwarze Jacke und blaue Jeans, die in den schwarzen Socken verschwinden. Als wolle er explizit unscheinbar wirken, neben der Kunst. Mit unaufgeregten Schritten läuft er über die Brache hinter dem Hammerbahnhof und begutachtet das Kunstwerk vom Vortag.
Spieler & Sater, Jose, Stanco, Seife und eben er – Sorbe – haben den Sonntag an der Stationsstrasse zugebracht. Sich an der langen Wand sprayend ein künstlerisches Denkmal gesetzt. Es wird vergänglich sein – die Graffiti-Kunst sei kaum je für die Ewigkeit, erklärt mir Sorbe unter der Aprilsonne.
Er wird für uns Sorbe bleiben und seinen wahren Namen nicht preisgeben. Der in Olten heimisch gewordene Aargauer erklärt, warum er seine Identität nicht offenlegt: «Ich möchte in der Rolle als Künstler ausschliesslich mein Werk für sich sprechen lassen.»
Güterzüge rollen vorbei, kaum ein Wagen ist nicht mit Graffitis versehen. Wie ein Filmband ziehen sie an der Graffiti-Wand im Hammer vorüber und komplettieren das Panorama. Ein Bild, das aber auch für den Kontrast innerhalb der Graffiti-Kunst steht. Dort die illegal besprayten Zugwaggons. Hier die legal besprayte Wand. In der Gesellschaft dominiert das Stigma. Auch weil die Illegalität die Wurzel der Kunstform ist. Sorbe möchte das negative Bild aufbrechen und mit seiner Arbeit den Aspekt des legalen Graffitis zeigen.
«Ich wünsche mir, die Graffitis aus den düsteren Ecken der Städte an sichtbare Orte zu bringen. So können wir Menschen auf verschiedenen Wegen erreichen und sie für unsere Kunst sensibilisieren», sagt er.
An der Stationsstrasse hat er das ganze Prozedere für maximale Transparenz durchlaufen. 2020 ging er auf den Eigentümer der industriell genutzten Liegenschaft zu. Dieser war von Beginn weg offen und gab seinen Bau für das Projekt frei. Sorbe setzte sogar eine schriftliche Einigung auf. Jedes Mal, wenn er mit Künstlerinnen an die Wand geht, informiert er vorher die Polizei. Wie sensibel die Thematik ist, zeigt eine Episode aus vergangenem Jahr: Während er mit Künstlerkollegen Graffitis sprayte, fuhren plötzlich sechs Polizeiwagen vor. Jemand hatte die Polizei gerufen und dort kam es wohl zu einer Kommunikationspanne. Doch die Situation war bald geklärt.
Zum dritten Mal hat Sorbe nun schon mit Künstlerkollegen die Wand an der Stationsstrasse neu besprayt. Die neuen Kunstwerke sollen ein halbes Jahr bestehen bleiben. Diesmal kamen die Graffiti-Sprayer aus den Regionen Basel, Bern, Zürich und Olten. «Der Spot ist besonders attraktiv, weil er direkt an der Bahn wie eine Leinwand wirkt», sagt Sorbe. Er möchte an diesem Ort mehr Akzeptanz für seine Kunst gewinnen. Er sieht sie als Teil des Dialogs mit der Landschaft, der Architektur. «Mein Antrieb ist die idealistische Idee, den öffentlichen Raum mitzugestalten.»
Mit ihren ganz eigenen Stilen haben sie an der Stationsstrasse die Buchstaben ihres Künstlernamens an die Wand gebracht. Manche ganz ohne Skizze. Sorbe führt der Wand entlang und entziffert mit geübtem Auge die in Figuren und Formen verpackten Buchstaben. Von ganz nah verliert sich der Laie komplett im Detail. Der Oltner erzählt, wie er an der Wand Gefallen am Buchstaben Z fand – und so wandelte er seinen Künstlernamen, zunächst an der Wand, vor einiger Zeit zu Zorbe um. Jedes Mal, wenn er Z-O-R-B-E an die Wand malt, sucht er von Neuem nach Harmonie in Farben und Formen.
Zusammen verschmelzen sie zu einem farbgewaltigen Spiel. Zwischen Bahn und Brache.
Stadttauben sind vielen Stadtmenschen ein Gräuel. Tauben sind gruusig, sagen sie. Tauben koten überall, sagen sie. Tauben verbreiten Krankheiten, sagen sie. Wenig schmeichelhaft werden sie die Ratten der Lüfte genannt. Doch eigentlich tun wir den oft mausgrauen Vögeln unrecht. Denn Stadttauben sind keine Wildtiere, sondern alleingelassene Haustiere.
Vor langer Zeit haben die Menschen Felstauben domestiziert. Für ihr Fleisch, für ihren Orientierungssinn, für ihren Kot. Als Dünger genutzt, war Taubenkot ein wertvolles Gut. Dank ihres Orientierungssinns konnten sie als Brieftauben eingesetzt werden. Der Mensch wollte damals noch möglichst viele Tauben auf engem Raum und züchtete sie entsprechend. Stadttauben sind deshalb sehr fruchtbar und ohne Dominanzverhalten.
Im Laufe der Zeit waren die Tauben nicht mehr nützlich und wurden sich selbst überlassen. Sie blieben den Städten treu, denn hier fanden sie Futter, Nistplätze und konnten bei den Menschen sein.
Doch diese Verwilderung hat mehrere Haken. Tauben, um die sich niemand kümmert, sind unterernährt, immungeschwächt und leben unter unhygienischen Bedingungen. In den Städten picken sie, was sie finden, und das ist nicht unbedingt das, was ihnen gut bekommt. Es führt zum Hungerkot, der flüssig ist und den öffentlichen Raum verschmutzt. Der Kot von gut genährten Tauben aber ist fest und klein.
In den Städten gibt es immer wieder grosse Ansammlungen von Tauben. Nämlich dort, wo sie nisten können. Ohne Dominanzverhalten wird es an diesen Orten immer enger und dreckiger. Die Tiere werden krank. Unkontrolliert vermehren sie sich rasend schnell, auch wenn sie unterernährt sind.
Ein Taubenpaar hat nicht selten bis zu zehn Taubenbabys pro Jahr. So wächst die Population stetig. Im Jahr 2006 lebten in Olten über 4’000 Tauben. Immer wieder hat die Stadt versucht, das Problem in den Griff zu kriegen. Doch Tötungsaktionen und Verhütungspillen für die Tauben blieben ohne Erfolg und waren aus tierrechtlicher Sicht problematisch.
Also initiierte die Stadt Olten 2007 eine Kampagne zur Aufklärung und Sensibilisierung der Bevölkerung und richtete zwei öffentliche Taubenschläge ein. Durch die gezielte Betreuung konnte die Taubenpopulation in kürzester Zeit kontrolliert werden und zählt mittlerweile rund 300 Tiere. Die Stadt ist zufrieden mit der Entwicklung. Reklamationen gäbe es nur noch wenige, sagt sie auf Anfrage. Die riesigen Schwärme sind verschwunden und die Tauben in Olten sind gesund und glücklich.
Rund die Hälfte der Population findet ein Zuhause in den zwei betreuten Taubenschlägen im Bifang- und Hübeli-Schulhaus und ist somit in den Händen des Taubenwarts Giuseppe Graziano. Seit 60 Jahren kümmert er sich leidenschaftlich um Tauben.
«Tauben haben mich schon immer fasziniert», sagt er. «Als kleiner Junge hatte ich meine ersten Tauben. Ich habe sie immer wieder freigelassen und versucht, vor ihnen zu Hause zu sein. Sie waren jedes Mal schneller.»
Der Oltner Taubenwart bringt ungeheuer viel Erfahrung mit. Im Taubenschlag im Dachstock des Hübeli-Schulhauses ist es geräumig, ordentlich und sauber. Bei seinen regelmässigen Besuchen versorgt er die Tiere mit Wasser und artgerechtem Futter. Rund 80 Prozent ihres Kotes scheiden sie im Taubenschlag aus, der regelmässig gereinigt wird. So bleibt die Stadt sauber.
In einer Ecke stehen die Tauben und schauen uns etwas scheu, aber interessiert an. «Tauben sind gesellige und gwundrige Tiere», sagt Giuseppe Graziano. In den kleinen Brutschalen liegen sorgfältig drapierte Zweige. Ab und zu begegnet man verschreckten Augen von Taubenbabys. Es sind immer zwei. Der Oltner Taubenwart tauscht viele der Eier mit Gipsattrappen aus. Dadurch kann er genau kontrollieren, wie viele Tauben pro Jahr schlüpfen, und hat die Population im Griff.
Ab und zu brauchen die Taubenpaare aber eine erfolgreiche Brut. «Sie realisieren sonst, dass etwas nicht stimmen kann, und suchen sich einen neuen Nistplatz», sagt Giuseppe Graziano. Dies gilt es zu verhindern, damit er sich um sie kümmern kann.
Tauben bleiben ihrem Nistplatz in der Regel ein Leben lang treu und auch ihr erwachsener Nachwuchs kehrt für die Brut zurück. Neben Nistplätzen finden sie hier auch einen Ruheort. Auf den an die Wand geschraubten Dreiecken schlafen sie. Dank dieser Konstruktion bleiben sie von fallendem Kot verschont.
Der Taubenschlag ist ihr Zuhause mit Giuseppe Graziano als Taubenvater. Dank seiner Erfahrung erkennt er, wenn eine Taube krank ist. Nicht selten nimmt er sie bei sich zu Hause auf und pflegt sie, bis sie genesen ist. Im vergangenen Winter grassierte die Vogelgrippe. Seine Schützlinge sind alle geimpft.
Weniger, dafür gesunde Tauben war und ist die Devise der Stadt Olten. Es scheint zu funktionieren und dies nicht nur zum Vorteil der Menschen, sondern vor allem zum Vorteil der Tiere.
Den Stadttauben gefällt es in Olten, weil sie ein Zuhause haben und weil sie gesund und munter sind.
*Livia Stalder hat früher in Olten Ballett getanzt und ihr erstes Geld – äs Füfzger-Nötli – als Journalistin bei Kolt verdient. Heute tanzt sie in Zürich zu Techno, kommuniziert für eine NGO in Bern und schreibt Kolumnen für Kolt.
Das Einmaleins der wissenschaftlichen Arbeit lernen die Kantischüler alljährlich bei der Maturaarbeit. Sie ist wortwörtlich genommen sowas wie die Reifeprüfung. Maturi und Maturae, die gereiften Menschen, wie mein Klassenlehrer uns gerne mantraartig aus dem Lateinischen übersetzte. (Vermutlich erhoffte er sich dadurch besseres Benehmen.)
Dann kam er, dieser Tag, an dem man ein erstes Mal dachte, so fühle sich Erwachsensein an. Im März bei den Präsentationen der Maturaarbeiten. Vor Familie und wildfremden Menschen stehen die Schülerinnen hin und erzählen, womit sie sich im letzten halben Jahr eingehend beschäftigt haben. Wie sie einer Frage nachgingen. Zittrige, schweissfeuchte Hände, mal eine kratzende Stimme. Nach zwanzig Minuten ist der Adrenalinschub vorüber. Ein Schritt raus in die weite Welt getan, denkt man sich.
Auch wenn das Bild sich im Zeitspiegel verändern mag: Was fürs Leben bleibt, ist das Thema dieser einen Arbeit, die du als junger Mensch geschrieben hattest. Es bleibt eingebrannt, wie bei den Jungs die Rekrutenschule. Noch Jahre danach erzählt man von der Maturaarbeit. «Damals …», und so.
Wir haben dieses Jahr das Programmbüechli durchforstet. Die Übersicht gibt jedes Jahr aufs Neue ein Panorama, was die Kanti-Generation so umtreibt. Als Lokalmedium richten wir unseren Fokus auf Arbeiten zu regionalen Themen.
Die Palette ist breit. Die Idee für die erste wissenschaftliche Antwortsuche liegt oft vor der eigenen Nase:
Die helle Nacht
Denis Dietschi beschäftigte sich mit den Lichtemissionen seiner Wohngemeinde Neuendorf. Er liess die Drohne steigen, fotografierte das Gäuer Dorf bei Nacht und fragte sich, wie sich das Licht auf Menschen, Tiere und Natur auswirkt. Nach vielen Stunden im Feld mit Luxmeter, vor Fachliteratur zur Lichttemperatur und allem, was zu den Lichtemissionen und den Unwegsamkeiten einer Recherche dazugehört, schreibt der Maturus:
«Die Emissionen sind über ganz Neuendorf hinweg gesehen sehr konstant geblieben. Es gilt aber zu erwähnen, dass Neuendorf eine der schlechtesten Entwicklungen im Gäu durchgemacht hat. Ursache dafür ist die Industrie, da dort die Lichtemissionen zugenommen haben. Dafür verantwortlich ist hauptsächlich das Wachstum der Logistik-Branche.»
Leben im Quartier
Einen anderen Ansatz wählte Moira Künzli, die mit ihrer Arbeit eine gesellschaftliche Wirkung erzielen wollte. Dahinter stand die konkrete Projektidee, die Menschen in ihrem Oltner Wohnquartier Schöngrund mit einem Anschlagkasten zu vernetzen. Einen Ort des schriftlichen Austauschs zu ermöglichen. Die Kantischülerin führte das Projekt vom Konzept über die Schreinerarbeit bis zur Umsetzung selbständig durch. Sie versteht ihre Arbeit als Kontrapunkt zur gesellschaftlichen Entwicklung: Sie wolle «in einer Welt, in welcher alles digitalisiert wird, noch einen analogen Anschlagkasten bauen, damit alle Personen Zugang dazu haben.»
Benziner, Diesel, Hybride – und irgendwann Elektroautos
Die Arbeit von Marc Kempter lautete «Die Personenwagenflotte im Gäu und ihre zukünftige Entwicklung». In seinem Vorwort beschreibt der Kantischüler seine Faszination für die motorisierte Mobilität und wie sie das Leben im Gäu prägt: In diesem Bezirk fallen 14’293 immatrikulierte Personenwagen auf 22’136 Einwohner.
Marc Kempter zeigt in seiner Arbeit auf, wie die CO2-Emissionen im gesamtschweizerischen Kontext zu bewerten sind. «In Anbetracht des inländischen Gesamtausstosses von über 37 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenz macht der Strassenverkehr somit stolze 40 % aus.»
Kempter analysiert die Zunahme an Automobilen im Gäu zwischen 2010 und 2020. In diesem Zeitraum steigerte sich die Zahl der Personenwagen um 27 Prozent, was mit dem Bevölkerungswachstum korreliere, so der Kantischüler. Er zeigt anhand der statistischen Daten, dass aber bei dieser Zunahme nur eine moderate Verlagerung hin zu alternativ angetriebenen Hybrid- und insbesondere Elektroautos geschah. Von Letzteren war im Jahr 2010 erst ein einziges registriert – innerhalb von zehn Jahren stieg die Zahl auf deren 105 an. Anhand verschiedener Daten modelliert er in seiner Arbeit, wie sich die Personenwagenflotte nach Antriebsart bis 2030 entwickeln könnte. Und kommt zum Schluss:
«Ergebnis der Untersuchung ist, dass im Jahr 2030 immer noch 84 % der im Gäu immatrikulierten Personenwagen fossilbetrieben sein werden. Mit 16 % Anteil stellen alternativ angetriebene Personenwagen keine Nischenrolle mehr dar. Jedoch werden sich Wasserstoffautos nicht durchsetzen und über zwei Drittel der alternativ angetriebenen Personenwagen werden Hybride sein. Diese verbrennen fossile Primärenergieträger. So werden 2030 also gerade Mal 5 % der im Gäu immatrikulierten Personenwagen unabhängig von fossiler Energie betrieben. Dies unterbietet die politischen Ziele klar. In der Politik bietet sich nun die Möglichkeit, die Verkehrsstrategie von Grund auf zu revidieren. Oder möchte sie es mit ihrem halbherzigen Engagement bewusst auf dieses Resultat herauslaufen lassen?»
Marc Kempter bilanziert, dass der Kanton sich in der Verkehrspolitik nur halbherzig engagiert. Er verwies den Schüler nach Anfrage auf die nationale Strategie in dieser Angelegenheit und verlässt sich gemäss Kempter auf den Markt, auf welchem sich die Elektromobilität durchsetzen werde. Der Maturus bringt die Arbeit mit einer kritischen Einschätzung auf den Punkt:
«Für die Politik stellt sich die Grundsatzfrage, ob eine umfängliche Elektrifizierung der Fahrzeugflotte überhaupt umsetzbar ist. Falls dieses Ziel weiterhin verfolgt werden will, müssen eine ehrgeizigere Strategie und effektivere Massnahmen entwickelt werden. Falls nicht, muss man sich überlegen, inwiefern die Treibhausgasemissionen des Verkehrssektors trotzdem zu reduzieren sind und in welchen Bereichen man sie kompensieren kann.»
Der aussterbende Fluss
Auch Cyril Senn hat sich in seiner Arbeit mit dem Gäu auseinandergesetzt. Konkret mit dem Gewässer, das den Bezirk durchfliesst: der Dünnern. Vom Thal gelangt sie durch das Gäu nach Olten, wo sie in die Aare mündet. In einer chemischen Arbeit untersuchte Senn die Mikroverunreinigungen und deren Einfluss auf die Fischpopulation. Der leidenschaftliche Fischer schreibt in seiner Arbeit:
«Diese Untersuchung hat gezeigt, dass trotz weitreichenden Innovationen und anerkannten Problemen durch die Mikroverunreinigung in Gewässern der Gewässerschutz unzureichend ist und die Artenvielfalt dadurch zunehmend beeinträchtigt wird.»
Vom Nitrit, Chlorid über das Nitrat zum Phosphat schlüsselt Cyril Senn auf, welchen Einfluss die Ionenverbindungen auf das Gewässersystem haben und welche Quellen die Verunreinigungen im Fluss verursachen. Er entnahm Wasserproben an sechs Standorten entlang der Dünnern und konnte so die Werte am Flusslauf vergleichen. Anhand der erhobenen Daten schliesst Cyril Senn wie folgt:
«Der zentrale Aspekt dieser Arbeit ist für mich, dass einerseits der Ertrag an Mikroverunreinigung in die Gewässer gesenkt werden muss und andererseits ein zunehmender Gewässerschutz notwendig ist, um die chemische Wasserqualität zu verbessern.»
Nur so sei es möglich, die bestehenden Lebensgemeinschaften zu schützen und aufrechtzuerhalten.
Abruptes Ende? Erzähl uns unten in den Kommentaren deine Maturaarbeit-Geschichte.
Dieses Nachrichtenbriefing wurde uns von der Republik zur Verfügung gestellt.Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur.
Krieg in der Ukraine: Die neusten Entwicklungen
Das Kriegsgeschehen: Nachdem die russischen Truppen die Vororte von Kiew verlassen hatten, offenbarten sich dort diese Woche entsetzliche Zustände. Bilder aus der Stadt Butscha zeigen Strassen, gesäumt von getöteten und teils gefesselten Männern. Augenzeugen berichten von Erschiessungen durch russische Soldaten. Gemäss Satellitenbildern sollen die Toten zum Teil schon seit Wochen in den Strassen liegen. Die Aufnahmen und auch Fotos zeigen zudem Massengräber, Hunderte Zivilistinnen sollen durch russische Soldaten getötet worden sein, ganze Strassenzüge wurden zerstört. Ähnliche Bilder gibt es aus weiteren Vororten Kiews, etwa Hostomel oder Borodjanka. Amnesty International liegen nach eigenen Angaben zahlreiche Beweise für Kriegsverbrechen in der Region vor.
Noch immer durch die Russen belagert wird Mariupol im Süden der Ukraine. Mehrere tausend Menschen konnten diese Woche aus der schwer getroffenen Stadt fliehen. Gross angelegte Evakuierungen sind jedoch mehrfach gescheitert, Fluchtkonvois mussten umkehren. Die Lage für die über 100’000 vor Ort verbleibenden Menschen ist katastrophal, über 5000 Menschen sind laut dem Bürgermeister bisher im Krieg gestorben.
Russland führt nach wie vor in weiten Teilen der Ukraine Luftangriffe durch, besonders der Osten und Süden des Landes stehen unter Beschuss. Wegen einer drohenden russischen Grossoffensive hat Kiew die Bewohner von Charkiw, Luhansk und Donezk aufgefordert, ihre Heimat zu verlassen – «solange es noch möglich ist», wie Vizeregierungschefin Irina Wereschtschuk auf dem Nachrichtendienst Telegram schrieb. Den Behörden werde es bei einem Grossangriff nicht möglich sein, den Zivilisten zu helfen.
Die Reaktionen: Bei einem Besuch in Butscha bezeichnete der ukrainische Staatspräsident Wolodimir Selenski die Gräueltaten als «Genozid», der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki wählte dieselben Worte. Andere westliche Staaten, wie die USA oder Deutschland, sprechen ausschliesslich von Kriegsverbrechen. Über die korrekten Begrifflichkeiten sind diese Woche heftige Debatten ausgebrochen. In Moskau hingegen will man von all dem nichts wissen: Wie bereits nach dem russischen Angriff auf die Geburtsklinik in Mariupol spricht Aussenminister Sergei Lawrow von einer «inszenierten antirussischen Provokation». Die Toten seien erst nach Abzug der russischen Truppen in den Strassen platziert worden. Satellitenaufnahmen widerlegen diese Behauptung.
Der Westen reagierte nicht nur mit Worten auf die Gräueltaten in Butscha. Die USA haben zwei russische Grossbanken (darunter die grösste russische Bank Sberbank) sowie weitere Personen mit Nähe zum Kreml (unter anderem die erwachsenen Töchter von Russlands Präsident Putin) auf die Sanktionsliste gesetzt. US-Bürgern ist es zudem verboten, in Russland zu investieren. Grossbritannien hat ähnliche Schritte angekündigt.
US-Präsident Joe Biden hat Wladimir Putin diese Woche erneut als «Kriegsverbrecher» bezeichnet. Die USA sammelten zurzeit Beweise, um Putin vor Gericht zu bringen. Es sei «offensichtlich», dass die russischen Truppen für die Ermordungen in Butscha verantwortlich seien, meldete das Pentagon.
Bei einem Treffen der Nato fokussierte der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba derweil auf die «drei wichtigsten Punkte», wie er sagte: «Waffen, Waffen, Waffen». Die britische Aussenministerin Liz Truss hat am Nato-Treffen zusätzliche Waffenlieferungen angekündigt, Tschechien soll gemäss Medienberichten bereits mehrere Kampfpanzer an die Ukraine geschickt haben. Auch die USA wollen ihre Militärhilfe um weitere 100 Millionen US-Dollar aufstocken.
Bei einem Treffen der Aussenminister habe sich die Nato geeinigt, ihre Unterstützung für die Ukraine auszubauen, militärisch, aber auch humanitär und finanziell, wie Generalsekretär Jens Stoltenberg an einer anschliessenden Pressekonferenz verkündete. Welche konkreten Waffen das Bündnis an Kiew liefern wolle und in welchem Umfang, liess Stoltenberg offen.
Auch die 27 EU-Staaten haben am Donnerstagabend als Folge der Verbrechen rund um Kiew ein fünftes grosses Massnahmenpaket beschlossen. Importe von Kohle, Holz und Wodka aus Russland sollen demnach gestoppt werden, zudem werden bestehende Sanktionen verschärft. Die Sanktionen sollen am Freitag das nötige schriftliche Verfahren – eine Formalie – durchlaufen, womit sie in Kraft treten können.
Bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen votierte eine Mehrheit der Mitglieder für die Suspendierung der russischen Mitgliedschaft im Menschenrechtsrat. Der Entscheid hat sowohl symbolischen als auch praktischen Wert: Russland bleibt zwar offiziell im Menschenrechtsrat, ist in seinen Möglichkeiten jedoch stark eingeschränkt. Es ist die zweite solche Suspendierung durch die Vollversammlung seit jener von Libyen 2011.
Was als Nächstes geschehen könnte: Trotz den neusten Entwicklungen sollen die Friedensverhandlungen zwischen Kiew und Moskau fortgesetzt werden. Das stellte zumindest der türkische Aussenminister Mevlüt Çavuşoğlu am Rande des Nato-Treffens in Aussicht. Später kritisierte der russische Aussenminister Sergei Lawrow in einer Ansprache, Kiew sei von seinen Verhandlungspositionen abgewichen. Die russische Delegation würde dennoch mit den Verhandlungen fortfahren wollen.
Ungarn: Orbán gewinnt Parlamentswahl mit Rekordmehrheit
Darum geht es: Der rechtsnationale Ministerpräsident Viktor Orbán hat die ungarischen Wahlen am letzten Wochenende deutlich gewonnen. Seine Fidesz-Partei kam auf eine Rekordmehrheit von 53 Prozent der Stimmen und damit auf 135 der insgesamt 199 Parlamentssitze. Orbán kann damit erneut mit einer Zweidrittelmehrheit regieren, was ihm Verfassungsänderungen ermöglicht. Das Oppositionsbündnis aus dem linken, grünen, liberalen und rechten Spektrum «Ungarn in Einheit» schaffte es auf 35 Prozent der Stimmen und 56 Mandate. Neu zieht die rechtsradikale Partei «Unsere Heimat» mit sieben Mandaten ins Parlament ein. Noch in der Wahlnacht schoss Orbán rhetorisch in Richtung EU. Er sprach von einem «gewaltigen Sieg», den man «sogar vom Mond aus sieht, aber von Brüssel aus ganz gewiss».
Warum das wichtig ist: Orbán pflegt ein enges Verhältnis zum russischen Präsidenten Wladimir Putin. Während des Wahlkampfs betonte er, dass nur er «Ungarn aus dem Krieg heraushalten» könne. Kritiker werfen ihm vor, das Land autoritär umzubauen und Wahlreformen zugunsten seiner eigenen Partei umgesetzt zu haben. Die Opposition warnte schon vor der Abstimmung vor Wahlbetrug. Die meisten Medien stehen in Ungarn unter staatlicher Kontrolle. Das Land ist seit 2004 EU-Mitglied.
Bericht des Klimarats: Letzte Warnung vor weiterem Temperaturanstieg
Darum geht es: Diese Woche ist der dritte Teil des neuen Sachstandsberichts des Uno-Weltklimarates (IPCC) erschienen. Demnach waren die Kohlenstoffemissionen in den Jahren 2010 bis 2019 so hoch wie noch nie in der Geschichte der Menschheit. Der Bericht präsentiert erstmals detaillierte Rechnungen, die zeigen, welche Optionen wie sinnvoll sind für den Klimaschutz – aufgeschlüsselt nach Zeit, Kosten und Nutzen. Nötig sind laut den Autorinnen ein weltweiter Kohleausstieg, eine Reduzierung von Methan-Emissionen um ein Drittel sowie massive Anstrengungen zum Schutz von Wäldern und Erden. Alle Wirtschaftsbereiche weltweit müssten sich dramatisch und schnell verändern, um die Welt vor einem Desaster zu bewahren.
Warum das wichtig ist: Der Weltklimarat publiziert seit 1990 alle sechs Jahre einen solchen Sachstandsbericht. Die Schlussfolgerungen daraus werden immer dringlicher. Nach der jüngsten Veröffentlichung meldete sich UN-Generalsekretär António Guterres in einer Videobotschaft zu Wort. Darin sagt er, nicht zuletzt aufgrund der gebrochenen Versprechen der Regierungen sei man auf dem Weg in eine «unlivable world», eine Welt, in der man nicht mehr leben könne.
Was als Nächstes geschieht: Der Bericht und die darin zusammengefassten Ergebnisse Tausender Wissenschaftler gelten vielen als «letzte Warnung». Das 1,5-Grad-Ziel wäre noch einzuhalten, wenn die Emissionen von nun an steil sinken, was weltweite Klimaschutz-Anstrengungen erfordern würde (und selbst dann würde das Ziel noch kurzfristig überschritten). Jim Skea, einer der Autoren des Berichts und Professor am Londoner Imperial College, warnte, es heisse «jetzt oder nie».
Warum das wichtig ist: Seit anderthalb Jahren herrscht in der Region Tigray Krieg zwischen der äthiopischen Armee, regionalen Truppen und der Volksbefreiungsfront von Tigray. Laut Angaben der Vereinten Nationen wurden Tausende Menschen getötet und zwei Millionen Bewohner vertrieben. In Tigray und den Nachbarregionen Amhara und Afar leiden Millionen von Menschen an Hunger. Die Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch und Amnesty International berichten nun von systematischen ethnischen Säuberungen im Westen Tigrays. Vor allem Sicherheitskräfte aus der Region Amhara hätten – unter Billigung und möglicherweise auch unter Beteiligung der nationalen Streitkräfte – Hunderttausende von Zivilisten aus dem Westen Tigrays vertrieben. Der Bericht basiert auf mehreren hundert Interviews und dokumentiert Tötungen, Folter, sexualisierte Gewalt sowie Plünderungen und Blockaden mit dem Ziel, die Bevölkerung auszuhungern.
Was als Nächstes geschieht: Die äthiopische Zentralregierung bittet die internationalen Hilfsorganisationen um eine Verdoppelung der Beiträge zur Linderung der Not und betont ihren Willen zur Kooperation. Human Rights Watch und Amnesty International fordern, die Zentralregierung müsse jene Sicherheitskräfte entwaffnen und abziehen, welche für die Kriegsverbrechen verantwortlich seien. Zudem sollen alle Konfliktparteien der Stationierung einer internationalen Friedenstruppe unter Leitung der Afrikanischen Union in West-Tigray zustimmen.
Ausnahmezustand in Sri Lanka
Darum geht es: Im Inselstaat Sri Lanka sind nach anhaltenden Protesten sämtliche 26 Minister der Regierung zurückgetreten. Nur Präsident Gotabaya Rajapaksa und sein Bruder, Ministerpräsident Mahinda Rajapaksa, bleiben im Amt. Zuvor waren trotz Ausgangssperre Tausende Menschen auf die Strasse gegangen, um gegen Treibstoffengpässe, steigende Lebensmittelpreise und ständige Stromausfälle zu protestieren. Die Regierung hatte daraufhin den Ausnahmezustand verhängt, die Militärpräsenz massiv ausgebaut und vorübergehend soziale Netzwerke gesperrt.
Warum das wichtig ist: Sri Lanka, das 1948 seine Unabhängigkeit von den Briten erlangte, durchlebt die schlimmste Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Es zählt zu den höchstverschuldeten Ländern Asiens. Die wichtigste Einnahmequelle ist der Tourismus. Doch die Pandemie, ein Terroranschlag im Frühling 2019 mit über 300 Toten und eine Umweltkatastrophe als Folge eines Schiffsunglücks vor einem Jahr brachten den Tourismus zum Erliegen. Es fehlt seit Monaten an US-Dollars, um Treibstoff für die Stromerzeugung und den Verkehr sowie Gas, Lebensmittel und Medikamente zu importieren.
Was als Nächstes geschieht: Sri Lankas Auslandsschulden werden von Experten auf 55 Milliarden Dollar geschätzt. Die Hoffnung ruht nun auf Indien, China und dem Internationalen Währungsfonds. Sri Lanka hat um Hilfe bei der Beschaffung von Lebensmitteln und Treibstoff gebeten und um finanzielle Unterstützung ersucht. Für die Regierung hat Präsident Rajapaksa bereits einzelne neue Minister ernannt, Rücktrittsforderungen weist er zurück.
Zum Schluss: Süchtig nach der Impfe
Von Zentrum zu Zentrum sei er getingelt, immer auf der Suche nach dem Stoff. Dem Impfstoff. Unglaubliche 87 Mal liess sich ein 60-Jähriger in Deutschland mutmasslich gegen Covid-19 impfen. Bis zu drei Spritzen täglich hätten ihm die Impfzentren im Bundesland Sachsen seit vergangenem Sommer in den Arm gejagt, wie deutsche Medien diese Woche berichteten. Um den Infektionsschutz soll es dem impfwütigen Mann dabei nicht gegangen sein – sondern ums Geld. Die ausgefüllten Impfpässe soll er verkauft haben. Nun hat ihn die Polizei festgenommen und ermittelt unter anderem wegen unbefugten Ausstellens eines Impfausweises. Falls Sie sich fragen, was 87 Coronaimpfungen so mit einem anstellen: nicht viel. Dem Mann soll es gesundheitlich gut gehen, Schäden hat er keine zu befürchten. Vorteile, wie ein Mitglied der sächsischen Impfkommission festhielt, übrigens auch nicht.
Was sonst noch wichtig war
Die Corona-Lage: Mit der Aufhebung der letzten Pandemie-Massnahmen vor einer Woche meldet das Bundesamt für Gesundheit die Corona-Zahlen nur noch einmal wöchentlich, jeweils am Dienstag. Gemäss der neuesten Erhebung beruhigt sich das Infektionsgeschehen in der Schweiz weiter. Auch die Hospitalisierungen sind vergangene Woche stark gesunken. Auffällig: Die Menschen in der Schweiz testen sich inzwischen so selten wie zuletzt im Oktober 2021. Die Positivitätsrate, die eine Einschätzung von unentdeckten Infektionen erlaubt, bleibt relativ stabil. Wie sich die Aufhebung von Isolation und Maskenpflicht darauf niederschlägt, wird sich in den kommenden Wochen zeigen.
Deutschland: Am Mittwoch wurden in elf Bundesländern Razzien bei militanten Neo-Nazis durchgeführt. Es gab vier Verhaftungen. Der Einsatz gilt als grösster Schlag gegen Rechtsextreme in den letzten Jahren.
Schweden: Eine neue Studie zieht ein vernichtendes Fazit zur schwedischen Corona-Politik im ersten Pandemiejahr. Die Verantwortlichen hätten eine «moralisch, ethisch und wissenschaftlich fragwürdige Laissez-faire-Haltung» gezeigt.
Türkei:Ein Gericht hat verfügt, den Prozess gegen 26 Männer, denen eine Verwicklung in die Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi vorgeworfen wird, nach Saudiarabien zu verlegen. Weil dort kein Interesse an einer Klärung des Falles besteht, dürfte das Verfahren versanden.
Israel: Weil eine Parlamentarierin der Partei von Premier Naftali Bennett zurückgetreten ist, verfügt die Regierungskoalition über keine Mehrheit mehr. Nun liebäugelt Ex-Premier Benjamin Netanyahu offen mit einer Rückkehr an die Macht.
Twitter: Der Chef des Elektrofahrzeugbauers Tesla, Elon Musk, hat über 73 Millionen Twitter-Aktien gekauft. Er hält damit 9,2 Prozent am Unternehmen. Seit dem Kauf Mitte März hat die Aktie massiv zugelegt.
Frontex: Der Haushaltsausschuss des EU-Parlaments beantragt, die Rechnung der europäischen Grenzschutzagentur für das Jahr 2020 nicht zu genehmigen. Grund dafür sind massive Vorwürfe der EU-Antibetrugsbehörde gegen Frontex, unter anderem wegen der illegalen Zurückdrängung von Migranten. Die Schweiz stimmt Mitte Mai darüber ab, ob sie Frontex künftig mehr Geld und Personal zur Verfügung stellt.
Die Top-Storys
Wo wir im Jahr 2100 noch leben können Sie haben es oben, mal wieder, gelesen: Die Klimakrise verlangt nach sofortigen, strengeren Massnahmen, wenn wir ihr noch effektiv entgegenwirken wollen. Was uns ansonsten droht, zeigt eine interaktive Geschichte der «Berliner Morgenpost». Basierend auf wissenschaftlichen Studien und Modellen lässt sich anhand eines beweglichen Globus erkunden, wo die Erde im Jahr 2100 unbewohnbar sein könnte.
Die Geschichte der Menschenzoos Eingesperrt wie Tiere wurden bis 1940 in Zoos in den USA, Japan und Europa (mitunter auch in der Schweiz) Indigene für Besucherinnen und Forscher zur Schau gestellt. Eine Arte-Dokumentation arbeitet 130 Jahre einer grausamen, rassistischen Praxis auf, mit der Kolonialmächte ihre Feldzüge zu rechtfertigen versuchten und dabei ganze Völker auslöschten.
Plötzlich polyglott Vaughn Smith ist Teppichreiniger in Washington. Davor war er mal Türsteher, mal Kombucha-Lieferant, nach der Highschool war Schluss mit Schule. Was seine Kunden nicht wissen: Vaughn Smith spricht ganze 24 Sprachen. Die «Washington Post» hat einen Mann begleitet, der kann, was nur die wenigsten können, und dem das Leben trotzdem nichts geschenkt hat.
Seit ich 2016 in Brüssel als Journalist angekommen bin, ging es Schlag auf Schlag. Zuerst die Terroranschläge. Dann Brexit. Dann die Wahl von Donald Trump und der allgemeine Aufstieg der Populisten. 2019 kamen Europawahlen. 2020 ging es nahtlos weiter mit Corona. Und natürlich lief im Hintergrund stets die schwierige Beziehungskiste Schweiz-EU.
Da kommt man sich manchmal schon vor wie ein Nachrichten-Durchlauferhitzer und gezieltes Abschalten vom News-Business ist umso wichtiger. Gerade jetzt wieder, wo sich seit über einem Monat alles um den fürchterlichen Krieg in der Ukraine dreht.
Leider kann man in der Millionenstadt nicht kurz mal auf die Höhen des Jurasüdfusses ausweichen oder einen lauen Tag an der alten Aare in Winznau verbringen. Jedes Mal die eineinhalbstündige Zugfahrt ans Meer in Angriff nehmen mag ich auch nicht. Zur Entspannung und um etwas Luft zu schnappen, gehe ich deshalb gerne in einen der zahlreichen Brüsseler Parks.
Wenns um den Lieblingspark geht, hat jeder seine Favoriten. Es gibt viele nette, kleinere Parks, wie der geheimnisvoll-verschlungene «Parc Tenbosch» im schicken Viertel Châtelain. Es gibt den grossen Königspark in Laeken, wo auch die königlichen Gewächshäuser stehen, die einmal im Jahr besichtigt werden können, oder den beliebten «Bois de la Cambre», eine ausgedehnte Parkanlage mit künstlichen Teichen im Süden Brüssels, die sich an die Überreste des ehemaligen «Kohlewalds» anschliesst, eines sich vom Rhein bis zur Nordsee erstreckenden Urwalds zu Zeiten der Römer.
Mein persönlicher Lieblingspark aber ist der «Parc Cinquantenaire». Er ist gleich bei mir um die Ecke und zu Fuss in ein paar Minuten erreichbar. Er wurde von König Leopold II. zum 50. Jahrestag der Staatsgründung 1880 angelegt. Mit dem Blutgeld aus dem Kongo, wo Leopold ein menschenverachtendes Kolonialregime betrieb, liess der bärtige Regent mehrere repräsentative Bauten auf dem Gelände erstellen.
Das Herzstück bildet der monumentale Triumphbogen, ähnlich dem Brandenburger Tor. An ihn angeschlossen sind das Armeemuseum, das Automuseum und das königliche Museum für Kunst und Geschichte. Unter den Arkaden tanzen die Brüsselerinnen am Abend Tango, während sich ein Steinwurf entfernt Spione mit ihren Informantinnen treffen (kein Witz!) und daneben alte Männer Pétanque spielen.
Im Cinquantenaire kann man aber auch verschiedene kleine Perlen entdecken. Wie etwa den «Tempel der menschlichen Leidenschaften» des damals noch unbekannten Art-Nouveau-Architekten Victor Horta. Er befindet sich gleich neben der ersten Moschee Belgiens (eine Geschichte für sich) und heisst so wegen des gleichnamigen Marmorreliefs des belgischen Bildhauers Jef Lambeaux in seinem Innern.
Mit dem Pavillon ist eine kontroverse Geschichte verbunden, die bereits mit seinem Bau begann. Eigentlich wollte Horta den Tempel ganz nach Vorbild eines griechischen Säulentempels offen halten. Allerdings geriet er schon bald in Streit mit dem Künstler und auch die Öffentlichkeit wehrte sich gegen eine freie Sicht auf das Relief, da es ziemlich explizite Darstellungen zeigt.
Konkret: Eine wüste Orgie von nackten, ineinander verschlungenen Männern und Frauen, dazu Szenen einer Vergewaltigung, Selbstmord und Krieg. Über allem thront der personifizierte Tod flankiert vom gekreuzigten Jesus. Zu viel für die katholisch-konservative belgische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und erst recht zu viel für das Königreich Saudi-Arabien, dem der damalige König der Belgier, Roi Baudouin, den Pavillon Ende der 60er Jahre als Leihgabe überliess. Bestrebungen der Saudis, das Relief zu entfernen, scheiterten. Aber auch nachdem Belgien den Tempel wieder zurückgenommen hatte, blieb er geschlossen und ist bis heute höchstens ein paar Mal im Jahr der Öffentlichkeit zugänglich. Der offizielle Grund für die Schliessung lautet Schutz vor Vandalismus.
Wobei: Dass der Tempel überhaupt nicht zugänglich wäre, stimmt so nicht ganz. Wer nämlich genau hinschaut, entdeckt in den hohen Eingangspforten ein kleines, vergittertes Guckloch, durch welches man ins Innere des Tempels spienzlen und einen Blick auf das Relief werfen kann. Wenn man sich also auf die Parkbank gegenüber setzt und etwas wartet, sieht man in regelmässigen Abständen Menschen vorbeikommen, wie sie sich verstohlen der Türe nähern und mit gebücktem Rücken und mit zugekniffenen Augen die verbotene Szenerie über die menschliche Sündhaftigkeit betrachten. Irgendwie passt das meiner Meinung nach ganz gut zum Gegenstand des Gezeigten. Es wäre schade, würde man daran etwas ändern.
*Remo Hess (36) lebt und arbeitet seit 2016 als Journalist und EU-Korrespondent in Brüssel.
Irgendwann in einer Nacht müssen sie gekommen sein, die neusten Bewohner von Rohr. Ein 100-Seelen-Dorf, das eben erst mit dem grossen Nachbarn Stüsslingen fusionierte. Kleiner Dorfkern mit historischer Kapelle in altem Steingemäuer. Die Bauernhöfe liegen zerstreut an den steilen Jurahängen, die einen Trichter bilden. Einzig der Dorfbach und die Strasse weisen den Weg hinaus und schlängeln sich durch die schmale Klus. Ängi nennen sie die Menschen von hier.
Trotz stotzigen Strässchen vom einen ans andere Eck des Dorfes wissen die Bauern immer ungefähr Bescheid, was beim andern gerade ansteht. Im November muss es gewesen sein. Ein Video ging im Dorf um. Bei Landwirt Gysi watschelte ein Biber über den Hausplatz. Im Dorf erzählen sich die Leute, er sei schon im September erstmals bemerkt worden. Wann genau der Biber kam, bleibt sein Geheimnis.
«Das zeigt, dass etliche Biber völlig unbemerkt ihr Revier aufbauen. Ohne dass Konflikte entstehen», sagt Katrin Schäfer*. Ein Märztag, der sich wie ein Maitag anfühlt. Nach sonnenlosen Wintermonaten schaffen es die wärmenden Strahlen wieder über die schroffen Hügel bis auf den Dorfkern hinab. Die Leiterin der kantonalen Biberfachstelle steht an der überdimensional gross scheinenden Bushaltestelle. Ihr zurückhaltendes Lächeln beim Gruss sagt so viel wie: Mit Ihnen hab ich also zwei Monate lang über den Biberbesuch verhandelt.
Katrin Schäfer ist beim Kanton sowas wie die Anwältin des geschützten Tieres. In ihrer Position vermittelt sie zwischen Schutz- und Nutzungsinteressen. Entsprechend wählt sie ihre Worte mit Bedacht, wenn sie mit den Medien spricht. Als ich im Januar eine erste Anfrage an den Kanton schicke, bittet die Biberfachfrau, mit einer Reportage zuzuwarten. Alle betroffenen Parteien müssten zuerst informiert sein, bevor die Öffentlichkeit davon erfährt. Erstmals höre ich das geflügelte Wort «Konfliktpotenzial» im Zusammenhang mit Bibern. Was das genau bedeutet, kann ich mir zunächst nicht ausmalen.
Kaum ein Rohr ist ihm zu klein
«Jetzt hab ich mal die Offerte eingeholt, um alle Rohre von hier bis zur Gemeindegrenze Lostorf zu vergittern», sagt Christoph Hümbelin zu Katrin Schäfer, während sie die Strasse queren und zum Bach hinüberlaufen. Der Rohrer Landwirt ist seit einem halben Jahr für den Bachunterhalt der neu fusionierten Gemeinden zuständig. Dass ihm hier oben ein Biber in diesem Amt so viel Arbeit bescheren würde, damit hatte er nicht gerechnet.
Unscheinbar hat sich das Fliessgewässer unterhalb vom Dorfkern in den Boden gefressen. Oberhalb davon hat der Mensch stark eingegriffen und den Bach unter dem Boden gebändigt. Zwei Rohre führen das Jurawasser von den Hängen runter durch das Dorf. Trotz dürrem Monat März plätschert der Bach überraschend lebendig.
«Wenn er einen dieser Schächte verstopft und ein Gewitter kommt, läuft das ganze Wasser durch die Häuser», sagt Christoph und zeigt an die Westflanke hoch. Vor gut einem Monat entdeckte er erstmals dort oben die unverkennbaren Spuren des Bibers. Von unten ist nur die Baumkrone der eineinhalb Meter dicken Eiche zu sehen. Um sie herum nährte der Biber sich an Haselsträuchern und kleinen Bäumen. Mehr Sorgen bereiteten dem Landwirt aber die abgenagten Äste, die am Rohreingang lagen. Bald dürften als Sofortmassnahme die Rohre unten am Bach darum vergittert werden.
Der Rückkehrer
Wo ein Biber ist, verändert er die Landschaft oft grundlegend. Und manchmal ist das Tier auch die Initialzündung, dass der Mensch Veränderungen angeht. In Rohr hat er die Debatte ausgelöst, ob die Gemeinde die im Untergrund liegenden Bachzuflüsse längerfristig öffnen soll. «Planen wir langfristig nicht mit dem Biber, rennen wir immer hinterher. Denn er ist da, er wird immer da sein. Wandert ein Biber nämlich doch einmal aus einem Revier ab, so dauert es meist nicht lange, bis Neuzuwanderer den freigewordenen Platz einnehmen», sagt Katrin Schäfer.
Das war allerdings nicht immer so. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts galt das grösste Nagetier in der Schweiz als ausgerottet. Erst 1956 kehrte er zurück. Bis 1977 setzte der Bund – vor allem im Wasserkanton Aargau – 141 Biber aus. Anfänglich vermehrten sie sich sehr zögerlich, seit den Nullerjahren nimmt die Population aber stark zu. Beim Bundesmonitoring 2008 zählten die Experten im Kanton Solothurn 93 Tiere – verteilt auf 27 Reviere. Schweizweit wurde der Biberbestand 2019 auf 3500 Individuen geschätzt.
Am Bachufer in Rohr wird unübersehbar, dass hier der Biber daheim ist. Überall ist Gehölz angenagt – entweder hat er sich die Rinde und Knospen nur als Frass genommen oder aber das Holz gleich auch noch in seine Dämme verbaut. Wenn er Bäume fällt, tut er dies immer im doppelten Interesse: Um an Nahrung und Baumaterial zu kommen. Im 45-Grad-Winkel nagt der hungrige Bewohner die Sträucher und Äste ab. «Daran lässt sich die Zahngrösse sehen – und ablesen, ob es sich um erwachsene Tiere handelt», erklärt Schäfer, während sie sich zu einem Strunk beugt. An einem übriggebliebenen Haselstrauch ist das Gehölz bereits dunkel verfärbt. «Die Biber könnten schon vor einem Jahr hier gewesen sein, wer weiss.»
Warum aber drangen die Nagetiere bis nach Rohr vor an diesen kleinen Nebenfluss? «Die Biber wandern einfach», sagt die Umweltwissenschaftlerin. Mit der wachsenden Population sind die Reviere an den grossen Flüssen wie der Aare abgedeckt. Deshalb breiten sich die Tiere vermehrt in die Nebengewässer aus. Speziell sei aber, dass er erst rund sieben Kilometer von der Aaremündung oben in Rohr wahrgenommen worden sei, so Schäfer. Die Distanz per se ist nicht aussergewöhnlich. In der Schweiz legen Biber auf der Suche nach einem Revier durchschnittlich 20 Kilometer zurück.
Bequem erlangter Biberbau
Für die Rohrer Biber hat sich der weite Weg gelohnt. Wie Katrin Schäfer und Christoph Hümbelin ihren Spuren entlang dem Bach folgen, wird die ganze Schönheit der kleinen Oase sichtbar. Auf der Suche nach ihrer Wohnung waren die neusten Bewohner pragmatisch. Mitten auf dem Feld lugt ein Schachtdeckel aus dem Grün hervor. Unter diesem fand der Landwirt im Dezember den Biberbau. Als er den Deckel abgehoben hatte, sah er gerade noch den Schwanz in der Röhre verschwinden. Mit seinem Bruder brachte er eine Wildtierkamera an. Sie lieferte bald die Antwort auf die letzte übriggebliebene Frage: Ein Biberpaar hat sich in einem Notschacht der Kanalisationsleitung eingerichtet.
«Der Biber nimmt so ein Angebot gerne an», sagt Katrin Schäfer. «Er ist ein Wildtier und muss seine Energie gezielt einsetzen. Schächte nutzt der Biber häufig als Bau, da er dann seinen Wohnkessel nicht extra graben muss.»
An den Nebenbächen muss der Biber stärker arbeiten, um den für ihn passenden Wohnraum zu bilden. «Er ist extrem anpassungsfähig und macht sein Ding», sagt Schäfer und lacht. «Er muss nicht eine revitalisierte Landschaft vorfinden, er macht sie sich selbst. Es gibt in Europa keine Tierart, die den Lebensraum so gestalten kann, wie der Biber.» Schäfer begann sich in ihrem Studium eingehend mit dem Nagetier auseinanderzusetzen. In ihrer Masterarbeit untersuchte sie im Nationalpark Bayerischer Wald die Vogelvorkommen an Biberteichen.
Wo die Röhre, die zum Notschacht führt, in den Bach mündet, ist das Hauptbauwerk des Biberpaars zu bestaunen. Fast eineinhalb Meter hoch ist der sogenannte Hauptdamm. Das perfekte Chaos aus Laub und kreuz und quer geschichteten, abgenagten Ästen. «Darum sag ich gern: Der Biber ist extrem nachhaltig. Meist nagt er selbst sein Baumaterial noch ab», sagt Schäfer. Da er sich vegan ernährt, sind die Baumrinden in den Wintermonaten seine wichtigste Nahrungsgrundlage. Unter dem Damm plätschert das Wasser langsam aus dem grossen Biberteich. Mit dem Hauptdamm hat das Paar den Eingang zum Biberbau unter Wasser gelegt. Der Teich schützt die Biber vor möglichen Feinden und vor den schwankenden Aussentemperaturen.
Freund und Helfer?
Biodiversitäter, Landschaftsarchitekt – mit seinem Wirken hat der Biber sich in der Fachliteratur viele Spitznamen gesichert. «Wenn man es zulassen kann, arbeitet der Biber für uns», sagt Schäfer. Nach dem zweiten Weltkrieg und der Anbauschlacht kamen die grossen Gewässerkorrekturen, die Flüsse waren begradigt. Heute versucht die Gesellschaft, vieles wieder rückgängig zu machen. Was die Kantone Millionen kostet, macht der Biber umsonst: Er revitalisiert und renaturiert. «Nur kommt er von heute auf morgen und unser System ist oft nicht darauf angelegt», sagt Katrin Schäfer.
Rücksicht nimmt der Biber nicht. Und Gefahrenherde gäbe es viele. Deshalb musste die Gemeinde alle in Rohr betroffenen Infrastrukturbetreiber über das Biberrevier informieren. Würde der als Biberbau genutzte Notschacht bei Hochwasser verstopfen, könnte das Abwasser zurückstauen und die Haushalte schwemmen.
Am beschaulichen Bach in Rohr haben die Biber über eine Strecke von rund hundert Metern Damm an Damm gebaut und so eine kleine Kaskade geschaffen. Die Teiche führen oft zu höheren Grundwasserspiegeln – das kann bei trockenen Böden willkommen sein. Im Ackerbau droht dadurch manchmal aber das Kulturland vernässt zu werden.
«Viele wissen nicht, dass der Biber auch buddeln kann», sagt Schäfer. Ein Hermelin huscht mit seinem langen Schwanz dem Bachufer entlang. Weil das Biberpaar im Notschacht Unterschlupf fand, sah es bisher von einem Erdbau ab. Dennoch musste die Gemeinde vorsorglich die Gasnetzbetreiberin informieren, da beidseitig des Bachs eine internationale Gasleitung durchführt.
Und zu guter Letzt sind da die grossen Bäume in Strassennähe, für deren Schutz das kantonale Tiefbauamt sorgt, damit der Biber sie nicht abnagt und sie auf die Kantonsstrasse fallen.
Katrin Schäfer und Christoph Hümbelin steigen wieder hoch zur Bushaltestelle, über den Biberbau hinweg, wo das Paar vermutlich noch ein paar Stunden eng beisammen schlummert. Erst wenn die Nacht kommt, wagen sich die beiden wieder nach draussen. Begeben sich auf Nahrungssuche und bauen weiter an ihrem Revier.
«Ein Biberrevier ist extrem dynamisch», sagt Katrin Schäfer. Ein wachsames Auge ist deshalb gefragt. «Eine erhebliche Gefahr müssen wir unbedingt vermeiden», sagt sie. Der Kanton Solothurn musste jedoch noch nie einen Biber aus seinem Bau holen. Würde es jemals so weit kommen, würde der Bund miteinbezogen. Denn sowohl der Biber als auch sein Lebensraum sind bundesrechtlich streng geschützt. Mensch und Tier kamen sich in Rohr bislang nicht in die Quere. Der anwohnende Landwirt im Dorf hätte sich gar über die Biberankunft gefreut, erzählt Christoph Hümbelin.
Im Frühling dürfte aus dem Paar eine Familie werden. Zwei bis vier Jungtiere würden am Dorfbach heranwachsen, sofern sie nicht vorher weiterziehen. In zwei Jahren wird der Nachwuchs, wenn alles nach Plan verläuft, mit der Schneeschmelze seinen eigenen Weg suchen. Er wird die Tiere zwangsläufig bachabwärts führen. Durch die Ängi ins weite Mittelland, wo sie ihr eigenes Revier und die Partnerin fürs Leben suchen müssen.
*Katrin Schäfer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Amt für Wald, Jagd und Fischerei. Sie ist für den Vollzug der Jagdgesetzgebung im Fachbereich Biber zuständig – dem Bibermanagement.
Dieses Nachrichtenbriefing wurde uns von der Republik zur Verfügung gestellt.Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur.
Krieg in der Ukraine: Die neusten Entwicklungen
Das Kriegsgeschehen: Die Gefechte im Süden, Osten und Norden der Ukraine dauern an. In Mariupol sollen gemäss ukrainischen Behörden seit Beginn der Invasion 5000 Zivilistinnen getötet worden sein, 300 davon beim Beschuss eines Theaters durch russische Truppen. Auch das Uno-Hochkommissariat für Menschenrechte vermutet in der Stadt Tausende zivile Opfer.
Wladimir Putin habe in einem Telefonat mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Kapitulation von Mariupol gefordert, «um die schwierige humanitäre Situation zu beheben», meldeten russische Beamte. Tausende Bewohner der Stadt sollen in russisch kontrollierte Gebiete oder nach Russland gezwungen worden sein – ein Verstoss gegen die Genfer Konventionen. Die russische Regierung spricht von «Evakuierungen». Für Donnerstag hatte das russische Verteidigungsministerium einen Waffenstillstand in Mariupol angekündigt. Am Donnerstag soll ein Fluchtkorridor aus der Stadt (und für Hilfsaktionen in die Stadt hinein) geöffnet worden sein. Aktuelle Satellitenaufnahmen zeigen das enorme Mass an Zerstörung in der Hafenstadt.
Auch in der zweitgrössten Stadt Charkiw im Nordosten der Ukraine sind die Schäden gewaltig. Die Lage in der Stadt bleibe weiterhin angespannt, sagte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski in einer Rede. Heftige Kämpfe zwischen ukrainischen und russischen Einheiten gibt es auch weiterhin im südlichen Cherson, das russische Truppen schon vor Wochen unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Dort und in weiteren Städten solle es den ukrainischen Kämpferinnen in den letzten Tagen gelungen sein, Gebiete zurückzuerobern. Die umkämpfte Kiewer Vorstadt Irpin sei inzwischen wieder unter ukrainischer Kontrolle, verkündete der Bürgermeister Anfang Woche.
Rund um die Hauptstadt Kiew und bei Tschernihiw, einer Grossstadt nördlich von Kiew, soll es zu einer «Umgruppierung» der russischen Truppen kommen, meldete das Verteidigungsministerium in Moskau. Die Angriffe würden stark reduziert. Stattdessen wolle sich Moskau auf die «vollständige Befreiung» des östlichen Donbass fokussieren. Am Mittwoch kam es laut dem ukrainischen Militär im Gebiet Donezk zu schweren russischen Luftschlägen und Raketenangriffen.
Trotz dem angekündigten Strategiewechsel der russischen Truppen stehen auch Kiew und Tschernihiw weiterhin unter Beschuss. Entsprechend zweifeln das ukrainische Militär wie auch das Pentagon in Washington am Wahrheitsgehalt der Ankündigung, die auf Verhandlungen der beiden Kriegsparteien folgte. Inzwischen sollen kleine Teile der Truppen tatsächlich in Bewegung sein. Ihr Ziel ist einerseits der Osten des Landes, wo sie ukrainische Streitkräfte einkesseln sollen, andererseits Belarus und Russland, um sich dort mit Nachschub zu versorgen und neu zu formieren. Auch Kiew rechnet damit, dass die Truppen nicht dauerhaft zurückgezogen werden, sondern eine neue Offensive vorbereiten. Es ist mit weiteren schweren Kämpfen zu rechnen.
Im östlichen Luhansk – laut dem russischen Militär zu 90 Prozent unter seiner Kontrolle – wollen prorussische Separatisten über einen Betritt der Region zu Russland abstimmen lassen. Das ukrainische Aussenministerium lehnt ein solches Referendum, wie es das schon 2014 auf der Halbinsel Krim gab, in aller Klarheit ab.
In einem aktuellen Report wirft die Menschenrechtsorganisation Amnesty International – wie zuvor bereits die US-Regierung – dem russischen Militär Kriegsverbrechen in der Ukraine vor. Die Uno hat am Mittwoch eine Kommission einberufen, die Verstösse gegen das Völkerrecht untersuchen und Verantwortliche identifizieren will. Laut der Organisation sind seit Beginn des russischen Angriffskrieges über 4 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen, weitere 6,5 Millionen befinden sich innerhalb des Landes auf der Flucht.
Die Friedensverhandlungen: In Istanbul trafen sich diese Woche ukrainische und russische Unterhändler erstmals seit drei Wochen zum Gespräch. Im Zentrum der vierstündigen Verhandlungen stand der Neutralitätsstatus der Ukraine, ein Kernziel Russlands. Kiew soll bereit sein, auf einen Nato-Beitritt und auf ausländische Militärstützpunkte im Land zu verzichten, fordert dafür aber den Abzug der russischen Truppen und Sicherheitsgarantien von westlichen Staaten. Wolodimir Selenski erklärte in einem Interview mit unabhängigen russischen Journalistinnen, bevor ein definitiver Entscheid gefällt würde, müsste die ukrainische Bevölkerung über den neutralen Status abstimmen.
Was die Krim und die Separatistengebiete im Osten der Ukraine betrifft, scheinen die Fronten weiterhin verhärtet. Der türkische Aussenminister Mevlüt Çavuşoğlu sprach dennoch von den «bedeutendsten Fortschritten» seit Beginn der Verhandlungen. Und auch die russische Delegation bezeichnete die Gespräche als «substanziell». Der Kreml blieb in seinem Fazit jedoch deutlich verhaltener und will von einem Durchbruch nichts wissen.
In Deutschland hat Wirtschaftsminister Robert Habeck die erste Warnstufe des «Notfallplans Gas» ausgerufen und die Bevölkerung dazu aufgefordert, Energie einzusparen. Neu wird täglich ein Krisenstab tagen, um die Energieversorgung sicherzustellen. Deutschland ist stark abhängig von russischen Gas- und Öllieferungen und bereitet sich seit Wochen auf Engpässe vor. Mit der Ankündigung Putins, Exporte nur noch in Rubel abzurechnen, wurde die Gefahr eines plötzlichen Lieferstopps imminent. Die Energieminister der G-7-Staaten lehnen einen Wechsel auf Rubel ab.
Polen geht in der Energiefrage derweil in die Offensive: Bis Ende Jahr will das Land kein russisches Öl oder Gas mehr importieren, verkündete Regierungschef Mateusz Morawiecki. Bis spätestens Ende Mai soll dasselbe für russische Kohle gelten. Polen fordert seit Beginn der Invasion ein EU-Embargo auf russische Energieimporte.
Reaktionen in Russland: Russische Energie nur gegen Rubel – das dürfte so schnell nun doch nicht Realität werden, hiess es diese Woche zunächst aus dem Kreml. Nur beschloss Putin tags darauf genau das: Er unterzeichnete ein Dekret, dass ab heute Freitag die Zahlung der Öl- und Gasexporte in Rubel vorschreibt. Der deutsche Bundeskanzler nahm die Nachricht gelassen: Die Verträge liefen über Euro oder Dollar. «Ich habe in dem Gespräch mit dem russischen Präsidenten klargemacht, dass das auch so bleiben wird», kommentierte Olaf Scholz.
Apropos Rubel: Dieser hat sich stark erholt und ist fast wieder auf dem Niveau vor Beginn der Invasion. Geschuldet ist das wohl vor allem den Friedensgesprächen und Massnahmen der russischen Zentralbank, die den Rubel stärken sollen. Als Zeichen für eine Erholung der russischen Wirtschaft sei der steigende Kurs jedoch nicht zu deuten, betonen Fachleute.
Militärisch übt sich Moskau weiterhin in nuklearen Drohgebärden: In einem Interview schilderte Ex-Präsident Dmitri Medwedew verschiedene Szenarien, in denen der Einsatz russischer Atomwaffen möglich würde. Auch Verteidigungsminister Sergei Schoigu, der fast zwei Wochen nicht mehr in der Öffentlichkeit zu sehen war, erwähnte die Einsatzbereitschaft der Nuklearstreitkräfte.
Schoigu ist in einer weiteren militärischen Angelegenheit eine zentrale Figur, wenn man dem amerikanischen Geheimdienst glauben mag: Die US-Regierung meldete diese Woche, dass Putins Berater den Staatschef falsch oder ungenügend über die schwierige Lage der russischen Truppen in der Ukraine informiert hätten. Demnach hätte Putin nicht gewusst, wie gross die Rückschläge tatsächlich sind.
Passend zu seiner eigenen mutmasslichen Täuschung geht Putin weiterhin gegen Medien vor, die sich nicht an die behördlichen Propagandaregeln halten. So hat nun auch die «Nowaja Gaseta», eines der letzten und wichtigsten unabhängigen Medien im Land, den Betrieb vorerst eingestellt. Die Medienaufsicht Roskomnadsor hatte die Zeitung zuvor ein zweites Mal verwarnt, weil sie sich in einem Artikel nicht als «ausländischer Agent» ausgewiesen hatte. Die Bezeichnung ist Medien vorgeschrieben, die ausländische Gelder erhalten. Die Verwarnung wird als russische Vergeltung für das Interview verschiedener unabhängiger Journalisten mit Wolodimir Selenski gesehen, an dem auch der «Nowaja Gaseta»-Chefredaktor und Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow teilgenommen hatte.
Der russische Aussenminister Sergei Lawrow hat am Mittwoch China besucht. Bei einem Treffen mit seinem Amtskollegen Wang Yi haben sich die beiden Länder in ihrer Partnerschaft bestärkt. «Wir werden uns gemeinsam mit Ihnen und anderen Gleichgesinnten auf eine multipolare, gerechte und demokratische Weltordnung zubewegen», verkündete Lawrow nach dem Treffen.
Was als Nächstes geschehen könnte: Die Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland sollen heute Freitag weitergeführt werden. Die Türkei arbeitet zudem daran, die beiden Aussenminister erneut an den Verhandlungstisch zu bringen. Auch ein Treffen zwischen Putin und Selenski sei inzwischen möglich, sagte der Leiter der russischen Delegation diese Woche. Davor müsse jedoch ein Abkommen unterzeichnet werden.
Je länger der Krieg dauert, desto verheerender wird die Situation auch ausserhalb der Ukraine: David Beasley, Chef des Welternährungsprogramms, sprach vor dem UN-Sicherheitsrat von zunehmenden Hungersnöten weltweit. Es entwickle sich «eine Katastrophe zusätzlich zu einer Katastrophe». Die Ukraine und Russland gehören zu den wichtigsten Getreideexporteuren weltweit. Im Jemen sei die Lebensmittelhilfe bereits halbiert worden. Aufgrund der blockierten Seewege seien Getreideexporte im Wert von 1,5 Milliarden US-Dollar in den letzten fünf Wochen ausgefallen, meldete der ukrainische Landwirtschaftsminister am Donnerstag.
Anschlagserie in Israel überschattet historisches Gipfeltreffen mit arabischen Staaten
Darum geht es: Innerhalb weniger Tage kamen in Israel bei Terroranschlägen mehrere Menschen ums Leben. Dienstagnacht erschoss ein palästinensischer Attentäter fünf Menschen in einem Vorort von Tel Aviv. Erst am Tag zuvor waren in der Stadt Chadera bei einem Anschlag zwei Polizisten getötet und mehrere Menschen verletzt worden. In der Vorwoche hatte ein Mann in der südisraelischen Stadt Beerscheva in einem Einkaufszentrum vier Menschen getötet. Die Anschlagserie erinnert viele im Land an die Zeit vor 20 Jahren. Damals waren während der zweiten Intifada mehr als 1000 Israelis und 3000 Palästinenserinnen getötet worden.
Warum das wichtig ist: Die Erinnerungen an den Gaza-Krieg im vergangenen Jahr sind noch frisch. Nun ist die Sicherheitslage besonders angespannt, weil das jüdische Pessachfest, der muslimische Fastenmonat Ramadan und das christliche Ostern in den gleichen Zeitraum fallen. Am Montag fand ein geschichtsträchtiges Gipfeltreffen statt: In der Wüste Negev trafen sich die Aussenminister verschiedener arabischer Staaten (Bahrain, Ägypten, Marokko und die Vereinigten Arabischen Emirate) erstmals auf israelischem Boden, um diplomatische Gespräche mit Israel zu führen. Dabei ging es um den Umgang mit dem gemeinsamen Feindbild, der Atommacht Iran, sowie um die wirtschaftlichen Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf den Nahen Osten. Alle Teilnehmer des Gipfels kritisierten die Anschläge in Israel scharf. Auch der normalerweise nach Anschlägen schweigende Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas verurteilte die Taten. Ein Sprecher der radikalislamischen Hamas sagte dagegen, die Attacke in Chadera sei eine «schnelle Antwort» auf den Negev-Gipfel gewesen.
Was als Nächstes geschieht: Während die Teilnehmer des Negev-Gipfels übereingekommen sind, sich auch in den kommenden Jahren zu treffen und ihre diplomatischen Bande zu stärken, dürften das Timing und die Bildsprache des Gipfels bei vielen Palästinenserinnen das Gefühl verstärken, dass sie erneut von der arabischen Welt im Stich gelassen wurden. Die Sorge, dass weitere Anschläge in Israel bevorstehen, ist gross. Ministerpräsident Naftali Bennett sagte, das Land stehe vor einer «mörderischen arabischen Terrorwelle», dagegen werde man entschlossen vorgehen.
Krieg im Jemen: Feuerpause während des Ramadan angekündigt
Darum geht es: Die Militärkoalition unter saudiarabischer Führung im Jemen-Krieg hat für den Fastenmonat Ramadan eine Feuerpause angekündigt. Damit wolle man «die geeigneten Bedingungen» für Friedensverhandlungen schaffen. Ein Treffen der international anerkannten jemenitischen Regierung, der USA und der Uno, unter Schirmherrschaft des Golfrates, fand Mitte Woche jedoch ohne die aufständischen Huthi-Rebellen statt.
Warum das wichtig ist: Die vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen hatten 2014 weite Teile des Jemen erobert, seit 2015 führt Saudiarabien einen eigentlichen Stellvertreterkrieg gegen sie. Saudiarabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und weitere arabische Staaten unterstützen den jemenitischen Präsidenten Abd Rabbuh Mansur al-Hadi und seine Truppen. Gemäss der Uno wurden im Jemen-Krieg bereits 380’000 Menschen getötet, Millionen mussten flüchten. Die Vereinten Nationen sprechen von der grössten humanitären Katastrophe weltweit. Huthi-Führer Mohammed al-Bukhaiti betonte, dass die jetzigen Verhandlungen bedeutungslos seien, solange die «Belagerung Jemens» anhalte. Er hatte seinerseits am Wochenende eine dreitägige Waffenruhe ausgerufen. Zuvor hatten die Rebellen mehrere Ziele in Saudiarabien angegriffen, unter anderem auch eine Ölanlage nahe der Formel-1-Rennstrecke in Jidda.
Was als Nächstes geschieht: Seit Mittwoch gilt nun eine Feuerpause, wie lange sie anhält, ist noch völlig offen. Andere Waffenruhen, die von der Militärkoalition in der Vergangenheit ausgerufen wurden, wurden jeweils schnell gebrochen.
Amnesty International: Pandemie als Vorwand, um Bürgerrechte einzuschränken
Darum geht es: Amnesty International zeichnet im neuesten Jahresbericht ein bitteres Fazit der globalen Menschenrechtslage. «2021 hätte ein Jahr der Genesung und Erholung sein sollen. Stattdessen sollte es noch mehr Ungleichheit und Instabilität mit sich bringen», heisst es im Vorwort von Agnès Callamard, der internationalen Generalsekretärin von Amnesty International (AI). Neben Ungerechtigkeiten bei der Impfstoffverteilung und dem Umgang mit Migrantinnen kritisiert die NGO namentlich auch, dass viele Regierungen Massnahmen gegen die Pandemie nutzten, um Bürgerrechte anhaltend einzuschränken.
Warum das wichtig ist: Schon beim ersten Shutdown in der Schweiz im Mai 2020 mahnten Beobachterinnen, der Ausnahmezustand dürfe sich nicht zum Normalzustand verfestigen. Doch nun sagt Philip Luther, einer der Autoren des Berichts von AI: «Einige Regierungen haben die Pandemie ganz gezielt als Vorwand genutzt, um die Meinungsfreiheit einzuschränken.» Zudem beobachtet die Menschenrechtsorganisation auch unabhängig von Corona einen Anstieg der Repression, etwa eine Zunahme von einschüchternden Gerichtsverfahren (sogenannte Slapp-Klagen) gegen Aktivistinnen. Gestiegen ist auch der Einsatz von Digitaltechnik als Repressionsinstrument: In Afrika, Asien und im Nahen Osten gab es vermehrt Internet-Blockaden, in vielen Ländern stieg die Überwachung, zum Beispiel durch die Spionagesoftware Pegasus. Zudem setzen laut dem Bericht immer mehr Länder Software zur Gesichtserkennung ein, um Demonstrantinnen identifizieren zu können.
Was als Nächstes geschieht: Die Kombination von pandemiebedingten Einschränkungen und staatlicher Repression erschwert die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen in vielen Ländern. Bürgerrechte und Zivilgesellschaft stehen auch im laufenden Jahr in vielen Staaten unter grossem Druck.
Zum Schluss: Ein Baby-Nashorn!
Da waren es schon acht: Dank dem Neugeborenen erhöht sich die Zahl der Sumatra-Nashörner im Schutzgebiet in Indonesien. Biro Humas / KLHK / Indonesian Ministry of Environment
Es klingt jetzt auf den ersten Blick nicht nach einer Jahrhundertnachricht, wenn irgendwo im südostasiatischen Dschungel ein Nashornbaby zur Welt kommt. Aber wenn man weiss, dass es von den Sumatra-Nashörnern, den kleinsten ihrer Art, gerade noch ein paar Dutzend auf der Welt gibt und dass die Nashornmutter bereits mehrere Fehlgeburten hinter sich hat, dann darf man sich doch kurz freuen. Im Way-Kambas-Nationalpark in Indonesien stapft seit Kurzem also ein weiteres, kleines Sumatra-Nashorn durch die Gegend. Damit sind die Tiere im Schutzgebiet nun immerhin zu acht. Die Abholzung des Regenwaldes und die Wilderei machen den Tieren das Leben in freier Wildbahn schwer, und so findet man sie heute fast nur noch auf den indonesischen Inseln Sumatra und Borneo.
Was sonst noch wichtig war
Die Corona-Lage:Bei den Fallzahlen sowie bei den Abwassermessungen zeigt sich noch immer ein Abwärtstrend. Auch die Positivitätsrate bei den Tests, die auf unentdeckte Fälle hinweist, ist deutlich gesunken. Ob das so bleibt, ist momentan sehr ungewiss: Der Bundesrat hat diese Woche die besondere Lage in der Schweiz aufgehoben und damit auch die letzten Corona-Massnahmen. Im öffentlichen Verkehr sowie in Gesundheitseinrichtungen gilt ab heute Freitag keine landesweite Maskenpflicht mehr. Wer positiv auf Sars-CoV-2 getestet wird, muss sich zudem nicht mehr isolieren. Die Tests bleiben bei Symptomen weiterhin kostenlos. Zahlreiche Kantone behalten die Maskenpflicht in Spitälern oder auch in Pflegeheimen vorerst bei.
Europäische Union: Unterhändler der EU-Staaten und des Europaparlaments haben sich auf ein Gesetz über digitale Märkte geeinigt. Es soll die Marktmacht der Tech-Firmen begrenzen und den Wettbewerb fairer machen. Konsumentinnen sollen dadurch mehr Wahlfreiheit bei Online-Angeboten bekommen.
Tunesien:Präsident Kais Saied hat die Auflösung des Parlaments angeordnet. Schon im vergangenen Jahr hatte er die Arbeit der Legislative suspendiert. Dass sich die Abgeordneten kürzlich trotzdem trafen, bezeichnete er als «gescheiterten Putschversuch». Saieds Gegner werfen ihm im Gegenzug einen Staatsstreich vor.
USA: Ginni Thomas, die Frau des Obersten Richters Clarence Thomas, hat Textnachrichten an den Stabschef im Weissen Haus geschrieben, bevor sie selbst an einer Demonstration im Vorfeld des Sturms auf das Kapitol teilnahm. Das nährt Zweifel an der Unbefangenheit von Thomas in Verfahren rund um den Kapitolsturm.
Honduras: Der ehemalige Präsident Juan Orlando Hernández wird an die USA ausgeliefert. Das verfügte der Oberste Gerichtshof des Landes. Hernández, der bis vor zwei Monaten im Amt war, wird die Beteiligung an Kokainschmuggel im grossen Stil vorgeworfen.
El Salvador:Das Parlament hat den Ausnahmezustand verhängt. Die Bandenkriminalität im Land eskaliert, allein am letzten Samstag wurden mehr als 60 Menschen ermordet. Polizei und Armee riegelten ganze Viertel ab.
China: Nach steigenden Corona-Fallzahlen wurde über Shanghai der Lockdown verfügt. In der Wirtschaftsmetropole mit 26 Millionen Einwohnern sind auch viele ausländische Unternehmen angesiedelt.
Salomonen: Die Inselgruppe im Südpazifik will ein Sicherheitsabkommen mit China abschliessen und ihre Häfen für die chinesische Marine öffnen. Australien und die USA befürchten nun, China könnte dort eine Militärbasis errichten, was die Sicherheitslage im Südpazifik grundlegend verändern würde.
Die Top-Storys
Immer müde Die Muskeln schmerzen, das Herz rast, das Energielevel ist am Boden. Menschen mit dem chronischen Fatigue-Syndrom ME/CFS sind schon in jungen Jahren grösstenteils ans Bett oder Sofa gefesselt. Die Erkrankung tritt häufig nach einem viralen Infekt – etwa auch mit Sars-CoV-2 – auf und verändert das Leben der Betroffenen auf einen Schlag. In einer Dokumentation des SRF berichten Erkrankte von ihrem Leben mit einem kaum erforschten Syndrom.
Zu Gast beiKrömer! Kürzlich ist die bereits sechste Staffel der mehrfach ausgezeichneten Sendung «Chez Krömer» gestartet, in der der gleichnamige Komiker, gemäss eigenen Angaben, entweder Freunde oder Arschlöcher zum Gespräch bittet. Gäste in den ersten zwei Folgen: Linken-Politiker Gregor Gysi und «Welt»-Journalist Deniz Yücel. Wie immer anstrengend, aber auch sehr, sehr gut.
Nur den einen Wimpernschlag, den die Linse beleuchtet, hält das Bild fest. Eingefroren steht die Fotografie für sich. Sie macht Geschichte und erzählt eine Geschichte. Weil sie den Soldaten zeigt, der gegen die Fluten ankämpft und am 6. Juni 1944 in der Normandie an Land geht. Ein historisches Ereignis für die Menschheit. Dieser Tag, an dem die Alliierten dem Zweiten Weltkrieg eine Wendung geben. Der vielzitierte D-Day. In einem Bild festgehalten: Verschwommen das Gesicht, den Helm aufgesetzt – um den Soldaten die brandende See. Eine Aufnahme, die sich in unser kulturelles Gedächtnis einprägte und so zur Ikone wurde.
Und doch: So ausdrucksstark die Fotografie sein mag, erzählt sie letztlich doch nur die halbe Geschichte. Vieles bleibt dem Betrachter verborgen. Was war davor und danach? Die Geschichte zum Bild bleibt das Geheimnis der Fotografin.
Während der Kuba-Krise konnte der Schweizer Fotograf René Burri exklusiv Ernesto Che Guevara fotografieren. Berühmt wurde die Aufnahme oben links, die rot eingerahmt ist. Im Haus der Fotografie ist der Kontaktbogen zu sehen. Copyright: René Burri / Magnum Photos.
Nicht in der aktuellen Ausstellung «Contact Sheets» im Haus der Fotografie. Die weltbekannte Fotoagentur Magnum ist in Olten zu Besuch. Sie zeigt neben den Ikonen der Fotografie auch die Kontaktbögen. Sie sind durch die digitale Fotografie ein fast verloren gegangenes Relikt, das nur noch dem Fachpublikum bekannt ist. In der analogen Fotografie waren sie die Schatztruhe: Auf dem Abzug war alles zu sehen, was die vom Menschen geführte Kamera festgehalten hatte.
Der Kontaktbogen macht das Bild zum Kurzfilm. Erzählt die Augenblicke davor und danach, den Weg zum Bild, das für die Ewigkeit bestimmt ist. «Contact Sheets» durchbricht die Intimsphäre des Fotografen, gibt einen Einblick in seine Welt hinter der Linse. Die Aufnahmen reichen von den 1930er-Jahren bis fast in die Gegenwart.
Magnum
Im April 1947 gründeten die vier Fotografen Robert Capa, Henri Cartier-Bresson, David «Chim» Seymour und George Rodger in New York die unabhängige Fotoagentur Magnum. Die Genossenschaft ist im Besitz ihrer Mitglieder und sollte damals dem Wunsch der Fotografinnen entsprechen, die Rechte an den eigenen Bildern zu behalten. So konnten sie die Vermarktung gegenüber den damals heranwachsenden Magazinen wie «Life» und «Time» verbessern.
«Diese Sicht ist gerade für Laien spannend, weil sie zeigt, wie ein Fotograf arbeitet», sagt Miriam Edmunds. «Zum Teil sind richtig schlechte Bilder drin. Das kann der besten Fotografin passieren. Sie müssen arbeiten fürs perfekte Bild.»
Edmunds ist Kulturvermittlerin im Haus der Fotografie und hat die Ausstellung fürs Oltner Museum angepasst und konzipiert. Nach David Lynch und Bryan Adams setzt das neue Fotomuseum einen weiteren Glanzpunkt. Erneut ist es den kreativen Köpfen des IPFO gelungen, eine international beachtete Ausstellung in die Kleinstadt zu holen.
Im Bauch des ehemaligen Naturmuseums, das die Stadt dem IPFO provisorisch zur Verfügung stellt, hat sich die Museumscrew eine gemütliche, kleine Höhle eingerichtet. Ein paar Sessel und alte Leuchter aus einem Fotostudio bilden eine kleine Nische als Rückzugsort. Miriam Edmunds serviert Kaffee und erzählt, wie die weltberühmten Fotografien nach Olten fanden. Co-Direktor Christoph Zehnder habe letztes Jahr an der «Paris Photo», einer der renommiertesten Fotografiemessen Europas, Magnum-Kulturdirektorin Andréa Holzherr kennengelernt. Sie bot dem Oltner Haus die von Magnum 2014 erstmals präsentierte Ausstellung an.
Erstmals ist «Contact Sheets» somit in der Schweiz zu sehen. «Nicht das grosse Bild ist in dieser Ausstellung im Fokus – es lohnt sich, nah ranzugehen und das Detail zu betrachten», sagt Miriam Edmunds, als sie auf den Rundgang führt. Wer diesem von unten nach oben folgt, durchschreitet chronologisch das letzte Jahrhundert im Zeitraffer. Doch die Zeit geht schnell vergessen ob den starken Geschichten und den individuellen Schaffensarten der Fotografen (Frauen sind arg in der Minderzahl).
Die Original-Kontaktbögen erzählen die Geschichte – die Ikone, die daraus hervorging, ist daneben jeweils im Grossformat zu sehen. Die Fotografen legen in dieser Ausstellung den Entwicklungsprozess der Werke offen, die später zu ikonischen Bildern wurden. Damals, zur Zeit der analogen Fotografie, war dieser Prozess noch mit aufwändiger Handarbeit verbunden, ehe aus dem Zelluloidfilm in der Dunkelkammer ein Kontaktbogen mit den Negativen wurde. Daraus liess sich dann das gewünschte Foto entwickeln.
Wenn das Geheimnis bleibt
Nicht alle Fotografen liessen diesen Einblick in ihr Wirken einfach so zu, erzählt Edmunds. Als Beispiel dafür steht die Arbeit von Henri Cartier-Bresson. Er, einer der Gründer der Agentur Magnum, verglich sein Tun mit der Arbeit in einem Restaurant. Wenn er seine Kontaktbögen zeige, so sei dies, als ob jemand in die Küche spazieren würde, um mitzuverfolgen, wie das später servierte Menü zubereitet werde.
Andere Fotografen wiederum legen schonungslos offen, wie mühselig der Prozess zum perfekten Bild war. Zu sehen ist im Oltner Haus der Fotografie, wie die berühmte Aufnahme vom malenden Salvador Dalí mit den durch die Luft gewirbelten Katzen und dem Wasserstrahl entstand. Geschlagene sechs Stunden und 28 Versuche benötigte Fotograf Philippe Halsman dafür.
Copyright: Marc Riboud / Fonds Marc Riboud au MNAAG / Magnum Photos
Oder Marc Ribouds Aufnahmen am Eiffelturm in Paris zeigen, wie die Maler sich im Balanceakt am monumentalen Bauwerk hocharbeiten. Ein Balanceakt scheint dies auch für den Fotografen gewesen zu sein, denn der Kontaktbogen mit den Negativen verrät, wie viele Versuche er für das perfekte Bild benötigte. Das eine Foto sticht auf den ersten Blick heraus.
Manchmal bilden Kontaktbögen auch nur ein Überbleibsel dessen ab, was der Fotograf erfahren hat. Als Robert Capa mit den Alliierten in der Normandie an Land ging, gings in erster Linie ums nackte Überleben. Von einem sinkenden Schiff musste er sich aufs nächste retten, wobei viele Filme nass wurden. Neun Bilder blieben als Zeitzeugen.
Copyright: Robert Capa / International Center of Photography / Magnum Photos.
Und manchmal überlässt der Kontaktbogen die Geschichte der Betrachterin. Im Haus der Fotografie zu sehen ist die weltberühmt gewordene Aufnahme von Stuart Franklin vom Tiananmen-Platz in Peking. Am Tag, nachdem die chinesische Regierung 1989 die Proteste niedergeschlagen hatte, hielt Franklin aus der Ferne fest, wie ein Mann sich einer Panzerkolonne in den Weg stellt. Die Kontaktbogen-Bildserie verrät, was vorher und nachher war: Wie die Panzer sich nähern. Wie der Mann mit einer Tasche in den Händen stehen bleibt. Als die Kolonne zum Stillstand kommt, klettert er am Panzer hoch. Danach wird er abgeführt.
Trotz Kontaktbogen lässt das Bild viele Fragen unbeantwortet. Unsere Imagination ist gefragt.
Die Aufnahme vom Platz des Himmlischen Friedens, Tiananmen, in Peking.Kontaktbogen der Aufnahmen vom Eiffelturm. Copyright: Marc Riboud / Fonds Marc Riboud au MNAAG / Magnum Photos
Dieses Nachrichtenbriefing wurde uns von der Republik zur Verfügung gestellt.Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur.
Krieg in der Ukraine: Die neusten Entwicklungen
Das Kriegsgeschehen: Seit mehr als vier Wochen dauern die Kämpfe in der Ukraine an, mit desaströsen Folgen für die ukrainische Bevölkerung. Im Fokus der russischen Streitkräfte liegt namentlich Mariupol im Südosten des Landes. Täglich kommt es in der belagerten Hafenstadt zu Bombardements, die ganze Nachbarschaften in Schutt und Asche legen. Gemäss dem Bürgermeister sollen über 80 Prozent der Gebäude beschädigt sein. Trotz anhaltendem Beschuss finden russische Aufforderungen zur Kapitulation in der Stadt kein Gehör.
In Charkiw, der zweitgrössten Stadt der Ukraine im Osten des Landes, kommt es ebenfalls weiterhin zu Luftangriffen. Gemäss ukrainischen Befehlshabern halten die eigenen Soldatinnen jedoch die Stellung. In Odessa am Schwarzen Meer – wie Mariupol ein für Putin strategisch wichtiger Standort – bereitet man sich auf einen Grossangriff vor. Erstmals hat diese Woche die russische Marine die Hafenstadt beschossen, Tote oder Verletzte soll es keine gegeben haben.
Auch in Kiew kamen die Einschläge immer näher. Diese Woche sind mehrere russische Raketen nahe des Stadtzentrums in einem Wohnviertel eingeschlagen. Zuvor war bei russischen Luftangriffen ein Einkaufszentrum etwas ausserhalb der Stadt zerstört worden, mindestens 8 Menschen wurden dabei getötet. «Die vernichten die Zivilbevölkerung, die vernichten unser Land», sagte Kiews Bürgermeister Witali Klitschko in einer Liveschaltung mit dem Münchner Stadtrat: «Das ist ein Genozid.» US-Aussenminister Antony Blinken sprach erstmals offiziell von Kriegsverbrechen durch die russischen Truppen, der US-Regierung lägen entsprechende Beweise vor.
Gemäss westlichen Informationen soll sich die russische Armee zurzeit neu formieren. So würden russische Soldaten im Osten des Landes zusammengezogen, meldete das britische Verteidigungsministerium. Die Lage im Norden des Landes sei «grösstenteils statisch», vor Kiew hätten die ukrainischen Truppen die Angreifer zurückgedrängt. Die russischen Befehlshaber würden jedoch Grossangriffe vorbereiten. Moskau soll in den letzten vier Wochen bis zu einem Fünftel seiner in der Ukraine stationierten Truppen verloren haben, schätzt die Nato.
Die humanitäre Lage: Aus den belagerten Städten in der Ukraine kommen laufend katastrophale Bilder und Berichte. In Mariupol, wo gemäss dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski noch über 100’000 Menschen leben, ist die Infrastruktur zusammengebrochen. Seit Wochen gibt es in der Stadt weder Strom noch fliessend Wasser oder Telefonnetz. Geflüchtete berichten von Strassen voller Toten, die wegen der ständigen Angriffe nicht begraben werden können. Das Ausmass der Katastrophe ist nur schwer zu erfassen, die letzten unabhängigen Journalisten vor Ort haben die Stadt inzwischen verlassen.
Auch in der von Russen besetzten Stadt Cherson im Süden wird die Lage immer ärger. Gemäss dem ukrainischen Aussenministerium gibt es kaum noch Lebensmittel und es fehlt an medizinischer Versorgung. Proteste der Bevölkerung werden von den russischen Besatzerinnen gewaltsam aufgelöst. Ähnliches spielt sich im Norden in der Stadt Tschernihiw ab. Seit russische Soldaten die Brücke über den Fluss Desna zerstört haben, ist sie vom 120 Kilometer entfernten Kiew abgeschnitten, und das Trinkwasser wird knapp.
Gemäss Angaben der ukrainischen Regierung sind neun Fluchtkorridore aus umkämpften Städten geplant. Die Evakuierungen mussten bis anhin wegen der Gefechte immer wieder ausgesetzt werden. Beide Seiten werfen einander vor, gezielt auf die Fluchtrouten zu schiessen.
Über 3,5 Millionen Menschen sind in den letzten vier Wochen aus der Ukraine geflohen, die meisten ins Nachbarland Polen. Nicht alle Flüchtenden werden dort mit offenen Armen empfangen, wie unter anderem eine Recherche des «Spiegels» zeigt.
Entwicklungen im Ausland: Am Mittwoch gab Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg anlässlich eines Sondergipfels bekannt, dass das Militärbündnis die sogenannte Ostflanke massiv aufstocken wird. Die Militärpräsenz soll von vier auf künftig acht Gefechtseinheiten erhöht werden. 40’000 Nato-Soldatinnen und 100’000 US-Soldaten seien momentan in Europa stationiert. Gleichzeitig sprach sich Stoltenberg abermals gegen einen Nato-Einsatz in der Ukraine aus und ermahnte China, Russland in diesem Krieg nicht zu unterstützen.
Das chinesische Aussenministerium stellte sich selbentags gegen den Ausschluss Russlands aus der G-20, der Gruppe der grössten Industrie- und Schwellenländer, wie das Polen und Tage später auch die USA gefordert hatten. Für China wird der russische Angriffskrieg je länger je mehr zum geopolitischen Seiltanz. Bei einem Telefonat zwischen Joe Biden und Xi Jinping warnte der US-Präsident seinen Amtskollegen vor den Folgen, die chinesische Materiallieferungen an Russland nach sich ziehen würden. Verschiedene Medien hatten zuvor über solche Absichten berichtet.
Grossbritannien, Deutschland und Schweden haben angekündigt, zusätzliche Waffen und militärische Unterstützung an die Ukraine zu senden. Auch die Nato hat an ihrem Sondergipfel beschlossen, die militärische und medizinische Hilfe für die Ukraine auszubauen. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski forderte bei Liveschaltungen in verschiedenen Ländern – darunter die Schweiz – dortige Politikerinnen und Unternehmen eindringlich dazu auf, die Massnahmen gegen Russland zu verschärfen. US-Präsident Joe Biden hat entsprechende Schritte ergriffen: Hunderte Abgeordnete der Duma und Vertreterinnen der russischen Elite landen neu auf der US-Sanktionsliste.
Unter besonderen Druck durch die ukrainische Regierung geriet der Schweizer Nahrungsmittelkonzern Nestlé, der im Gegensatz zu vielen anderen internationalen Unternehmen weiterhin Waren in Russland produzierte. Die Produktion sei nun zu grossen Teilen unterbrochen, meldete Nestlé diese Woche. Lebenswichtige Produkte würden aber weiterhin verkauft.
Entwicklungen in Russland: Moskau setzt auf Drohgebärden gegen aussen und Schadensbegrenzung im eigenen Land. Kremlsprecher Dmitri Peskow warnte vor einer Friedensmission der Nato in der Ukraine, wie sie Polen gefordert hatte. «Das wäre eine sehr unbedachte und äusserst gefährliche Entscheidung», sagte Peskow gemäss der russischen Nachrichtenagentur Interfax.
Moskau führe weiterhin Verhandlungen mit Kiew, zitiert dieselbe Agentur den russischen Aussenminister Sergei Lawrow. Diese würden jedoch durch die USA beeinflusst. Die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Atommächten sind schwer beschädigt. Diese Woche hat Moskau die Ausweisung mehrerer US-Diplomatinnen beschlossen – als Reaktion auf die Ausweisung von russischen Diplomaten bei der Uno Anfang März aufgrund von Spionagevorwürfen.
Präsident Wladimir Putin versucht derweil, die zermürbenden westlichen Wirtschaftssanktionen zu kontern. Die sogenannten «unfreundlichen Staaten» – darunter Länder wie Deutschland, die USA und die Schweiz – müssen Gas und Öl aus Russland künftig mit Rubel bezahlen statt mit Dollar oder Euro, wie es seit Jahrzehnten der Fall war. Was Putin damit bezweckt, ist unklar. Ökonominnen werten den Schritt als Versuch, den Rubel zu stabilisieren oder die westlichen Staaten dazu zu zwingen, ihre eigenen Sanktionen gegenüber der russischen Zentralbank zu unterlaufen. Die wirtschaftlichen Konter ergänzt Putin mit inszenierter Einigkeit. Bei einer grossen Propagandashow zum Jahrestag der Krim-Annexion liess sich der Präsident vor angeblich 200’000 Zuschauern in Moskau feiern.
Erstmals seit Beginn des Angriffskriegs ist es in Putins engerem Zirkel zu einem Abgang gekommen. Anatoli Tschubais, Sonderbeauftragter für Beziehungen zu internationalen Organisationen, soll gemäss «Bloomberg» aufgrund seiner Opposition zum Krieg von seinem Amt zurückgetreten sein und das Land verlassen haben.
Was als Nächstes geschehen könnte: Grössere diplomatische Fortschritte bleiben aus, ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht. Es ist mit einer weiteren Verschlimmerung der Lage zu rechnen.
Die Ukraine wie der Westen fürchten einen baldigen Einsatz von Chemiewaffen durch Russland. US-Präsident Biden hat deshalb ein Team aus nationalen Sicherheitsbeamtinnen zusammengestellt, das sich auf einen möglichen Einsatz solcher Massenvernichtungswaffen vorbereitet. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg betonte, der Einsatz von Chemiewaffen würde den Verlauf des Konfliktes «grundlegend ändern» und «umfassende wie scharfe Konsequenzen» nach sich ziehen. Die Mitgliedstaaten würden sich verstärkt auf entsprechende Szenarien vorbereiten. Um was für mögliche Konsequenzen es sich genau handelt, blieb unklar. In einem Interview mit CNN sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow, Moskau behalte sich den Einsatz von nuklearen Waffen vor, sollte Russland unter «existenzielle Bedrohung» kommen.
Je länger der Krieg andauert, desto eher wird auch ein Einmarsch von Truppen aus Belarus in die Ukraine befürchtet. Die Informationen dazu sind jedoch widersprüchlich, es ist nicht klar, ob sich die belarussischen Truppen bereits formieren.
Putin-Kritiker Nawalny bleibt weitere neun Jahre in Haft
Darum geht es: Der Oppositionspolitiker Alexei Nawalny sitzt bereits seit einem Jahr in einem russischen Straflager. Nun wurde der 45-Jährige von einem Moskauer Gericht erneut verurteilt: Weil er Spenden an seine Antikorruptionsstiftung veruntreut und in einem früheren Verfahren eine Richterin beleidigt haben soll, muss er weitere 9 Jahre in Haft. Seine Anwälte hatten einen Freispruch verlangt, die Staatsanwaltschaft 13 Jahre Haft. Das Urteil umfasst zudem eine Geldstrafe von umgerechnet rund 11’500 Franken sowie ein «strenges Regime» in einer Strafkolonie. Damit werden die Kontakte zur Aussenwelt stark eingeschränkt. Nawalny reagierte mit Ironie: «Mein Raumflug verzögert sich ein bisschen.»
Warum das wichtig ist: Alexei Nawalny ist der prominenteste Kreml-Kritiker Russlands. Im August 2020 wurde auf ihn ein Giftanschlag verübt, den er nur knapp überlebte. Nach einer Behandlung in Berlin kehrte er im Januar 2021 nach Moskau zurück, wo er noch am Flughafen festgenommen und später zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt wurde. Der Kreml erklärte seine Stiftung zu einer extremistischen Organisation, Proteste wurden niedergeschlagen, Kritikerinnen verhaftet. Nawalnys Mitstreiter mussten ins Ausland fliehen, von wo aus sie nun auf ihrem Youtube-Kanal kritisch über die Vorgänge in Russland und den Krieg in der Ukraine berichten.
Was als Nächstes geschieht: Die Anwältinnen von Nawalny kündigten Berufung an. Seine Sprecherin Kira Jarmysch macht Putin direkt verantwortlich für das Urteil: «Erst hat er versucht, Alexej zu töten, und als das scheiterte, hat er entschieden, ihn für immer im Gefängnis zu halten.» Das sieht die US-Regierung ähnlich: «Das beschämende Urteil ist ein erneuter Versuch, Nawalny zum Schweigen zu bringen», sagte ein Sprecher des US-Aussenministeriums. Die EU fordert Russland dazu auf, Nawalny «unverzüglich und bedingungslos freizulassen».
Am Nord- und Südpol ist es viel zu warm
Darum geht es: Die Temperaturen in der Antarktis liegen derzeit 40 Grad Celsius höher als um diese Jahreszeit üblich und übertreffen den bisherigen Rekord noch einmal deutlich. Der Grund für die Hitzewelle am Südpol ist ein sogenannter atmosphärischer Fluss, der sehr feuchte und warme Luft bringt. Ausserdem wird vermutet, dass auch starke Winde aus Australien eine Rolle spielen. Gleichzeitig messen Forscher auch in der Arktis erneut unüblich hohe Werte. Am Nordpol sind die Temperaturen durch die menschgemachte Klimaerwärmung schon mehr als doppelt so stark gestiegen wie im globalen Durchschnitt.
Warum das wichtig ist: Es ist nicht klar, ob die aktuellen Rekordtemperaturen einen direkten Zusammenhang mit der globalen Klimaerwärmung haben. Der ETH-Klimawissenschaftler Reto Knutti sagte aber gegenüber SRF, dass die Häufung von heissen Situationen, Dürren und starken Niederschlägen auch mit der Klimaerwärmung in Verbindung stünden. In der Arktis und der Antarktis ist das besonders bedenklich, weil die Pole rascher abschmelzen als bisher angenommen. Die Folge ist ein Anstieg des Meeresspiegels.
Was als Nächstes geschieht: Gelingt es nicht, den Ausstoss von Treibhausgasen zu senken, werden die Temperaturen noch stärker steigen und die Pole schneller abschmelzen. Zudem werden sich mit der Klimaerwärmung Wetterextreme und Hitzewellen häufen.
USA bezeichnen Verfolgung der Rohingya offiziell als Genozid
Darum geht es: Die Vereinigten Staaten haben die Gräueltaten an der muslimischen Minderheit der Rohingya in Burma formell als Völkermord eingestuft. Dies verkündete US-Aussenminister Antony Blinken bei einem Besuch des Holocaustmuseums in Washington.
Warum das wichtig ist: Vor fünf Jahren waren bis zu 850’000 Menschen der staatenlosen Minderheit aus Burma ins Nachbarland Bangladesch geflüchtet, wo sie seither in überfüllten Flüchtlingslagern leben. Zuvor war das Militär in Burma auf brutalste Art gegen sie vorgegangen. Tausende sollen ermordet, Frauen und Kinder vergewaltigt, Dörfer dem Erdboden gleichgemacht und Menschen lebendig in ihren Häusern verbrannt worden sein. Menschenrechtsorganisationen forderten die USA seit langem auf, die Taten als Völkermord anzuerkennen. Eine Untersuchungskommission der Vereinten Nationen bezeichnete die Militäraktion bereits 2018 als «völkermörderische Handlungen». Vor zwei Jahren hatte der Internationale Gerichtshof in Den Haag Burma zum sofortigen Schutz der Rohingya verpflichtet. Die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, die damals de facto als Regierungschefin agierte, wies vor dem höchsten UN-Gericht sämtliche Vorwürfe zurück.
Was als Nächstes geschieht: Das Verfahren um den Völkermord an den Rohingya wurde durch einen Militärputsch in Burma vergangenen Jahres erschwert. Dabei wurde die zivile Regierung um Aung San Suu Kyi entmachtet und zu Gefängnisstrafen verurteilt. Das Hauptverfahren in Den Haag dauert an.
Zum Schluss: Ein Treffen mit dem Tu-nichts-Typen
Keine Lust, allein zu sein? Aber auch keine Lust auf unendliches Gequassel und das zermürbende Verpflichtungsgefühl, dem Gegenüber zuhören zu müssen? Shoji Morimoto aka «Rental-san» schafft Abhilfe, zumindest in Japan. In seinem früheren Job wurde ihm immer wieder gesagt, er tue zu wenig. Also hat er aus dem Nichtstun ein Geschäft gemacht. Für einem Stundenansatz von umgerechnet 75 Franken kann man Morimoto mieten. Morimoto stellt keine Fragen, spricht keine schwierigen Themen an, Morimoto ist einfach da. Man kann ihm von seiner Scheidung erzählen, ihn zur Hämorrhoiden-Sprechstunde mitnehmen oder ihn an den Bahnhof bestellen, damit er einem bei der Abfahrt des Zuges vom Perron aus zuwinkt, wie Morimoto der «Washington Post» erzählt.
Was sonst noch wichtig war
Die Corona-Lage: Zurzeit nehmen die täglichen Corona-Fälle wieder leicht ab. Möglicherweise liegt der Höhepunkt dieser von der Omikron-Subvariante BA.2 dominierten Welle hinter uns, zumindest was die Infektionen angeht (Hospitalisierungen und Todesfälle hinken in den Statistiken jeweils leicht hinterher). Ende März laufen die letzten Massnahmen in der Schweiz aus: Die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr sowie die Isolationspflicht bei einer Infektion fallen weg. Auch die Science Taskforce wird sich auflösen: Sie war «ein Instrument in einer akuten Krise», sagt ihre Leiterin Tanja Stadler. Nun werden Wissenschaftlerinnen ihre Arbeit wieder ausserhalb dieser Struktur bereitstellen.
Portugal: Ministerpräsident Antonio Costa hat sein neues Kabinett vorgestellt. Erstmals in der Geschichte des Landes sind mehr Frauen als Männer in der Regierung. Bei den Wahlen Ende Januar hatte Costas Sozialistische Partei die absolute Mehrheit im Parlament erreicht.
Griechenland: Laut Angaben aus Athen haben türkische Kampfjets griechisches Territorium überflogen. Das war schon Anfang Jahr mehrfach vorgekommen, doch der jüngste Zwischenfall ereignete sich nur Tage, nachdem die Staatschefs der beiden Länder übereingekommen waren, ihre angespannten Beziehungen verbessern zu wollen.
USA I: Zum ersten Mal seit mehr als zwei Jahren hat die US-Notenbank den Leitzins erhöht, auf 0,25 bis 0,5 Prozent. Der Entscheid war aufgrund der stetig steigenden Inflation in den USA erwartet worden. Die Schweizerische Nationalbank (SNB) teilte am Donnerstag mit, dass sie den Leitzins bei minus 0,75 Prozent belasse. Der Franken sei nach wie vor «hoch bewertet». Die SNB erwartet für das laufende Jahr eine Inflation von 2,1 Prozent.
China: Beim Absturz eines Passagierflugzeugs im Süden Chinas starben wahrscheinlich alle 132 Menschen an Bord. Die Bergungsarbeiten kommen nur langsam voran, da die Maschine in ein bewaldetes Hügelgebiet gestürzt ist.
Die Top-Storys
Die Flucht zurück Georgiy Vaidanych hat drei Kinder. Er darf sein Heimatland, die Ukraine, verlassen. In Deutschland angekommen, überkommen ihn die Zweifel: War es die richtige Entscheidung, zu gehen? Ein Journalist der «Zeit» (Paywall) hat ihn bei der Rückreise in die Ukraine begleitet und Vaidanychs Ringen um einen Entscheid mitverfolgt, den kein Mensch jemals fällen sollte: Familie oder Front?
An der Waschstrasse Krisen erschüttern die Menschheit, und an der Tanke vom Blauen Elefanten werden wie immer Autos gewaschen. Das Basler Online-Magazin «Bajour» hat sich angesichts ständiger globaler Erschütterung auf die Suche nach ein bisschen Kontinuität gemacht und sie an der Waschstrasse in Allschwil gefunden.
Von Ohrwürmern und Schuldenbergen Ein Bruder produziert mit «99 Luftballons» einen Welthit, der andere Bruder, studierter Musikwissenschaftler, findet das ein «Kacklied», und irgendwann stehen sie dann doch gemeinsam auf der Bühne. Die Brüder Lutz und Uwe Fahrenkrog-Petersen sind ein ungleiches Paar, das trotz allem perfekt zusammenpasst. Das macht das Doppelinterview mit ihnen im SZ-Magazin – über Bruderliebe, Uni statt Saufen und das Ende der Popmusik – sehr, sehr unterhaltsam.
Dieses Nachrichtenbriefing wurde uns von der Republik zur Verfügung gestellt.Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur.
Krieg in der Ukraine: Die neusten Entwicklungen
Das Kriegsgeschehen: Diese Woche war erneut geprägt von anhaltenden Bombardements und Gefechten in zahlreichen ukrainischen Städten. Besonders im Osten des Landes sowie in Küstennähe leben die verbleibenden Zivilisten unter andauerndem Beschuss. Gemäss der Uno lägen verifizierte Informationen zu 726 getöteten Zivilistinnen vor, die tatsächliche Opferzahl sei jedoch «deutlich höher», meldete das Hochkommissariat für Menschenrechte.
In der umzingelten Hafenstadt Mariupol wurde am Mittwoch ein Theater beschossen, in dem sich hunderte Schutzsuchende aufhielten. Die Opferzahl ist noch unklar, Russland und die Ukraine weisen sich gegenseitig die Verantwortung für den Angriff zu. In den letzten Tagen konnten Tausende Zivilistinnen das belagerte Mariupol verlassen, eine Feuerpause soll es gemäss dem Bürgermeister jedoch keine gegeben haben. In Odessa, eine strategisch wichtige Hafenstadt am Schwarzen Meer, bereiten sich die ukrainischen Soldaten derweil auf einen russischen Angriff vom Wasser her vor.
Auch im Westen des Landes kommt es vermehrt zu Beschüssen, etwa in der Stadt Lwiw, in der viele Geflüchtete aus den umkämpften Gebieten des Landes Zuflucht suchen. Mehrere russische Raketen sollen gemäss ukrainischen Angaben am Sonntag auf einem Militärübungsplatz nahe der Stadt eingeschlagen sein. Das angegriffene Gelände ist keine 30 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Mindestens 35 Menschen sollen getötet worden sein.
Für die russischen Truppen wird die Invasion immer mehr zu einem unerwartet grossen Kraftakt. Der Widerstand der ukrainischen Streitkräfte und grosse logistische Probleme hindern sie bisher am erwarteten Grossangriff auf Kiew. Explosionen erschüttern jedoch regelmässig Wohngebiete in der Hauptstadt, und auch in den Vorstädten dauern die Kämpfe an.
Die humanitäre Situation: Die Lage in den bombardierten Städten ist dramatisch. Besonders in Mariupol, wo es seit Wochen an Strom und Wasser fehlt und die anhaltenden Kämpfe viele Menschen von einer Flucht aus der Stadt abhalten. Auch im russisch kontrollierten Gebiet Cherson im Süden des Landes fehle es an Nahrungsmitteln und Medikamenten, meldet die Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments. Gemäss dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sollen inzwischen über drei Millionen Menschen aus der Ukraine fliehen oder geflohen sein, die allermeisten Frauen und Kinder. Nicht nur ausharren, sondern auch fliehen ist gefährlich, denn es drohen Gewalt und Menschenhandel, wie verschiedene Organisationen warnen.
Auch die Gefahr von globalen Hungerkrisen nimmt Tag für Tag zu. Die Ukraine und Russland stemmen 30 Prozent der weltweiten Getreidelieferungen. Wegen des Krieges ist jetzt die wichtigste Exportroute über das Schwarze Meer gesperrt. Gemäss Getreidehändlern seien die Lieferungen aus den ukrainischen Häfen gänzlich zum Erliegen gekommen. Die Preise für Getreide sind bereits angestiegen, mit verheerenden Folgen besonders für Entwicklungsländer.
Die internationalen Reaktionen: Warnungen, Appelle, Sanktionen: Europa und die USA versuchen weiterhin, Putin in seinem Angriffskrieg zu stoppen. Anfang Woche hat die EU ein viertes Sanktionspaket gegen Russland beschlossen, das unter anderem die Importe von russischen Stahl- und Eisenprodukten beschränkt. Die Schweiz hat sich derweil den EU-Sanktionen gegen Belarus angeschlossen.
Die USA haben weitere Waffenlieferungen im Wert von 800 Millionen US-Dollar angekündigt. Der Beschluss folgte auf eine flammende Rede von Wolodimir Selenski vor dem Kongress. «I have a need», sagte der ukrainische Präsident, aus Kiew zugeschaltet, in Anlehnung an Martin Luther King («I have a dream»). Er pochte dabei erneut auf eine Flugverbotszone über der Ukraine – gegen die sich die Nato-Länder aus Angst vor einer Eskalation mit Russland sträuben – und bat schliesslich um die Lieferung eines Flugabwehrsystems. In der darauffolgenden Pressekonferenz bezeichnete Joe Biden Wladimir Putin erstmals als «Kriegsverbrecher».
Die Vorwürfe Putins, wonach im Osten der Ukraine ein «Völkermord» drohe, hat der internationale Gerichtshof in Den Haag diese Woche abgewiesen. Der Angriffskrieg auf die Ukraine sei sofort so beenden, forderte die Präsidentin des Gerichtshofs. Mittel, um das Urteil durchzusetzen, hat das Gericht jedoch keine.
Reaktionen in Russland: Ein Einlenken Moskaus ist nicht in Sicht. Bidens «Kriegsverbrecher»-Aussage bezeichnete der Kreml-Sprecher als «unverzeihlich». Putin übt sich derweil weiterhin in Propaganda. In einer Ansprache an seine Minister breitete er erneut sein Nazi-Narrativ aus und warnte, Kiew könnte Massenvernichtungswaffen besitzen. Ein Vorwurf, den die ukrainische Regierung wie auch ausländische Regierungen bereits mehrfach zurückgewiesen haben. Russland soll China um Waffenlieferungen gebeten haben, berichteten diese Woche verschiedene US-amerikanische Medien. Peking bezeichnete die Meldungen als «bösartige Desinformation». Eine solche Lieferung würde China ganz klar in diesem Krieg positionieren, ein Schritt, den Staatschef Xi Jinping bisher tunlichst vermieden hat.
Russlands Beziehung zu Europa ist derweil im freien Fall. Nachdem der Europarat Russland aufgrund der Invasion bereits suspendiert hatte – ein historischer Entscheid – hat die russische Delegation diese Woche das Austrittsverfahren eröffnet. «Russland wird sich nicht an der Umwandlung der ältesten Organisation Europas durch die Nato und die ihr gehorsam folgende EU in eine weitere Plattform für westliche Vorherrschaft und Narzissmus beteiligen», meldete das russische Aussenministerium.
In Russland wurde die Repression gegen kritische Stimmen noch einmal verschärft. So wurden Polizisten dabei fotografiert, wie sie eine Frau festnahmen, weil sie auf einem öffentlichen Platz ein weisses Schild hochhielt. In den Abendnachrichten des Staatsfernsehens stürmte eine Mitarbeiterin vor die Kameras und forderte das Ende des Krieges (mehr zu diesen Protesten lesen Sie in diesem Beitrag von Daniel Graf).
Was als Nächstes geschehen könnte: Die grössten Hoffnungen liegen auf den andauernden Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau. Der russische Aussenminister Sergei Lawrow sagte am Mittwoch, er hoffe auf einen Kompromiss, der namentlich eine Neutralität der Ukraine beinhalten würde. Die Ukraine dürfe demnach nicht der Nato beitreten, was Selenski zuvor bereits als «unwahrscheinlich» bezeichnet hatte. In einer Videobotschaft sagte er, die Verhandlungsoptionen hörten sich «inzwischen realistischer» an.
Kommende Woche wird bei verschiedenen Treffen von EU und Nato über die Lage in der Ukraine debattiert. Auch US-Präsident Joe Biden wird an den Gipfeltreffen erwartet. Dass Entscheidungen getroffen werden, die das Kriegsgeschehen grundlegend beeinflussen werden, ist jedoch nicht zu erwarten.
Für Russlands Wirtschaft wird der Krieg je länger je mehr zum Desaster. Aufgrund der westlichen Sanktionen droht dem Staat in wenigen Wochen der Staatsbankrott, sollte er die Zinsen für internationale Staatsanleihen nicht bezahlen können.
Neue Corona-Welle in China verlangsamt den globalen Handel
Darum geht es: Nach stark ansteigenden Covid-Fallzahlen hat China seit Sonntag schwerwiegende Einschränkungen verhängt. Schuld ist die grassierende Omikron-Variante, die dort im Januar erstmals aufgetreten ist. Mindestens fünf Städte mit vielen Produktionsstandorten der Automobil- und Digitalbranche sind im Lockdown.
Warum das wichtig ist: «Zero Covid» lautet die Devise in China – null Toleranz. In der Schweiz wurden am Dienstag mehr als 18’000 neue Corona-Infektionen gemeldet, in ganz China waren es gleichentags gerade mal 5000. Doch während die Schweiz und viele weitere Länder Europas in den vorpandemischen Alltag zurückkehren, fährt China das Leben vielerorts wieder herunter. Mit Folgen für den Rest der Welt: Produktion und Lieferung von Waren verzögern sich, weil die Arbeiterinnen nicht mehr in die Fabriken dürfen. Zwar ist inzwischen weniger Personal an den Häfen betroffen, weil dieses nun – um Infektionen zu verhindern – vermehrt nicht mehr nach Hause gelassen wird und in der unmittelbaren Nähe des Arbeitsplatzes übernachten muss. Doch weil an vielen Autobahnausfahrten für die Weiterfahrt PCR-Tests vorgewiesen werden müssen, bleiben die Lastwagen im Stau stecken.
Was als Nächstes geschieht: Vielen Firmen bleibt nichts anderes übrig, als zu warten, bis das Personal wieder arbeiten darf und der Verkehr wieder rollt. Insbesondere grössere Unternehmen mit verschiedenen Standorten versuchen, ihre Produktion in weniger betroffene Gebiete zu verlegen. So oder so erhöhen sich aber wieder Transportpreise und Lieferzeiten.
Somalia: Hungersnot spitzt sich weiter zu
Darum geht es: In Somalia leiden immer mehr Menschen an Hunger. Drei Regenperioden sind ausgefallen, die schlimmste Dürre seit Jahrzehnten ist die Folge. Das Vieh verendet und Nutzpflanzen verdorren. Gemäss Unicef sind 1,4 Millionen Kinder akut unterernährt.
Warum das wichtig ist: Durch die anhaltende Dürre droht die grösste Hungerkatastrophe seit vielen Jahren. Die Uno schätzt, dass bereits jetzt 4,3 Millionen Menschen betroffen sind. Hunderttausende Menschen haben ihre Dörfer verlassen und leben jetzt in Camps. Der «Spiegel» hat ein solches Lager mit 30’000 Menschen in der Nähe der Hafenstadt Kismayo besucht. Im dortigen Spital werden Tag für Tag schwer unterernährte Kinder eingeliefert. Hilfe kommt nur bedingt an: Das Welternährungsprogramm (WFP) der Uno ist in Somalia unterfinanziert. Und laut dem lokalen WFP-Direktor verschärft der Krieg in der Ukraine die Not: Erbsen, die früher aus dem Hafen in Odessa geliefert wurden, bleiben aus. Hilfslieferungen für Somalia seien in die Ukraine umgeleitet worden. Und als Folge des Krieges steigen die Preise für Erbsen und Weizen.
Was als Nächstes geschieht:Im April sollte die nächste Regenperiode starten, doch gemäss Langfristprognosen könnte der Regen erneut ausfallen. Die Uno meldete letzte Woche, dass bis dahin erst drei Prozent der fast 1,5 Milliarden Dollar, die für die wichtigsten Bedürfnisse der Menschen nötig wären, zugesichert worden seien.
Iran: Britisch-iranische Doppelbürger aus Haft entlassen
Worum es geht: Nach jahrelanger Inhaftierung im Iran sind die britisch-iranischen Staatsbürgerinnen Nazanin Zaghari-Ratcliffe und Anoosheh Ashoori zurück auf der Insel. Ratcliffe war im April 2016 festgenommen worden. Die Mitarbeiterin der Thomson-Reuters-Stiftung war wegen «Aufruhrs» zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Der pensionierte Ingenieur Ashoori war seit 2017 in Haft, nachdem er seine Mutter im Iran besucht hatte. Er wurde wegen angeblicher Spionage für Israel zu zehn Jahren verurteilt.
Warum Sie das wissen müssen: Die Inhaftierung der beiden britischen Staatsbürger sorgte seit Jahren für Kritik an der britischen Regierung, nicht zuletzt auch wegen des fragwürdigen Verhaltens des damaligen britischen Aussenministers und heutigen Premiers Boris Johnson. Dieser hatte behauptet, Ratcliffe habe im Iran «ganz einfach den Menschen Journalismus» beigebracht. Ihr Arbeitgeber, die Thomson Reuters Foundation, korrigierte die Aussage sofort, Zaghari sei mit ihrer Tochter im Iran bei den Grosseltern zu Besuch gewesen. Nazanins Ehemann Richard ging in den Hungerstreik und machte so Druck auf die britische Regierung. Er hatte mehrfach erklärt, seine Frau sei «eine Geisel im finsteren Spiel». Der Iran forderte nämlich für eine Freilassung die Begleichung einer Schuld aus Zeiten des Schahs von Persien. Grossbritannien hat nun rund 400 Millionen Pfund überwiesen. Aussenministerin Liz Truss betonte, das Geld werde «ausschliesslich für den Erwerb humanitärer Güter» eingesetzt.
Wie es weitergeht: Am Mittwoch wurde Morad Tahbaz aus dem Gefängnis entlassen und unter Hausarrest gestellt. Die Briten betonten nun, man werde sich für die definitive Freilassung des Naturschützers, der einen britischen Pass hat, einsetzen.
Zum Schluss: Gute Nachrichten aus der Welt der Bongos
Lustige Streifen, herzige Öhrchen und spitze Hörner – kein Wunder ist der Kenia-Bongo bei Wilderern beliebt. Die Antilopenart, die, der Name sagt es, nur in einigen Bergregionen Kenias zu finden ist, ist vom Aussterben bedroht. Nicht einmal 100 Tiere wurden zuletzt in freier Wildbahn gezählt. Doch nun hat die Population Zuwachs bekommen: Fünf Bongos wurden in einem Schutzgebiet ausgesetzt. «Das markiert den historisch wichtigsten Schritt für das Überleben der Kenia-Bongos», verkündete der veterinäre Leiter der Schutzbehörde im «Guardian» stolz. In den nächsten Jahren sollen sukzessiv weitere Tiere in die Wildnis entlassen werden, mit dem Ziel, dass in 30 Jahren 750 Bongos durch die kenianischen Berglandschaften hüpfen.
Was sonst noch wichtig war
Die Corona-Lage: Die Omikron-Subvariante BA.2 dominiert mittlerweile die Schweizer Infektionen, die wieder stark zunehmen: Wir nähern uns der Grössenordnung des Peaks der Omikron-Welle von Ende Januar. Eine weitere schlechte Nachricht: Das Virus ist nun in den älteren Bevölkerungsgruppen angekommen, die Spitaleintritte steigen. Die gute Nachricht: Obwohl (noch nicht wissenschaftlich begutachtete) Experimente mit Hamstern BA.2 eine schwerere Krankheitslast zuschreiben als dem Original-Omikron BA.1, scheint sich das bei Menschen nicht zu bestätigen, wie Daten aus verschiedenen Ländern zeigen.
Frankreich: Nach schweren Ausschreitungen auf Korsika hat der französische Innenminister Gérald Darmanin der Insel eine mögliche Autonomie in Aussicht gestellt. Zunächst aber müsse die Gewalt aufhören, forderte er.
Grossbritannien: Julian Assange darf keine Berufung gegen seine Auslieferung an die USA einlegen. Das entschied der Supreme Court in London: Als eine der letzten Möglichkeiten bleibt Assange noch der Gang an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Japan: Bei einem starken Erdbeben vor der Küste Fukushimas sind am Mittwoch vier Menschen getötet worden, über 100 wurden verletzt. Beim Atomkraftwerk Fukushima Daiichi seien keine ungewöhnlichen Vorgänge verzeichnet worden. Eine zunächst ausgesprochene Tsunamiwarnung haben die Behörden am Donnerstag aufgehoben.
Kolumbien: Bei den Parlamentswahlen hat das Linksbündnis von Gustavo Petro, einem ehemaligen Guerillakämpfer, seine Sitzzahl verdreifacht. Bei der Präsidentschaftswahl Ende Mai hat Petro als erster linker Kandidat überhaupt realistische Chancen, gewählt zu werden.
Saudiarabien I: Der Blogger Raid Badawi ist nach zehn Jahren Haft freigelassen worden. Badawi wurde vorgeworfen, den Islam beleidigt zu haben, weil er eine Trennung von Staat und Religion vorschlug. Allerdings darf er das Land nicht verlassen. Seine Frau und die Kinder leben in Kanada.
Saudiarabien II: Am Wochenende wurden bei der grössten Massenhinrichtung seit Jahren 81 Todesurteile vollstreckt. Menschenrechtsorganisationen sagen, viele der Verurteilten hätten unter Folter Geständnisse abgelegt.
Irak:Mehrere Raketen sind am Sonntag nahe der kurdischen Metropole Erbil eingeschlagen, eine Person wurde leicht verletzt. Der israelische Geheimdienst habe in den getroffenen Gebäuden operiert, meldeten die Revolutionsgarden in Teheran, die den Angriff als Vergeltungsakt für mutmassliche israelische Attacken für sich reklamierten.
Krypto: Das EU-Parlament hat sich gegen ein indirektes Verbot von Kryptowährungen entschieden, die auf einem Konsensmechanismus basieren – zum Beispiel Bitcoin und Ethereum.
Die Top-Storys
Krömer im Ernst Als Virtuose seines Fachs hat der deutsche Komiker Alexander Bojcan, besser bekannt als Kurt Krömer, zahlreiche Preise abgesahnt. Doch die vielen erfolgreichen Jahre waren geprägt von Suchterkrankung und Depression. In einem Porträt im «Zeit Magazin» (Paywall) erzählt Bojcan von einer dramatischen Kindheit mit einem alkoholkranken Vater und wie er zeitweise nur noch für Auftritte aus dem Bett kam, bis irgendwann nichts mehr ging.
Unfassbar belastbar Können Sie Stress besser handeln als Menschen um Sie herum? Gelangen Sie zur vollen Blüte, wenn Sie einen Berg von Arbeit vor sich haben? Im SZ-Magazin geht es einer Autorin ähnlich. Aber ist das so gesund? Ein Text (Paywall) darüber, wie sich Selbstausbeutung als Resilienz ausgibt.
Zeitungen stapeln sich auf Zeitungen. Allwöchentlich klauben die Bewohnerinnen in der Region Olten zwei bis vier Gratiszeitungen aus dem Briefkasten. Gedruckte Zeitungen sollen passé sein? Nicht im Gäu, nicht im Niederamt – auch nicht in Olten.
In gewissen Haushalten landen die Zeitungen direkt im Altpapier. In anderen sorgen sie für ein Grundrauschen an Informationen zu Stadt und Region. Du gehörst zu Ersteren und willst eigentlich nur wissen, wie du die Zeitungen losbekommst? Dann spring direkt ans Ende des Artikels.
In diesem Beitrag nutzen wir die Gelegenheit, um dir ein Panorama zu den Gratiszeitungen, die in den Briefkästen der Region Olten landen, zu geben. Warum so viele? Wer steckt dahinter? Wann ist eine Zeitung eine Zeitung?
Wir haben die wichtigsten Fragen und Antworten zusammengestellt, um dir im Blätterwald einen Überblick zu verschaffen. Aber wir massen uns nicht an, die publizistische Qualität der Zeitungen zu beurteilen.
Dass Kolt über das Medienpanorama berichtet, mag paradox erscheinen. Darum sei gleich an dieser Stelle klargemacht: Auch die Kolt-Redaktion gibt seit letztem Jahr eine Gratiszeitschrift heraus. Neunmal im Jahr erscheint das k!. Warum wir das tun und wie du das Blatt abbestellen kannst, erfährst du weiter unten – selbstverständlich.
Warum gibt es in der Region Olten so viele Gratiszeitungen?
Dazu müsste zuerst die Frage beantwortet sein: Ist die Dichte an Gratiszeitungen in Olten aussergewöhnlich? Wissen könnte dies die Post, da sie die Zeitungen zustellt. Weiss sie aber nicht: «Die Post erstellt keine spezifischen Auswertungen zur Dichte an verteilten Gratiszeitungen in bestimmten Regionen der Schweiz», schreibt die Medienstelle auf Anfrage.
Wagen wir ein kleines, nicht repräsentatives Zahlenspiel (neudeutsch: Fun Fact): Wenn Olten überaus viele Lokalblätter hat, müsste dann in der Kleinstadt nicht überdurchschnittlich viel Altpapier angehäuft werden? Und siehe da: Die subjektive Wahrnehmung, Olten schwimme in den Gratiszeitungen, lässt sich an dieser Zahl bestätigen.*
Das zeigt der Vergleich mit Aarau: In der Nachbarstadt sammelte der Werkhof letztes Jahr 55 Kilogramm Altpapier und Karton pro Einwohner ein. Und beispielsweise in der Stadt Basel, wo der Anzeiger digital erscheint, fallen pro Kopf und Jahr 53,4 Kilogramm an (neuste Daten für das Jahr 2020). In Olten waren es 61,2 Kilogramm (insgesamt 750 Tonnen Altpapier und 378 Tonnen Karton). Generell nahm die Altpapiermenge über die letzten Jahre kontinuierlich ab, was aber kaum an den Gratiszeitungen liegt. Die Kartonmenge nimmt derweil zu.
Der kleine Unterschied
Fakt ist: Das Phänomen der vielen Gratiszeitungen in der Region Olten ist nicht neu. Alle «Lokalblätter», die in die Briefkästen flattern, existieren schon seit Jahrzehnten (das k! ist die einzige Ausnahme) – die Neue Oltner Zeitung seit rund 27 Jahren, der Stadtanzeiger seit 90 Jahren und der Anzeiger Thal Gäu Olten seit über 140 Jahren.
Die letzten beiden Zeitungen sind nicht einfach «Gratiszeitungen», sondern erscheinen im Auftrag der Gemeinden – wie der Name es verrät – als Anzeiger. Optisch lassen sie sich nur unwesentlich von einer herkömmlichen Gratiszeitung wie der Neuen Oltner Zeitung unterscheiden. Die Anzeiger drucken zusätzlich amtliche Inhalte wie Baugesuche oder Traktandenlisten für Gemeindeversammlungen ab.
Die Gratiszeitungen sind so etwas wie der Seismograph der Gesellschaft. Mit unzähligen Kleininseraten vollgepflastert, stehen sie stereotypisch für das, was das Mittelland auszeichnet: Die zahlreichen KMU wie auch Vereine finden in den Gratiszeitungen eine Plattform und erreichen über diesen Kanal alle Haushalte. Das ist mit ein Grund, weshalb die Zeitungen rentabel funktionieren können, obwohl sie sich untereinander konkurrenzieren.
Damit zurück zur Frage, warum es in der Region so viele Lokalblätter gibt: Um die Reichweite zu erhöhen – also mehr Menschen zu erreichen –, bedienen die Verlage auch Gemeinden über das eigentliche Stammgebiet hinaus mit ihrer Zeitung. Besonders lukrativ ist dabei die Stadt Olten mit ihren über 11’000 Haushalten. Je grösser die Auflage, desto besser das Verkaufsargument bei Inseraten und Kleinanzeigen.
Die Verlage können bei Firmen und Interessensgruppen damit punkten, dass sie selbst jene Haushalte erreichen, die «Stopp-Werbung»-Kleber an ihrem Briefkasten angebracht haben. Weshalb das so ist, erklären wir weiter unten. Etwa der Anzeiger Thal Gäu Olten wirbt auf seiner Webseite explizit mit diesem Verkaufsargument.
Das sind die Gratiszeitungen der Region
Der Stadtanzeiger
Hinter dem amtlichen Publikationsorgan der Stadt Olten steht CH Media, einer der grossen Schweizer Verlage. Er gibt zugleich auch die einzig verbliebene traditionelle Tageszeitung, das Oltner Tagblatt, heraus.
Die Neue Oltner Zeitung
2017 kaufte SVP-Doyen Christoph Blocher den Zehnder-Verlag, der 24 Gratiszeitungen herausgibt. Eine davon ist die Neue Oltner Zeitung. Mittlerweile heisst der Verlag Swiss Regiomedia AG und er steht hinter 29 Titeln, die über die gesamte Deutschschweiz verteilt erscheinen. Die NOZ wird in 26 Gemeinden im Gäu, rund um Olten und im Niederamt vertrieben.
Der Anzeiger Thal Gäu Olten
Als Genossenschaft organisiert, ist der Anzeiger TGO seit über 140 Jahren das amtliche Publikationsorgan für 24 Gemeinden in den Bezirken Thal, Gäu und Olten (Ausnahme: die Stadt Olten). 2003 erweiterte der Anzeiger sein Verbreitungsgebiet nach Olten und Trimbach. An dieser Expansion hätten zahlreiche Firmen und Vereine aus den Bezirken Gäu und Thal grosses Interesse bekundet – daran habe sich bis heute nichts geändert, schreibt Geschäftsführer Jörg Kilchenmann.
Das Tatsch
Seit 1995 erscheint die Gratiszeitschrift. Heute wird sie von einer der letzten Oltner Druckereien Dietschi** herausgegeben. Thomas Müller als Besitzer und Geschäftsführer haut für die Publikation gleich selbst in die Tasten. Das Magazin erscheint in den Bezirken Olten und Gösgen.
Der Niederämter Anzeiger
Seit über 120 Jahren erscheint er im untersten Teil des Kantons Solothurn. Anders als andere Gratiszeitungen hat er nicht über den angestammten Bezirk hinaus expandiert. Verlagshaus ist die Widmer Druck AG in Schönenwerd, ein Familienunternehmen in der vierten Generation.
Das k! – ein Stück Kolt
Im Vergleich zu den traditionsreichen Gratisanzeigern ist die neue Gratiszeitschrift k! eine kleine Maus. Herausgegeben wird sie vom 2S Verlag, den Yves Stuber vor gut einem Jahrzehnt gründete, als er das Kulturmagazin Kolt ins Leben rief. Das k! ist primär ein Werbeinstrument für die heutige Lokalzeitung Kolt und es erreicht alle Haushalte in der Stadt Olten neun Mal pro Jahr.
Wie steht es wirtschaftlich um die Gratiszeitungen?
Kleininserate und – im Falle der offiziellen Publikationsorgane – amtliche Anzeigen sind das Lebenselixier der Gratiszeitungen. Wie sich die Konkurrenzsituation auf dem Werbemarkt auswirkt, dazu haben die Verlage unterschiedliche Haltungen. Urs Billerbeck, Geschäftsleiter der Neuen Oltner Zeitung, kommentiert knapp: «Sehr stark» sei die Konkurrenz zu spüren. Und fügt bei: «Der Erfolg einer Gratiszeitung hängt bestimmt immer stark von einem guten Verkaufsteam ab.»
Jürg Kilchenmann, Geschäftsführer des Anzeigers Thal Gäu Olten, hingegen schreibt: «Wir sehen keine besondere Konkurrenzsituation. Die meisten Titel sind bereits über zehn Jahre auf dem Markt, bei der Leserschaft etabliert und im Werbemarkt gesetzt. Man kennt und respektiert sich.»
Die Medienstelle von CH Media, der Herausgeberin des Stadtanzeigers, antwortet auf Anfrage: «Was amtlichen Anzeigern finanziell mehr Sorgen bereitet, sind die eingebrochenen Werbeeinnahmen.» CH Media verweist darauf, dass ein Grossteil der Werbeeinahmen an die Giga-Techfirmen (Google, Meta etc.) verloren gegangen ist.
Trotzdem lässt sich mit Gratiszeitungen noch immer Geld verdienen. Das zeigt das Beispiel des Anzeigers Thal Gäu Olten. Da er als Genossenschaft organisiert ist und den vertraglich gebundenen Gemeinden gehört, gibt der Anzeiger jedes Jahr seinen Gewinn bekannt: Auf rund eine Viertelmillion Franken belief sich der Überschuss in den letzten Jahren. Den Grossteil schüttet die Genossenschaft jeweils wieder an die Gemeinden aus.
Im Gegensatz dazu legen die Neue Oltner Zeitung und der Stadtanzeiger ihre Zahlen nicht offen. Die NOZ liesse sich profitabel herausgeben, schreibt Geschäftsleiter Billerbeck aber. Und CH Media antwortet lediglich, es sei «bedeutend schwieriger geworden».
Wann gilt eine Gratiszeitung als Zeitung?
Wie erwähnt ist die Reichweite der grosse Trumpf der Gratiszeitungen. Dank der Schweizerischen Post erreichen die Publikationen alle Haushalte – «ohne Streuverlust», wie die Post wirbt. Bei amtlichen Publikationen wie Anzeigern ist sie dazu verpflichtet, die Zeitung allen Haushalten zuzustellen. Anders sieht es mit nichtamtlichen Gratiszeitungen aus. Zu diesen zählen in der Stadt Olten das k!, das Tatsch, die Neue Oltner Zeitung und auch der Anzeiger Thal Gäu Olten.
In diesem Fall wägt die Post ab, ob die Publikation für die Leserin als kommerzielle Sendung einzustufen ist oder nicht. Sprich: Was als Werbung gilt und was als Gratiszeitung zulässig ist, entscheidet die Post. Die Medienstelle erklärt sich wie folgt:
«Bei den Gratiszeitungen werden mehrere Kundenanliegen an die Post herangetragen: Es gibt Leser, welche generell an Informationen aus lokalen Gratiszeitungen interessiert sind und diese auch ausdrücklich zu erhalten wünschen. Etwas komplizierter wird es im Falle der sogenannten ‹Stopp-Kleber-Briefkästen›. Hier gilt es zu unterscheiden zwischen Empfängerkunden, welche generell keine unadressierten Sendungen wünschen, und solchen, die trotz Stopp-Kleber durchaus an Gratiszeitungen interessiert sind und sich bei deren Nichterhalt vehement zur Wehr setzen.»
Wie wirst du die Gratiszeitungen los?
Darauf gibt die Post gleich eine eindeutige Antwort:
«Die Post löst die widersprüchlichen Kundenwünsche, indem sie es ihren Gratiszeitungsempfängern freistellt, sich auf eine sogenannte ‹Negativliste› setzen zu lassen. Anhand dieses Hilfsmittels erkennt das Zustellpersonal, welche Kunden ausdrücklich keine Gratiszeitungen wünschen. Das pragmatische Vorgehen bewährt sich in der Praxis.»
Die Kommentare der Kolt-Leser zeigen jedoch: Nicht in jedem Fall ist’s so einfach. Mehrfache Nachrichten oder Telefonate an die Verlage führten nicht in allen Fällen zum erwünschten Zustellungsstopp. In der Stadt Olten sollte dies aber für den Anzeiger Thal Gäu Olten und die Neue Oltner Zeitung funktionieren, wie die Verantwortlichen auf Nachfrage bestätigen. Eine Mail oder ein Anruf müsste in der Regel genügen.
Eine weitere Option ist es, explizite «Kein …»-Kleber für die jeweilige Publikation am Briefkasten anzubringen. Auch hier aber zeigt sich gemäss Leserinnen-Kommentaren, dass dies etwa im Fall vom Tatsch nicht zuverlässig funktionierte. Wer hingegen den amtlichen Anzeiger abbestellen möchte, muss bei der Gemeinde eine Verzichtserklärung einreichen.
Was will k! und wie kannst du es abbestellen?
Der 2S Verlag von Yves Stuber hat letztes Jahr als Herausgeber von Kolt zusätzlich mit dem k! eine neue Zeitschrift lanciert. Der Verlag will damit sämtliche Haushalte der Stadt Olten erreichen und so neue Kolt-Mitgliedschaften dazugewinnen. Zudem verlagerte sich so die Werbung in die Gratiszeitschrift k! – das Kolt-Magazin für bezahlende Abonnentinnen ist seit Anfang Jahr werbefrei.
Mit der Gratiszeitschrift ist der Kolt-Verlag mitschuldig am dichten Oltner Blätterwald. Auch fürs k! ist die Reichweite lukrativ, um Inserate zu generieren. Aber das Gute zum Schluss: Die Gratiszeitschrift lässt sich mit einer Mail abbestellen. Schreib deine Postadresse an abmelden@kolt.ch.
*In einer ersten Version schrieben wir irrtümlicherweise, in Olten werde weniger Altpapier verursacht als in Aarau und Basel. Die Zahl basierte aber auf falschen Daten: Aarau und Basel summieren das gesammelte Altpapier und den Karton, derweil der Werkhof Olten die Zahlen separat aufführt.
** Dietschi ist nicht die letzte verbliebene Druckerei, wie zunächst geschrieben. Mit der AZ Reproplan AG besteht noch eine zweite Druckerei, die auch grössere Druckaufträge ausführen kann.
Ferienzeit. Mama im Zug mit ihren zwei Töchterchen auf Exkursion.
Lautsprecherdurchsage: «Nächster Halt: Olten»
«Sind wir schon da?», fragt die ältere Tochter, vielleicht 5-jährig.
«Nein, das ist Olten, wir müssen doppelt so weit fahren», sagt Mama.
«Was ist Olten?»
«Ein Ort. Eine Schweizer Stadt.»
«Was macht man in Olten?»
«Das Gleiche wie in Basel, hier wohnen und leben Menschen.»
Das Mädchen schaut mit grossen Augen in die blendende Morgensonne, welche die Sicht auf die Jurahügel bricht, als der Zug aus dem Hauenstein-Basistunnel rauscht.
Seit gut 100 Jahren verbindet die acht Kilometer lange Röhre das Baselbiet mit dem Mittelland. Der Tunnelbau am Hauenstein hatte schon zuvor Pioniercharakter: Kurz nachdem die Centralbahngesellschaft zur Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet worden war, vollendete sie am Hauenstein ihr erstes grosses Bauwerk: Der alte Hauenstein-Tunnel, der ins Homburgertal nach Läufelfingen führte, war entstanden. Olten als Kilometer null erhielt mit dieser Verbindung den ersten zentralen Baustein auf dem Weg zum Eisenbahnknotenpunkt.
Auf die Frage, was man in Olten macht, hätte die Mutter auch antworten können: «In Olten steigt man um.»
Was vor der Bahn war, dem widmet sich das Reisemagazin Transhelvetica in seinem neuen Buch «Zeitreisen». Im 2021 publizierten Buch erzählen die Historiker Benedikt Meyer, Marius Kindlimann und Beat Damian auf einer Reise von der Urgeschichte bis in die Moderne kleine Geschichten und verknüpfen sie mit Orten in der ganzen Schweiz. Vom Dinosaurier am Monte San Giorgio über das von Karl dem Grossen gegründete Kloster am äussersten Zipfel der Schweiz bis zu den Wurzeln von Roger Federer ist alles drin. Und eben auch der Hauenstein.
Der gehauene Stein
Bevor die Tunnels gebaut waren, führte die Achse nach Basel viele Jahrhunderte lang über den Berg – über die beiden Hauenstein-Pässe. Da oben durch die grünen Jurahügel, wohin der Blick des Mädchens schweift, als der Zug im Oltner Bahnhof einrollt.
Das war schon in der Antike so, zur Zeit des römischen Reichs. Der untere Hauenstein verband Trimbach mit Läufelfingen. Der Weg über den oberen Hauenstein führte von Oensingen durch die Klus nach Langenbruck und rüber ins Waldenburgertal und von dort bis an den Rhein.
Der Hauenstein erschloss die helvetischen Zentren Aventicum, Vindonissa und Augusta Raurica. Auf ihren langen Reisen konnten die Römer keine Abkürzungen durch Tunnels nehmen. Ihr deshalb wichtigstes Utensil: die Sandalen. Sie ermöglichten den Römern lange und trotzdem – für die damaligen Komfortstandards – beschwerdefreie Reisen.
Aber zurück an den Hauenstein: Wie aus dem kurzen Kapitel im Buch «Zeitreisen» hervorgeht, hatte Cäsar während des Gallien-Feldzugs im grossen Stil Strassen anlegen lassen. Für die «viae militares», die strassenartigen Hohlwege, schlugen die Römer im steinigen Grund ein Strassenbett, das sie mit Sand und Kies kofferten und mit Pflastersteinen deckten. Von diesem aufwendigen Bauprozedere leitet sich der Name «Hauenstein» ab.
Kurz vor der Passhöhe in Langenbruck ist heute noch ein solcher Hohlweg zu sehen. Allerdings sei nach neuer Forschung unklar, ob dieser aus der Römerzeit stammt. Die römischen Truppen sollen aber über diesen Pass gekommen sein, als im Jahr 275 in Augusta Raurica bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten.
Gut möglich, dass die Römer auf dem Weg in den Norden in Ollodunum – dem damaligen Olten Rast machten. Die Aarestadt ist in den römischen Geschichtsquellen zwar mit keinem Wort erwähnt, aber mit Grabungsfunden ist längst nachgewiesen, dass eine bedeutende Siedlung zur Römerzeit bestand.
Metzinas Worte
«Mehr Plätze zum Verweilen, für Menschen statt für Autos» – das wünschen sich unsere Leserinnen und bis heute lautet so der meistbefürwortete Input in unserer nicht repräsentativen Kolt-Abstimmung. Am Fusse der Mühlegasse unterhalb der Altstadt hat Olten eine neu gestaltete Piazza erhalten. Eigentlich war da vorhin schon viel Freiraum. Doch das Beispiel zeigt, wie einfach städtebauliche Räume sich aufwerten lassen: Ein paar Sitzbänke und Bäume auf der gepflasterten, leichtabfallenden Treppe – schon bietet sich eine völlig andere Aufenthaltsqualität.
Der Stadtrat hat dem aufgewerteten Platz den Namen einer Oltnerin gegeben, die Ende des 14. Jahrhunderts in einem Hexenprozess freigesprochen wurde: Metzina Wächter.
Als 1383 Berner und Solothurner Truppen vor der Stadt standen, soll der Graf Berchtold von Kyburg – damaliger Herrscher über die Stadt – Metzina Wächter gerufen haben. Sie soll auf seine Bitte hin an die Zinne der Ringmauer gestanden sein und ein paar Worte gesprochen haben. Ein Unwetter brach aus – die Belagerer sahen sich zum Abzug gezwungen.
Solothurn verdächtigte Metzina Wächter daraufhin der Hexerei und klagte sie an. Dank der Fürsprache einiger einflussreicher Solothurner Frauen wurde sie aber nicht verurteilt. Sie musste jedoch «Urfehde» schwören – ein Versprechen, nie wieder einen Schadenzauber auszusprechen.
«Von dem grossen Regen, der zu Olten mit Zauberie gemacht ward»: die einzige bildnerische Darstellung in der Berner Diebold-Schilling-Chronik von 1478-1483
Biswind und die alljährliche Frage zum Hockeyklub
Im Städtlein kündigt sich derweil sachte, aber unverkennbar der Frühling an. Das ist dann, wenn sich die halbe Stadt wieder einmal fragt, ob es nun denn dem Eishockeyklub dieses Jahr zum Titel reicht oder ob das Warten nach bald drei Jahrzehnten weitergeht. Und dann, wenn draussen wieder Leben einkehrt.
Neues kommt, Altes kommt zurück. In Olten Südwest baut Karls Kühne Gassenschau seine Bühne wieder auf. Im Kleinholz ist mit der Minigolfanlage fast schon ein Denkmal verschwunden. Pumptrack, so heisst hier die Zukunft. Eine hügelige, kurvige Bahn für Velos und sonst allem, was auf zwei Rädern rollt. Ein kleiner Vergnügungspark.
Selbst auf der ewig «verbotenen Wiese» direkt unter dem Koltbüro regte sich in diesen Tagen was. Dieser kleine grüne Fleck neben der Badi, den die Stadt jahrelang eingezäunt gelassen hatte, erfuhr kürzlich wahrhaftiges Leben. Zwei Menschen spielten das nordländische Spiel Kubb. Da stand ein hölzerner König mitten auf dem Feld und wurde trickreich mit Holzscheiten beworfen.
Solche Sachen machen die Menschen in Olten eben, wenn der Frühling naht.
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Krieg in der Ukraine: Die neuesten Entwicklungen
Das Kriegsgeschehen: Die Lage in vielen ukrainischen Städten ist nach über zwei Wochen Angriffskrieg durch Russland desaströs. Immer mehr Wohngebiete und öffentliche Einrichtungen sind unter Beschuss. Mindestens 18 Gesundheitseinrichtungen oder ihre Mitarbeitenden sollen bisher angegriffen worden sein, vermeldete die Weltgesundheitsorganisation WHO am Mittwoch. So wurde in Mariupol unter anderem eine Geburtsklinik bombardiert, wobei lokalen Behörden zufolge mindestens 3 Personen getötet wurden. Die Hafenstadt am Schwarzen Meer ist von russischen Soldaten umzingelt. Auch in Charkiw dauern die Gefechte an, die zweitgrösste Stadt der Ukraine ist unter Dauerbeschuss, wie auch Irpin, ein Vorort von Kiew. Vor den Toren der Hauptstadt gelang es ukrainischen Kämpfern in der vergangenen Woche immer wieder, russische Vorstösse abzuwehren. Russland zieht derzeit weitere Truppen vor der Stadt zusammen. Die ukrainische Armee befürchtet einen baldigen Angriff.
Angst um Atomkraftwerke: Nach Angriffen auf AKW in der Ukraine stieg diese Woche weltweit die Angst vor einem nuklearen Unglück. Vergangenen Freitag haben russische Streitkräfte die Atomanlage Saporischschja beschossen, in der Folge ist ein Brand ausgebrochen. Dabei sei jedoch keine radioaktive Strahlung ausgetreten, meldete die internationale Atomenergiebehörde IAEA. Das Atomkraftwerk Tschernobyl, seit dem ersten Tag der Invasion in russischer Hand, ist derweil vom Stromnetz abgeschnitten. Auch hier gab die IAEA nach anfänglicher Unsicherheit Entwarnung: Selbst ohne Strom könnten die Brennstäbe ausreichend gekühlt werden, um die Sicherheit zu gewährleisten. Allerdings: Bei beiden AKW ist die automatische Übertragung von Daten zur Behörde inzwischen abgebrochen. Die IAEA-Inspektorinnen können dadurch den Zustand des Kernmaterials nicht mehr überprüfen.
Die humanitäre Lage: Besonders gravierend ist die Situation in Mariupol. Die Stadt ist aufgrund der russischen Belagerung seit Tagen ohne Wasser und Strom, die Nahrungsmittel sind knapp. Fotos von ausgehobenen Massengräbern gingen um die Welt, das Rote Kreuz spricht von einer «apokalyptischen Situation». Auch aus Kiew und Charkiw gebe es Berichte über ausgehende Nahrungsmittel und fehlendes Wasser, meldet das Welternährungsprogramm der Uno.
Russische und ukrainische Vertreter hatten sich in den letzten Tagen mehrfach auf Fluchtkorridore aus Mariupol und vier weiteren Städte geeinigt, durch die sich Zivilistinnen in Sicherheit bringen sollen. Doch die Evakuierungsversuche scheiterten immer wieder an den Gefechten. Gemäss ukrainischen Behörden sollen Putins Streitkräfte Fluchtbusse beschossen haben. Laut Uno-Angaben sind bisher über 2,3 Millionen Menschen aus der Ukraine geflüchtet, die meisten ins Nachbarland Polen. Der Schweizer Bundesrat will am Freitag einen EU-Beschluss von vergangener Woche nachvollziehen und die Einführung des Schutzstatus S beschliessen. Damit können ukrainische Geflüchtete schnell und unkompliziert ein Aufenthaltsrecht erhalten. 1624 Geflüchtete sollen bisher in der Schweiz eingetroffen sein, meldete das Staatssekretariat für Migration.
Reaktionen aus dem Ausland: Als Reaktion auf die anhaltenden Angriffe erhöhen westliche Staaten den wirtschaftlichen Druck auf die russische Regierung. Massnahmen kommen nicht nur von staatlicher Seite, sondern auch aus der Privatwirtschaft: So haben unter anderem Mastercard und Visa ihre Karten für Russland blockiert, und Konzerne wie Amazon haben nach längerem Zögern Lieferungen nach Russland eingestellt. US-Präsident Joe Biden hat derweil bekannt gegeben, alle Importe von Öl, Gas und Kohle aus Russland zu stoppen. Grossbritannien hat sich dem Entscheid angeschlossen und will bis Ende Jahr auf russisches Öl verzichten. Schon vor den Beschlüssen sind die Ölpreise in die Höhe geschossen. Die EU sieht von diesem Schritt bisher ab, denn im Vergleich zu den USA ist sie deutlich abhängiger von russischem Gas und Öl. Stattdessen hat sie weitere russische Oligarchen auf die Sanktionsliste gesetzt und drei belarussische Banken aus dem Zahlungssystem Swift ausgeschlossen.
Gegen eine immer wieder erhobene Forderung des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski sperren sich die Nato-Kräfte weiterhin: das Einrichten einer Flugverbotszone über der Ukraine. Gemäss Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg würden mit einem solchen Schritt Nato-Länder direkt in den Krieg involviert, und die Situation würde weiter eskalieren.
Reaktion in Russland:Auch Wladimir Putin warnte vor einer Flugverbotszone: «Jede Bewegung in diese Richtung wird von uns als Teilnahme des jeweiligen Landes an einem bewaffneten Konflikt betrachtet.» Es war nicht die einzige Warnung aus Russland. Vizeregierungschef Alexander Nowak drohte mit der Schliessung der Erdgaspipeline Nord Stream 1. Dies würde besonders die EU treffen: Sie bezieht 40 Prozent ihres Erdgases aus Russland. Diese Drohung ist eine direkte Reaktion auf die Sanktionen gegen Russland. Eine weitere Drohgebärde kam vom früheren Präsidenten Dmitri Medwedew, der laut über eine Verstaatlichung von ausländischen Unternehmen in Russland nachdachte. Die Bevölkerung im Land begegnet dem Krieg mit immer grösser werdenden Protesten. Die Polizei hat Tausende Demonstrantinnen festgenommen.
Was als Nächstes geschehen könnte: Dmytro Kuleba und Sergei Lawrow, die Aussenminister der Ukraine und Russlands, haben sich am Donnerstag das erste Mal seit der russischen Invasion in der Türkei getroffen. Zugeständnisse machte dabei keine Seite. Beide Minister plädierten aber dafür, die Verhandlungen fortzusetzen. Der türkische Aussenminister bezeichnete das Treffen als «wichtigen Anfang». Nach dem Treffen versuchte sich Lawrow einmal mehr in Realitätsleugnung: «Wir haben nicht vor, andere Länder anzugreifen. Wir haben ja auch die Ukraine nicht angegriffen», sagte er vor der Presse.
Dauert der Krieg in der Ukraine an, könnte das in verschiedenen Weltregionen zu Hungerkrisen führen. Russland und die Ukraine sind die beiden grössten Weizenexporteure der Welt, besonders Entwicklungsländer sind von diesen Lieferungen abhängig. Bereits jetzt sind die Preise für verschiedene Getreide massiv angestiegen.
Amazonas: Der Regenwald droht zur Savanne zu werden
Darum geht es: Grosse Teile des Amazonas-Regenwaldes haben in den vergangenen 20 Jahren an Widerstandskraft verloren. Das belegt eine neue Studie eines britisch-deutschen Forscherteams. Mit der Widerstandskraft ist die Fähigkeit des Waldes gemeint, sich von Dürren oder Bränden zu erholen. Die sinkende Resilienz, so die Studienautoren, könnte dazu führen, dass der Amazonas-Regenwald abstirbt. Trockene Gebiete und solche in der Nähe menschlicher Siedlungen sind besonders bedroht.
Warum das wichtig ist: Der Amazonas-Regenwald speichert erhebliche Mengen an CO2. Er macht mehr als die Hälfte des weltweiten Regenwaldgebietes aus und zählt zu den Kippelementen, die das Weltklima aus dem Gleichgewicht bringen könnten. Mit dem Überschreiten des Kipppunktes könnte sich der Regenwald in eine Savanne verwandeln. Einer der Autoren der Studie, Chris A. Boulton, sagte, die grossen Bäume des Amazonas funktionierten wie ein gigantisches Netzwerk für Wasserrecycling, weil der Wind die von den Bäumen abgegebene Feuchtigkeit in alle Richtungen weitertrage. Weniger Wald bedeute damit auch mehr Trockenheit anderswo. Eine Savanne würde ausserdem wesentlich weniger CO2 speichern und viel weniger Tierarten Schutz bieten.
Was als Nächstes geschieht: Gemäss Schätzungen würde ein Verlust von 20 bis 25 Prozent der Walddecke im Amazonasbecken zum kritischen Kipppunkt führen. Wann genau der Übergang stattfinden wird, ist laut den Wissenschaftlern nicht genau ermittelbar – wenn man es beobachten könne, sei es aber bereits zu spät. In Brasilien, dem Land mit dem flächenmässig grössten Anteil am Amazonas-Waldgebiet, schreitet die Abholzung des Regenwaldes unter Präsident Jair Bolsonaro wieder schneller voran.
Deutschland: Verfassungsschutz stuft AfD zu Recht als Verdachtsfall ein
Darum geht es: Das deutsche Verwaltungsgericht Köln hat am Dienstag entschieden, dass der Verfassungsschutz die Partei Alternative für Deutschland (AfD) als Verdachtsfall einstufen darf. Es gebe ausreichend Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen innerhalb der Partei, so die Begründung des Gerichts. Somit hat es eine Klage der AfD gegen diese Einstufung abgewiesen.
Warum das wichtig ist: Das Gericht stützt sich auf ein neues Gutachten zur AfD. Laut diesem üben Protagonistinnen des sogenannten «Flügels» der Partei weiterhin massgeblichen Einfluss aus. Zwar sei der Flügel formal aufgelöst worden, deren Protagonisten wie der Thüringer AfD-Landeschef Björn Höcke würden aber weiterhin massgeblichen Einfluss haben. Im Flügel sowie auch in der Jugendorganisation Junge Alternative sei ein ethnisch verstandener Volksbegriff ein zentrales Politikziel. Nach diesem müsse das deutsche Volk in seinem ethnischen Bestand erhalten und «Fremde» möglichst ausgeschlossen werden. Dies stehe im Widerspruch zum Volksbegriff des deutschen Grundgesetzes. Die Einstufung als «Verdachtsfall» erlaubt dem Verfassungsschutz die Überwachung von Funktionären mit Geheimdienstmethoden wie Abhörungen, E-Mail-Überwachung und der Anwerbung von bezahlten Informantinnen.
Was als Nächstes geschieht: Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Dagegen kann Berufung eingelegt werden.
Menschenrechte: Pandemie und Kriege verschlechtern die Lage für Frauen
Darum geht es: Zum Internationalen Frauentag am letzten Dienstag meldete die Menschenrechtsorganisation Amnesty International eine dramatische Verschlechterung der Frauenrechte in den letzten zwölf Monaten. Gründe dafür sind die Corona-Pandemie, kriegerische Auseinandersetzungen, aber auch der Regimewechsel in Afghanistan und verschärfte Abtreibungsgesetze in den USA.
Warum das wichtig ist: Krisen treffen Frauen oft noch stärker als Männer. So gab es während der Pandemie mehr häusliche Gewalt, und der Zugang zu Gesundheitsdiensten war an vielen Orten eingeschränkt. In Afghanistan verloren die Frauen nach der Machtübernahme der Taliban viele Rechte, insbesondere im Bildungsbereich. Im äthiopischen Bürgerkrieg übten sowohl Soldaten, die aufseiten der Regierung kämpfen, wie auch Rebellentruppen massive sexuelle Gewalt aus. In den USA wurde in mehreren Bundesstaaten das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche eingeschränkt. Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine und die Reaktionen darauf schreibt Amnesty International: «Die zunehmende Militarisierung des Alltags durch die Verbreitung von Waffen, die Eskalation von Gewalt und die Umlenkung öffentlicher Mittel in Militärausgaben stellen einen hohen und unhaltbaren Preis für das tägliche Leben von Frauen und Mädchen dar.»
Was als Nächstes geschieht: Neben den Verschlechterungen beobachtet Amnesty International auch Fortschritte: In mehreren europäischen Ländern laufen Reformen für strengere Gesetze gegen sexuelle Gewalt. In Ländern wie Kolumbien oder Mexiko wurden die Abtreibungsgesetze liberalisiert.
Zum Schluss: Alles für die Frau
Wer sich in sozialen Netzwerken herumtreibt, wird sie in den letzten Tagen bestimmt gesehen haben: herzerwärmende, engagierte Posts von Unternehmen, die zum Weltfrauentag am 8. März für die Rechte der Frauen einstehen. Wichtig! Wenn es da nicht diesen einen Twitter-Account geben würde, der den Unternehmen ganz schön die Show vermiest: der «Gender Pay Gab Bot». Der Account macht sich ein seit 2018 in Grossbritannien gültiges Gesetz zunutze: Firmen ab 250 Angestellten müssen demnach die Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen ausweisen. Und genau diese Lohnunterschiede stellt der Account zu den Weltfrauentag-Posts der Unternehmen – so als reality check. Fast noch köstlicher als diese Konfrontationen sind die Reaktionen der Unternehmen, gesammelt in diesem Twitter-Thread.
Was sonst noch wichtig war
Die Corona-Lage: Der letztwöchige Trend setzt sich fort, die Infektionszahlen steigen wieder, und das schnell. Das zeigen einerseits die PCR- und Antigentests, andererseits Abwasserproben. Die Omikron-Variante hangelt sich in die höheren Altersgruppen, was bald Auswirkungen auf die Spitäler haben könnte. In den letzten Wochen hatten die Spitaleintritte sowie die Belegungszahlen der Intensivstationen abgenommen, diese Woche aber nicht mehr.
Venezuela:Die venezolanische Regierung hat zwei inhaftierte US-Amerikaner freigelassen. Der Entscheid folgte auf einen Besuch einer US-Delegation. Dieser wird als Versuch der USA gedeutet, nach den gestoppten Ölimporten aus Russland neue Verbindungen zu knüpfen, ist doch Venezuela der grösste Ölexporteur der Welt.
USA I: Im ersten Verfahren dieser Art sprach eine federal juryeinen Texaner, der am Sturm aufs Kapitol beteiligt war, schuldig. Am selben Tag wurde als Folge Henry Tarrio, früherer Anführer der rechtsradikalen Proud Boys, festgenommen. Er ist unter anderem wegen Verschwörung angeklagt.
USA II: Der Patient, der als erster überhaupt ein Schweineherz eingesetzt bekommen hat, ist zwei Monate nach der Operation gestorben. Noch ist nicht klar, ob sein Körper das fremde Organ abgestossen hat.
Die nigerianische Mafia Sie kommen in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Sie finden Drogenkriege, Zwangsprostitution und leben in ständiger Angst vor dem Juju-Zauber: Eine investigative Dokumentation, zu sehen auf Arte, zeigt, wie die nigerianische Mafia junge Frauen aus ihrer Heimat nach Europa lockt und sie von Land zu Land verschleppt.
Zwei wie Pech und Schwefel Brüder, die sich so ähnlich sehen, das man meinen könnte, es seien Zwillinge. Dabei hätten Vitali und Wladimir Klitschko in ihrer Kampftechnik unterschiedlicher nicht sein können. Ebenfalls auf Arte zu sehen ist jetzt der Dok-Film «Klitschko». Veröffentlicht 2011, gibt er einen detailreichen Einblick in das Leben zweier Ausnahmetalente aus der Ukraine, die gescheit genug waren, einen Vertrag mit Boxpromoter-Legende Don King auszuschlagen, und trotzdem, oder genau deshalb, Weltruhm erlangten.
Ein Paar zu viel Wenn es nicht mal zwei Paartherapeutinnen schaffen, ihre Beziehung zu retten, dann klingt das nach einer Geschichte, die man lieber nicht liest, sofern man nicht alle romantischen Hoffnungen zu Grabe tragen möchte. Die Interviews im «NZZ Magazin» mit dem getrennten Paartherapeuten-Paar lohnen sich aber genau deshalb: weil sie so schön unromantisch sind – und dadurch wirklich lehrreich.
Diese Recherche wurde uns von der Republik zur Verfügung gestellt.Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur.
Da sass er also, Ueli Maurer, der Finanzminister, nonchalant wie eh, und erzählte das Gegenteil von dem, was alle tagelang geschrieben, gesagt und getwittert hatten. Russland sei für die Schweiz gar kein wichtiger wirtschaftlicher Partner, sagte er vergangenen Montag, als die Regierung die vollständige Übernahme von EU-Sanktionen gegen Russland beschloss. Vielmehr gehöre die Grossmacht in die Kategorie «ferner liefen».
Die russischen Investitionen in die Schweiz: unbedeutend («weniger als 1 Prozent»). Die russischen Vermögen auf Schweizer Banken: nicht relevant («weniger als 2 Prozent»).
Das war eine sehr selektive Darstellung der Dinge, mit der Maurer vor allem eines zu sagen schien: Die Schweizer Beteiligung an den internationalen Sanktionen spiele keine grosse Rolle.
Vier Tage zuvor hatte der Finanzminister schon einmal seinen eigenwilligen Blick auf den Krieg in der Ukraine offenbart. Als die russische Invasion gerade begonnen hatte, sagte Maurer in einem Fernsehinterview, Wladimir Putin sei «ein strategischer Kopf», der seine Ziele verwirkliche. Er lobte dessen Aussenminister Lawrow als «einen der besten». Und in Maurers Ausführungen über die «russische Seele» klang einiges Verständnis an, als er etwa erklärte, Russland fühle sich gedemütigt – so wie ein angeketteter Hund: «Den kann man schlagen, aber wenn man ihn loslässt, rächt er sich.»
Putin als Rächer – so stellte es Bundesrat Ueli Maurer am Tag des Kriegsausbruchs dar. Und die schweizerisch-russischen Wirtschaftsverflechtungen als Nichtigkeit.
Zwischen diesen zwei Auftritten lagen vier turbulente Tage, in denen die offizielle Schweiz ihrem besten Ruf gerecht werden wollte, tatsächlich aber ihr schlechtestes Bild abgab.
Sie glaubte, ihre Zurückhaltung ermögliche Gute Dienste als Vermittlerin zwischen den Kriegsparteien. Das Zaudern aber wirkte, als gehe es ihr in Wirklichkeit um gute Geschäfte mit Russland.
In den Tagen vor dem Krieg hatten Medien weltweit unter dem Titel «Suisse Secrets» darüber berichtet, wie die Grossbank Credit Suisse trotz gegenteiliger Beteuerungen jahrzehntelang Gelder von Despoten angenommen und gebunkert hatte. Die Partnermedien in der Schweiz verzichteten darauf, Namen zu nennen, weil das Bankengesetz dies verbietet. Als die Schweiz bei Kriegsausbruch dann auch noch zögerte, die Sanktionen der EU zu übernehmen, kommentierte die «Frankfurter Allgemeine Zeitung»: «Die Schweiz will von Sanktionen gegen Putin nichts wissen.» Und: «Journalisten, die Daten über Konten von Diktatoren veröffentlichen, droht Gefängnis.»
Die Kehrtwende folgte am letzten Montag: Die Schweiz übernahm alle EU-Sanktionen. «Ein in diesem Umfang einmaliger Entscheid», sagte Bundespräsident Ignazio Cassis. Und die «New York Times» verschickte eine Pushmeldung: Die Schweiz lege damit die Tradition der Neutralität beiseite.
Seither ist hierzulande eine Debatte über die Neutralität entbrannt. Oder vielleicht eher: über ihren Nimbus. Und darüber, wie die Neutralitätspolitik in Zukunft aussehen soll.
Klar ist: Neutralitätspolitik bedingt eine gewisse Kohärenz. Wer Frieden stiften und für alle Seiten ansprechbar bleiben will, muss glaubwürdig sein.
Lange liefen die Geschäfte der Schweiz ganz gut. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion lautete das Motto go east, und aus diesem Grund zeigten die Zahlen zu den Exporten nach Russland in den ersten zwei Jahrzehnten der neuen Weltordnung steil aufwärts. Zwischen 1992 und 2012 verzehnfachte sich der Wert der ausgeführten Waren.
Zwar war Russland gemessen an den Exporten der Schweiz in die EU und in die USA ein kleiner Absatzmarkt. Aber er wuchs. Und ein Ende des Wachstums war nicht absehbar.
Damals schien der Autokrat Wladimir Putin wie ein stabiler Garant für die wachsenden Wirtschaftsbeziehungen – bis er 2014 die Krim besetzte. Die USA und die EU ergriffen umgehend Sanktionen gegen Russland. Doch die Schweiz übernahm sie nicht, sondern traf lediglich Massnahmen, damit die Sanktionen nicht umgangen werden konnten.
Der eigenwillige Schritt liess sich 2014 noch erklären – mit der Neutralität. Aber vor allem mit dem Schweizer Vorsitz der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Diese vermittelte wegen der Krim-Besetzung zwischen Russland und der Ukraine. Gute Dienste – mit der Schweiz an der Spitze.
Aber selbst diese Massnahmen zur Verhinderung von Umgehungsgeschäften versetzten den florierenden Schweizer Exporten einen Dämpfer. 2015 gingen die Ausfuhren nach Russland um etwa 20 Prozent zurück, diejenigen der Maschinenindustrie um rund 25 Prozent.
Auch im Kleinen waren die Massnahmen spürbar: 2015 verbot das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) mehrere Exporte von sogenannten Dual-Use-Gütern nach Russland. Das sind Güter, die sowohl zivil als auch militärisch gebraucht werden können. Das Seco stützte sich dabei auf die sogenannte Ukraine-Verordnung. In zwei Fällen handelte es sich bei den verbotenen Exportgütern um Werkzeugmaschinen, in drei um Prüf- und Kalibriersysteme. Die Verantwortlichen seien davon ausgegangen, dass diese in Russland zu militärischen Zwecken verwendet würden, sagt ein Seco-Sprecher dazu.
Doch dann begann ein kleines Kapitel in der grossen Geschichte des Schweizer Polit-Lobbyings. Und das ging so: Nach dem Einbruch der Exporte im Jahr 2015 intervenierten verschiedene Vertreterinnen der Schweizer Maschinenindustrie bei kantonalen Volkswirtschaftsdirektoren und beim Bundesrat. Ihre Forderung: Die Ausfuhrpraxis müsse gelockert werden.
Im Gleichschritt mit der Industrie reichte die damalige St. Galler Ständerätin und heutige Bundesrätin Karin Keller-Sutter einen Vorstoss im Parlament ein, in dem sie die Seco-Praxis offen kritisierte: «Der Spielraum der Verordnung zugunsten der Schweizer Exportwirtschaft wird damit nicht genutzt, was zu einem faktischen Exportverbot für Dual-Use-Güter führt.» Und: «Damit wird das eigentliche Ziel der Verordnung – die Vermeidung der Umgehung der Sanktionen – überstrapaziert. Dies trifft die Schweiz als Industriestandort substanziell.»
Die guten Geschäfte waren bedroht.
Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann, FDP-Mitglied wie Keller-Sutter und ehemaliger Verwaltungsratspräsident des Maschinenbauers Ammann Group, schien Verständnis für das Anliegen zu haben. Er sagte im März 2016, bei der Beurteilung von Gesuchen für die Ausfuhr nach Russland dürfe es «keine ideologischen Prüfkriterien» geben.
Schon einen Monat zuvor hatte der Gesamtbundesrat in der Antwort auf Keller-Sutters Vorstoss geschrieben, was er genau darunter verstand: «Die Ausfuhr von Dual-Use-Gütern an zivil-militärische Mischbetriebe ist sodann grundsätzlich bewilligungsfähig.»
Grundsätzlich bewilligungsfähig.
Was sich hinter dem Beamtendeutsch verbarg, zeigte sich rasch: Von da an bewilligte das Staatssekretariat für Wirtschaft praktisch alle Gesuche für Exporte von Dual-Use-Gütern nach Russland – oder musste sie aufgrund der Vorgaben des Bundesrats bewilligen. Zwischen Anfang 2016 und Ende 2021 kam es zu rund 1300 Ausfuhren von Gütern, die zivil wie auch militärisch genutzt werden können.
Die Maschinenindustrie atmete auf.
Unter den Exporten befanden sich auch rund 120 Spezialmaschinen von Schweizer Maschinenbaufirmen, mit denen hochpräzis gefräst und geschliffen werden kann. Diese Maschinen braucht man unter anderem für die Herstellung von Flugzeugtriebwerken – und zwar von Triebwerken ziviler wie militärischer Flugzeuge.
Tatsächlich wurden diese Maschinen zwischen 2016 und 2021 auch an zivil-militärische Mischkonzerne in Russland verkauft, die Triebwerke herstellen. Das bestätigt ein Seco-Sprecher. Weitere Angaben zu Maschinen, Verkäufern und Käufern macht er mit Verweis auf das Amtsgeheimnis und das Geschäftsgeheimnis der involvierten Firmen nicht.
Warum das brisant ist?
Es ist möglich, dass diese Spezialmaschinen aus der Schweiz in Russland auch zur Herstellung von Triebwerken militärischer Flugzeuge gebraucht wurden. Von Flugzeugen, die die russische Luftwaffe zurzeit im Ukraine-Krieg einsetzt.
Bei diesen handelt es sich im Wesentlichen um vier Flugzeugtypen, wie Militäranalyst Niklas Masuhr vom Center for Security Studies der ETH Zürich sagt: Suchoi Su-30, Suchoi Su-34, Suchoi Su-35 und MiG-35.
Diese Flieger und ihre Bestandteile werden praktisch ausschliesslich in russischen Betrieben hergestellt. Viele dieser Betriebe sind sowohl in der zivilen als auch der militärischen Luftfahrtproduktion tätig und gehören zum Flugzeugkonzern OAK. Dieser wiederum ist seit 2018 Teil des Technologiekonglomerats Rostec – des wohl grössten zivil-militärischen Mischbetriebs Russlands.
Das beweist natürlich nicht, dass Schweizer Präzisionsmaschinen zur Herstellung von russischen Kampfjets verwendet wurden. Aber es ist eben auch nicht ausgeschlossen. Und das ist – gerade in Kriegszeiten – das Problem von Dual-Use-Gütern: Wie sie wirklich verwendet werden, ist für die Behörden kaum überprüfbar.
Auch der Sprecher des Staatssekretariats für Wirtschaft sagt: «Einen Missbrauch kann man nie ausschliessen.»
Er betont, dass das Seco alle Gesuche einer «Einzelprüfung» unterzogen habe. Für diese sei oft die «Exportkontrollgruppe des Bundes» zugezogen worden, der auch Vertreterinnen des Nachrichtendienstes angehörten. Auf diese Weise habe man die zivile Verwendung der Dual-Use-Güter «plausibilisiert». Schliesslich seien alle Schweizer Firmen, die Werkzeugmaschinen nach Russland exportierten, zu einem «Reporting» über die zivile Verwendung der Maschinen verpflichtet worden.
Zwischen 2016 und 2021 verweigerte das Seco einzig in vier Fällen die Ausfuhr von Dual-Use-Gütern nach Russland, weil es davon ausging, dass die Waren eigentlich für die russische Waffenproduktion bestimmt gewesen waren.
Seit die Schweiz letzten Montag die EU-Sanktionen übernommen hat, erübrigen sich allerdings all diese Fragen: Die Geschäfte der Schweiz mit Russland laufen weder gut noch schlecht. Sie laufen gar nicht mehr.
Die Neutralität: Begründung für alles und nichts
Die ukrainische Botschaft ist eine stattliche Villa im Berner Kirchenfeldquartier. An jenem Montagnachmittag, als sich der Bundesrat den EU-Sanktionen anschliesst, tritt ein Mann aus dem Gebäude und sucht Ruhe. Er geht auf und ab, die müden Augen auf das Smartphone gerichtet. Er hat, wie die meisten in der Botschaft, seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen.
Der Botschaftsgarten gleicht einem eilig aufgebauten Flohmarkt: Den ganzen Morgen sind hier Medikamente, Kleider, Sicherheitswesten angeliefert worden. Am Abend soll ein Lastwagen die erste Ladung in die Ukraine bringen.
Der ruhelose Mann ist ein Mitarbeiter der Botschaft. Gleich muss er zum Briefing bei den Schweizer Behörden erscheinen. Das Handy in der Hand, sagt er: «Mein Quartier in Kiew steht unter Beschuss.» Auf seinem Bildschirm zeigt er Fotos einer Häuserzeile, sieben oder acht Stockwerke hoch. Er zoomt rein. «Das ist meine Wohnung», sagt er und wischt zum nächsten Bild.
Darauf: ein schwarzes Loch, so gross wie ein Lastwagen. Zehn Meter neben seiner Wohnung. Ob seine Nachbarn noch da waren, als die russische Granate das Gebäude traf, weiss er nicht.
Dann stürmt der ukrainische Botschafter Artem Rybchenko aus der Botschaft, sein Mitarbeiter folgt ihm. Zu Fuss eilen sie ins Bundeshaus. Kurz darauf wird der Botschafter im Nationalratssaal mit stehenden Ovationen empfangen.
Auch am nächsten Tag gibt es in den Gängen des Bundeshauses nur ein Thema: der Ukraine-Krieg und die Schweizer Neutralitätspolitik.
«Der Bundesrat hat den Neutralitätsbegriff am Montag markant anders ausgelegt als in der Vergangenheit», sagt Hans-Peter Portmann, FDP-Nationalrat und Aussenpolitiker. Den Positionsbezug finde er zwar richtig, aber: «Ich bedaure, dass er diesen Kurswechsel vorgenommen hat, ohne vorgängig die zuständigen demokratischen Institutionen zu konsultieren.»
Ähnlich sieht es die Mitte-Politikerin Elisabeth Schneider-Schneiter, die ehemalige Präsidentin der Aussenpolitischen Kommission. Der Bundesrat habe einen Paradigmenwechsel vollzogen. «Wir kommen nicht umhin, den Neutralitätsbegriff neu zu definieren.» Auch SVP-Nationalrat und Aussenpolitiker Roland Rino Büchel sagt, die Neutralität sei nun nicht mehr die gleiche. Vor allem aber: «Die Rolle der Schweiz als Vermittlerin, als Erbringerin der Guten Dienste, ist infrage gestellt.»
Tatsächlich?
Es ist nicht das erste Mal, dass die Schweiz internationale Sanktionen übernimmt. Vom Ende der Neutralität war früher aber in diesem Zusammenhang nicht die Rede. Das Staatssekretariat für Wirtschaft listet auf seiner Website 24 bestehende Sanktionen auf. Dazu gehören Massnahmen gegenüber Mitgliedern und Sympathisanten von al-Qaida oder der Taliban genauso wie die Sperre von Vermögen von Regierungsmitgliedern aus Venezuela.
Ganz anders schätzt denn auch SP-Aussenpolitiker Fabian Molina die Lage ein. Der Bundesratsentscheid vom Montag stelle keinen Paradigmenwechsel dar. «Er ist bloss ein Bruch mit der aussenpolitischen Zurückhaltung von Bundesrat Ignazio Cassis.»
GLP-Nationalrätin Tiana Angelina Moser seufzt und sagt: «Neutralität ist kein Selbstzweck.» In einer Schönwetterlage könne man mit der Neutralität spielen. «Aber die Schweiz kann nicht politisch oder wirtschaftlich daraus Profit ziehen.»
Die einen im Bundeshaus verteidigen die Schweizer Neutralität als Voraussetzung für Gute Dienste, die anderen kritisieren sie als Vorwand für gute Geschäfte.
Was stimmt?
«Das Geniale an der Neutralität», sagt Historiker Sacha Zala, «ist, dass sie eine leere Hülse ist, die man füllen kann, wie man will. Damit konnte man schon immer jede politische Handlung begründen. Und ihr Gegenteil.»
Von einem Paradigmenwechsel in der Neutralitätspolitik könne deshalb nicht die Rede sein, sagt Zala, der sich als Direktor der Forschungsstelle Dodis intensiv mit Neutralitätsfragen beschäftigt.
Das Haager Abkommen von 1907 definiere die Neutralität sehr eng: Es gehe darum, sich aus militärischen Konflikten herauszuhalten und alle Kriegsparteien im Hinblick auf den Export von Rüstungsgütern gleichzubehandeln. «Weil darüber hinaus keine handlungsleitenden Pflichten entstehen, hat man in der Schweiz die Unterscheidung zwischen Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik erfunden – und Letztere kann man frei auslegen, wie es gerade passt.»
Illustration: Claudia Salvarani
Ich will es genauer wissen: Sanktionen und die Schweizer Neutralität
Ab 1920, als der Völkerbund gegründet wurde, seien Sanktionen ein zentrales Element der kollektiven Sicherheit geworden, sagt der Historiker Sacha Zala. Dabei ging es einerseits um wirtschaftliche Sanktionen, andererseits um militärische. Doch Neutralität sei im Kern eine rein militärische Angelegenheit, sagt Zala. Es gehe darum, im Kriegsfall keine Seite militärisch zu begünstigen.
Für die Schweiz wurde deshalb eine Ausnahme gemacht: Sie beteiligte sich nicht an militärischen Sanktionen – auch damit die Bevölkerung dem Beitritt zum Völkerbund zustimmte, was sie schliesslich tat. Die Schweiz versprach aber, Wirtschaftssanktionen zu übernehmen. Erst mit dem Entstehen einer «internationalen Gemeinschaft», die den Anspruch hatte, für alle Staaten gültige Verpflichtungen durchzusetzen, etablierte sich die moderne Neutralität.
«Die Neutralität als Alleinstellungsmerkmal der Schweiz begann also faktisch erst 1920», sagt Zala. «Alle Neutralitätspraktiken zuvor geschahen in einem völlig anderen internationalen System: Die meisten Staaten waren bis dahin in den meisten Kriegen neutral gewesen.»
Die erste Bewährungsprobe für die Sanktionen des Völkerbundes kam 1935, als der italienische Diktator Benito Mussolini in Abessinien, dem heutigen Äthiopien, einmarschierte. Der Völkerbund ergriff nach einigem Zögern leichte Wirtschaftssanktionen. Die Schweiz trug diese zuerst mit. Da sie aber wirtschaftliche Nachteile befürchtete, hob sie die Sanktionen 1938 mit Verweis auf die Neutralität wieder auf. «Plötzlich sprach man von der ‹integralen Neutralität›, aber das war ein diskursives Konstrukt, um diese Kehrtwende zu legitimieren», sagt Zala.
Ende der 1940er-Jahre musste sich die Schweiz erneut positionieren. Die USA und die Nato verhängten ein Export-Embargo von militärisch nutzbarer Technologie gegenüber dem Sowjetblock. Die Schweiz verweigerte sich zunächst und berief sich auf die Neutralität. Da drohten die USA, die Schweiz ebenfalls auf die Sanktionsliste zu setzen. Diesen Konflikt löste der Bundesrat 1951 mit dem informellen, schriftlich nicht festgehaltenen sogenannten Hotz-Linder-Agreement, benannt nach den beiden Verhandlungsleitern. «Die Schweiz musste sich dem amerikanischen Druck beugen», sagt Zala: Sie begrenzte ihren Osthandel und ordnete sich der Nato-Embargopolitik gegen den Ostblock unter.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs galten die neutralen Staaten als Schurkenstaaten. Die Schweiz stand als Kriegsgewinnlerin da, weil sie mit den Achsenmächten weiter Handel betrieben hatte.
Der Kalte Krieg verlieh der Neutralität international wieder Akzeptanz. Doch die Schweiz verweigerte sich später den Uno-Sanktionen gegen das Apartheid-Regime von Südafrika und profitierte wirtschaftlich massiv, indem sie Gold- und Diamantenhandel betrieb. Auch gegenüber Rhodesien sah der Bundesrat davon ab, die Sanktionen der Uno mitzutragen – beides mit erheblichem Reputationsschaden.
Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 stellte sich die Frage der Ausrichtung der Neutralität neu. Die Schweiz begann, Sanktionen zu übernehmen. Sie tat es 1990 mit den Uno-Sanktionen gegen den Irak, 1991 mit den Sanktionen der Europäischen Gemeinschaft, später auch der Uno im Jugoslawienkrieg und 1992 gegen Libyen.
«Die heutigen Behauptungen, dass die Schweiz wegen der Neutralität nie Sanktionen ergriffen hat, sind schlichtweg falsch», sagt Zala. «Seit dem Ende des Kalten Krieges hat die Schweiz sich immer wieder internationalen Sanktionen angeschlossen.»
Die Schweiz sei stets im Spannungsverhältnis der Weltmächte gestanden und habe sich der Lage entsprechend angepasst. Sie habe eine vorsichtige Aussenpolitik verfolgt, was legitim sei für ein Land in ihrer Lage, findet Zala: «Statt einfach zu sagen, sie sei vorsichtig, sagt die Schweiz, sie sei neutral.»
Heute halte die Rechte die Neutralität hoch, um das Abseitsstehen der Schweiz zu fordern. Aber die frühere SP-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey habe sich genauso auf die Neutralität berufen, um etwas ganz anderes zu fordern: humanitäre Einsätze und aktive diplomatische Einmischung in Konflikte.
Als er verkündete, dass die Schweiz die Sanktionen der EU gegen Russland übernehme, sagte auch Bundespräsident Ignazio Cassis: «Der Bundesrat hat die Neutralitätsfrage in diesem Lichte überprüft. Einem Aggressor in die Hände zu spielen, ist nicht neutral. Als Vertragsstaat und Depositarstaat der Genfer Konventionen sind wir den humanitären Geboten verpflichtet und dürfen nicht zusehen, wie diese mit Füssen getreten werden.»
Gute Dienste leistete die Schweiz in der Vergangenheit immer wieder, meist als diskrete Diplomatie. So vertritt sie die Interessen anderer Länder im Rahmen von Schutzmachtsmandaten. Sie tat das schon 1870/1871 im Deutsch-Französischen Krieg, später im Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie während des Kalten Krieges. Heute vertritt sie die Interessen der USA im Iran, die gegenseitigen Interessen zwischen dem Iran und Saudiarabien sowie zwischen Georgien und Russland. Und sie vertritt den Iran gegenüber Ägypten.
Ausserdem dient die Schweiz immer wieder als Gaststaat für Treffen zwischen Konfliktparteien. Oder als Mediatorin.
Darauf schielte offenbar auch Bundespräsident Cassis, als er am 26. Februar mit dem ukrainischen Präsidenten telefonierte: die Schweiz als Vermittlerin von Friedensgesprächen zwischen Russland und der Ukraine. Am Samstagabend vor einer Woche vermeldeten die Zeitungen der Tamedia: «Schweiz will Friedenskonferenz in Genf organisieren» Doch Cassis’ Avance blieb ohne Erfolg: Eine Friedensverhandlung mit Schweizer Beteiligung fand nicht statt.
Denn: In kein anderes Land fliesst mehr Geld aus Russland als in die Schweiz, wie ein Wirtschaftsbericht der Schweizerischen Botschaft in Moskau festhält. Der Schweizer Finanzplatz erfreue sich «traditionell grosser Beliebtheit», für reiche Russinnen sei die Schweiz «weltweit mit Abstand die wichtigste Destination» zur Verwaltung der Vermögen.
Ein Schweizer Vermögensverwalter bestätigt das. Viele russische Kunden seien Milliardäre. Diese sind nun in heller Aufregung. Banken werden seit dem Beschluss der EU-Sanktionen mit Anfragen überhäuft. Der Vermögensverwalter sagt: «Der Wert der russischen Assets halbiert sich zurzeit praktisch täglich.»
Gemäss Medienberichten versuchen russische Kundinnen deshalb, ihre Vermögen in Sicherheit zu bringen, Gelder abzuziehen oder ihr Domizil zu verlegen, um nicht unter das Sanktionsregime zu fallen. Es dürften eher verzweifelte Versuche sein.
Hat die Schweiz also, als sie vier Tage lang zögerte, die EU-Sanktionen zu übernehmen, Putins Freundinnen Zeit gekauft?
Rein theoretisch wäre es möglich, in der Zeit zwischen Ankündigung und rechtlicher Umsetzung der Sanktionen Gelder zu verschieben und Anlagen zu verkaufen. Praktisch ist das gemäss Branchenkennern so gut wie ausgeschlossen. Es wäre mit enormen Risiken verbunden.
Die Blockierung von Konten wird in der Regel rasch ausgeführt, sobald die Sanktionen verkündet werden – selbst wenn sie noch nicht rechtskräftig sind. Spezialisierte Einheiten in der Bank spüren Konten von sanktionierten Personen und Firmen auf und frieren sie ein. Das heisst: keine Zuflüsse oder Abflüsse mehr.
Ist eine Blockierung innerhalb der Bank vollzogen, bräuchte es einen High-Level-Entscheid, um diese auszusetzen. Dieses Risiko dürften in einer so aufgeladenen Situation wie jetzt nur die allerdreistesten Bankerinnen auf sich nehmen. Flöge so etwas auf, bedeutete es das Aus für das Finanzinstitut.
Viele der reichsten Oligarchen dürften ihre Anlagen ohnehin schon länger so strukturiert haben, dass ihre Firmen gar nicht unter das Sanktionsregime fallen. Betragen Firmenbeteiligungen weniger als 50 Prozent, entgehen sie den Sanktionen. Der russische Industrielle Oleg Deripaska beispielsweise, den man hierzulande vor allem wegen des Bauunternehmens Strabag kennt, ist seit 2018 auf einer Sanktionsliste der USA. 2019 hoben die USA einige Sanktionen gegen Firmen auf, bei denen Deripaska beteiligt war. Er hatte beschlossen, seine Anteile dauerhaft auf knapp 45 Prozent zu senken.
Wie viel russisches Geld wirklich hier liegt
Als Finanzminister Ueli Maurer am Montag vor den Medien die Bedeutung der russischen Gelder kleinredete, stützte er sich auf Zahlen der Schweizer Nationalbank. Rund 15,9 Milliarden Franken betrugen demnach die russischen Direktinvestitionen im Jahr 2020 in die Schweiz. Das sind 1,3 Prozent aller ausländischen Investitionen.
Nur: Über die Vermögenswerte, die russische Oligarchen etwa in der Schweiz lagern, sagt diese Zahl nichts aus. (Vom russischen Rohstoffhandel, der zu rund 80 Prozent über die Schweiz läuft, ganz zu schweigen.) Worauf also stützte sich Maurer, als er sagte, die russischen Vermögen machten nur knapp 2 Prozent aus?
Gemäss einer Statistik der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich liegen Vermögen in der Höhe von rund 11 Milliarden Franken in der Schweiz. Tatsächlich aber dürfte der Betrag viel höher sein, weil sich die Statistik am Domizil und nicht an der Nationalität der Kontoinhaber ausrichtet. Nicht eingerechnet sind also jene Gelder, die zum Beispiel über Trust-Konstruktionen in Steuerparadiesen wie den Cayman-Inseln, den Bahamas oder den Britischen Jungfern-Inseln in der Schweiz liegen. Die NZZ schrieb denn auch von 50 bis 150 Milliarden Franken, die Russinnen in der Schweiz angelegt hätten.
Womöglich geben die nächsten Tage mehr Aufschluss darüber, wie viel russisches Geld wirklich in der Schweiz liegt. Mit den neuen Sanktionen sind die Banken verpflichtet, gesperrte Konten und Vermögen dem Bund zu melden. Das Seco bestätigte am Freitag auf Anfrage der Republik, dass bereits erste Meldungen zu Vermögen von sanktionierten Personen eingegangen seien. Genaue Zahlen will das Seco erst später bekannt geben.
Worauf Maurer sich bei seinen Ausführungen stützte?
Das zuständige Staatssekretariat für internationale Finanzfragen antwortet, es existiere keine eigentliche Statistik dazu. Man habe aber verwaltungsinterne Abklärungen getroffen, die Banken gefragt und Hochrechnungen angestellt.
Das Fundament von Maurers Aussagen dürfte eine blosse Schätzung sein.
Dieses Nachrichtenbriefing wurde uns von der Republik zur Verfügung gestellt.Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur.
Krieg in der Ukraine: Ein Überblick
Die Lage in der Ukraine: Nachdem der russische Einmarsch in den ersten Tagen stockte, haben die Generäle offenbar die Strategie gewechselt. Vermehrt wird nun in Siedlungsgebieten geschossen statt auf rein militärische Ziele. Grosse ukrainische Städte – besonders in den Grenzgebieten – sind teilweise dauerhaft und massiv unter Beschuss geraten. Besonders betroffen sind die Millionenstadt Charkiw im Nordosten und die Küstenstadt Mariupol. Am Mittwoch geriet mit Cherson die erste und strategisch wichtige Stadt unter russische Kontrolle. Auch Kiew ist unter Beschuss, wiederholt kam es zu schweren Explosionen und Luftangriffen. Ein riesiger russischer Militärkonvoi ist inzwischen bis vor die Tore der Hauptstadt vorgedrungen. «Wir bereiten uns vor und werden Kiew verteidigen!», meldete Kiews Bürgermeister Witali Klitschko über die sozialen Medien. Am Mittwoch hat die Uno-Vollversammlung den Angriff Russlands auf die Ukraine verurteilt. Belarus, Nordkorea, Eritrea, Syrien und natürlich Russland stimmten gegen die entsprechende Resolution. «Dieses Dokument wird uns nicht erlauben, militärische Aktivitäten zu beenden», kommentierte der russische Uno-Botschafter Wassili Nebensja.
Die humanitäre Lage: Die Auswirkungen des inzwischen zehntägigen Kriegs auf die Bevölkerung sind immens: Gemäss den Vereinten Nationen sind seit Beginn der russischen Invasion über 1 Million Ukrainerinnen aus dem Land geflohen. Immer mehr Menschen fallen den Beschüssen zum Opfer: 752 Zivilisten wurden bisher getötet, meldete die Uno am Donnerstag, die ukrainischen Behörden sprechen von über 2000 toten Zivilistinnen. Auch unter den Soldaten sollen auf beiden Seiten Hunderte, wenn nicht Tausende getötet worden sein. Die Zahlen sind jedoch kaum zu verifizieren.
Die Reaktionen: Der Westen reagierte diese Woche mit Sanktionen von bisher ungesehener Härte auf die Invasion. So haben EU und USA (und die Schweiz) inzwischen nicht nur ausländische Konten von Wladimir Putin und dem russischen Aussenminister Sergei Lawrow eingefroren, sondern unter anderem auch ausländische Devisen auf der russischen Zentralbank – mit verheerenden Folgen für die russische Wirtschaft. Viele Staaten, darunter die Schweiz, haben den Luftraum für russische Flugzeuge gesperrt. Auch zahlreiche Grosskonzerne stoppten ihre Exporte nach Russland als Folge der Invasion. Um die Ukraine im Kampf zu unterstützen, hat die EU 450 Millionen Euro für militärische Ausrüstung freigegeben. Viele Länder liefern direkt Waffen und Munition ins Land.
Die Gegenreaktion Russlands: Putin wiederum reagierte mit Drohgebärden auf die Finanzsanktionen. Am Sonntag nahm er die «aggressiven Äusserungen» der Nato zum Anlass, seine Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft zu versetzen. Dennoch haben sich tags darauf erstmals Vertreter der ukrainischen und russischen Regierung an einem Verhandlungstisch in Belarus zusammengefunden in der Hoffnung auf Waffenstillstand. Doch ein Durchbruch blieb bisher aus, die Gefechte dauern an. In Russland regt sich in Form von Protesten der Widerstand gegen den Krieg, trotz massiver Repression. Tausende Demonstrantinnen wurden verhaftet. Unabhängige Medien im Land werden wegen der Verbreitung angeblicher Falschinformationen gesperrt.
Was als Nächstes geschehen könnte: Ein baldiges Ende des Kriegs ist nicht abzusehen. Eine schnelle Machtübernahme in der Ukraine, wie sie sich Russland wohl erhofft hatte, scheint gescheitert. Das zeigen auch Aufnahmen von hungernden russischen Soldaten, die ukrainische Geschäfte plündern. Der Widerstand in der Ukraine scheint grösser, als von Putin antizipiert. Am Mittwoch rief Wolodimir Selenski die Bevölkerung dazu auf, diesen Widerstand aufrechtzuerhalten. «Wir sind ein Volk, das innerhalb einer Woche die Pläne des Feindes zerstört hat», sagte er in einer Videobotschaft. Und schmiedet selber neue Pläne: So hat Selenski diese Woche einen Beitrittsantrag für die EU gestellt und für seine Rede vor dem Europaparlament stehende Ovationen erhalten. Ein Beitritt im Eilverfahren scheint aber unwahrscheinlich.
Australien: Schwere Überschwemmungen im Osten des Landes
Darum geht es: Australien leidet unter dem schlimmsten Hochwasser seit Jahrzehnten. Betroffen sind die Bundesstaaten New South Wales und Queensland im Osten des Landes mit den Millionenstädten Sydney und Brisbane. Mindestens zehn Menschen kamen ums Leben, unzählige werden vermisst, Zehntausende mussten aus unzugänglichen Gebieten gerettet werden. Nach wie vor warten Hunderte auf Rettung, viele von ihnen auf den Dächern ihrer Häuser. Zehntausende Gebäude sind zerstört, über 50’000 ohne Strom, Hunderte Schulen bleiben geschlossen, der öffentliche Verkehr liegt lahm. Vor allem rund um die Stadt Lismore in New South Wales sind die Pegel rasend schnell gestiegen.
Warum das wichtig ist: Die Hochwasser sind eine Folge extremer Niederschläge aufgrund eines sich nur langsam bewegenden Tiefdruckgebiets. Extremwetterlagen nehmen in Australien besonders stark zu – laut Expertinnen eine Folge des Klimawandels. Noch im Januar war die Bevölkerung in den australischen Sommermonaten von einer Hitzewelle heimgesucht worden. Im Westen des Landes stieg die Temperatur auf über 50 Grad. Ausserdem haben die besonders verheerenden Waldbrände von 2019 und 2020 in Australien zu einer Vergrösserung des Ozonlochs geführt.
Weltklimarat: Auswirkungen der Klimakrise sind drastisch
Darum geht es: Diese Woche erschien der zweite Band des sechsten IPCC-Sachstandsberichtes. Darin beurteilen und bewerten Hunderte Forscherinnen aus aller Welt den aktuellen Stand der Klimakrise. Im neuen Bericht untersuchen sie primär die Auswirkungen der Klimaerwärmung auf den Menschen und die Natur. Die Forscher gehen davon aus, dass die Biodiversität durch die steigenden Temperaturen stark gefährdet ist. Für einige wenige Tierarten ist belegt, dass sie als Folge der Klimaerwärmung bereits ausgestorben sind. Durch schmelzende Gletscher oder tauende Permafrostböden sind ganze Ökosysteme bald nicht mehr zu retten. Ausserdem schreiben die Forscherinnen, dass bis zu 3,6 Milliarden Personen als Folge der Klimaerwärmung in ihrer körperlichen und geistigen Gesundheit bedroht sind. Von den Gefahren – Fluten, Wirbelstürmen, Dürren, Hitzewellen – besonders betroffen sind Menschen, die in West- und Zentralafrika, Lateinamerika und diversen asiatischen Ländern leben.
Warum das wichtig ist: Der Weltklimarat publiziert seit 1990 alle sechs Jahre einen neuen Sachstandsbericht. Am zweiten Band des neuen Reports haben Wissenschaftlerinnen aus 67 Ländern mitgearbeitet. Er fasst die Erkenntnisse aus über 34’000 Studien zusammen und ist somit die umfangreichste Bestandsaufnahme der Klimakrise. Der neuste Bericht zeigt mit noch mehr wissenschaftlichen Belegen, wie drastisch die Auswirkungen der Klimakrise sind und sein werden. Der Klimawandel sei eine Bedrohung für das menschliche Wohlergehen und den Planeten, sagt Hans-Otto Pörtner, einer der Leitautoren des neuen Weltklimaberichts. «Wir haben nur ein kleines Zeitfenster für den Klimaschutz und die Anpassungen.»
Was als Nächstes geschieht: Der dritte und letzte Teil des Sachstandsberichts soll im März verabschiedet werden. Er wird sich mit der Anpassung an die Klimakrise sowie der Reduktion von Treibhausgasen befassen.
Corona: Neue Hinweise zum Ursprung des Virus
Darum geht es: Aus dem Labor oder aus der Tierwelt – noch ist der Ursprung von Sars-CoV-2 nicht geklärt. Dreineue, wissenschaftlich noch nicht begutachtete Studien, weisen auf die Bedeutung des berühmtberüchtigten Markts in Wuhan hin. Viele der ersten Infizierten hätten sich gemäss den Studien in dem Teil des Marktes aufgehalten, wo lebendige Tiere dicht an dicht zum Verkauf bereitstanden. Forschende konnten gleich zwei frühe Virusvarianten dort nachweisen, das Coronavirus könnte sich also gleich zweimal von einem Tier auf einen Menschen übertragen haben.
Warum das wichtig ist: Die Frage nach dem Ursprung des Coronavirus wird seit dem Frühling 2020 heiss debattiert. Verschiedene Wissenschaftlerinnen teilten damals unterschiedliche Einschätzungen, eine prominente Gruppe lehnte aber die Laborhypothese als Verschwörungserzählung ab. Die Resultate der folgenden Untersuchung der Weltgesundheitsorganisation WHO in China blieben uneindeutig. Eine weitere Gruppe von erfahrenen Fachleuten forderte darauf im Frühling 2021 verstärkte Anstrengungen: «Beide Theorien bleiben realistisch, die versehentliche Freilassung aus einem Labor und die Zoonose», schrieben sie in einem offenen Brief, den die Zeitschrift «Science» veröffentlichte, die Laborhypothese sei aber in der WHO-Untersuchung wenig berücksichtigt worden. Der Virologe Christian Drosten erklärte in der Republik, weshalb er einen natürlichen Ursprung für wahrscheinlicher hält, wofür er wiederholt angefeindet wurde. Die neuen Hinweise schliessen einen Laborunfall nicht aus, sie stützen aber die zoonotische Hypothese.
Was als Nächstes geschieht: Mit den zusätzlichen Indizien zur Bedeutung des Huanan Seafood Market ist ein Virusursprung in der Tierwelt plausibler geworden. Aber ein gut besuchter Markt könnte auch lediglich als Verstärker für einen Ausbruch anderen Ursprungs funktionieren. Wenn man künftig etwa Antikörper gegen Sars-CoV-2 im Blut von Tieren nachweisen könnte, die auf dem Markt verkauft wurden – oder bei Tieren von Farmen, die an den Markt lieferten – wäre das ein überzeugenderes Indiz. (Bisher waren solche Proben negativ, gemäss Virologe Drosten müssten aber viel mehr solche Proben geprüft werden, gerade bei Tieren, die als mögliche Zwischenwirte infrage kommen). So oder so dürfte es sich lohnen, bei präventiven Massnahmen gegen künftige Epidemien beide möglichen Ursprünge im Blick zu behalten.
Zum Schluss: Putin hat uns den Appetit verdorben
Während die Ukraine unter Beschuss steht, hat der russische Präsident Wladimir Putin in seinem eigenen Land eine massive Desinformationskampagne ausgerollt. Via die russischen Staatsmedien, aber auch via SMS oder Telegram-Kanäle werden Falschmeldungen verbreitet – darüber, wie sich ukrainische Truppen ergeben hätten, wie der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski geflohen sei, wie das russische Militär gegen ukrainische Nazibataillons kämpfen müsse. An verlässliche Informationen zu kommen, ist in Russland zunehmend schwierig. Die Cyberaktivistengruppe Anonymous schlägt deshalb auf Twitter vor, via Google Maps mit der russischen Bevölkerung in Kontakt zu treten. Und zwar, indem man auf der Online-Karte eine Bewertung für eine Firma oder ein Restaurant in Russland schreibe – und dabei erkläre, was in der Ukraine los sei. So sollen russische Bürgerinnen über den Krieg in der Ukraine aufgeklärt werden, ohne dass Putins Regierung die Aussagen zensurieren kann. Anonymous hat dazu auch gleich noch eine russische Textvorlage für die Bewertung gepostet: «Das Essen war super! Leider hat uns Putin mit dem Einfall in die Ukraine den Appetit verdorben. Lehnt euch gegen euren Diktator auf, hört auf, unschuldige Menschen zu töten! Eure Regierung lügt euch an. Steht auf!» Tausende von Menschen folgten dem Aufruf.
Was sonst noch wichtig war
Corona in der Schweiz: Die Fallzahlen nahmen diese Woche wieder zu. Dahinter stecken vermutlich die neuesten Öffnungsschritte sowie die Omikron-Subvariante BA.2, die noch einmal ansteckender ist und mittlerweile geschätzt 30 Prozent der Schweizer Infektionen verursacht. Was eine grössere Zunahme der BA.2-Infektionen für das Gesundheitssystem bedeuten würde, bleibt abzuwarten. Beruhigend ist, dass Impfungen gegen eine symptomatische Infektion mit BA.2 ähnlich gut zu schützen scheinen wie gegen eine Erkrankung an BA.1.
Frankreich: Amtsinhaber Emmanuel Macron hat seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen verkündet. In Umfragen führt er seit Wochen mit 25 Prozent, gefolgt von der Rechtspopulistin Marine Le Pen (17 Prozent).
OPEC: Die Organisation erdölexportierender Länder will die Ölproduktion weiter nur schrittweise steigern, was zu steigenden Ölpreisen führt. Die Internationale Energieagentur will nun Öl aus strategischen Reserven freigeben.
Neuseeland: Corona-Massnahmen-Gegner haben am Mittwoch vor dem Parlamentsgebäude in Wellington ihr Protestcamp in Brand gesetzt, als dieses von der Polizei geräumt wurde. 38 Personen wurden verhaftet.
Die Top-Storys
Schlechte Medizin Fehlende Informationen, manipulative Beratungsstellen und das Gefühl, wie eine Kriminelle behandelt zu werden: Wer sich in Deutschland für einen Schwangerschaftsabbruch entscheidet, begibt sich nicht selten auf einen traumatisierenden Spiessrutenlauf. In einer Recherche des lokalen Netzwerks von Correctiv haben über 1500 Frauen von ihrem Abbruch berichtet und schildern dramatische Szenen.
Die Despoten unserer Zeit Il-sung, Hussein, Franco, Mussolini, Amin und Noriega: In einer Porträtserie widmet sich Arte sechs Diktatoren, die sich mit gnadenloser Unterdrückung an der Macht hielten. Und zeigt präzise auf, wie und warum sie es soweit schaffen konnten.
On the road with the Bundespräsident Es war sein bisher wichtigster Auftritt als neuer Bundespräsident und als Aussenminister. Und er vergeigt ihn. Mit seiner verwirrenden ersten Rede zur russischen Invasion hat sich Ignazio Cassis dieser Tage keine Pluspunkte geholt. Was ist das eigentlich für ein Mensch? Die NZZ hat ihn begleitet.
Alle zwei Wochen steht eine Gemüsekiste vor meiner Haustür. Je nach Saison finden sich darin Karotten, Krautstiele, Pastinaken oder Heidelbeeren – alles regional, alles bio. Ich liebe meine Gemüsekiste. Meine Tochter findet sie einen wiederkehrenden Gruss aus der Hölle (weil Gemüse halt). Unbestritten ist jedoch, dass der Inhalt der Kiste früher oder später Abfall produziert. Kerngehäuse von Äpfeln und Birnen, Rüstabfälle von Rüebli und Kohlrabi, schneckenzerfressene Salatblätter, keimende Kartoffeln.
Ich wohne seit Jahren in einem Mehrfamilienhaus ohne Garten und Kompost. Folglich werfe ich alle Grünabfälle in den Müll. Und habe dabei ein furchtbar schlechtes Gewissen. Zahlen zeigen aber, dass ich nicht die Einzige bin, die ihre Rüstabfälle auf diese Weise entsorgt:
2012 hat das Bundesamt für Umwelt die Mülltonnen der Schweizer Bevölkerung unter die Lupe genommen. Dabei stellte sich heraus, dass biogene Abfälle einen Drittel des gesamten Kehrichts ausmachen. Ich rechne nach: In Olten kostet ein 35-Liter-Abfallsack 1.90 Franken. Ein Drittel davon ist dreiundsechzig Rappen. Ich zahle also pro Jahr rund 33 Franken dafür, dass meine «Rüeblischinti» und «Öpfelbütschgi» allwöchentlich entsorgt werden. In den acht Jahren, in denen ich nun in Olten wohne, hätte ich über 260 Franken sparen können, gäbe es in meiner Umgebung einen Kompost. Was also tun? Diese Frage stelle ich René Wernli, Leiter des Werkhofs Olten.
René Wernli auf dem Kompost am Theodor-Schweizer-Weg.
«Natürlich kann man auch in einer Mietwohnung kompostieren», versichert mir Wernli. In Olten gäbe es beispielsweise die selbständig organisierten und von der Stadt unterstützten Kompostgruppen Hausmattrain, Höhenstrasse, Kleinholz, Mattenweg, Meierhof, Platanen, Theodor-Schweizer-Weg, Schärenmatte und Reiserstrasse.
Im letzten Jahr haben diese neun Gruppen zusammen 114 Tonnen Kompost produziert, also jede Menge nährstoffhaltigen Humus für Garten, Rabatten und Balkonpflanzen. Das finde ich sehr beeindruckend. Die Frage, die sich mir allerdings stellt, ist, was ich denn um Himmels willen mit diesem Humus anfangen soll?
Natürlich habe ich ein Töpfchen Basilikum vor dem Küchenfenster. Aber so rasch, wie der immer stirbt, kann ich gar keinen Humus darauf werfen. Dasselbe bei den balkontauglichen Kompostvarianten wie dem Bokashi-Eimer (Fermentation durch Effektive Mikroorganismen) oder der Wurmbox: Wohin mit der so produzierten Komposterde, wenn man keine oder kaum Zimmer- oder Balkonpflanzen besitzt? (Kommt hinzu, dass die auf Google wiederkehrende Frage «Warum flüchten Würmer aus der Kiste?» meine Lust auf einen Selbstversuch deutlich schmälert.)
«Eine weitere Möglichkeit, in einer Mietwohnung seine Obst- und Gemüsereste loszuwerden, sind die Grüngutcontainer», erklärt Wernli. Regelmässig werden diese geleert und die Grünabfälle nach Oensingen in den Kompogas-Fermenter gebracht. Der Begriff Grünabfälle wird hier deutlich grosszügiger ausgelegt als beim klassischen Kompost. Der Fermenter schluckt Gartenabfälle und Eierschalen genauso wie Haushaltpapier, übriggebliebene Spaghetti oder Kotelettknochen. Bei der zweiwöchigen Vergärung entsteht daraus methanhaltiges Biogas und Gärgut. Das Biogas wird zur Strom- und Wärmeproduktion genutzt, das flüssige und feste Gärgut in der Landwirtschaft als Dünger verwendet.
Zur Veranschaulichung: Im Jahr 2021 hat die Stadt Olten rund 1’742 Tonnen Bioabfälle nach Oensingen gekarrt. Daraus entstanden sind unter anderem Strom für 82 und Wärme für 24 Haushalte. Das, so dachte ich, sind Endprodukte, mit denen ich etwas anzufangen weiss, und war entschlossen, mir einen solchen Grüngutcontainer anzuschaffen. Einen Haken hat die Sache allerdings: Der kleinste Container umfasst 50 Liter.
So viel Krautstil und Jungspinat kann ich gar nicht verkochen, um auf die nötige Menge Bioabfälle zu kommen. Zumindest nicht, wenn ich verhindern will, dass meine Tochter ein Formular zur Adoptionsfreigabe ausfüllt. Alternative Lösung: Ich muss meine Verwaltung davon überzeugen, dass ein Grüngutcontainer für alle Wohnparteien im Mehrfamilienhaus eine gute Sache ist. «Nicht alle Verwaltungen unterstützen eine solche Anschaffung», gibt Wernli zu bedenken. «Gerade im Sommer können die Container unangenehm riechen.»
Zu guter Letzt bleibt noch die Möglichkeit, sein «Kompostkübeli» unter der Woche selbst in den Werkhof oder zur Firma Turuvani im Hasli zu tragen. Letztere hat auch am Samstag geöffnet. Beide Standorte sind einen mindestens 25-minütigen Fussweg von mir zu Hause entfernt. Das ist weit. Sehr weit sogar. Allerdings hat dies auch sein Gutes: Die Würmer, sollten sie denn tatsächlich aus dem Werkhof- oder Turuvani-Kompost fliehen, schaffen es niemals bis zu mir ins Quartier.
*Rebekka Salm (42) wohnt seit einigen Jahren in Olten, arbeitet in Zürich im Asyl- und Flüchtlingsbereich, ist Autorin und Mutter einer Tochter.
Und bereits sind die Olympischen Winterspiele in Peking wieder Geschichte. Sie mögen in vielerlei Hinsicht etwas speziellere Spiele gewesen sein. Lange standen vor allem das strenge Corona-Regime sowie die Menschenrechtslage (Unterdrückung der Uiguren) in der Volksrepublik im Vordergrund. Am Ende obsiegte der mächtige Sport, die Spiele fanden «normal» statt.
Wie sehr werden wir uns an die sportlichen Erfolge erinnern? Darauf haben wir noch keine Antwort. Zumindest war die Schweizer Delegation abermals überaus erfolgreich. Eines blieb ebenfalls unverändert: Die Norweger dominierten den Medaillenspiegel nach Belieben. Sie sahnten in fast allen Sportarten Medaillen ab. So resultierten am Schluss 37 Auszeichnungen, davon 16 goldene. Seit den Winterspielen 1992 in Albertville klassierte sich Norwegen nur einmal ausserhalb der Top 4 des Medaillenspiegels. Eine beeindruckende Serie für ein 5-Millionen-Menschen-Land.
Spät, aber er kam
Seit es um Weihnachten herum zum ersten Mal richtig geschneit hat in Trondheim, ist diese Dominanz für mich persönlich etwas verständlicher geworden. Trondheim ist die drittgrösste Stadt Norwegens und ich wohne zehn Velominuten vom Zentrum entfernt. Die Langlaufloipe wiederum ist gerade einmal hundert Meter von meiner WG entfernt. Diese erschliesst ein Loipennetz von ungefähr 60 bis 80 Kilometern Länge. Hinzu kommen nochmals rund 100 bis 150 Kilometer Langlaufloipe auf der anderen Stadtseite. Für Osloer wird dieses für Schweizer Verhältnisse immense Angebot an Loipen aber immer noch als «spärlich» bezeichnet. Und dass die Benützung sämtlicher Loipen in ganz Norwegen kostenfrei ist, wird als selbstverständlich angesehen.
Das Loipennetz um Trondheim ist nicht nur gross, es wird auch rege genutzt. Wenn ich an einem Mittwochnachmittag langlaufen gehe, muss ich mich nicht nur von Leistungssportlern überholen lassen (auch gegen Leistungssportlerinnen habe ich nicht den Hauch einer Chance …), sondern ich treffe auch auf Familien mit Klein- und Kleinstkindern, die gerade den Wald erkunden, sowie auf rüstige Senioren, bei denen man sich fast Sorgen machen muss, ob sie die Abfahrt auch heil überstehen.
Nebst Langlaufloipen sind auf dem ganzen Stadtgebiet Freilufteisflächen verteilt. Meist sind dies Flächen, die im Sommer als Parkplätze dienen. Bei genug kalten Temperaturen werden diese nicht gesalzen, wie sich dies Automobilistinnen wohl wünschen würden, sondern – im Gegenteil – gewässert. So kann sich ein Eisfeld bilden, das zum Eisskaten und Hockeyspielen einlädt. Auch hier gilt: Dass die Benutzung kostenlos ist, versteht sich von selbst.
Alles läuft
Sport scheint allgemein einen höheren Stellenwert zu haben als in der Schweiz. Schon im Sommer staunte ich nicht schlecht über grosse Laufgruppen bestehend aus Männern und Frauen mittleren Alters. Da rannten gerne mal rund vierzig zwischen 45 und 55 Jahren alte Sportbegeisterte knallharte Intervallsequenzen mit ansehnlicher Geschwindigkeit. In der Schweiz überhole ich Gruppen in Joggingschuhen normalerweise locker. Plump gesagt: In Norwegen gehen die Menschen nicht raus, um frische Luft zu schnappen, sondern vielmehr um zu schwitzen.
Schweissperlen braucht es viele, um der enormen Erwartungshaltung gerecht zu werden. Dass beim verkürzten 50-Kilometer-Langlaufrennen an Olympia nur eine Bronzemedaille herausschaute, war bereits eine leise Enttäuschung. Die regelmässigen Topplatzierungen in den Medaillenspiegeln werden beinahe als selbstverständlich angesehen. Verpatzte Medaillenchancen werden mehr diskutiert als Erfolge.
Wenn in vier Jahren wieder Norwegen am meisten Medaillen sammeln sollte, wird mich das nicht mehr verwundern. Ausgezeichnete Wintersportbedingungen, selbst in der Nähe der grossen Städte, und ein ausgeprägtes Bewusstsein für Sport sorgen dafür, dass kaum ein Talent unentdeckt bleibt. All diese Gegebenheiten erklären, warum Norwegen quasi zum Erfolg verdammt ist.
*Marius Kaiser (22) kommt aus Starrkirch-Wil und lebt seit vergangenem Sommer für ein Jahr in Norwegen, wo er Bauingenieurswesen studiert.
Könnte der stillgelegte Posttunnel am Bahnhof Olten künftig als Veloverbindung dienen? Mit dieser Frage hat sich das Parlament beschäftigt. Eine durch Bahn und Strassen zertrennte Stadt – das Problem kennen auch andere Städte der Schweiz. Wir blicken hinaus: Unterführungen für Velos liegen im Trend, brauchen aber meist viel Anlaufzeit. Drei Beispiele:
Der brachliegende Posttunnel in Wil. (Quelle: Stadt Wil / zVg)
WIL (SG)
«Gebaut ist noch nichts», sagt Beatrice Aebi, «was wir haben, ist ein Vertrag mit der SBB.» Es klingt so, als glaube sie erst an den neuen Velotunnel, wenn er auch wahrhaftig sein wird. Aber Wils Stadtplanerin hat das Projekt auf den besten Weg gebracht: Der stillgelegte Posttunnel unter den Bahnhofsgeleisen soll künftig die Stadtseiten für den Veloverkehr verbinden.
Vier intensive Verhandlungsjahre hat Aebi hinter sich. Gewiss, der Prozess sei sehr kompliziert gewesen, sagt sie. Nur schon weil viele Akteure (Post, SBB, Anstösser) involviert sind. Aber sie sagt: «Das Zusammenspiel hat sehr gut funktioniert.» Die SBB hätte sich stets kooperativ gezeigt. Im vergangenen Jahr konnte die Stadt sich mit allen Beteiligten einigen.
Nachdem die SBB den Bahnhof Wil für 40 Millionen saniert haben wird, kann Wil den Tunnel für 150’000 Franken erwerben. Damit gelang der Stadt ein Superdeal, bezahlt sie doch für einen gebauten Tunnel pro Laufmeter bloss 5000 Franken. Der Wiler Posttunnel ist wegen des kleineren Bahnhofs nur 30 Meter lang; die Stadt wird ihn noch mit Rampen erschliessen und aufwerten müssen.
Was Wil kann, kann Olten auch?
Vom Verhandlungsgeschick der sankt-gallischen Kleinstadt sollte sich Olten inspirieren lassen. Abgesehen davon sind die Unterschiede zur Oltner Posttunnel-Idee aber gross. Die Oltner Lösung wäre komplexer – vor allem weil der Velotunnel um ein Vielfaches grösser würde. Die Stadt müsste den Posttunnel zur Aare hin verlängern.
Beatrice Aebi spricht aus Wiler Optik, wenn sie sagt: «Es wäre eine Unterlassungssünde, den Posttunnel nicht zu nutzen.» Die Alternative wäre gewesen, den Tunnel aufzufüllen und somit unbrauchbar zu machen. «Alle müssen wollen. Wenn die Politik nicht mitmacht, hat das beste Projekt keine Chance», sagt die Stadtplanerin. Die Stadt rechnet mit 600 bis 1000 Fahrrädern, die täglich die Verbindung nutzen werden.
Einfahrt zum neuen Velotunnel in Winterthur. (Quelle: Stadt Winterthur / zVg)
WINTERTHUR
Die zweitgrösste Zürcher Stadt weihte ihren neuen Velotunnel im vergangenen Dezember ein. Wie in vielen Schweizer Städten ist der Bahnhof mitten im Herzen der urbanen Region situiert. Auf eine Veloquerung wartet Winterthur indes schon lange. So sagte die örtliche Stadträtin und Bauvorsteherin Christa Meier zur Eröffnung gegenüber dem Landboten: «Schon vor 40 Jahren, als ich jung war, war diese fehlende Veloverbindung ein Dauerthema.»
Im Zuge des grossen Bahnhofsumbaus konnte die Stadt die langersehnte Unterführung realisieren. Die SBB verbreiterte eine 90-jährige Personenunterführung massiv. Dadurch bot sich Platz für eine 4 bis 5,5 Meter breite Velospur, die parallel aber abgetrennt zur Personenverbindung verläuft.
Auf eine Variante wie jene in Winterthur hoffte bisher auch Olten. Zumindest ist im Entwurf des räumlichen Leitbilds vorgesehen, dass ein Velotrassee in die Martin-Disteli-Unterführung integriert wird. Jedoch könnte dies erst im nächsten Ausbauschritt der SBB geschehen, der für das Jahr 2035 anberaumt wäre.
Eindrückliche Dimension: Der ungenutzte Strassentunnel unter dem Zürcher Hauptbahnhof. (Quelle: Stadt Zürich / zVg)
ZÜRICH
Die Metropole denkt immer ein wenig grösser als andere Schweizer Städte. Auch in Zürich steht ein brachliegender Tunnel für eine Veloverbindung bereit. Im letzten Sommer sagte das Stimmvolk klar Ja zum Bauprojekt, das insgesamt rund 28 Millionen Franken kosten wird.
Anders als in Wil oder Olten handelt es sich in Zürich nicht um einen Posttunnel, sondern um einen ursprünglich als Strassenverbindung zwischen den Autobahnen gedachten Tunnel. Nun wird die 200 Meter lange unterirdische Betonröhre aus den späten 80er-Jahren für die Velos umgenutzt. Der Velotunnel wird entlang der Sihl den Bahnhof unterirdisch durchqueren.
Auch hier gingen komplexe Verhandlungen voraus. Pro Velo Kanton Zürich wollte die Betonröhre schon vor über zehn Jahren mit einer Petition zum Velotunnel umnutzen. Ein langer Prozess begann. Erst als nichts mehr darauf hindeutete, dass die Verbindung jemals für den ursprünglich gedachten Zweck als Autostrasse benutzt wird, gab der Kanton Zürich als Eigentümer den Tunnel zur Zwischennutzung frei. Trotzdem: Ein Drittel des Kredits ist für einen allfälligen Rückbau reserviert.
Richard Wolff, Tiefbauvorsteher der Stadt, hatte nach dem Ja an der Urne zu den Medien gesagt, dieser Entscheid bedeute eine Zäsur: «Weg von einer Stadt, die für Autos gebaut wurde, hin zu einer Stadt, in der die nachhaltige Mobilität im Zentrum steht.»
Von rechts nach links oder von links nach rechts: So reden Oltnerinnen, wenn sie davon sprechen, die Stadtseite zu wechseln. Die Orientierung gibt die Aare vor, die nordwärts durchs Städtchen fliesst und es scheidet, seit sich die Siedlungen beidseitig ausgedehnt haben. Den Fluss wussten unsere Vorfahren schon im Mittelalter mit einer Brücke zu bändigen.
Darum haben die Kolt-Leser nicht unrecht, wenn sie feststellen: Nicht die Aare ist das Hindernis für Fussgänger und Velofahrerinnen, die von der einen auf die andere Seite wollen. So paradox es erscheinen mag: Vielmehr der technische Fortschritt, der die Mobilität revolutionierte, zerschnitt die Stadt. Die Bahnlinie und die Kantonsstrasse sind die Hürden der Gegenwart. Sie bremsen den Menschen, in der natürlich gegebenen Fortbewegungsform die urbanen Räume zu beschreiten.
Das ist nicht nur in Olten so. Viele Städte stellen sich heute der Frage: Wie lassen sich die gewachsenen Verkehrsinfrastrukturen fuss- und velofreundlich überwinden?
Die Verkehrspolitik entwickelt sich in eine klare Richtung. Fuss- und Veloverkehr sollen vermehrt von den grossen Strassen entflechtet werden. Christian Ginsig hat eine klare Vorstellung, was dies für die städtische Verkehrspolitik heisst. «Wir müssen Velowege bauen und nicht das Auto verbieten oder verteufeln.» Olten sei nun mal eine Durchgangsstadt. Der grünliberale Politiker sagt: «Jene, die langsamer unterwegs sind und kürzere Wege zurücklegen, sollten auf ihren kurzen Wegen priorisiert und belohnt werden.»
Olten, die Velostadt
Obwohl die Stadtquerung erschwert ist, nutzen Velofahrerinnen die Achse über den Postplatz rege. Dies zeigen Zahlen des Kantons Solothurn. An siebzehn Standorten erhebt er den Velo-Durchgangsverkehr mit automatischen Zählgeräten, die im Boden eingebaut sind. Das Potenzial für den Veloverkehr scheint in Olten besonders ausgeprägt: Wie die Daten verraten, ist die alte Holzbrücke kantonsweit die meistbefahrene Verbindung für Zweiräder. Durchschnittlich befuhren 2020 täglich über 1600 Velos das Oltner Wahrzeichen (beide Richtungen summiert).
Am östlichen Ende der Brücke ist’s aber um die Velofreundlichkeit geschehen: Die Postkreuzung steht seit Jahren in der Kritik – viele Velofahrer scheuen die Fahrt über die Hauptstrasse und benutzen trotz Fahrverbot die Winkelunterführung. Über die Frage, wie sich der Knoten auflösen lässt, rätselt die Politik schon lange. Die immergleichen Lösungsvorschläge kamen in den letzten zwei Jahrzehnten in Endlosschlaufe auf den Tisch. Eine Passerelle über die Bahnlinie. Mischverkehr im Winkel. Als praktikabel erwies sich keine Option.
Geht es nach Christian Ginsig, führt die Oltner Hauptachse fürs Velo künftig weiter flussabwärts über die Aare. Die Idee der neuen Passerelle über den Fluss für Fuss- und Veloverkehr ist nicht sein Gedankenwurf. Stadt, Kanton und SBB haben den Steg in das Giga-Projekt des neuen Bahnhofsplatzes eingebunden. «Wenn dafür schon Millionen investiert werden, sollte die Stadt auch die Veloverbindung weiterdenken», sagt Ginsig. Der Stadtparlamentarier hat dies getan: Entstanden ist daraus sein kühner Vorschlag, den alten Posttunnel an die künftige Passerelle anzubinden.
Der aktuelle Stadtpräsident Thomas Marbet (vorne) und Stadtbaumeister Kurt Schneider (links) besichtigen den Posttunnel im September 2020. (Quelle: zVg)
Velotunnels sind in der Raumplanung zunehmend im Trend – vor allem dort, wo die Alternativen für eine überirdische Verbindung fehlen. In der Schweiz werden derzeit mehrere unter den Geleisen brachliegende Tunnels für den Veloverkehr umfunktioniert (mehr dazu liest du demnächst auf kolt.ch).
Nur sind die Behörden hierfür meist auf einen grossen Player angewiesen: die Bundesbahnen. «Die SBB will den Veloverkehr auch fördern und noch mehr Passagiere in den Bahnhof bringen. Da ist das Velo gerade in Städten eine riesige Chance», sagt Christian Ginsig. Der 49-Jährige kennt das Innenleben der Bundesbahn, ist er doch selbst bei der SBB angestellt. Im Parlament machte er seine Doppelrolle stets transparent. Für die Posttunnel-Idee stehe er als Politiker und Einwohner der Stadt ein.
Ein weiter Weg
Ginsig ist überzeugt, die Stadt könne sich mit der SBB finden, wenn sie geeint auftritt. Dafür brauche die Stadt eine klare Mobilitätsvision. «Wenn wir uns jetzt nicht mit dem Posttunnel beschäftigen, haben wir voraussichtlich über zwanzig Jahre hinaus keine sichere Stadtseitenverbindung», sagt Ginsig.
Tatsächlich stand die Veloverbindung für den Stadtrat bisher nicht zuoberst auf der Agenda. Im räumlichen Leitbild, das die Stadt derzeit erarbeitet, wäre eine durchgehende Radverbindung vom Aaresteg zur Martin-Disteli-Strasse erst im nächsten Bahnhofs-Ausbauschritt der SBB 2035 vorgesehen. Gemäss Ginsig könnte sich dieser aber aufgrund der pandemiebedingt erschwerten wirtschaftlichen Situation bei der SBB verzögern. «Es wäre also fatal, wenn die Stadt die Veloquerung nicht vorher lösen würde», sagt Ginsig.
Durchbruch? Parlamentarierinnen im Posttunnel unterhalb von Gleis 12. (Quelle: zVg)
Mit seinem Vorstoss hat der GLP-Politiker die Debatte lanciert. Nun liegt es an der Stadt, mit der SBB zu verhandeln und zu prüfen, ob sich der alte und stillgelegte Posttunnel auch umnutzen liesse. Auch wenn die angedachte Lösung trivial erscheinen mag, gibt es zahlreiche Problemstellungen:
Der Posttunnel müsste von den Geleisen bis zur künftigen Velostation verlängert werden, um ihn zur Aare hin zu öffnen. Wie viel dies kosten würde, werden die Abklärungen der Stadt zeigen. Erst muss sie aber überhaupt den Tunnel erwerben können. Die SBB signalisierte bisher gegenüber der Stadt, dass sie den Tunnel für die Bahnhoflogistik selbst benötigt. Zudem liesse sich der Tunnel nicht mehr in das Projekt für den neuen Bahnhofplatz einbinden, wie Baudirektorin Marion Rauber auf Anfrage schreibt.
Kurz: Geduld und Geld sind gefragt, will Olten die ungenügende Situation in Sachen Stadtseitenverbindung auflösen. Dass sich Christian Ginsig im Abstimmungskampf gegen das Budget 2022 exponierte, er aber für die Zukunft weitere Investitionen fordert, erscheint widersprüchlich. Er verteidigt sich: «Meine klare Haltung betraf explizit das Budget 2022.» Er fordert vom Stadtrat eine präzisere Investitionsplanung für die kommenden Jahre. «Wenn wir Preisschilder haben, versperre ich mich nicht der Steuerdiskussion», sagt er.
Hilft der Kanton?
Könnte die Stadt für ein Generationenprojekt, wie dieser Tunnel es wäre, nicht auf die Hilfe aus Solothurn zurückgreifen? Der Kanton ist verantwortlich für die unbefriedigende Situation auf den Kantonshauptachsen. Er müsste daran interessiert sein, den Verkehr zu entflechten.
Oltens Baudirektorin Marion Rauber sagt aber, die Stadt könne den Kanton zu nichts verpflichten: «Er ist definitiv nicht verantwortlich für kommunale Verkehrsverbindungen, unabhängig von der Mobilitätsform.»
Der neue Fuss- und Velosteg: Im Bahnhof würde er direkt in die Velostation führen – und von dort weiter durch den Posttunnel auf die andere Stadtseite? (Quelle: zVg / Stadt Olten)
Lieber spät als nie, ist man versucht zu sagen: Erst im April 2020 schuf der Kanton eine eigene Fachstelle für den Langsamverkehr. Seither hat sich was bewegt, wenn auch fürs Erste nur im Schatten der Öffentlichkeit, wie Sascha Attia erzählt. Er führt die Fachstelle momentan im Alleingang und ist im Amt für Verkehr und Tiefbau eingebunden, das ihn unterstützt.
Die Lücken schliessen
Der Kanton will Velorouten von kantonaler Bedeutung neu denken und schaffen. Ein Langzeitprojekt, das über zwanzig Jahre dauern wird. Im Herbst wird der Startschuss erfolgen, wenn der Kanton die entworfenen Pläne erstmals für die Mitwirkungsphase publik macht. Dabei werden Veloachsen wie etwa jene von Olten nach Aarau neu gedacht. «Wir machen einen Korridor auf und suchen die ideale Verbindung für die Linienführung», erklärt Attia den Vorgang.
Der Kanton will so die vorhandenen Netzlücken auf den Velorouten schliessen. Eine solche ist der Oltner Bahnhofquai, über den täglich rund 20’000 Autos und Lastwagen rollen. «Da fahren nur noch die mutigen und geübten Velofahrer durch», sagt Attia, «das ist das Grundproblem, das wir lösen müssen. Wir wollen jene Leute aufs Velo bringen, die noch nicht Velo fahren.»
Olten geniesst als Zentrumsstadt in den Kantonsplänen eine Schlüsselrolle. Entsprechend weiss Sascha Attia um die schwierige Ausgangslage der Eisenbahnstadt. Ob oben- oder untendurch – beides werde sofort sehr komplex und teuer, sagt er. «Eine Unterführung unter der wichtigsten Bahnlinie der Schweiz zu bauen, ist eine schwierige Aufgabe.»
Geld ja, Verantwortung nein
Ist also der Posttunnel die goldene Lösung, die auch als Bestandteil einer Veloroute mit kantonaler Bedeutung einfliessen könnte?
Attia kennt die politische Debatte in Olten. Ob sich der Tunnel als Veloverbindung eignen würde, darüber kann der Raumplaner keine absolute Aussage machen. Für Attia ist entscheidend, ob die Unterführung sich genügend sicher gestalten lässt. Es gelte zu vermeiden, dass ein Angstraum entsteht.
Dabei sind mehrere Faktoren massgebend. Mit 4,5 Metern Breite würde der Tunnel derzeit nicht der Norm entsprechen. Zudem müssten im rund 120 Meter langen Tunnel gute Lichtverhältnisse herrschen.
Olten kann trotz neuem Strassengesetz nicht darauf hoffen, dass der Kanton die Initiative übernimmt. «Unsere Haltung ist momentan: Wir haben nicht die Ressourcen, um Projekte in dieser Grössenordnung selbst zu realisieren», sagt Attia. Ein Kantonsbeitrag an ein städtisches Projekt wäre hingegen denkbar.
Die kantonalen Mittel sind beschränkt. Über die nächsten zwei Jahrzehnte hat die Solothurner Regierung jährlich im Durchschnitt ein bis zwei Millionen Franken für Velorouten vorgesehen. Für teure Verbindungen im städtischen Raum könnte der Kanton aber durchaus auch grössere Beiträge sprechen, stellt Attia klar. Die Stadt sei gleichwohl gefordert. Es liege an ihr, zusätzlich Gelder aus dem Agglomerationsprogramm des Bundes abzuholen.
Weisse Linien zieren den Schützi-Vorplatz und markieren die Konturen eines Spielfelds. Die Basketballkörbe kehren mitten in die Stadt zurück. Dazu brauchte es einen wahrhaftig weiten Wurf. Die Geschichte dazu schrieben wir im letzten Sommer nieder.
Stadträtin Marion Rauber hatte sich schon kurz nach den Wahlen gemeldet und angekündet: Die Körbe werden kommen. Sie hielt Wort.
«Das war sowas wie meine erste Amtshandlung», sagt sie rund acht Monate später lachend in den Telefonhörer.
Rauber bewies damit, dass die politischen Mühlen nicht immer so lange mahlen müssen, wie dies gemeinhin gesagt wird. Gut ein halbes Jahr brauchte die Verwaltung dennoch. Unterdessen machte sich das Kolt-Team ein kleines Spiel daraus, die entlegensten Basketballkörbe dieser Welt festzuhalten.
Korb in Asturien (Spanien).
Korb auf der Fiescheralp (Schweiz).
Korb im Schwarzwald (Deutschland).
Korb in Sizilien (Italien).
Nun ist in der Schützi alles bereit für Streetbasketball-Spiele: Die Fundamente für die Körbe sind eingebaut, die Körbe sind eingetroffen, aber noch nicht aufgestellt. Sobald die Bauarbeiten in der Badi im Frühling vollendet sind, kommen die Körbe hin, verspricht Marion Rauber. «Ich wollte bewusst Körbe, die sich flexibel wegnehmen lassen», sagt sie. Das soll vorübergehend der Fall sein, wenn Grossanlässe den Schützi-Vorplatz belegen.
I was sitting by my balcony window reading Kolt when I heard Boxer’s front door slam. Not a violent slam, but still louder than usual. I watched as he went down to his front gate. He opened it slowly and peeked his head out ever so timidly, looking both ways before stepping out onto the sidewalk.
Later, I mentioned this to him, and he became quite angry – not at me, though. It seems that the day before, he had nearly been run down (‘decapitated’, he called it) by a bicyclist on an e-bike, racing down the trottoir.
“Charles, I have a good mind to redesign my gate so that it opens outward.”
“Boxer! That wouldn’t work. What if you knocked down a Joggerin?”
“Jokerin, more likely. Of course, I see your point. But innocent people should not be in fear of their lives when they venture into a pedestrian zone.”
“Just think how upset you’d be if you had to deal with the mess that horses used to leave.”
“Nonsense, Charles. It is good for the roses. I would be out there with a shovel.”
About a week later, the two of us were walking through Kirchgasse, when one of those silent e-Trottinetts approached from behind and began circling us and other pedestrians. A second one joined in, then a third. It took us all a while to realise that these pests were actually policemen patrolling on their new vehicles.
“They sneak up on you, they do. Why must they be silent?”
“It saves energy, Boxer. These are the latest models. When they re-paved Kirchplatz and most other pedestrian areas, battery charging units were installed underneath. So when the police patrol these streets, they’re charging their Trottinetts at the same time.”
“Oh? Really. The future is now, is it, Charles?”
“Almost. Just another hour or two to go before the past is far behind us.”
“What? Do we change the clocks yet again?”
“Tonight, yes.”
The monthly market was always a big attraction for Boxer. Normally I didn’t go, but he persuaded me to accompany him this time. As we strolled amongst the stalls of cheese and pasta, clothes and cosmetics, he spotted an ‘antique’ stand with an array of silver spoons.
“Thirteen of them, Charles. A complete set. These are Apostle spoons. I shall buy them, even at that price on the label. I will need to look for a display holder for them later.”
After the purchase, we walked farther along toward Hammer. As Boxer stooped to check the price of a New Zealand fern at von Arx’s flower shop, a movement from behind knocked him off balance. A thief had grabbed the bag of spoons and was off on his e-scooter, silently escaping attention of others at the scene. All except for one young fellow.
“I saw that! I’ll catch him, sir!” And off he went on a noisy old skateboard. The chase was over in an instant, as the foot power of the skateboarder far exceeded the battery power of the scooter.
Our rescuer returned, triumphantly bearing Boxer’s bag of spoons.
“Well done, lad!” Boxer was quite impressed by the performance of the skater. “Did the thief get away?”
“No, sir. He turned at Ringstrasse and ran right into a police patrol. I think he lost acceleration, as well, or jammed a wheel. Anyway, he’s caught it now!”
“And whom am I to thank, young man?”
“Whom? Oh! You mean me? My name is Jamie. Jamie Farthing. That’s my shop down there, Rullalauta. That means skateboard in Finnish. Next door, that’s my brother Beni’s shop – Lumilauta – snowboard.”
“Rullalauta, eh? Charles, correct me if I am wrong, but ‘rulla’ must mean ‘roll’ or ‘wheel’, and ‘lauta’ is obviously ‘board’, as in the German ‘Latte’. Am I right, Jamie?”
“Very much so, sir! You seem to know a lot.”
“Well, yes. But what I do not know is how you can manage on a skateboard. Is there a trick to it?”
“A trick? There are dozens! Maybe I could show you a few, if you have time. I could explain how flexible these boards are. In fact, I’ll show you how to ride one. Hop on! I’ll hold your hand. Don’t be afraid. There you go, sir! Bravo!”
And so, with a little help from our friend, Boxer can now say he has ridden a skateboard, in case he needs to impress anyone. Then, after an enjoyable hour of watching Jamie do and explain what he seemed to love best – flips and turns and ‘ollies’ and other tricks – Boxer and I thanked our new friend and rewarded him for his brave rescue of the Apostle spoons.
“Charles, I think what I enjoyed most about Jamie’s exhibition were the sounds of the wheels and the scraping and the kicking off. All very rhythmic. It put me in a good, alert mood.”
“Well, Boxer, I don’t think a skateboarder could sneak up on you like an e-biker.”
“I also think the boards are more versatile, more manœuvrable, and faster too. Those are what the police should be using to patrol the streets of our fair city.”
“A special squad of skateboarders. Why don’t you suggest it to your policeman friend Viktor?”
“Good idea, Charles. And you can ask Jamie if he would like to arrange a sponsorship with his supplier. Now let us go for a drink. I fancy one of those cocktails Jamie mentioned – the Skateboard.”
“Uh – Boxer. I don’t think that was a drink. I think the cocktail he referred to was the design – somehow.”
“Well, then, Charles. We shall just have to invent a cocktail called the Skateboard. Perhaps your readers have some suggestions, eh? They are a creative lot.”
“All right, I’ll ask. Any ideas, dear readers? Send in your recipes for our new cocktail, and we’ll print the best ones.”
David Pearce ist ein Schweizer Schriftsteller, wohnt seit 2000 in Olten und hat amerikanische, englische und französische Wurzeln. Er schreibt auf Englisch Kurzgeschichten, Romane und Theaterstücke.
Heizen wir unsere Wohnstuben in der Stadt künftig nur noch über Fernwärmeverbünde?
Andrea Grüniger: Mit dem Netto-Null-Ziel hat das Gas im Komfortwärmebereich, also für Gebäudeheizungen und Warmwassererzeugung, keine Daseinsberechtigung mehr. Selbst erneuerbares Biogas ist zu limitiert und zu wertvoll, um Raumwärme von 22 Grad zu erzeugen. Es macht für Hochtemperaturprozesse in der Industrie und höchstens als Spitzenabdeckung in Energiezentralen Sinn. In dichtbesiedelten Gebieten sind Fernwärmenetze der ideale Ersatz für Gas.
Erneuerbare Gase wie Wasserstoff könnten aber auch Zukunftslösungen bringen.
Aber primär als saisonaler Stromspeicher. Es wird nie Wasserstoff durch die Quartierleitungen fliessen, darum werden die Gasverteilnetze in die Quartiere obsolet. Wie gesagt ist Fernwärme nicht die Lösung für alles und die Infrastruktur ist teurer als bei Gasnetzen. In Einfamilienhausquartieren lassen sich Wärmenetze kaum wirtschaftlich betreiben. Dort sind dezentrale Lösungen wie Wärmepumpen sinnvoller.
Zur Person
Andrea Grüniger ist für eine private Energieberatungsfirma in Olten tätig. Die 51-jährige Energieexpertin hat sich in den letzten zwei Jahren im Rahmen diverser Aufträge intensiv mit der Frage beschäftigt, wie sich der Aufbau von Fernwärmenetzen und der gleichzeitige Gasrückzug koordinieren lassen und welche Rolle die verschiedenen Akteure dabei einnehmen. Ehrenamtlich ist sie Präsidentin der Energiekommission in Suhr.
Das Beispiel der Stadt Olten zeigt: Der freie Markt erwirkt von selbst die Energiewende. Braucht es die Politik und Behörden noch?
Wo Städte die Energieplanung nicht koordiniert angehen, kommt tatsächlich der freie Markt. Da kommen externe Energieversorger, die sich auf diesem neuen Markt ein möglichst grosses Stück sichern wollen. Sie bauen da, wo es wirtschaftlich lukrativ ist. Diese Rosinenpickerei kann nicht im Interesse einer Stadt sein. Es braucht eine saubere Energieplanung und eine Rückzugsstrategie für das Gas. Die Stadt hat auch einen Versorgungsauftrag an die Bürgerinnen und Netto-Null 2050 heisst, dass jeder Haushalt bis dann von den fossilen Energien wegkommen muss. Folglich muss die Stadt aber auch für jede Liegenschaft eine erneuerbare Lösung aufzeigen können.
Die Städtischen Betriebe Olten haben eine eigene Energieplanung gemacht. Wäre da die Arbeit der Stadt nicht doppelt gemoppelt?
Dies ist legitim und ein kluger Schachzug. Ich würde jedem Energieversorger raten, so vorzugehen. Aber die Federführung müsste bei der Stadt sein. Sie muss die verschiedenen Interessen abwägen und über die Eigentümerstrategie definieren, wohin die Reise geht.
Würden Sie Gemeinden empfehlen, eine Generalkonzession zu vergeben – im Idealfall an den städtischen Betrieb?
Es gibt verschiedene Möglichkeiten: Die Stadt kann alles an die eigene Energieversorgerin vergeben, sie kann aber Wärmeverbünde auch gebietsweise auf dem freien Markt ausschreiben, falls die eigene Energieversorgerin nicht alles abdecken kann oder will. Wichtig ist, dass die Energieplanung in den Händen der Stadt bleibt. Beim externen Energieversorger fehlt der lokale Bezug und er realisiert primär, was lukrativ ist. Hier muss die Stadt koordinieren.
Aarau gibt den städtischen Werken die Hoheit – ein Vorzeigebeispiel?
So behält die Stadt die Kontrolle und profitiert vom Gewinn, den die Werke erwirtschaften. Im Fall der Stadt Aarau würde ich mir wünschen, dass man nicht nur das Stadtgebiet, sondern das ganze Gasversorgungsgebiet des eigenen Werks, welches weit über die Stadtgrenzen hinausgeht, betrachtet. Die grossen Versorger haben oft in den Städten Netto-Null-Ziele, in den umliegenden Gemeinden wollen sie die Cashcow Gas weiterlaufen lassen. Das ist nicht ganz ehrlich.
Wann macht der Rückbau des Gasnetzes Sinn?
Wenn ein Energieversorger sowohl das Gasnetz wie auch das neue Fernwärmenetz betreibt, sollte die Parallelnetzinfrastruktur aus ökonomischen Gründen möglichst kurz aufrechterhalten werden. Aber aus Sicht der Liegenschaftsbesitzer wird eine hohe Flexibilität im Umstieg, also eine lange Übergangsfrist, vorgezogen. Wichtig ist, dass die Gasstilllegung frühzeitig kommuniziert wird und die Liegenschaftsbesitzer so genügend Zeit haben, den Umstieg zu planen.
Irgendwann kam das Klimaabkommen von Paris in den Politgremien des Kantons Solothurn auf den Tisch. Bis 2050 will die Weltgemeinschaft Netto-Null beim CO2-Ausstoss anstreben. Auf lokaler Ebene einen Anfang zu machen, wäre ein Ansatz gewesen. Nur scheiterte die kantonale Politik bisher daran, ein zeitgemässes Energiegesetz mehrheitsfähig zu machen. Im letzten Jahr erlitt auch die nationale Vorlage für ein CO2-Gesetz Schiffbruch.
Ist die Energiewende zum Stillstand verdammt? Nicht überall. In vielen Städten brauchte es oftmals nur geringfügigen politischen Druck als Initialzündung. In Basel, Zürich, Aarau oder auch Chur korrigierten die städtischen Werke ihre Strategie teilweise radikal. Das Potenzial, den CO2-Ausstoss zu senken, ist gerade in urbanen Gebieten enorm: Da viele städtische Betriebe sich lange auf ihren Gasnetzen ausruhten, gehören die Städte heute noch überproportional zu den «Klimasündern». Viele fossile Heizungen sind noch immer in Betrieb.
Mit dem Umdenken werden sie zusehends durch Wärmeverbünde ersetzt. Die Energieversorger glauben nun daran, dass sich klimafreundliche Heizungssysteme für ganze Quartiere und Städte wirtschaftlich lohnen. Selbst wo die Politik die Energiewende verschlafen hat, erhöht die Privatwirtschaft nun den Druck.
Was hast du für ein Heizsystem? Und: Fernwärme als Zukunftsmodell
Auf diese Frage wissen viele Menschen, die in der Stadt oder Agglomeration eine Wohnung mieten, meist nicht einmal die Antwort. Die Heizung funktioniert nach unserem Selbstverständnis einfach, die Wärme strömt durch den Boden oder die Heizkörper, wenn’s draussen kalt wird. Viele der Mietwohnungen sind bis heute gerade im städtischen Raum an das feingliedrige Gasnetz angeschlossen, oder im Keller steht eine Ölheizung. Die beiden fossilen Energieträger sollen künftig verschwinden. Gas dürfte in erneuerbarer Form (beispielsweise Biogas) eine Zukunft haben – vor allem in der Industrie, wo für Prozesswärme hohe Temperaturen notwendig sind. Um dichtbesiedelte Gebiete zu heizen, setzen Energieversorger immer mehr auf Fernwärmenetze. Die Wärme gelangt dabei über ein Warmwassernetz in die Wohnungen. Um das Wasser aufzuwärmen, gibt es eine Vielzahl an möglichen Energieträgern:
Abwärme aus der Industrie oder einer Kehrichtverbrennungsanlage
Wärmepumpen (Erdsonden)
Kalte Fernwärme: Durch die technische Entwicklung genügt die Temperatur von Seen, Flüssen (Aare) oder vom Grundwasser, um sie in Fernwärmenetze einzubinden
Blockheizkraftwerke, beispielsweise mit Holzschnitzel, Pellets oder Biogas betrieben
Geothermie (Versuchsbohrungen in Basel wurden gestoppt, nachdem sie ein Erdbeben ausgelöst hatten)
Erst Stillstand …
Und in Olten? Hier schaute die Politik lange zu. Zwar wurden die Rufe, die Energiewende anzugehen, in der letzten Legislatur lauter. Zuvor aber liessen die Entscheidungsträger die Städtischen Betriebe Olten (sbo) mit ihrer Gasstrategie gewähren.
So etwas wie Aufbruchsstimmung hatte es im Jahr 2012 gegeben, als die Stadt angeführt durch die damalige Umweltfachstelle einen Energierichtplan erarbeitete. In diesem Dokument war eine grüne Energiezukunft für die Kleinstadt skizziert. Nur verblasste das Papier bald. Im Zuge der Alpiq-Finanzkrise schaffte das Oltner Parlament 2014 in der Budgetdebatte die Umweltfachstelle ab. Kurz zuvor hatte der damalige Stadtrat die Energieplanung beerdigt.
Das Papier existiert noch. Darin ist zu lesen, dass 2010 über 90 Prozent aller Oltner Wohnhaushalte durch fossile Energieträger (51 % Heizöl, 41 % Gas) geheizt waren. Den kleinen Rest machten elektrische Heizungen, Umweltwärme (Wärmepumpen) und Fernwärme, Biomasse oder Sonnenenergie aus. Die städtische Energieplanung sah vor, einen neuen Weg einzuschlagen: Grundwasser, Aarewasser, Erdsonden oder Holzschnitzel sollten als Energieträger künftig einen Grossteil von Oltens Wärmebedarf decken. Doch eben: Das alles blieb Vision.
… dann Blindflug
Wie gross das Potenzial ist, den CO2-Ausstoss einer Stadt mit Investitionen in Heizungen zu senken, lässt sich am Beispiel Zürich ablesen. Rund 50 Prozent der direkten Treibhausgasemissionen stammen dort aus dem Gebäudebereich. Verursacht sind sie durch die zu 70 Prozent mit fossilen Brennstoffen bereitgestellte Wärmeversorgung sowie den energetischen Zustand der Gebäude.
Zahlen wie diese fehlen in Olten. Obwohl die Kleinstadt das Energiestadtlabel innehat, weiss sie nicht genau, woran sie ist. Bloss von den städtischen Liegenschaften ist der Energieverbrauch bekannt, weil die Verwaltung diesen auf politischen Druck hin bis 2040 CO2-neutral gestalten muss.
Wie es gesamtstädtisch ausschaut, kann auch die Energiestadt-Beratungsfirma, welche Olten betreut, nicht wirklich schlüssig aufklären. Die neusten Zahlen stammen aus dem Jahr 2018, lassen sich aber nicht mit dem oben genannten Energierichtplan vergleichen. Trotzdem gibt’s eine Tendenz. Sie heisst Stagnation. Industrie und Wohnen zusammengenommen, bleibt das Bild ein ähnliches wie noch 2010: Die fossilen Energieträger Erdgas und Erdöl dominieren mit 88 Prozent.
Symptomatisch für den Kontrollverlust der Stadt steht das Beispiel Olten Südwest, wo der Eigentümer vor wenigen Jahren noch unbehelligt Ölheizungen installieren konnte.
Licht in Sicht
«Olten hatte in der Vergangenheit eine vergleichsweise passive Haltung inne», sagt Stadtbaumeister Kurt Schneider am Telefon. Er meint damit die Politik und die Städtischen Betriebe Olten (sbo). Die Einwohnergemeinde selbst baue natürlich keine Wärmeverbünde, greife nicht in den Markt ein. «Die Wirtschaftlichkeit wird darüber entscheiden, wo es einen Wärmeverbund gibt», sagt er. Und es liege an der Politik zu diskutieren, wie die Stadt die bevorstehende Energiewende begleiten und fördern wolle.
Die Signale aus der Politik waren zuletzt unmissverständlich: Olten soll das Energiethema mit klarem Kompass angehen. Der Stadtrat strebt das Energiestadtlabel Gold an und im Zuge dessen erfuhr die Umweltfachstelle ihre Reinkarnation im Parlament. Zudem wird ein Energierichtplan, der aufzeigt, wo welche Energiepotenziale vorhanden sind, Bestandteil der laufenden Ortplanungsrevision sein.
Darin würden viele offene Fragen beantwortet, hofft Beat Erne, Vorsitzender der Geschäftsleitung der Städtischen Betriebe Olten. Obwohl: Die sbo haben bereits prüfen lassen, wie die künftige Wärmeversorgung in Olten aussehen könnte und wo sie sich dekarbonisieren, also ohne CO2-Ausstoss gestalten lässt.
Zehn Gebiete, die sich eignen könnten, sind in der Machbarkeitsstudie definiert. Im Fokus sollen zunächst die Quartiere Bifang-Hardfeld, Meierhof, je nach Entwicklung Olten Südwest und die Innenstadt stehen, wie Erne im Verlauf der Recherche zu diesem Beitrag preisgibt. Zunächst hatte er sich zurückhaltend geäussert.
Dafür gibt es einen guten Grund: Die Konkurrenz ist in Lauerstellung oder den Städtischen Betrieben gar voraus. Die sbo reagieren mit dem Strategiewechsel auch auf den Druck von anderen Energieversorgerinnen, die in Olten grosses Potenzial für erneuerbare Lösungen erkannt haben. Dazu später mehr.
Das einsame Vorzeigebeispiel
Dass die sbo erneuerbare Wärmelösungen anbieten können, bewiesen sie bisher erst auf der grünen Wiese. Seit zehn Jahren betreiben sie den Wärmeverbund Bornfeld – bis heute ist er ein einsamer Leuchtturm geblieben. Die mit Pellets und Erd-/Biogas betriebene Heizungszentrale bedient die neu erbauten Wohngebiete Bornfeld und Chlyholz sowie die Stadthalle Olten und künftig auch das neue Schulhaus Kleinholz mit Wärme.
Die Anlage ist derzeit der grösste Stolz der sbo und hat sich bewährt: Rund 1900 Einwohnerinnen oder rund 10 Prozent der heutigen Bevölkerung Oltens werden im Endausbau durch die Zentrale versorgt. «Wir möchten den Verbund weiterentwickeln», sagt Erne. Möglich wäre etwa, dass auch das Erlimattquartier oder die Platanensiedlung und der Hausmattrain mit Wärme bedient würden.
In anderen Stadtteilen wollen die sbo ab 2023 loslegen. «Das wird aber nicht von heute auf morgen geschehen», sagt Erne, «die neuen Wärmeverbünde werden ein Generationenprojekt.» Olten könne sich nicht wie Zürich oder Basel eine Spitzkehre leisten, die mit zig Millionen durch die öffentliche Hand gestützt wird.
Nur, wie viel Zeit haben die Städtischen Betriebe? «Im Wärmebereich ist das Rennen offen. Denkbar ist auch, dass wir mit anderen Energieversorgern zusammenarbeiten», sagt Erne.
Den Städtischen Betrieben ist nicht entgangen, dass grosse Energieversorgungsfirmen in Olten Fernwärmenetze aufbauen möchten. Denn das Wärmegeschäft ist ein freier Markt. Vor Jahren schon plante die Aargauer Energieversorgerin AEW ein Fernwärmeprojekt in der Stadt. Sie wollte zum einen die Abwärme vom Swisscom-Datenzentrum nutzen, zum anderen eine mit Grundwasser betriebene Wärmezentrale errichten. Sie scheiterte aber mit ihrem Baugesuch.
Aufgegeben hat die AEW aber ihre Pläne in Olten nicht. Sie prüfe weiterhin, wie sich ein Wärmeverbund in Olten realisieren liesse. Mehr gibt das Unternehmen auf Anfrage nicht preis – ein untrügliches Zeichen, dass der Konkurrenzkampf entbrannt ist. Wohl auch, weil die Energiewende auf sich warten liess.
Die Gaskessel im Kantonsspital in Olten.
Basel drängt nach Olten: Die Privatwirtschaft drückt aufs erneuerbare Pedal
Das derzeit konkreteste Projekt auf Oltner Boden stammt von den Industriellen Werken Basel (IWB). Die Basler Energieversorgerin hat im Bereich erneuerbarer Wärmelösungen bereits reichlich Erfahrung und betreibt am Rheinknie das grösste Fernwärmenetz der Schweiz.
«Wir kamen nach Olten und merkten, dass hier grosses Potenzial für klimafreundliche Wärmelösungen besteht», sagt Projektentwickler Dominic Festini am Telefon auf Anfrage. Im vergangenen Jahr begann die IWB, ein Fernwärmeprojekt in Trimbach aufzugleisen.
In Basel-Stadt müssen bereits jetzt fossile Heizungen durch klimafreundliche Wärmelösungen ersetzt werden. Auch durch den politischen Druck bedingt, verschrieb sich die IWB radikal der Energiewende. Mit einer eigens geschaffenen Abteilung «Wärmelösungen Schweiz» will der Basler Energiebetrieb expandieren. Ein Bild der Oltner Altstadt ziert die Webseite.
Warum eignet sich Olten? Die dichte Bebauung und die hohe Anzahl an alten, fossilen Heizungen machen Stadt und Agglomeration für die Energieversorgerin lukrativ.
Dank moderner Technik steckt selbst im Aarewasser genug Energie drin, um ganze Quartiere zu heizen. Und auch das Kantonsspital Olten, heute einer der grossen Gaskunden der Städtischen Betriebe.
Das Kantonsspital im Fokus
In einem ersten Schritt plant die IWB ein Fernwärmenetz im Trimbacher Leinfeldquartier. Im letzten Herbst schrieb die Basler Energieversorgerin die Bevölkerung vor Ort mit einem Fragebogen an, um herauszufinden, wie gross das Interesse an einem Fernwärmenetz-Anschluss ist. Sowohl die Anwohnerinnen wie auch die Gemeinde hätten positive Signale gegeben, sagt Festini.
Derzeit prüft die IWB anhand einer Machbarkeitsstudie, wie sich das Fernwärmenetz technisch betreiben liesse. Zugleich müsse es aber auch wirtschaftlich sein, so Festini. Als Wärmequelle könnten das nahe Aarewasser oder auch Holzschnitzel genutzt werden. Damit sich der Aufbau eines Fernwärmenetzes lohnt, ist ein Energieversorger auf Grosskunden angewiesen.
Im Gebiet zwischen Trimbach und Olten ist naheliegend, wer dies dereinst sein soll: Das Kantonsspital Olten ist derzeit einer der grössten Gaskunden der Region. Festini bestätigt, dass erste Gespräche mit Grosskunden stattgefunden haben – das Interesse an einer Fernwärmelösung sei vorhanden.
Trotz freiem Markt und entsprechender Konkurrenzsituation spielt die IWB mit offenen Karten und verheimlicht ihre Pläne in Trimbach und Olten nicht. Obwohl man schlafende Hunde wecken könne, setzt die IWB auf Transparenz. «Wir müssen unsere Pläne möglichen Interessenten zeigen, darum kommunizieren wir frühzeitig», sagt Festini. Der Wärmeverbund soll vom Kantonsspital an der Trimbacher Gemeindegrenze hin zum Oltner Hagmattquartier erweitert werden, wie eine Karte auf der Firmenwebseite aufzeigt.
Quelle: IWB
Wärmenetz, wie geht das?
Meist kämen viele Kunden dazu, wenn das Fernwärmenetz gebaut werde, erklärt Festini. Insbesondere ältere Generationen seien zwar anfangs zögerlich. Dabei biete das Fernwärmenetz grosse Vorteile. Das aufgeheizte Wasser wird über Leitungen direkt in die Häuser geliefert, womit die ganzen Heizungswartungen wegfallen.
Die Energieversorgerin – in diesem Fall die IWB – plant, betreibt und finanziert das gesamte Netz und die klimafreundliche Wärmeproduktion. Wer mit seiner Liegenschaft ans Wärmenetz anknüpfen will, bezahlt den Anschluss und kann vom Kanton Fördergelder geltend machen.
Bevor die Bagger in Trimbach auffahren und neue Leitungen in die Strassen legen, braucht die IWB jedoch die Zustimmung der Gemeinde. Und ganz konkret Verträge mit Fernwärmenetz-Kunden. Das Projekt wäre auf über 30 Jahre ausgelegt, die Leitungen würden mindestens 50 Jahre hinhalten. In Basel betreibt die IWB gar ein 80 Jahre altes Fernwärmenetz.
Das Dilemma der Stadt
Für die Städtischen Betriebe Olten wäre es ein bedeutsamer Verlust, sollten sie das Kantonsspital als Kundin verlieren. Der CVP-Kantonsrat Georg Nussbaumer hat schon mehrmals öffentlich die lethargische Gasstrategie der sbo im letzten Jahrzehnt kritisiert. Der Förster aus Hauenstein kennt sich in der Energiethematik bestens aus. Er sagt: «Wenn die sbo nicht offensiv neue Wärmelösungen suchen, dann werden sie überholt werden.»
Die sbo seien an die Wettbewerbssituation im für Grosskunden liberalisierten Strom- und Gasmarkt gewöhnt, beschwichtigt jedoch Verwaltungsratspräsident Daniel Probst. «Deswegen müssen wir unsere Strategie nicht ändern», sagt er. Und doch wollen die sbo nicht untätig bleiben. «Entweder gehen wir in Konkurrenz, oder wir suchen mit der IWB partnerschaftlich eine Lösung.» Ein Kontakt mit der Basler Firma hat bereits stattgefunden.
Dass neue Energiefirmen auf den Platz Olten drängen, bringt die Stadt in ein Dilemma. Das weiss auch sbo-Geschäftsführer Beat Erne. «Die Stadt möchte weiterhin Abgaben von den Städtischen Betrieben kriegen.» Als Eigentümerin erhält Olten jedes Jahr mehr als 3 Millionen Franken in Form von Bar- und Sachleistungen ausgeschüttet. Deshalb hat sie ein Interesse daran, dass die sbo funktionieren – mehr noch: erfolgreich wirtschaften. Erne sagt: «Wenn wir massiv in Wärmelösungen investieren, wird es eine finanzielle Delle geben.» Sprich: Die Gewinnausschüttung bleibt aus, bis die Wärmeverbünde amortisiert sind.
Unter diesem Vorwand gingen die sbo die Energiewende zögerlich an. Das eigene Gasnetz zu konkurrenzieren, war lange ein Tabu. Nun können sie nicht anders: Wenn andere Versorger sie aus dem eigenen Markt mit Wärmeverbünden verdrängen, wird es für die sbo langfristig wirtschaftlich noch schwieriger, erfolgreich zu sein.
Kann die Stadt unter diesen Vorzeichen eine neutrale Position wahren?
Als Hüterin der öffentlichen Infrastruktur prüfe die Stadt, ob neue Projekte die Anforderungen erfüllen, erklärt Stadtbaumeister Kurt Schneider. «Wenn eine Firma mit einem sinnvollen Konzept kommt, hört der Stadtrat sich dies an und wägt den Nutzen für die Bevölkerung ab.»
Zwar ist der Markt im Wärmebereich offen für alle, aber letztlich hat die Stadt doch die Hoheit: Damit eine Energieversorgerin Leitungen bauen kann, braucht sie eine Konzession für das definierte Gebiet. Schneider glaubt, dass die Koexistenz mehrerer Firmen in unterschiedlichen Stadtgebieten funktionieren kann. «Jede Firma hat ihre Kernkompetenz, kommt mit einem anderen Produkt», sagt er. Am Ende liege es an der Energieversorgerin, die Grosskunden für sich zu gewinnen.
Oder aber die Politik schiebt dem freien Markt einen Riegel. Etwa indem sie den Städtischen Betrieben eine Konzession fürs gesamte Stadtgebiet erteilt, gekoppelt an energetische Ziele. «Wir sind uns gebietsweise Konzessionen gewohnt und streben nicht mit aller Kraft eine Generalkonzession an. Wenn die Stadt sowas im Sinn hätte, wären wir offen für Gespräche», sagt Verwaltungsratspräsident Daniel Probst.
Quelle: zVg
Aarau: Alle Macht der eigenen Energieversorgerin
In der kleinräumigen Schweiz sind gute Beispiele oft nah. Bei der Wärmethematik genügt ein Blick in die Nachbarstadt Aarau. Wie die städtische Energieversorgerin dort agierte, mutet fast schon avantgardistisch an.
Im Jahr 2011 schon begann die örtliche Versorgerin, Eniwa AG, Lösungen zu suchen, um die Stadt mit erneuerbarer Wärme zu versorgen. «Eine Initiative hat uns wachgerüttelt, der Antrieb kam nicht direkt aus dem Unternehmen», sagt Geschäftsführer Hans-Kaspar Scherrer. Die Linke wollte damals Aarau als Energiestadt voranbringen – und löste ein Umdenken aus.
Scherrer mahnt aber davor, den Energieträger Gas zu verteufeln. «Wir dürfen nicht vergessen, dass Import-Winterstrom mehr CO2 drin hat als unsere Gasheizungen», sagt er. Strom, Wärme, Mobilität – all diese Bereiche müssten verknüpft gedacht sein, weshalb die Energiethematik auch so komplex sei. Potenziale sieht er überall. In Olten könnte Holz als Energieträger interessant sein, da die Stadt von Wald umgeben sei, mutmasst Scherrer.
Die hochmodernen Wärmepumpen in der neuen Energiezentrale der Eniwa im Aarauer Torfeld Süd. Quelle: zVg
Der lange Atem
In der Wärmeversorgung ist die Eniwa auf bestem Weg, bis 2040 das politisch formulierte Ziel, Netto-Null CO2 im Gebäudebereich, zu erreichen. Da sich die Energieversorgerin auf die Politik einliess, konnte sie im Gegenzug eine Forderung aufstellen. Sie erhielt die Konzession für das gesamte Stadtgebiet. Das gab dem Unternehmen Planungssicherheit.
«Wir haben das Gasnetz kannibalisiert, wie wir so schön sagen», erklärt Hans-Kaspar Scherrer. Will heissen: Wo die Eniwa vorhin noch Gas verkaufte, baute sie parallel ein Fernwärme- und teilweise auch ein Fernkältenetz. Ein erster Wärmeverbund entstand 2014 im Untergrund des Kasinoparks am Rande der Altstadt. 2015 folgte ein weiterer im Torfeld Süd. Der Ausbau läuft weiterhin und in den nächsten Jahren wird die Abwärme der Kehrichtverbrennungsanlage in Buchs schrittweise angeschlossen, um Quartiere wie die Tellisiedlung und Nachbargemeinden zu heizen.
Insgesamt wird die Eniwa über drei Jahrzehnte hinweg rund 120 Millionen Franken in die Wärmeverbünde investieren. Der Ausbau geschehe aber stets nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten, das heisst in Gebieten mit hohem Wärmebedarf, so Hans-Kaspar Scherrer. «Wir gehen davon aus, dass wir 15 bis 20 Jahre brauchen, bis wir mit der Fernwärme Geld verdienen.» Das Aarauer Beispiel zeigt, wie zeit- und kapitalintensiv die Transformation ist. Scherrer ist heute überzeugt, dass sie sich lohnt. «Mit der Fernwärmeversorgung nutzen wir lokale und CO2-neutrale Wärmepotenziale – und machen einen Schritt in die zukünftige Netto-Null-Welt.»
Feld eins
Olten steht erst am Anfang. «Wir können keine Wunder vollbringen», sagt Daniel Probst. Die Kommunikation der Städtischen Betriebe will er voranbringen. Es sei wichtig, transparent aufzuzeigen, wo die sbo mögliche Wärmenetze prioritär aufbauen möchten.
Der Wille ist da, aus dem Winterschlaf zu erwachen.
Doch was erwartet die Oltner*innen konkret vom komplett umgekrempelten Steg an der Aare? Hippe Veranstaltungen? Romantische Abendspaziergänge an der Flanier- und Paniermeile (der Ländiweg ist schliesslich ein schönes Plätzchen)? Oder sogar philosophische Erkenntnisse, wie sie nicht mal Aare-Stoteles hatte? Video-Kolumnist Kilian Ziegler hat sich unter härtesten Wetterbedingungen und kurz vor Sonnenstich der grossen Frage angenommen: Ländiweg – Königs- oder Holzweg?
Ich habe meinen Job gewechselt und arbeite nun seit einigen Monaten bei der ständigen Vertretung der Schweiz bei der UNO in New York. Die Vertretung ist ein kleiner Schweizer Mikrokosmos und manchmal vergesse ich fast, dass ich in New York und nicht in Zürich oder Bern bin, wenn ich am Abend das Gebäude an der Third Avenue verlasse.
Ich arbeite unter anderem an der Kampagne der Schweiz für einen nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat der UN. Zur Erinnerung: Der Sicherheitsrat hat fünf ständige und jeweils zehn nichtständige Mitglieder und befasst sich mit Fragen der internationalen Sicherheit. Die neuen nichtständigen Mitglieder werden dieses Jahr am 9. Juni von der UN-Generalversammlung gewählt. Wir befinden uns momentan also in der heissen Phase und buhlen mit unseren Vorzügen um die Gunst der anderen 192 Mitgliedstaaten. Dabei kommen neben dem starken Wahlprogramm und dem Slogan «A plus for peace» natürlich auch typische Schweizer Kampagnengoodies wie Schokolade oder die herzigen Holzkühe zum Einsatz.
Vor dem 9. Juni, dem Tag, an dem die Schweiz mit einem hoffentlich historisch hohen Wahlresultat zum ersten Mal in den Sicherheitsrat gewählt wird, feiern wir in etwas mehr als einem Monat am 3. März das 20-jährige Jubiläum eines weiteren historischen Ereignisses: Am 3. März 2002 sagte das Schweizer Stimmvolk mit 54 % in einem zweiten Anlauf Ja zum Beitritt der Schweiz zur UNO.
Interessanterweise, aber vielleicht wenig überraschend, ist die Schweiz das einzige Land, welches der UNO durch eine Volksabstimmung beigetreten ist. Das wird gerne hervorgehoben – aus Stolz, aber auch um den späten Beitritt zu erklären. Manchmal kommt es mir immer noch absurd vor, dass die Schweiz als Gaststaat der UNO und zuvor des Völkerbundes erst 2002 selber Mitglied dieser Weltinstitution wurde. Wenn ich mir das mit Verweis auf andere jüngere historische Momente wie zum Beispiel 9/11, als die Schweiz noch nicht UN-Mitglied war, veranschauliche, merke ich, dass dies noch gar nicht so lang her ist.
20 Jahre später kann die Schweiz sehr stolz auf ihren Beitrag und ihre Stimme in diesem Gremium sein. Ich freue mich nun auf die Schlussphase der Kampagne und dann natürlich auch den Einsitz im Rat, welcher die Schweiz nochmals signifikant voranbringen wird.
Sollte was von der Kampagnenschokolade übrigbleiben, spare ich mir während meiner nächsten Reise in die Schweiz wohl einen Besuch im Oltner Lindt-Fabrikladen – sonst jeweils ein obligater Stopp für den Vorrat an guter Schokolade.
*Anna-Lena Schluchter (32) lebt seit drei Jahren in New York und ist First Secretary bei der ständigen Mission der Schweiz bei der UNO. Wer sich für die erwähnte Kampagne interessiert, findet unter www.aplusforpeace.ch weitere Infos.
«Es war so fies, das Stück hatte das Potenzial abzuheben. Dann kam der Lockdown und wir landeten beide an der Sihl», sagt Dimitri Stapfer.
Das Kreativduo Dimitri Stapfer und Benjamin Burger sitzt in einer heimeligen Gaststube in der Solothurner Vorstadt und erinnert sich an jene Wochen, als das Leben stillstand. Mit einem Schuh versuchten sie, eine Weinflasche zu öffnen. Irgendwann begannen sie von einem Film zu reden. Warum nicht einen Film in einem leeren Theater drehen?
Benjamin Burger hatte eben erst sein erstes Solostück geschrieben und in Zürich uraufgeführt: «Das Maddock Manifest». Darin begibt sich Ben als Hauptfigur auf die Suche nach einem Manuskript, das die Welt verändern soll. Wenn denn die richtige Wortfolge darin steckt.
Maddock?
Benjamin Burgers Theaterstück ist inspiriert vom US-Amerikaner Hermann Maddock. In einer Kunstperformance beging er 1998 Suizid – sein Selbsttod erinnerte an jenen des Nirvana-Sängers Kurt Cobain. Maddock hinterliess bei seinem Tod ein Manifest. Er wollte mit diesem etwas schaffen, das alle, die es lesen, dazu veranlasst, sich als Widerstandsakt auslöschen zu wollen.
Dass dieser Stoff für einen Langfilm auf Leinwand funktioniert, glaubten sie zu Beginn selbst nicht wirklich. «Du machst Regie», hatte Benjamin seinem Freund gesagt. Dimitri Stapfer war erst perplex, warf sich dann aber ins Projekt rein.
Noch im Frühjahr 2020 isolierten sie sich mit einer sechsköpfigen Filmcrew im Theater Roxy in Birsfelden nahe Basel. «Das war ein unfassbares Gefühl», sagt Dimitri, «wir bewegten uns während zwei Wochen in einer Spirale, in der sich alles um diese Geschichte drehte.»
Der Zufall brachte das Filmteam im zweiten Lockdown anfangs Winter 2020 ins tiefe Onsernonetal im Tessin. Die Postbotin zeigte ihnen die besten Schauplätze. Dann fiel der Jahrhundertschnee. Er verlieh dem Film unverhofft eine andere Bildgewalt. Den unerwarteten Veränderungen gaben sie sich im Entstehungsprozess hin. Die Adaption des Theaterstücks verleitete das Kreativduo ohnehin dazu, zu experimentieren. Sich einer radikalen Kunstform hinzugeben. Geschaffen haben sie dabei eine Fülle an Rätseln.
Eure Filmproduktionsfirma sagte, ihr habt ein «geiles Ufo» geschaffen. Was macht «Das Maddock Manifest» zum extraterrestrischen Objekt?
Dimitri: Durch die Arbeitsweise, die wir hatten, entstand eine eigene Ästhetik. Zwei Wochen nachdem wir im Januar 2021 das Rohmaterial geschickt hatten, rief die Produktionsfirma uns an und sagte: «Das ist ein Ufo, aber eben ein geiles Ufo. Wir machen das.» Unsere Figur versucht, ihren Kosmos zu entschlüsseln und ihr Sein zu finden.
War das für dich ein Kompliment, wolltest du ein Ufo schaffen?
Benjamin: Mich freute der Kommentar. Als Unidentified flying object lässt sich der Film keinem Genre zuordnen. Er beginnt dokumentarisch und wird immer mehr zu einer Fabel. Das ist auch im Theaterstück so. Als Junge hab ich immer Akte X geschaut. Ich liebte das Geheimnisvolle daran. Und das gibt’s bei unserem Stück auch. Es kreist um etwas Unfassbares. Geil war, wie alle aus unserem kleinen Drehteam irgendwann versucht haben, dieses Rätsel zu lösen. So ist das Ufo gewachsen.
Habt ihr das Rätsel am Schluss gelöst?
Benjamin: Nein!
Hast du es für dich gelöst?
Dimitri: Wenn ich den Film schaue, denke ich jedes Mal: Jetzt hab ich’s gelöst. Nur ist es jedes Mal ein anderes Rätsel. Ich setze immer wieder neue Zusammenhänge. Es kommt jeweils darauf an, in welcher Stimmung ich bin, was mich gerade beschäftigt.
Wir kapieren es noch immer nicht ganz. Was ist das für ein Rätsel, das ihr zu lösen versucht?
Benjamin: Die Filmfigur hat eine unglaubliche Sehnsucht. Aber Sehnsüchte sind diffus. Wir kennen alle den Zustand, in welchem wir wollen, dass sich was ändert. Nur wissen wir nicht, wie und wo. Dieser Zustand ist sehr unkonkret, klar ist nur: Die Figur sucht einen Ausweg aus ihrer Situation. Ohne zu wissen, ob die Situation selbstverschuldet ist oder nicht.
Ihr begebt euch also auf die ultimative Sinnsuche.
Dimitri: Nicht nur das eigene Sein zu erklären, steht im Fokus. Vielmehr ist es eine Vorlage, für sich selbst konkrete Fragen abzuleiten. Zum Klimawandel etwa fragt man sich: Warum funktioniert die Politik langsam? Wir sind drauf und dran, am Abgrund abzustürzen. Die Menschen versuchen, einen Ausweg zu finden – sind bisweilen aber paralysiert und kommen nicht weiter. Wir suchen einen Täter oder hinterfragen eben uns selbst. Bei unserer Fabelfigur ist der Prozess komprimiert. Sie strebt nach einer Kombination von Wörtern, welche die Welt verändern können.
Benjamin: Andreas Storm hat mich im Theater als Dramaturg begleitet. Irgendwann mal sagte er mir: «Ben, dir ist schon klar: Hier geht’s nicht um das Rätsel, sondern um Kontrolle und die Angst vor deren Verlust.» Das beschreibt extrem geil diese Figur und ihr Dilemma: Wenn ich jetzt die Kontrolle hätte, die Welt zu ändern, würde es eine bessere Welt oder nicht? Oder muss ich Kontrolle abgeben?
Aber endet die Suche nach Antworten auf das Rätsel nicht zwangsläufig in der Ernüchterung?
Dimitri: Das ist dem Zuschauer überlassen. Jeder Mensch wird den Film anders lesen. Die Suche treibt die Figur stets voran.
Ihr strebt mit diesem Film auch nach Relevanz als Kulturschaffende. Wie findet ihr diese?
Ben: Ich als Kunstschaffender beisse mir immer wieder die Zähne aus an dieser Frage, was mein Schaffen auslösen kann. Wir arbeiten an relevanten Themen, wollen, dass sich was verändert. Gleichzeitig merke ich: Jetzt bin ich in einem Theaterraum und 300 Leute haben sich das angesehen. Ist das relevant, was ich tu? Und dann sage ich mir trotzdem immer wieder: Doch, etwas verändert sich ja mit diesen 300 Menschen.
Das ist im Lokaljournalismus ähnlich. (alle lachen)
Dimitri: Wir versuchen, einen Diskurs zu starten, nicht Antworten zu liefern. Darum stelle ich mich als Schauspieler auch für verschiedenste Geschichten zur Verfügung. Ich hinterfrage und durchforste mich bei jedem Projekt. Ich sage mir immer wieder selbst, dass ich keine manifestierte Meinung zu etwas haben kann. Ich muss agil bleiben. Sobald du fundamental denkst, blockierst du dich.
Angenommen, wir setzen Relevanz mit Reichweite gleich: Wäre es nicht einfacher, eure Idee mit etwas leichter Verständlichem rüberzubringen? Warum habt ihr diesen Weg gewählt, einen eigenartigen Film zu schaffen?
Dimitri: Der Film ist organisch entstanden, das war kein bewusster Entscheid.
Benjamin: … und es ist kein politischer Film. Er untersucht ein Gefühl.
Dimitri: … und weil er ein Gefühl untersucht und vom Bauch ausgeht, gehe ich davon aus, dass wir das Publikum auch erreichen.
Und das Gefühl ist es, auszubrechen.
Dimitri: Bei gewissen geht’s um eine Depression, andere sehen den Klimawandel darin gespiegelt. Wieder andere lesen das kapitalistische System. Das Gefühl ist, was wir kreieren.
Und Gefühle sind nun mal diffus?
Dimitri: Der Mensch ist immer auf der Suche nach Antworten und Eindeutigkeiten. Aber die gibt es nicht.
Benjamin: Aus künstlerischer Sicht interessiert mich Eindeutigkeit nicht. Dafür brauche ich nicht die Kunst, das kann ich nachlesen. Ich finde Ambiguitäten interessant, da, wo es eben unscharf wird. Dort entstehen Erzählräume, Gefühlsräume oder Forschungsräume. Dieser Film kombiniert diese drei Felder. Da er ein offener Prozess war, war er auch immer eine Forschung.
Dimitri: Darum passt auch der Vergleich der modernen Fabel, den wir kreiert haben. Bei Märchen und Fabeln kannst du immer Neues interpretieren. Und die Objekte können ein Symbol für vieles sein.
Wenn ihr den Film an den Filmtagen schaut, dann wird also das Ufo so sein, wie gerade eure Stimmung ist?
Dimitri: Es wird ein Ufo sein, das kurz landet und dann weiterfliegt.
Benjamin: Mit Überlichtgeschwindigkeit durch irgendwelche Wurmlöcher, und irgendwo wird es wieder auftauchen.
Dimitri: Vielleicht nimmt es noch ein paar Zuschauer mit.
Eine schwarze Wand. Eis. Dünne Luft. Der kalte Schatten des Berges. Todesangst. Geröll. Schwindelerregende Höhen. Wie klingt all dies in der Sprache der Musik? Der Schweizer Komponist Fabian Müller (57) hat mit seiner Oper «Eiger» eine Antwort darauf gesucht und gefunden.
Quelle: Hanzheng Yen / zVg
Die Faszination für den furchterregenden Berg in den Berner Alpen ist ungebrochen gross, der Bergsport zum Massenphänomen herangewachsen. Noch vor einem Jahrhundert galt die Nordwand als unbezwingbar – heute klettern die Spitzenalpinisten um die Wette, wer schneller oben ist. Die Oper «Eiger» aber geht zurück zu den wahren Pionieren. Zu einem der ersten Versuche, den Berg an der senkrecht hochführenden Wand zu bändigen. Angelehnt an die wahre Geschichte, erzählt die Oper, wie 1936 vier junge Draufgänger (zwei Deutsche und zwei Österreicher) versuchen, den 4000 Meter hohen Berg zu bezwingen, und dabei den Tod finden.
Tim Krohn, der Autor von «Eiger», schreibt über das Stück: «Die radikale Natur des Bergs, die kein Erbarmen kennt, die über den Grössenwahn des kleinen Menschen spottet und ihn doch zuletzt umarmt und in sich aufnimmt, bildet die eine Ebene der Oper. Der Berggang der vier Männer ist die andere – sie stemmen sich gegen Witterung und Bergwand.»
Das Kletterdrama feierte als Produktion des Theater Orchester Biel Solothurn (TOBS) im Dezember in Biel Premiere und erntete exzellente Kritiken: «… ein echter Knüller», «… das Publikum reagiert euphorisch». Bevor «Eiger» Ende Januar auf die Oltner Bühne kommt, haben wir beim Komponisten Fabian Müller nachgefragt, wie es dazu kam, dass er die Eigernordwand als Oper verewigte.
Sie suchen gerne Abgeschiedenheit und Losgelöstsein von jeglichen Verpflichtungen, um in die Arbeit einzutauchen. Wo haben Sie die Musik für die Oper «Eiger» komponiert?
Komponierende haben so ihre Rituale, wie sie sich in die richtige Stimmung für diese Arbeit bringen können. Man muss auch klar unterscheiden zwischen den eigentlichen «Einfällen», aus denen dann ein Werk entstehen kann, also der Initialzündung, und der darauffolgenden Knochenarbeit, bis ein Werk in Notenform vorliegt. Für den Beginn brauche ich eine stille Umgebung, die nichts von mir will, sodass der Prozess durch nichts abgelenkt werden kann. Ich habe meine Rückzugsorte hauptsächlich in den Bergen. Auch war ich viele Sommer in Schweden, immer am gleichen Ort am Siljansee, und später dann in St. Gerold im Grossen Walsertal. Mit dem Älterwerden gelingt es mir jedoch auch immer besser daheim. Bei der Oper war speziell, dass ich bereits 2004 eine symphonische Skizze «Eiger» für die Interlakner Musikfestwochen schrieb. Diese hatte ich damals tatsächlich am Fuss des Eigers in Grindelwald komponiert. Und aus dieser Musik habe ich die Oper nun weiterentwickelt.
Quelle: Suzanne Schwiertz / zVg
Welche Beziehung haben Sie selbst zur Jungfrau-Region und der imposanten Eigernordwand?
Verwandte meiner Familie haben ein Ferienhaus in Grindelwald. Und wir konnten da jedes Jahr Ski- und Wanderferien machen. So bin ich seit meiner Kindheit mit diesem Ort sehr verbunden. Die Bergwelt rund um Grindelwald ist für mich bis heute eine wichtige Inspirationsquelle. Geschichten rund ums Klettern, vor allem aus der Pionierzeit, faszinieren mich sehr, jedoch nur als Leser. Ich bin ein begeisterter Wanderer, aber nicht schwindelfrei.
«Eiger» in Olten
Erstaufführung im Stadttheater Olten am Freitag, 28. Januar 2022, um 19:30 Uhr. Im Anschluss an die Vorstellung findet eine Podiumsdiskussion mit dem Komponisten Fabian Müller statt. Tickets online erhältlich.
War Ihre Zuneigung für die Berge auch der Grund, weshalb Sie für dieses Projekt zugesagt haben?
Die Oper hat eine längere Entstehungsgeschichte. Schon 2004, als ich die symphonische Skizze schrieb, hatte ich Pläne für eine Oper über die berühmte Tragödie um Toni Kurz. Nach gescheiterten ersten Versuchen konnte ich Tim Krohn gewinnen, das Libretto zu schreiben. Ich habe dann – begeistert von Tims Libretto – einfach mal angefangen. Damals war noch kein Auftrag in Sicht. Erst als ich schon fortgeschritten war mit der Kompositionsarbeit, erzählte ich Dieter Kägi und Kaspar Zehnder (Anm. d. Red.: dem Intendanten und dem Chefdirigenten) davon. Ihr Interesse, dieses Projekt zu realisieren, gab mir einen grossen Schub, und so durfte ich das Werk nun im Auftrag des TOBS 2020 fertigstellen.
Wie darf man sich den Prozess vorstellen, durch den die Musik für «Eiger» zu Papier kam?
Ganz allgemein ist der innere Prozess beim Komponieren schwer zu beschreiben. Wie Schriftsteller in Sprache denken, denken wir in Musik. Woher die «Einfälle» kommen, und warum sie einfach plötzlich da sind, bleibt auch für einen selbst ein Geheimnis. Wenn es passiert, sind das ganz blitzartig kurze Momente. Plötzlich ist etwas da, und man weiss nicht, woher es kam. In der Natur zu sein, und gerade in so einer grandiosen Bergwelt wie rund um Grindelwald, ist für mich sehr unterstützend, dass dies passiert.
Von aussen betrachtet ist Komponieren gänzlich unspektakulär. Ich sitze stundenlang am Klavier, wahrscheinlich die meiste Zeit ins Leere starrend, machmal summe ich etwas, machmal probiere ich etwas aus am Klavier, dann kritzle ich aufs Papier. Meine Ausrüstung beim Komponieren ist ganz altmodisch Papier, Bleistift, Gummi und ein Klavier. Für die Herstellung des Notenmaterials bin ich dann aber sehr froh um den Computer.
Quelle: Suzanne Schwiertz / zVg
Wir Journalisten sind manchmal von Schreibblockaden geplagt. Kennen Sie dies als Komponist auch und wie überwinden Sie diese?
Zum Glück bin ich mehr oder weniger davon verschont geblieben. Ich musste aber lernen, sehr darauf zu achten, dass ich nicht unter Zeitdruck komme. Passierte das dennoch mal, konnte sich schon auch Verzweiflung einstellen, dass ich es nicht schaffe. Zu kurzfristige Aufträge nehme ich heute nicht mehr an. Für ein Werk wie diese Oper beispielsweise müssten schon zwei Jahre bis zur Uraufführung vorhanden sein.
Sie beschreiben oft, wie Sie im intuitiven Zustand Ihre Ideen schöpfen. Wie können Sie diesem freien Lauf geben, wenn Sie sich an der Handlung einer Oper orientieren müssen?
Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, einen Handlungsstrang in Musik umzusetzen. Jeder Moment ist grenzenlos. Deshalb fühle ich mich in keinem Moment eingeschränkt in meiner Freiheit. Im Gegenteil, eine Handlung ist sogar eher eine willkommene Unterstützung, die manchmal fast erschlagende Freiheit der Möglichkeiten etwas zu kanalisieren. Kommt einem am Schluss alles folgerichtig vor, so ist das ein wunderbares Gefühl. Man meint, oder bildet sich zumindest ein, man hätte in dieser unendlichen Freiheit einen guten Weg gefunden.
Die Produktion «Eiger» wird mit Lob überhäuft. Was hat das vollendete Werk bei Ihnen als Betrachter ausgelöst?
Bei der Uraufführung gehen einem tausend Sachen durch den Kopf. Ich freue mich nun mit etwas mehr Distanz auf die Premiere in Solothurn. Ich durfte den Entstehungsprozess weitgehend miterleben und es war für mich sehr spannend und lehrreich, wie die vielen Puzzlesteine – die Musik ist ja nur einer davon – immer mehr zu einem Ganzen verschmelzen. Zu erleben, wie alle Beteiligten ihr Talent mit ganzer Kraft einbringen und so Musik und Text lebendig werden, war sehr berührend. Kaspar Zehnder hat ein grosses Gespür für meine Musik. Es ist nicht das erste Werk von mir, das er dirigiert. Die Sänger und Sängerinnen sind grandios und leisten Ausserordentliches, und das Zusammentreffen mit Barbara-David Brüesch (Regie), Alain Rappaport (Bühnenbild) und Sabine Blickenstorfer (Kostüme) ist einfach ein Glücksfall. Dass die Oper bei Publikum und Presse so gut ankommt, belohnt nun auch den Mut von Dieter Kägi, die Uraufführung dieser Oper zu wagen.
Seit der Befreiung der Kirchgasse vom Verkehr im Jahr 2013 ist er der städteplanerisch grösste Wurf: der neue Ländiweg. Nirgendwo scheint die Abendsonne schöner hin als hier, bevor sie sich hinter den nordwestlichen Jurahügeln verabschiedet. (Okay, ausser vielleicht oben am Waldrand im Säliquartier. Aber da gibt’s die Aare nicht.) Schon im biederen Gewand waren die Plätze auf der Mauer entlang der Böschung mit Blick auf Wasser und Altstadt begehrt. Den Raum nahmen auch Menschengruppen in Anspruch, die nicht allen in der Gesellschaft behagen. Der Ländiweg galt als «unsicher», viele mieden ihn vor allem nachts.
Das soll passé sein, wenn der Weg auf den Winter hin wieder öffnet. Ein kleines Paradies verspricht die Stadt mit ihrem neuen Projekt. Eine Oase für alle. So etwas wie der kleine Startschuss für den hoffentlich bald kommenden Bahnhofplatz, der zur vielzitierten Visitenkarte der Stadt werden soll. Das Visitenkärtli könnte dann der Ländiweg sein, der die in Olten gestrandeten Menschen über den Aareweg in die kleine, aber feine Altstadt lockensoll.
Unoltnerischer Entscheid
Man ist fast versucht zu sagen, es sei einem unoltnerischen Entscheid geschuldet, dass die Flaniermeile bereits dieses Jahr wahrhaftig wird. Die Stunden, in welchen sich im Parlamentssaal alles um eben diesen Ländiweg drehten, würden bestimmt ein einwöchiges Seminar füllen. Kurz erzählt: Ganz oltnerisch (oder auch schweizerisch) wollte der Stadtratalles schön der Reihe nach angehen.
In der ersten Phase wäre die Böschung verschwunden, da der Kanton ohnehin die Stützmauer am Bahnhofquai erneuern würde – was gerade geschieht. Die Stadt hätte den somit breiteren Ländiweg etwas begrünt (Pinselsanierung). Wohl frühestens fünf Jahre später wäre mit dem neuen Bahnhofplatz am Ländiweg die zweite Phase angedacht gewesen, mit allem Drum und Dran – die Attraktivierung eben.
Coup der Linken
Nein, sprach das Parlament. Es wollte das Drum und Dran gleich haben. An einem Abend gelang, was zuvor ein Jahrzehnt warten musste. Die linke Mehrheit sprach drei Millionen Franken. Durch das beschleunigte Projekt nahm sie in Kauf, auf mögliche Bundesgelder aus dem Agglomerationsprogramm zu verzichten.
Ein Jahr später kam aus dem Stadthaus aber die Meldung: Es braucht nochmal rund 900’000 Franken. Bauabfälle in der abgetragenen Böschung und statische Mängel an der Wegkonstruktion sowie der Stützmauer zur Holzbrücke hin sorgen für Mehrkosten. Es war ein gefundenes Fressen für die Bürgerlichen, die kalte Suppe nochmals aufzukochen. An den Handstreich zu erinnern und der Linken mal wieder vorzuwerfen, sie umginge mit ihrer «Salamitaktik» den Urnengang (ab 4 Millionen Franken ist die Volksbefragung vorgeschrieben).
Nur sei angemerkt: Das Stimmvolk hatte für das Projekt Andaare einst 25 Millionen Franken (inklusive Steg) gesprochen, die wegen der schlechten finanziellen Lage der Stadt flussabwärts gespült wurden. Das Projekt verschwand unter den Stapeln im Stadthaus. Dass die Linke nun bei der gemeinhin als «Andaare-Light» bezeichneten Vorlage aufs Tempo drückt, darüber freuen sich hinter vorgehaltener Hand selbst hohe Verwaltungsangestellte aus Solothurn. Endlich gehe was am Ländiweg. Und überhaupt in Olten.
Blick auf den geplanten Bahnhofplatz – im Hintergrund der neue Aaresteg und die neu gestalteten Bahnhofquai und Ländiweg. Quelle: Visualisierung Stadt Olten
Das Drum und Dran
Konkret gestaltet die Stadt eine gut 100 Meter lange und 7 Meter breite Promenade. Sie hat sich ernsthaft Gedanken gemacht, wie der Ländiweg zu einem attraktiven Aufenthaltsraum werden kann, wie unser Gespräch mit Stadtplaner Lorenz Schmid zeigt. Der Ausbauplan schaut wie folgt aus:
Der Bezug zum Jura
Mit schwungvollen Adjektivenund Schachtelsätzen beschreibt das Gestaltungsplankonzept die künftige Szenerie. Wir versuchen, dies etwas einfacher zu erklären: Die Mauer im Hintergrund soll mit hellen Kalksteinbeton-Elementen einen Bezug zu den Jurahügeln schaffen. Auf der davorliegenden Promenade wird sich ein mäandrierender Weg vom Bahnhof zum Wildsauplatz erstrecken. Er führt um drei Nutzungsinseln, die mit Bäumen begrünt sind. Der Belag besteht analog zur Kirchgasse aus Gussasphalt mit hellen Einsprenglingen. Zusätzlich aufgewertet wird die Promenade mit dem Fischbrunnen von Paul Nünlist.
Das Stadtgrün
Mit den neugepflanzten Bäumen am Bahnhofquai oben und am Ländiweg selbst wird der Aareraum wesentlich stärker begrünt. «Oben pflanzen wir Baumtypen, die mit der Linde verwandt sind. Wir möchten die symmetrische Situation zum Amthausquai wiederherstellen», erklärt Lorenz Schmid. Bis in die 50er-Jahre war der Bahnhofquai nämlich bereits mit Bäumen versehen. Sie mussten später der Strassengestaltung weichen. Auf der gegenüberliegenden Aareseite hat die Lindenallee bereits eine lange Geschichte, wie die stattlichen Bäume vermuten lassen. Bis zu 90 Jahre alt sind die Linden am Amthausquai. Am Bahnhofquai pflanzt die Stadt jeweils drei verschiedene Sorten, um den Krankheitsbefall abzufedern.
Am Ländiweg selbst sind Platanen und Maulbeerbäume vorgesehen. In den Pflanzrabatten entlang der Mauer wird kleineres Gehölz gepflanzt. Die Bäume sollen am Ländiweg bloss einen feinen Schatten spenden, um die Durchsicht vom Bahnhofquai zu ermöglichen. «Damit wollen wir sichtgeschützte Nischen verhindern», sagt der Stadtplaner. Bleibt zu hoffen, dass die Flaniermeile wegen dieser Massnahme nicht zu sehr von der Sonne aufgeheizt wird, wie dies an heissen Sommertagen auf der Kirchgasse der Fall ist.
Liegen und Sitzen
Sitzgruppen aus einheimischem Lärchenholz werden hochwassersicher rund um die Bauminseln installiert sein. Hinzu kommen ausschwingende Sitzstufen, welche die Pflanzrabatten entlang der Mauer eingrenzen. Mittendrin wird ein Tisch stehen. «Er kann als Spontanmarkt genutzt werden oder um Reden zu halten», sagt Lorenz Schmid und lacht. Ein Stück Hyde Park an der Oltner Aare.
Für den Gaumen
Inmitten der Promenade ist ein Leerplatz für mobile Standangebote ausgespart und mit Wasser- und Stromanschluss versehen. Wenn möglich möchte die Stadt die Betreiberin mit einem Ordnungsauftrag ausstatten, sagt Schmid. Etwa um Littering vorzubeugen, noch ist dies aber nicht genauer bestimmt. Die festinstallierten (Gastro-)Betriebe sollen gemäss Stadtplaner im Bereich des künftigen Bahnhofplatzesund beim Wildsauplatz konzentriert bleiben. Für den mobilen Stand sei die Stadt mit möglichen Betreibern im Gespräch, so Schmid.
Wann kommt die Schwimmplattform?
Ganz ohne Etappierung geht’s auch bei diesem Projekt nicht. Die geplante Schwimmplattform muss warten. Für diese wird ein separates Nutzungsplanverfahren nötig, das rund eineinhalb Jahre dauern dürfte. Wer direkt vom Aareschwumm kommt und am Ländiweg flanieren will, muss deshalb zunächst übers Schwanenmätteli aussteigen.
Sitzstufen zur Aare hin wird es voraussichtlich längerfristig keine geben. Grund dafür ist die Abwasserleitung unter dem ehemaligen Ländiweg. Sie hat noch eine Lebensdauer bis 2045. Erst wenn diese ersetzt würde, könnten beim Neubau stellenweise Stufen ans Aarewasser eingebaut werden. Der Zweckverband lehnte den Vorschlag der Stadt ab, vorsorglich Leerrohre im Bereich der Mauer zu verlegen, die er zu einem späteren Zeitpunkt hätte nutzen können. Trotzdem sagt Schmid: «Sitzstufen sind als Endzustand weiter vorgesehen.» Er spricht dabei aber vom Zeithorizont 2045.
Quelle: Visualisierung Stadt Olten
Bald auch Veloweg?
Der neue Ländiweg ist mittelfristig auch als Veloweg vorgesehen und bereits als solcher konzipiert. Der mäandrierende, drei Meter breite Weg soll dereinst Platz für Mischverkehr bieten. «Das macht frühestens Sinn, wenn der neue Bahnhofplatz, der Fuss- und Velosteg und die Velostation stehen», sagt Lorenz Schmid. In diesem Fall müsste noch der südliche Teil zum Wildsauplatz ausgebaut werden. Wie der nächste Ausbauschritt aussehen könnte, sei bereits skizziert, so der Stadtplaner.
Wie Tobias Flotron ergeht es vielen. Als in Olten 2018 das «Momentum» als Trendsporthalle eröffnete, war er einer der Neugierigen, die vorbeischauten. Und seither kommt er immer wieder hierher. Versucht, die vier Meter hohe Wand zu erklimmen, die mit knallfarbenen Kunststoffgriffen übersät ist. Ohne Seil hochzusteigen ist, was das Bouldern ausmacht. Geboren ist der Sport draussen am Felsblock (auf Englisch «boulder»). Mit den Boulderhallen kam er in die Städte und wurde zum Massenphänomen.
In Zürich spriessen die Kletterhallen wie Pilze aus dem Boden. Aber auch in den Agglomerationen und Kleinstädten ist die Sportart extrem hip. In Baden eröffnete mit dem «Bouba» eben erst eine Halle, die um ein Vielfaches grösser ist als jene in Olten. Die Szene wächst rapide.Die Kletterhallen sind auch ein Treffpunkt für Gleichgesinnte. Nach dem Training trinkt man gemeinsam ein Bier. Übers Wochenende fahren die Freunde zusammen in die Berge. Auch in der weiteren Region ist der Sport im Trend. In Aarburg entstand mit dem «Isatis» vor zwei Jahren eine Boulderhalle, nach Solothurn expandierte letztes Jahr die Berner Hallenbetreiberin «bimano». In Lenzburg wurde die Kletterhalle ausgebaut und eben erst wiedereröffnet.
Mittlerweile gehört Tobias zum Betriebsteam der Momentum-Halle. Das Umfeld ist familiär. Die Leidenschaft für den Sport treibt sie an, das Gros der Arbeit, wie etwa der gesamte Unterhalt, ist ehrenamtlich. Mit dem Geld muss die Genossenschaft haushälterisch umgehen. «Wir decken viele Bedürfnisse ab, sind aber nicht so professionell aufgestellt wie andere», sagt Tobias. Er führt uns ins kleine Lager inmitten der grossen Halle. Alles ist aus Holz gebaut. Kisten mit neuen Kunststoffgriffen stapeln sich hier drin. An einer Pinnwand ist feinsäuberlich aufgeführt, wer aus dem Momentum-Team wie viele neue Routen «geschraubt» hat, wie Tobias erklärt. Alle paar Wochen werden bestehende Routen zurückgebaut und neue kreiert. Die schwierigen Routen aber belassen die Betreiber über ein paar Monate.
Manchmal versucht Tobias sich über Wochen an der gleichen Route. Die Spielregeln sind einfach: Eine Route ist mit Griffen einer bestimmten Farbe definiert. Um hochzuklettern, darf man nur Griffe dieser Farbe nutzen – mit den Händen nach ihnen greifen oder mithilfe der Füsse abstehen und Impulse geben. «Es gibt für mich immer genügend Routen, an welchen ich chnüble», sagt Tobias. Die spielerische Sportart beansprucht den ganzen Körper. «Sie hat eine feine, präzise und zugleich auch eine kräftige Komponente.» Bei geübten Kletterinnen schaut es bisweilen aus, als hätten sie Magnete an den Händen, wenn sie sich an den künstlichen Griffen festhalten und sich entgegen der Schwerkraft nach oben bewegen.
Vor einem Jahr baute das Momentum den Kletterbereich mit einem zusätzlichen Boulder-Block aus, den die Genossenschaft mithilfe eines Crowdfundings finanzieren konnte. Damit vergrössert sie gezielt ihr Angebot für Kurse und Schulklassen. Kurz sei die Überlegung im Raum gestanden, gar zu expandieren und auch die untere Halle des heutigen Standorts zu mieten, erzählt Tobias. Jedoch wäre der Betrieb aufwändiger geworden und die Unsicherheiten aufgrund der Pandemie bremsten die Pläne. Noch ist die Idee nicht endgültig vom Tisch. Tobias sagt aber: «Wir wollten uns selbst treu bleiben. Wir sind weder die bestausgerüstete noch die bestgebaute Kletterhalle. Jene Menschen, die das Momentum als Kunden oder Helferinnen mittragen, machen unseren familiären und sympathischen Charakter aus.»
2 Sportarten …
… unter einem Dach. «Das Momentum gäbe es ohne die Koexistenz nicht», sagt Tobias. Die Kletteraffinen spannten für ihr Projekt mit den Skatern zusammen und schufen so die Trendsporthalle. Etwas Lärm gehöre im Momentum deshalb dazu. Wenn die Skater mit Rollbrett, Inlineskates oder Kickboards über die Anlage rollen, hallt ein Grollen durch den Raum. Die Kletterinnen mussten sich damit arrangieren. Das Momentum hat den Montagabend deshalb exklusiv fürs Klettern reserviert – der Dienstagabend gehört dem Verein der Rollbrettbuben. Am Wochenende sei aber gerade die Kombination der beiden Sportarten bei Familien sehr beliebt, sagt Tobias.
3 Disziplinen
Sportklettern war an den Olympischen Spielen in Tokio erstmals Teil des Programms, was die Popularität der modernisierten Sportart befeuerte. Bouldern ist eine der drei Disziplinen, in welchen sich die Athletinnen auch bei Weltmeisterschaften und weiteren Wettbewerben messen. Die anderen beiden Disziplinen bilden das (gesicherte) Schwierigkeitsklettern, das im Fachjargon als Leadklettern bekannt ist, und das Speedklettern. Bei der letzten Form treten jeweils zwei Athleten auf einem identischen Kurs gegeneinander an. Wer zuerst oben anschlägt, kommt eine Runde weiter.
4 Meter …
… hoch sind die aus Holz gebauten Boulder-Wände, an welchen die Routen hochführen – zum Teil auch überhängend. Am Boden ist eine 30 Zentimeter dicke Matte fixiert. Wenn die Kraft nachlässt, kann sich der Kletterer auch gehen lassen und landet aus sicherer Absprunghöhe auf dem abfedernden Boden.
6a-6a+ Schwierigkeitsgrad
Die Zahl zeigt an, auf welchem Niveau sich Tobias mit seinen bald vier Jahren Klettererfahrung an den Boulder-Wänden bewegt. Entwickelt wurde das Schwierigkeitsgrad-System im bekannten Bouldergebiet Fontainebleau, weshalb von der Fb-Skala gesprochen wird. Sie reicht von 4 bis 9a. Im Momentum wird der Schwierigkeitsgrad in Farben übersetzt. Mit seinem fortgeschrittenen Niveau klettert Tobias derzeit vor allem grüne Routen. In den Sommermonaten zieht er das Klettern im Freien an den echten Felswänden vor. Dort ist die Skala leicht verschoben und Tobias kann Aufstiege mit dem Schwierigkeitsgrad 6b-6c meistern.
45 bis 50 verschiedene Routen …
… sind im Momentum angebracht und stellen den Besucherinnen «Boulderprobleme», wie sie genannt werden. «Bouldern hat den Vorteil, dass man nicht gesichert sein muss», sagt Tobias. Das senkt die Schwelle, mit dem Sport anzufangen. Wer sich an ein Boulderproblem wagt, kann dieses immer und immer wieder versuchen. Bis die Kraft nachlässt oder die Hände wund sind … «Weil ich nicht so beweglich bin, muss ich die schwierigen Passagen mit Kraft zu überwinden versuchen», erzählt er.
Rund 60 Kletter- und Boulderabos
Die Stammkundschaft ist die wichtigste Grundlage, damit das Momentum den Betrieb aufrechterhalten kann, erklärt Tobias. Wer 540 Franken pro Jahr bezahlt (360 fürs Halbjahr), kriegt einen Badge und hat jederzeit Zugang zur Kletteranlage. «Bis zum Corona-Lockdown hatten wir ein gutes Wachstum», sagt er. Danach seien die Menschen verunsichert gewesen. In diesem Winter nimmt das Interesse wieder zu – und dies trotz der Covid-19-Massnahmen.
An diesem Winterabend ist die Halle zumindest voll belegt. An allen Wänden hängen Kletterinnen an den Kunstgriffen und versuchen, die gestellte Aufgabe zu lösen. Ein Schnupperkurs hat viele Teilnehmer ins Momentum gelockt. Rund alle zwei Monate bietet das Momentum solche an. Dies sei für sie eine gute Gelegenheit, neue Menschen fürs Klettern zu begeistern und für die Momentum-Familie hinzuzugewinnen, sagt Tobias.
Er zeigt an eine Wand, wo sich ein Zweierteam an einer mittelschweren Route versucht. Vor drei Monaten seien auch sie beim Schnupperkurs dabei gewesen. Stefanie und Fabian lösten gleich ein Abo und sind nun regelmässig in der Halle. «Eigentlich kam ich hierhin, um meine Höhenangst zu überwinden», erzählt Stefanie. Das sei ziemlich gut gelungen. Fabian fügt bei: «Wir waren erstaunt, wie schnell wir Fortschritte erzielten.» Sagt’s und hievt sich am nächsten orangenfarbenen Boulderproblem hoch.
Infos: Momentum Olten, der nächste Schnupperkurs findet am 21. Februar 2022 statt.
During those five days, I was warned not to bother my neighbour. Some days I knew he was out of the house for nearly twelve hours. The next day he would be locked up at home, making odd scuttling noises I could hear through the walls at every level. Once I thought I heard him climbing the chimney stack. On the fifth day, he visited me.
“All is finished. Unfortunately, our appointment with the board of city managers must wait until tomorrow. I shall say nothing to you, and we will speak of other matters entirely. Divert my mind, please, Charles.”
“You said ‘our’ appointment. Did you mean me?”
“Of course. Besides helping me immensely in solving this case, you also said that you had a cousin married to the old city president who initiated this air filtration plan. You are an invaluable ally, Charles.”
“How did I help you, Boxer?”
“What was the city president’s name?”
“Schuster.”
“Exactly. And shoes are made of – ?”
“Leather. Aha! I think I see the connection.”
“But we shall not speak of it until tomorrow. Still, you may sleep on it, if you wish.”
The next day, we went to the Stadthaus, Boxer armed with nothing more than his brain. We were shown into a conference room and told to sit at a desk not unlike a witness box in a courtroom. In filed the seven city managers, only one of them a woman. They sat in a row at a long table, behind them the flag of Olten, with its five multi-coloured eagles spreading their wings over the seven hills of the city. The woman spoke.
“Mr Boxer, Mr Ross. You may speak. We shall try not to interrupt you.”
“Thank you, Madame. To you all, I extend my thanks, also on behalf of Mr Ross.
“Let us not start at the beginning. No, let us start at the end and work back. Let us start at that delightful spot on the river bank called Schwanenmätteli, the Meadow of the Swans, the Field of Swans. For it is here where the Mühlebach has its confluence with the Aare. Hard to see these days, having been channelled mostly underground, and with the increased river water level, it flows in underwater.
“The swans are suffering, you recall. Sheep are being stolen, and not coincidentally, either. Here lies the answer – between the Field of Sheep and the Field of Swans.
“You all recall the stench, as well. That, and the chemical analysis, point to only one thing – a tannery, a Gerberei. Olten has not had a tannery for many years, when there was one in Industrie, and, believe it or not, one on Kronenplatz – Crown Plaza itself. I jest, of course.
“Mr Ross and I had investigated the Mühlebach open run earlier, and we found no evidence of contamination. Working alone after that, I examined all water drains from the Aare back to a certain point. Then I sent sensors downstream from the sheep field and managed to retrieve them at various locations. I tested several of these sensors throughout the plumbing labyrinth of my own house. They detected just the chemicals I needed to find in order to locate my own trace ‘polluter’. The sensors worked the same under test conditions as under real conditions.
“Yesterday, I found and identified the location and owner of the illicit tannery, and within a matter of — “
“Mr Boxer. I must interrupt. How do you know this so-called tannery is illicit?”
“Madame, we are not speaking of sun-beds, but of stolen sheep, slaughtered and skinned, the skins tanned for making, oh, perhaps clothing? Surely that would require a licence to operate.”
“And where is this establishment, Mr Boxer?”
“Ah! Now we come to the crux. This tannery is located in the old Froburg Brewery, a property acquired by the city of Olten board of managers by right of eminent domain after the peasant uprising of 2048.”
“That property is held under legal authority. We have the ancient documents to prove it.”
“Madame, your ‘ancient’ documents are forgeries – written on modern-day vellum. You and all the managers since that time have been running a forgeries racket, one way or another. Vellum and parchment preparation requires just the chemicals found in the analysis. In addition, I have discovered three documents, and there must be others, in which the word Froburg, or Frohburg, is spelt in a way anachronistic to the date on the document. Mind the details, Managers, for therein dwells the Devil.”
“Mr Boxer, your charges are slanderous. However, to avoid any, uh, unpleasantness in future, I, as president of the board of managers, recommend we divest ourselves of interest in this tannery.”
“And then what will be the board’s remit, its duties and responsibilities?”
“We do not understand.”
“Members of the board, confess. Your only raison d’être is to run and profit from that tannery. Olten has a city president, a city council, even a panel of citizens. You validate your own existence with a charter dated 1472 – a charter of your own recent fabrication, no less!”
“It is our tradition, our history, Mr Boxer.”
“It is all a lie, an invention.”
“What can you do about it?”
“Unless you vote yourselves out of existence, dissolve this entire structure of falsehoods, I shall have to notify cantonal and federal authorities. I suggest you go quietly and return the fair city of Olten to its rightful, legitimate government. It can manage itself quite well without managers. I shall be keeping a watchful eye on you.
“Mr Ross and I wish you all a good day. Come, Charles, we deserve a beer.”
David Pearce ist ein Schweizer Schriftsteller, wohnt seit 2000 in Olten und hat amerikanische, englische und französische Wurzeln. Er schreibt auf Englisch Kurzgeschichten, Romane und Theaterstücke.
Der Holztisch ist tatsächlich ein Holztisch. Das Glas Fendant gibt’s für 3.60 Franken. Die Wärme im Raum spenden Gussheizkörper. Schwarz-weisse Wandfotos erzählen Oltner Geschichten aus vergangenen Tagen. Die Fasnacht schreit von den Wänden herab, ist hier drin ein wohlbehütetes Brauchtum. Fast schon museal widmet das Lokal den Obernaaren eine eigene Galerie. Der Stammtisch ist nicht bloss noch ein Requisit. Hier drin ist jeder Tisch ein Stammtisch. Ueli kennt Christof. Christof kennt Franz. Franz kennt Esther … Alle kennen sie Rita.
«Die Beizen sind tot», sagte der Solothurner Schriftsteller Peter Bichsel, als der erste heftige Lockdown der Pandemie im Frühsommer 2020 vorüber war. Der Journalist der NZZ muss ihn, den berühmtesten Beizenhocker, in einem schicksalsergebenen Moment erwischt haben.
Sie mögen spärlicher geworden sein, diese Orte, an welchen die Menschen nicht zuerst an sich selbst glauben, sondern als Gemeinschaft denken. Wo Anonymität auch wirklich noch ein Fremdwort ist. Wo sich die Kleinstadt auf einen Dorfplatz runterdividieren lässt. Wo das Zusammensein fast so wichtig ist, wie was auf den Tisch kommt. Orte, wo, was gewesen ist, eben noch immer ist. Darum sind Beizen heute auch zu Sehnsuchtsorten geworden. Aber sie leben noch.
Zurück ins Jahr 1978
Ein Rebstock umgarnt den Schriftzug der Waadtländerhalle an der Marktgasse. Durchs Milchglas dringt nur das spärliche Licht des grauen Novembernachmittags nach aussen. Erst die niedere Holztür gibt den Blick in die Gaststube frei. Rita Ledermann sitzt an einem kleinen Tischlein gegenüber dem Tresen. Mit ihren Augen, die ruhig sind wie ein See an einem windstillen Tag, mustert sie, wer daherkommt. Seit Jahrzehnten schon ist dieses Tischlein der Ort, wo sie innehält.
Auf ihrem Stuhl findet sie zwischen dem regen Treiben Zeit für sich. In ihrem «Beizli», wie Rita ihr zweites Daheim liebevoll nennt. Gefühlt ihr ganzes Leben hat sie in diesem Lokal im Herzen der Oltner Altstadt verbracht. «Früher war’s mehr ein Spunten», sagt sie. Das «Früher» reicht für Rita ins Jahr 1978 zurück. Der Kanton Jura wurde gegründet, mit Willi Ritschard war ein Solothurner Heizungsmonteur Bundespräsident, Johannes Paul II. wurde zum neuen Papst gewählt, der Präsident der USA hiess Jimmy Carter. Und Rita entdeckte in der Glückspost ein Inserat, wonach in der Oltner Waadtländerhalle eine «Serviertochter» gesucht sei.
Teddy, Toulouse und Tiger
«Jawohl, du kannst morgen anfangen», habe ihr der «Tiger» – wie alle den damaligen Wirt nannten – gesagt, nachdem sie sich vorgestellt hatte. Rita ging heim, packte ihre Sachen und zog nach Olten. In Vordemwald war sie aufgewachsen, in Zofingen machte sie im Restaurant Schwert die Lehre zur Köchin.
Aus dem Radio säuselt Popmusik. Über dem Tresen neben der Uhr hängt ein Foto vom Tiger. Als Beizer war er in der Kleinstadt eine Institution. «Er schaut noch immer zu, was wir machen», sagt Rita. Am anderen Eck blickt ein Teddybär vom eingebauten Gläserschrank in die Gaststube runter. Ein Geschenk vom Tiger an sie, wie Rita, leidenschaftliche Teddybär-Sammlerin, erklärt. Vor elf Jahren starb der vormalige Patron des Hauses zwischen Fasnacht und Fukoabend. In jener Jahreszeit, die ihm als Fasnächtler selbst am meisten bedeutete. Bis er 70 Jahre alt war, hatte er die Waadtländerhalle geführt.
«Als bekannt wurde, dass der Tiger aufhört, hatten wir alle Angst, dass aus dem Lokal etwas ganz anderes wird», sagt Rita. Eine Beiz als Wirtin zu verantworten, eigentlich hatte sie dies nicht gewollt. Aber die Gaststube war ihre Welt, ebenso die langen Abende. Schon in der Schulzeit hatte sie im Restaurant Zur unteren Säge in Vordemwald ausgeholfen und so ihr Sackgeld verdient.
Ob nicht sie des Tigers Erbe weiterführen wolle, fragten sie viele. Sie ging heim und beriet sich mit ihrem Partner. «Komm, das machen wir», habe er gesagt. Seit 21 Jahren ist Rita Herrin des Hauses. Ihr Partner macht ihr die Buchhaltung und die Einkäufe. Einmal pro Woche geht er zum Grosshändler – Rita schreibt die Einkaufsliste. Über all die Jahre blieb er im Hintergrund, kehrte kaum mehr ein, seit sie die Wirtin ist. «Das gibt nur Chritz», sagt Rita. «Wenn dir Sepp etwas erzählen will und der Partner auch, da hörst du Sepp zu, weil er der Gast ist.»
Ja früher …
Wer über vier Jahrzehnte lang in einer Gaststube den Wandel der Zeit in der Kleinstadt miterlebt hat, spricht wohl naturgegeben mit einer Portion Nostalgie. Vergleicht den Ist-Zustand gerne mit damals. Leere Schaufenster, verwaiste Lokale. Das Ladensterben und die schwindende Beizenkultur betrüben Rita. Früher war die Altstadt noch belebter, als sie morgens ihre Wohnung in der Rötzmatt verliess, zur Altstadt hochlief und in der Bäckerei ihr Brot holte, um dann in der Küche Gschwellti für die Rösti aufzusetzen. «Heute haben wir noch das Kolping, den Chöbu, dann ist bald mal fertig mit den Beizen», sagt Rita. Was sie unter Beiz versteht? «Du kannst reingehen, ein Jässlein machen, mal zusammen ein Lied singen. Ein Ort, wo du eine Familie hast.»
Als Wirtin war Rita stets Teil dieser Familie. Oder vielmehr jene, die die Familie zusammenhält. Am liebsten sitzt sie selbst am Jasstisch und klopft mit ihren Gästen einen Schieber. Heute kennt sie noch gut die Hälfte der Leute, die in der Waadtländerhalle ein- und ausgehen, persönlich, schätzt Rita. Früher, erzählt sie, habe sie noch fast jeden Gast mit Namen gekannt, wusste sie, wer zuerst das Bier trank, wer den Kaffee mit vier Zuckerwürfeln nahm und wer zum Schluss noch einen Kaffee Lutz wollte. «Damals kam vor allem Arbeitervolk in Spunten wie diesen», sagt sie. Heute zähle sie vom Direktor bis zum Stift die gesamte Palette zu ihrer Stammkundschaft, was sie wiederum als positiven Lauf der Dinge empfindet.
Wäre dieser persönliche Draht zu den Menschen, die ihre Gaststube betreten, nicht, so wäre Rita kaum Wirtin geblieben. Draussen veränderte sich vieles, aber die Waadtländerhalle blieb Beiz. Gerade weil sich das Kleinstädtchen wandelte und das traditionelle Gewerbe zusehends verschwand, wollte Rita weiterhin für die Menschen da sein. Pfeilschnell antwortet sie auf die Frage, was ihr als Wirtin am meisten bedeute. «Die Anerkennung. Hier gehen so viele Leute raus und sagen: ‹Danke vielmal, es war fein. Wir hatten eine schöne Zeit bei dir.›» Daraus schöpft sie bis heute Kraft. Sie sage immer, ihre Bedienung und sie selbst seien Psychiater, Krankenschwester, Seelsorgerin … – von allem ein wenig. Selbst Mama. Von den jüngeren Stammgästen kehrten viele eines Tages in Begleitung zu ihr zurück. «Jeder kam mir sein neues Chätzli vorstellen», sagt sie und lacht.
Literweise Schnaps
Ihrem Vorgänger hingegen wurde vielmehr die Rolle des harten Hausherrn zugeschrieben. «Ihn hat man verkannt», sagt Rita. Er sei zu den Angestellten sehr warmherzig gewesen. Wer reinkam und Lärm machte, bekam aber seine direkte Seite zu spüren. «Der Einzige, der hier drin auf den Tisch klopft, bin ich», habe er zu sagen gepflegt. Er sah sich durchaus auch als Erzieher, gerade der jungen Leute.
Die damaligen Verhältnisse wären heute aber unvorstellbar. Im Spunten, in welchem Rita als Bedienung begann, herrschte ein rauer Umgang. Das lag nicht zuletzt am massiv höheren Alkoholkonsum, erklärt sie. «Früher schenkten wir übers ganze Jahr hinweg literweise Schnaps aus.» Heute werde höchstens noch an der Fasnacht in diesem Rahmen getrunken. Die Trunkenheit wirkte sich auf das Aggressionslevel aus. «Wir mussten auch immer mal wieder die Polizei kommen lassen.»
Toulouse in memoriam: Der berühmte Kater und «König von Olten» übernachtete zwischendurch gerne mal in der Waadtländerhalle.
Zu essen gab’s beim Tiger bloss Sandwiches und Würstchen. Dafür harassenweise Bier. Weihnachten war für Rita der schlimmste Tag im Jahr. «Ich kannte ja die Leute und wusste, dass sie später noch daheim mit den Kindern Weihnachten feiern würden. Stell dir vor, sie saufen und saufen den ganzen Tag über …» Trotzdem moralisierte Rita bei ihren Gästen nie. «Ich hatte meinen Alkohol ja auch», sagt sie. Heute trinkt sie kaum noch, weil es sie sehr müde macht. Sie lächelt, während Erinnerungen hochkommen. An die wilden Tage ihrer Jugend. Per Autostopp kam sie damals in die Oltner Industrie und feierte im Kulturlokal Dampfhammer durchzechte Nächte. «Da erlebte ich meine Jugendsündenzeiten.»
Noch ahnte sie damals nicht, dass Olten zu ihrer Heimat werden und sie eine Traditionsbeiz prägen würde. Von hier wegzuziehen ist für sie heute undenkbar. Auch wenn sie sich neulich erstmals auf dem Heimweg fürchtete, als zwei suchtkranke Menschen aufdringlich um Geld bettelten. Auch ihr gibt die aktuelle Situation mit den Randgruppen am Kirchensockel zu denken. Obwohl sie weiss, dass suchtkranke Menschen schon immer da waren. Nur waren sie weniger sichtbar, weil sie sich in den 70er- und 80er-Jahren weniger in der Innenstadt, sondern etwa im Dampfhammer in der Industrie aufhielten. Sie weiss, auch ihr Alter verändert die Perspektive. «Weil wir damals jünger waren, haben wir’s nicht so erlebt wie jetzt», sagt Rita.
Zukunft: ungewiss
Nun bangt sie. Um ihr eigenes Erbe. Im Herbst 2022 geht sie in Pension. Die Waadtländerhalle soll darüber hinaus bleiben, wie sie ist. Eine Beiz eben. «Das wäre mir enorm wichtig», sagt Rita. Dann flüstert sie fast schon: «Aber ich glaube nicht wirklich daran.» Doch sie tut alles dafür, dass es weitergeht. Gemeinsam mit den Besitzern des Hauses entwarf sie eigens für die Nachfolgersuche ein Tischset. Gesucht: ein neues Gesicht für den Tiger.
Wäre da nicht eine Pandemie, die Voraussetzungen für eine künftige Wirtin könnten nicht besser sein. Rita hat daran weitergebaut, was der Tiger hinterlassen hatte. Über 130 Anlässe finden bei ihr in normalen Zeiten jährlich statt. Für zahlreiche Vereine, Parteien und Fasnachtszünfte ist die Waadtländerhalle wie ein Daheim. Rita erzählt von den Aufstiegsspielen des Handballvereins, die sie besuchte. «Wenn sie gewannen, gab’s ein Fest. Du hast zu diesen Vereinen dazugehört.» Die Faustballer, der FC Fortuna, der FC Olten – sie alle gehören oder gehörten mal zu den Stammgästen. Die Vaudoiseschränzer gründeten sich in der Waadtländerhalle, ebenso die Läckerli und die Rätschwyber.
Plötzlich die Bösen
Über all die Jahre verleidete ihr das Wesen als Wirtin nie. «Erst jetzt mit Corona», sagt Rita. «Klar überleben wir mit dem Geld, das wir vom Staat kriegen, aber es ist nicht das Gleiche.» Kommt hinzu, dass sich gerade in der Gaststube die gespaltene Gesellschaft bemerkbar machte. «Einige unserer Stammgäste sind nicht geimpft», sagt sie. Die Zertifikatspflicht führte unweigerlich zu Diskussionen – sie sind Rita verdrossen.
«Gewisse behandelten uns, als wären wir die Bösen», sagt sie. Besonders von den Anfeindungen betroffen war ihre Bedienung, die aus der Ukraine stammende Nelia. Die Wirtin schwärmt von ihrer Angestellten, seit sechs Jahren ist sie ihre treue Begleiterin. Nun habe sie schwere Zeiten hinter sich. In den vergangenen Monaten musste sie rassistische Kommentare erdulden. «Warum muss ich dir jetzt meine ID zeigen?!», hätten Gäste ihr etwa an den Kopf geworfen. Nur wenn Rita vom Sommer spricht, funkeln ihre Augen vor Freude. Da war die Schwerelosigkeit für kurze Zeit zurück, scheinbar alles wie vor der Pandemie.
Rita ist sowas wie die Helvetia Oltens. In ihrer Gaststube vereint sie Menschen mit diversen Meinungen und aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten. Ihr höchster Anspruch: Zu allen gleich sein, sie ohne Vorurteile behandeln. Dazu erzählt sie eine kleine Episode: Eine ihrer Stammkundinnen sei immer fein hergerichtet erschienen, schwer parfümiert und geschminkt. Bei ihren Besuchen habe sie sich gerne über einen etwas ungepflegten Stammgast mokiert, der in einer Wohnung im Haus lebte und ab und zu mit offenem Hosenlatz in der Gaststube einkehrte. Die Frau verstummte an jenem Tag, an dem sie erfuhr, dass der Mann den Doktor in Mathematik besitzt. «Darum sage ich allen gleich Grüezi», sagt Rita. «Ein Gast, der seine Stange jede Woche trinken kommt, ist ebenso wichtig, wie jemand, der halbjährlich ein Fläschli bestellt.»
Die Rita-Rösti
Am Montagabend ist Olten ein ruhiger Fleck. Die Gassen sind menschenleer. Nur die Weihnachtsbeleuchtung erhellt die dunkle Winternacht. Aus der Waadtländerhalle fällt Licht auf die Pflastersteine. Die Beiz lebt als einer der wenigen Orte auch am Montag.
Rita empfängt im weissen Kochkittel mit ihrem musternden Blick, dann zeigt sie ihr warmes Lächeln und verschwindet alsbald in der Küche. Die Rita-Rösti sind ein fester Begriff in Olten und weit darüber hinaus. «Ich wollte was machen, was es in Olten sonst kaum gibt», sagt sie. Mit dem traditionellen Schweizer Gericht wandelte sie den Tiger von der Spelunke zum Beizli. Schuf sie etwas Gastronomisches, womit sich die Gäste identifizieren können. Obwohl ihre Rösti unverkennbar sind, behält sie die Rezeptur nicht geheim. Sie erzählt gern, was die Rita-Rösti auszeichnet. Zwei bis drei Tage lässt sie Gschwellti im Kühlschrank ruhen. Jeweils am Abend presst sie die am Nachmittag geschälten Charlotte-Kartoffeln in die Raffel und röstet sie dann im Kokosöl goldbraun. Noch immer isst sie selber gerne von ihren Rösti. «Die mit Gorgonzola mag ich am liebsten.»
Der Beizen-Trick
Der süssliche Duft der Rösti breitet sich in der Gaststube aus, wo am langen Tisch am Eingang eine ältere Männerrunde wie jeden Montagabend zusammengefunden hat. Rita serviert meinen Pfefferminztee in ihre Mitte. «So fängt das an, als 70-Jähriger sitzt du wie wir hier», sagt einer aus der Runde. Einige vom Stamm sind bei Rita gelandet, weil ihre Beiz am anderen Ende der Altstadt seit einiger Zeit am Montagabend nicht mehr öffnet.
Kaum aus der Küche zurück, bemerkt Rita sogleich, wer am Tisch sein Glas leergetrunken hat. «Nimmst du jetzt schon deinen Kafi?», fragt sie rhetorisch und eilt hinter den Tresen. «Hier drinnen herrscht Ordnung», weiss Ueli Müller und lacht. Der Ur-Oltner war 1988 Obernaar. Er kehrt schon seit Jahrzehnten in der Waadtländerhalle ein und kannte Rita bereits, als sie als junge Frau in den Tiger kam. «Sie ist die gute Seele des Hauses – der Tiger war der alte Chef», sagt er.
Was diesen Ort so speziell macht, will ich von der Runde wissen. Leicht verwunderte Blicke kommen zurück. Die Antwort ist ebenso simpel wie die Frage. «Es ist eine Stube», sagt einer. Die anderen nicken. «Das war ja schon der Trick vom Café Ring und vom Chöbu. Du kennst immer jemanden, wenn du reingehst», fügt Christof Schelbert an. Dass es hier nicht weitergehen könnte, scheint für die grauhaarigen Männer fast undenkbar. Reagan, Bush und wie sie danach auch hiessen, Rita habe sie alle überdauert, meint einer. Ein Ende der Waadtländerhalle wäre «sündenschade», findet er.
Dann wenden sie sich wieder den kleinen und grossen Themen zu, die in einer Kleinstadt eben zu reden geben.
Durch die Schaufensterfront dringt helles Licht in den Neuen Kunstraum Olten an der Mühlegasse 1. An den Wänden hängen sattfarbige Acrylbilder auf Leinwand und in der Mitte lädt eine Bank zum Verweilen ein. Pfade aus farbigem Granulat am Boden vermitteln ein plastisches Gefühl im offenen Raum.
Die Kompositionen von Jessica Russ bestechen durch eine extrem scharfe Linienführung und satte Farben. So entstehen saftige Farbflächen, die sich trennscharf voneinander abgrenzen und teilweise doch ineinanderzufliessen scheinen. Ergänzt werden sie mit spielerischen angedeuteten oder artikulierten Linien, die die Bilder in unterschiedliche Sektionen unterteilen. Beim ersten Betrachten wirken die Werke fast mechanisch, als wären sie von einem riesigen Drucker ausgespuckt.
Russ selber bezeichnet ihre Werke als «mentale Landschaften, deren Formen an die Kurven eines Körpers oder anonyme geometrische Figuren erinnern könnten». Auf den ersten Blick wirken einige Kompositionen wirr und das Auge sucht vergeblich nach bekannten Mustern oder Regelmässigkeiten. Nach einiger Zeit laden die Bilder zum Verweilen ein und das Auge begibt sich auf Wanderschaft durch die saftigen Farbflächen. So lassen sich die besagten Körperlichkeiten und farbenprächtige Landschaften erahnen.
Die Künstlerin arbeitet mit flachen Farbtönen. Auffallend sind die pastellblauen und rosafarbenen Strukturen, die ineinandergreifen. Fast schon gezielt dienen grelle Flächen in Rot als starker Kontrast und belebendes Element. In der Ausstellung sticht das Gemälde «Confetti box» heraus. Die Pastellfarben rücken hier in den Hintergrund und machen Platz für eine Reihe dominant greller Farbtöne mit spannenden Kontrasten. Genau diese Aspekte sind es auch, die Jessica Russ reizen: «Ich sehe mich in meiner Arbeit als Coloristin. Deshalb liebe ich es, mit verschiedenen Farben zu spielen und dabei spannungsvolle Dissonanzen und Resonanzen zu erzeugen».
Multimedialer Prozess
Ihre Inspiration holt sich Russ aus allem, was sie umgibt und was mit organischen Formen zu tun hat – insbesondere im Zusammenhang mit Landschaften. Dabei verfolgt sie zwei Blickwinkel, einen inneren und einen äusseren. Dies zeigt sich in der Mehrschichtigkeit und Kontrastfreude der Bilder.
Die Entstehung ihrer Bilder beginnt am Computer. Mit Photoshop zeichnet sie erste Entwürfe und Modelle. Diese überträgt sie dann Freihand mit Bleistift auf die Leinwand. Alle Farben mischt sie selber und trägt diese dann in mehreren Schichten auf die Leinwand auf. Eindrücklich ist, dass sie dabei auch hier freihändig, ohne Klebeband derart trennscharfe Konturen hinkriegt.
Die Ausstellung
Auf zwei Stockwerke verteilt sind neun Werke der jungen Künstlerin ausgestellt. Ausstellungsmacher Christoph Oeschger ist leidenschaftlicher Musiker und Kunstliebhaber. Ihm ist es wichtig, Kunst als ganzkörperliches, immersives Erlebnis darzustellen. Ausgewählte Klänge untermalen deshalb die Werke von Jessica Russ. «Für mich ist es das Grösste, wenn die Besucher während der Betrachtung der Bilder mit dem Takt mitwippen», verrät Oeschger.
Seit 2018 organisiert Oeschger Kunstausstellungen mit dem Nomadic Art Project. Nach einigen Abstechern in der ganzen Welt und verschiedenen Standorten in Olten ist das Projekt nun an der Mühlegasse 1 vorübergehend sesshaft geworden. Die Ausstellung «Juicy Fields» dauert noch bis am 9. Januar 2022.
Es ist eine dieser Strassen, von denen es in Olten viele gibt. Reihenhäuser, Einfamilienhäuser links wie rechts, manche bunter, andere weniger, dazwischen Garagen, davor Vorgärten. In einem steht ein Trampolin. Dort seien wir richtig, meint Google Maps, doch so ganz glauben will man dem Smartphone nicht. Das vielleicht angesagteste Tattoostudio Oltens mitten im Familienidyll?
«Das wissen nicht einmal meine Nachbarn», scherzt Marija Jeanmaire, aber hat damit vielleicht gar nicht so unrecht. Einzig ein kleines Schild mit der Aufschrift «artstagetattoo» am Gartentürchen nämlich verrät, dass in diesem Haus am Fusse des Borns die strahlende, wild gelockte 41-Jährige mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern nicht nur wohnt, sondern im Keller auch hauptberuflich Menschen Tinte unter die Haut sticht. Beziehungsweise diese Menschen «verschönert», wie Marija nennt, was sie macht.
Und zwar ziemlich erfolgreich. Von Zürich, Luzern, Davos seien die Menschen schon angereist und im Januar sei sie bereits ausgebucht, erzählt Marija und gibt zu: «Das erfüllt mich schon mit Stolz.» An einem Schrank in der Ecke ihres Studios, das dank heller und gemütlicher Einrichtung schnell vergessen lässt, dass man sich in einem Keller befindet, hat sie ausgedruckte Feedbacks vonKundinnen aufgehängt. «5 Sterne!» – «Supersympathische Person!» – «Marija for President!».
Knastbrüder und Arschgeweihe
Selbstverständlich ist das nicht, weder für Marija, die im Gespräch mehr als einmal wirkt, als könne sie es selbst noch nicht recht glauben, noch an sich. Sie ist eine Quereinsteigerin. Erst vor fünfeinhalb Jahren hat sie erstmals eine Tätowiermaschine in die Hand genommen. Wäre es aber alleine nach ihr gegangen, hätte sie, die schon als Kind gerne und gut zeichnete, das bereits viel früher getan. «Schon mit 16 war ich fasziniert davon», erinnert sich Marija, «Doch meine Eltern waren da ganz anderer Meinung.»
Es waren die 90er. In den USA und Westeuropa mochte sich die Einstellung zu Körperkunst zwar langsam wandeln – es war die Zeit des Techno und damit der Piercings und Tribals. Arschgeweihe wurden ganz unironisch, ja voller Stolz zur Schau getragen. Doch Marijas Eltern kamen aus einem anderen Kulturkreis. 1992 flüchtete die kroatische Familie wie so viele andere vor dem Krieg und aus ihrer Heimat Bosnien in die Schweiz, nach Olten. Marija seufzt: «Der Einzige mit Tattoos, den meine Eltern kannten, war mein Onkel und der war im Knast gewesen.» Tattoos = kriminell, so die einfache Gleichung. Kaum 18, liess sie es sich aber doch nicht nehmen. Das erste Tattoo auf ihrem eigenen Körper: ein Tribal. «Man sieht genau, wie alt ich bin», lacht sie.
Ihren Traumberuf legte Marija damals aber auf Eis, machte nach ihrer Schulzeit im Säli stattdessen eine Lehre im Verkauf. Sie arbeitete bei einem Juwelier, einer Metzgerei, in einem Betrieb, der Stahlrohre herstellte. «Für mich war es immer selbstverständlich, mein eigenes Geld zu verdienen», erinnert sie sich, «Schon in der Schule verbrachte ich meine Ferien jeweils mit Jobben.» Dementsprechend arbeitete Marija auch weiter, als sie nach Abstechern in Zürich, Bellinzona und Zug in Olten eine Familie gründete. Und dementsprechend hart traf es sie, als die Kombination aus Berufs- und Familienleben plötzlich nicht mehr aufging.
Aus der Not eine Tugend machen
Vor sechs Jahren wurde bei Marijas damals 5-jährigem Sohn Diabetes Typ 1 diagnostiziert. Die Symptome sind bei dieser Krankheit vielgestaltig – Gewichtsabnahme, Austrocknung, Durst, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Antriebslosigkeit et cetera. Mehr als mühsam für ein Kind, im Extremfall sogar lebensgefährlich. Und auch wenn mittlerweile durch die künstliche Zufuhr von Insulin gut behandelbar: Für eine Mutter vor allem am Anfang beängstigend und belastend. «Es war mir wichtig, für ihn dasein zu können», sagt Marija. Nach 13 Jahren hängte sie ihren Job bei der Swisscom an den Nagel.
Und sass dann, etwa wenn die Kinder in der Schule waren, zum ersten Mal in ihrem Leben alleine zuhause. Doch nach einigen Monaten wurde es mit dem Geld knapp. «Hätte ich aber einen normalen Job angenommen, hätte ich meinem Sohn gegenüber ein schlechtes Gewissen gehabt und mich gesorgt, dass etwas passieren könnte». Lange wusste Marija nicht, wie sie die verstärkte Betreuung ihres Sohnes und ihr Bedürfnis, ja die Notwendigkeit, zu arbeiten, unter einen Hut kriegen sollte. «Mit meinem letzten Geld hab ich mir dann die Maschine gekauft.»
Eine Kurzschlussreaktion, gibt Marija heute zu. Eine Flucht nach vorne, aber mit Startschwierigkeiten: «Die ersten zwei Wochen hab ich die Maschine einfach angestarrt. Dann hab ich begonnen zu üben. Üben, üben, üben», rekapituliert Marija, «zuerst auf Kunsthaut, dann an Freunden und dafür werde ich ihnen auf ewig dankbar sein.»
Ein vollgestochener Arm als Lehrgeld
Redet man mit Marija, wird einem schnell klar, dass diese Frau keine halben Sachen macht. Wurde der Teenagertraum Tätowieren erst vielleicht zu einer Art Beschäftigungstherapie, um mit ihrem veränderten Leben zurechtzukommen, packte sie alsbald der Ehrgeiz. Bei den lokalen Tattoostudios fragte sie an, ob sie von ihnen lernen dürfte. «Meinst du, wir ernähren unsere Konkurrenz?», lautete eine Antwort, die stellvertretend für viele Erfahrungen stehen kann, die Marija damals mit der Tattooszene machte.
Aufgeben aber ist Marijas Sache nicht und so fand sie einen anderen Weg, von Profis zu lernen. Sie zeigt auf ihren rechten, komplett vollgestochenen Arm: «Wenn dir einer was sticht, kannst du zuschauen, Fragen stellen und spürst erst noch, wie sich das anfühlt.» Dass Marija nicht mit jedem Resultat ihrer Unterrichtsstunden zufrieden ist, das eine Motiv ist zu dick gestochen, das andere zu tief, sodass es nicht ganz scharf ist, verbucht sie schulterzuckend unter Lehrgeld. Und den Neidern, die es durchaus gebe, zeigt sie die kalte Schulter. Tattookünstlerinnen seien ein ganz eigenes Völkchen und so sehr sie sich aus beruflicher Neugier für die Arbeiten anderer interessiert, so wenig hält sie von Konkurrenzdenken. «Jeder Artist hat einen eigenen Stil», sagt sie. «Ich weiss, was ich kann und was nicht. Wenn jemand was wünscht, was nicht meinem Stil entspricht, verweise ich ihn gerne an eine Person, die besser passt. So sollte es sein.»
Feine Linien und lebenbejahende Blüten
Fragt man Marija nach ihrem Stil, ihrem Handwerk generell, wird es schwierig, sie zu stoppen. Sie erzählt von der Tiefe, mit der sie die Tinte sticht, von der Dicke der Nadel, wie die Digitalisierung ihre Arbeit verändert habe. Die Motive entwirft sie heute auf dem Tablet, gerne auch am Wohnzimmertisch, während ihr Mann Fussball schaut. Anstatt mühseligem Durchpausen und Abzeichnen auf die Haut – Marija tätowiert nie frei, denn «frei wird es nie so gut wie vorgezeichnet und warum sollte ich das dann machen?» – gibts eine Art temporäres Kaugummitattoo aus dem Drucker. «So kannst du erst einmal paar Tage damit rumlaufen und rausfinden, ob es passt. Vor allem für Leute, die sich das erste Mal stechen lassen, ist das wichtig», erklärt Marija und fügt an: «Wenn ich spüre, dass jemand unsicher ist, lasse ich der Person lieber Zeit. Und wenn sie sich dann anders entscheidet, bin ich ihr auch nicht böse und verlange auch nichts.»
Der Stil, mit dem Marija ihre Kunden verschönert: Fineline, gepaart mit Dotwork. Übersetzt (und zugegeben etwas vereinfacht ausgedrückt) heisst das: Sanfte Linien treffen auf Flächen, die eben nicht wirklich Flächen sind, sondern aus vielen kleinen Punkten bestehen. Dementsprechend lieblich sind auch viele der Motive, die in Papierform an Marijas Wänden hängen: filigrane Muster, viele Blumen, Tiere, Namen in geschwungenen Lettern. Nicht gerade die Sujets, die sich eine Rockerin oder eben ein Knastbruder stechen lassen würde. Wieder lacht Marija: «Ja. Das hat schon was. Ich hab auch schon Leute abgewiesen, weil da irgendwas für mich nicht stimmte. Totenköpfe mach ich zum Beispiel nicht.»
Geheimnisse und Schnapsideen
Wer zu Marija geht, wer sich von ihr den Körper schmücken lassen will, so begreift Marija ihre Arbeit, will damit nicht den Macker markieren. Dass ihre Kundschaft diverser und insbesondere weiblicher ist als der zumindest vermeinte Durchschnitt an Tätowierten, das hat natürlich auch mit ihrem Stil zu tun – aber nicht nur.
«Zu mir kommen auch Leute, die sich womöglich nicht getrauen, von der Strasse in ein Studio zu spazieren, das ja dann auch meistens etwas dunkel gehalten ist», mutmasst Marija und beschaut ihren Keller, die weissen Wände, die Gitterkonstruktion an der Decke, von der grüne Kunstpflanzen und Glaskugeln hängen. «Ich hab immer auch wieder ältere Kundinnen. Die lassen sich zum Beispiel den Namen einer Person tätowieren, die gestorben ist. Sie zeigen das dann nicht rum, aber es bedeutet ihnen viel. Für die ist das ihr kleines Geheimnis.»
Es sind solche Aufträge, die Marija besonders berühren. Wenn sie spürt, dass ihre Kunst den Menschen auch eine Art Hilfe bietet. «Oft sind Tattoos auch Verarbeitung, Abschluss. Oder Heilung», weiss sie und erzählt von Kunden, die sich als Teenager geritzt hätten, deren Narben sie verschwinden liess und die sich danach zum ersten Mal seit Jahren wieder im Spiegel anschauen konnten und sich dabei schön fanden. Oder von einer Familie, deren Mutter gestorben sei. Erst sei der Mann gekommen, dann die Tochter und der Sohn. «Alle haben sie beim Tätowieren geweint. Ich stelle dann keine Fragen.»
Marija will ihre Arbeit aber auch nicht überhöhen: «In erster Linie sind Tattoos Schmuck», ist sie sich bewusst. Auch das andere, weniger Tiefgründige müsse natürlich Platz haben. Ganze 33 Minitattoos habe sie letztens an einer privaten Geburtstagsparty im Terminus beispielsweise gestochen, erzählt sie begeistert und dass bei solchen Events, die sie vor der Pandemie auch hin und wieder in der Baroque Bar gemacht habe, sich insbesondere die Olten-Motive (zum Beispiel drei Tannen und die Silhouette des schlafenden Riesen) grosser Beliebtheit erfreut hätten.
Und auch in ihrem Keller gehe es ja meistens lustig zu und her. «Im Sommer kann es schon sein, dass wir nach der Session draussen den Grill anwerfen oder einen Gin Tonic trinken.» Und auch das sei schon vorgekommen: «Einmal riefen mich spätnachts zwei Kumpels an, sie müssten sich jetzt unbedingt was stechen lassen. Die waren definitiv nicht mehr ganz nüchtern und mussten die Ereignisse der Nacht am nächsten Morgen erst rekonstruieren», lacht Marija wieder ihr ansteckendes Lachen, schiebt aber umgehend nach, dass sie das natürlich nur bei Freunden mache.
Tätowieren als Familienbusiness
Womit wir wieder bei der Frage nach den Gründen von Marijas Erfolg wären. Natürlich das Handwerk, sagt sie. Ihr Geschäftsmodell beschreibt sie aber mit drei anderen Worten: «Beratung, Geduld, Flexibilität!» Gerade Letzteres hänge auch mit ihrer Situation zuhause zusammen. Das ermöglicht nächtliche Spontaneität ebenso wie beispielsweise mal eine Session frühmorgens oder auch am Wochenende. Marija stellt aber klar: «Die Familie hat immer Vorrang.»
Auch in der Pandemie kam ihr das Heimstudio gelegen. Während der beiden Coronalockdowns musste sie mit niemandem um die Miete feilschen. Wobei die Pandemie dem Geschäft unterm Strich nicht geschadet habe. «Die Leute hatten Zeit zum Nachdenken und geben nun das Geld, das sie nicht im Ausgang hinblättern konnten, bei mir aus.» Das kommt ihr gelegen. Fünfeinhalb Jahre, nachdem Marija das erste Mal eine Tätowiermaschine in der Hand gehalten hat, erlebt sie ihre bisher erfolgreichste Zeit als Selbstständige.
Darauf ist nicht nur Marija stolz. In den Ferien übten ihre Kinder selber an Kunsthaut das Tätowieren und sogar ihre Mutter, «die zeigt ihren Kolleginnen meine Sachen auf dem Handy». Als ihr Marija eines Tages eröffnete, dass sie plane, auf ihrem linken Arm etwas als Hommage an sie tätowieren zu lassen, war es der Mutter dann aber doch zu viel des Guten. Am Ende einigten sie sich darauf, dass Marija den Arm zu ihren Ehren ungestochen lassen würde.
Tätowieren in Bali oder einfach weitermachen
Also alles erreicht? Mission erfüllt? «So, wie es jetzt ist, ist es gut», konstatiert Marija – verfällt dann aber doch ins Träumen. Einfach ein weiteres, stinknormales Studio wolle sie nicht aufmachen, «Ich will nicht einfach noch eine sein.» Wenn, dann ein Ort der Kreativität, der verschiedenen Kunsthandwerken Platz biete. Tattoostudio, Galerie, Töpferei, Bar, handgemachte Möbel und zwar mitten in der Stadt. Den perfekten Ort wüsste sie bereits: «Immer, wenn ich am Magazin vorbeilaufe, nerv ich mich, dass das schon besetzt ist.»
Neben den Träumereien gibt es aber auch ganz handfeste Pläne. In den letzten Jahren stieg Marijas Bekanntheit auch innerhalb der Tattooszene. Studios im In- und Ausland fragten sie an, ob sie mal bei ihnen für ein paar Tage als Gasttätowiererin vorbeikommen würde.
«Hätte ich keine Kinder, ich würde jetzt wohl irgendwo in Bali tätowieren», schwärmt die Weltenbummlerin. Doch auch Corona machte womöglichen Reisen einen Strich durch die Rechnung. Ein bereits geplanter Gig in Barcelona wolle sie falls pandemisch möglich im Frühling aber unbedingt nachholen. Die Kinder, die seien ja jetzt auch schon älter.
Early one autumn day, as I sat reading my OT on the balcony, who should appear on his balcony next to mine but Boxer?
“I say, Charles, do you know when the fellow delivered the OT this morning? Five o’clock! I had come out for a cigarette and watched him.”
“I knew it was early, but I never really cared how early. Why were you up craving tobacco, anyway, Boxer?”
“The sound of running water woke me. I got up and checked the various plumbing facilities around the house. The sound seemed to come from underground.”
“Before you moved in, I had a chance to go to your back garden. I was on the trail of a weasel who’d been digging holes by our fence. I never told you, did I?”
“No. That was very remiss of you.”
“But I’m telling you now. Anyway, you’ve got an underground well-stream running through your property and probably under your house, too. There’s even a trapdoor of sorts to access it if you ever need water. I suppose it ebbs and flows. That was what you probably heard.”
“Charles, you never told me! Is there a lunar influence, do you think?”
“Tides? Well, possibly. Or even what people call — “
“What is that? That article on the back page of OT there?”
“No, really! The system started acting up, not pumping the water properly. The fog water should condense either into the Caspar, Melchior, and Balthazar streams or into pipes leading to the hydraulic mechanism that runs the funicular up to Säli Schlössli.”
“Up there? That white castle on the hill just behind the birch tree at number 18?”
“That’s right. Did you know you can see Eiger, Mönch, and Jungfrau from the top windows of these houses? On a clear day, that is.”
“So there IS still fog, then?”
“Not here – and not fog – haze. I’ll show you. Have you been up to Säli Schlössli yet?”
“Up there? No.”
“So! Let’s go! Get ready and we can have a beer there this afternoon.”
We started out for the funicular station nearest us at Bifang. Boxer wondered why the main railway station didn’t have a funicular stop. “Or one right there?” He pointed to the Hofmeier building, just one block from the railway exit. “Or over there?”
“Those actually were planned as possible stops. This land behind the metal foundry was the planner’s dream spot, but it all came to nought.”
At Restaurant Sternen we turned left and walked up the street. I wanted to show Boxer the best view of Bifang Schulhaus. In the old sport field behind it was funicular station F1. The gentle tinkling of water came from the hydraulic pumps which powered the cogwheel train. Even when the fog dissipation valves were shut, the waste water from the residents on that side of the Aare was enough to run the engines.
” ‘Water, water everywhere, and all the boards did shrink; water, water everywhere, nor any drop to drink’,” quoted Boxer. “I cannot wait for my beer.”
“We’ll get off at Elefantenplatz and look around, then catch the next train, OK, Boxer?”
“That is the last stop before the top?”
“No. Two in between. Wartburg and the parking lot. I think we’ll walk down afterward.”
“I think we will decide that later, my friend.”
During the ride, I told Boxer that the same hydraulic drive system is used in Fribourg for their funicular.
“Freiburg im Üechtland! Yes, I have been there often. Such a truly bilingual city.”
“Have you noticed around Olten the name Froburg? Just as Oltner Tagblatt is written without the ‘e’ in Olten, you ought not spell Froburg with an ‘h’ these days. Unless you refer to the street. Many people are unsure.”
“So, Charles, how should I remember this interesting fact?”
“I asked our postman the same question, and he said, ‘Froburg is not a frohe Burg’.”
“Sad, that, but a good mnemonic, nonetheless.”
“And because the spelling changed over time, back and forth, with or without the ‘h’, it is actually possible to date a document rather accurately by the spelling.”
We ended up riding to the top station and found a pleasant spot at a table on the roof terrace of Säli Schlössli. The visibility was nearly limitless, and it inspired us to drink another half-litre of the fine beer. So emboldened were we that we decided to get off the return train at Wartburghöf and walk down from there.
“Look, Charles. Down there. That line of bushes indicates either a boundary or a stream – or both. Let us investigate.” So we clambered off-piste and found ourselves at the very source of the stream.
“The Mühlebach, Boxer.”
“Let us see where it leads. I feel adventurous.”
The old Mill Stream is easy enough to follow for much of its course. Through the field, then along the corner of a forest, down an exquisitely pleasant fall of water to an opening in a valley, then across a fenced-in sheep pasture. On the fence was a sign warning of the danger of electric shock and a hand-written notice of a reward for the capture of a sheep rustler. The stream fed into a charmingly rustic fountain, into a drain, and then — it disappeared underground. We could not find any further trace of it.
“We have lost it, Charles. Civilisation has covered over our little stream. But, – hmm. I shall consult my own source on matters cartological. There must exist a map showing its run, or at least where it flows into the mighty Aare.”
The scandal broke the next day. According to the OT, and reported later in the T-A, NZZ, and Blick, Olten’s famous air filtration system had suffered a major collapse caused by waste water being pumped into the uptake pipes. Evidence showed that the contamination had been going on for at least several months. Mismanagement or possible corruption was being suggested. Fish were dying in the Aare; even the local swan population was suffering.
Chemical analysis of the sludge caught in the filters revealed high concentrations of folic and tannic acids, unusual levels of alpha and beta acids, as well as particulate chromium matter. The city managers were stumped, both by the problem and for a solution.
The once ever-present fog, which had hung over Olten like a funeral shroud, had until then been successfully pumped out of the air and converted to groundwater, which was then channelled into the Aare. With the system clogged, and the sludge building up, Olten the Sun City was becoming Olten the Sumpf City. Residents on the right side of the river complained that their cellars were beginning to smell strange. Even street drains started to stink.
” Of – ?” Boxer asked. “It smells of cellulose, I would say. Olten has no paper industry, has it? Or hat-making shops?”
“Yes. Well, a felt factory, but that’s way over at Hammer on the other side of the river.”
“This river, Charles, divides the city in many ways. Move house from one side to the other, and one’s entire daily schedule of life is turned nearly upside down. It is almost like changing cantons, eh?”
“The postman was telling me about the mail delivery sectors in Olten. It’s according to colour. We live in the Red Quarter, apparently.”
“Just so it is not a political designation, Charles. I detest politics.”
“Still, it would be good of you to offer your, uh, services to the board of city managers. They are not a political body. In fact, they represent no one but themselves. It’s a ceremonial panel. Totally independent of the mayor, the council. They just manage their own affairs.”
“You are right, Charles. I shall have to solve the problem first, however. Give me a week.”
“A week! Boxer, you won’t solve this in a week. Good heavens. Be realistic.”
“All right, then. In five days.”
Lese den zweiten Teilder Geschichte:Der Spaziergang entlang dem Mühlebach lässt Boxer nicht mehr los, nachdem der Kollaps der Nebel-Luftfilteranlage ans Licht gekommen ist. Vor dem Vorstand der Stadtverwaltung enthüllt er, wer Oltens “Versumpfung” verantwortet.
David Pearce ist ein Schweizer Schriftsteller, wohnt seit 2000 in Olten und hat amerikanische, englische und französische Wurzeln. Er schreibt auf Englisch Kurzgeschichten, Romane und Theaterstücke.
Ohne es geplant zu haben, fanden sie in der tiefen Nacht ihre Berufung. Beide verkauften sie Nachtleben à discrétion. Beide haben mittlerweile damit aufgehört. Dabei hat es sich mit den Gemeinsamkeiten, könnte man meinen.
August Burkart erinnert mit seinem Kleidungsstil eher an einen Geschäftsmann. Und das war er im Grunde genommen, wie er selbst schildert. Er dachte immer gross. «Die Partykönige übers Mittelland», titelte die Aargauer Zeitung 2008 treffend. Mit seinem Kollegen Georgios Antoniadis, den alle George nannten, führte er im Ballungsraum Olten–Aarau die zwei grössten Diskotheken und mehrere Bars. «Pop Art» – der Name ihrer Firma war Programm, verkauften sie doch Nachtkultur für die Menschenmassen. Für viele unvergessen bleiben die Partys in der grössten Oltner Diskothek der Nullerjahre. Bis zu tausend Leute füllten das Metro an guten Abenden.
Einer davon war Daniel Kissling. Obwohl die Popkultur eigentlich nicht seine Welt ist. Seine Geschichte ist weitum bekannt. Mit seinem Coq d’Or schuf er ein Szenelokal für Subkulturen. Kultur und Kater verkaufte er. Sowas wie Popkultur bot das Lokal an den Donnerstagabenden mit dem 2.50-Franken-Bier. Und auch sonst war das Coq einfach ein Ort der Zuflucht in der späten Nacht. Seit dem letzten Frühsommer aber erhellt kein Licht mehr die gebogenen Fenster hinter dem Oltner Bahnhof.
Kolt-Treffen im Januar: Nachtleben – wo bist du?
Im neuen Jahr dreht sich am 7. Kolt-Treffen alles um das Oltner Nachtleben. Dieser Beitrag lanciert die Debatte. Am Montagabend, 31. Januar 2022, diskutieren wir mit verschiedensten Akteurinnen die Frage: Was funktioniert in unserer Kleinstadt und ihrer Region? Was könnte Olten brauchen, damit das Nachtleben wieder diverser wird? Trag dir das Datum in der Agenda ein und sei dabei, um mitzudiskutieren.
Hastig braust «Kissi» mit seinem unverkennbaren Lockenhaar ins Galicia, er hat sich verspätet. «Früher kam ich zu spät, weil ich 1000 Dinge hatte oder aber einen Kater. Jetzt ist’s, weil ich ein Kind habe», sagt er und lacht. Wir wollen es ihm verzeihen, denn zwischenzeitlich konnte August Burkart erzählen, wie er im Nachtleben strandete.
Alles begann mit einer Privatparty im Alten Spanier in Zofingen Ende der 90er-Jahre. Ein Kollege hatte ihn darum gebeten, für die Freunde aus jungen Jahren eine Party zu schmeissen. «Er war früh nach Zürich gezogen und hatte gut Geld verdient auf der Bank», erzählt August Burkart. Sound aus den 80er-Jahren, der Blüte der elektronischen Musik, sollte es sein. Burkart kontaktierte einen DJ mit Künstlernamen George, der mal im Moonwalker in Aarburg, wo Burkart herkommt, aufgelegt hatte. Die Party schlug voll ein. «Der Inhaber des Lokals sagte mir nachher, er habe noch nie so viele Anfragen im Vorfeld gekriegt.» Alle wollten zur Party, aber er musste allen absagen, weil sie privat war. «Du musst diese Party unbedingt nochmal machen», sagte er.
Der Ansturm war auch beim zweiten Mal enorm. «Ich vergesse nie mehr, wie ich rund 4000 Franken Bargeld in der Hosentasche hatte. Und alle wollten mich auf ein Getränk einladen», erinnert sich Burkart. Drink & Dance war geboren. Zwei Stunden lang gabs gratis Getränke, was sich als Startrampe für lange Tanznächte auswirkte. Mit diesem Partymodell füllten Gusti und George erst die Alte Post in Zofingen, später die Schützi in Olten. «Wir hatten so viele Menschen in die Schützi gelassen, dass wir sie nachher nie mehr kriegten.» Das Zofinger Tagblatt hielt diese Episode 2002 fest:
«Als er zu George an das Mischpult gegangen sei, habe ihn dieser ganz entsetzt angeschaut und gemeint: ‹Gusti, ich weiss nicht, was ich falsch mache. Die Riesenmenge johlt und singt, aber es tanzt keiner.› Gusti habe ihn dann aufgeklärt und gesagt: ‹George, sie können nicht, es hat da unten keinen Millimeter Platz mehr!›»
Was folgte, war eine schnell geschriebene Erfolgsgeschichte. Die beiden gründeten ihre eigene Eventfirma «Pop Art Veranstaltungen GmbH» und eröffneten in den Nullerjahren mit der Kettenbrücke in Aarau einen eigenen Nachtklub. «Hättest du mir zu jener Zeit ein gleiches oder ähnliches Lokal in Olten angeboten, wäre ich zu 100 Prozent nach Olten gekommen. Aarau war sowas von tot», sagt August Burkart heute. Mit ihren Popkultur-Partys trafen sie voll den Nerv der Zeit. Das Gastgewerbe in der Aargauer Kantonshauptstadt blühte neu auf. Angebote aus Luzern und Zürich flogen ihnen zu. Mit dem Metro betrieben sie rund ein Jahrzehnt lang parallel einen zweiten Klub. Hinzu kamen Bars wie der Platzhirsch oder das Opium in Aarau, das El Harem in Olten. Aber seit 2010 zogen sich die Pop-Art-Macher schrittweise zurück, gaben ein Lokal nach dem anderen auf.
Und heute?
Gusti, wie ihn alle nennen, lebt heute in Oftringen. Nach erfolgreichen Jahren im Nachtleben hat der 52-Jährige neue Lebensaufgaben gesucht. Neben einem Immobilienprojekt machte er gewissermassen ein zweites Mal im Leben ein Hobby zu seinem Standbein. Heute importiert August Burkart bekannte spanische Weine und verkauft diese in der Schweiz an Privatkunden. Schon 7000 Flaschen waren’s dieses Jahr, erzählt er.
Kissi hat nach dem Ende vom Coq d’Or mehr Zeit für sein Kind und engagiert sich als Milizpolitiker weiterhin für Olten jetzt! im Parlament. Neue Projektideen für ein Kulturlokal schwirren in seinem Kopf herum – er entwirft Konzepte fürs Nachtleben der Zukunft. Ob er sie je umsetzt, steht in den Sternen. Um leben zu können, schreibt er Texte, steht mal wieder hinter der Bar oder setzt er andere Kulturprojekte um.
Mit dem Nachtleben hält es sich wie mit anderen Gewerbezweigen. Es ist ungemein stark Zyklen unterworfen. Meist ist eine Bar oder eine Diskothek eng an die Person geknüpft, die dahintersteht. Das zeigt gerade die Geschichte von August Burkart. Oder jene von Daniel Kissling.
Aber auch die Galicia Bar ist ein Sinnbild dafür. Hinter dem Tresen steht wie immer am Montagabend Alex Capus, der Inhaber des Ladens selbst. Das in weinroten Farben dekorierte Lokal ist heute einer der Farbtupfer im Oltner Nachtleben. Gleich mehrere Bars verschwanden in den letzten Jahren. Das Terminus ist als einziger Nachtklub verblieben. Wohin, wer sich eine Nacht lang austoben will? Auf die simple Frage gibt’s momentan weniger Antworten als auch schon.
Wie kommt das Oltner Nachtleben wieder in die Gänge? August Burkart und Dani Kissling müssten es wissen, dachten wir. Also luden wir sie zum Bier ein. Mehr brauchte es nicht – über zwei Stunden sprachen sie von alten Erlebnissen und erzählten, was sie in all diesen langen Nächten erkannt hatten. Und wir merkten: Vielleicht haben sie doch mehr gemeinsam, als wir zunächst dachten.
Für die gute Party gibts kein Universalrezept. Trotzdem: Was ist für euch der gute Ausgang?
Gusti: Heute ist für mich ein gutes Essen und eine Flasche Wein schon Nachtleben. Vor der Flasche Wein sage ich: «Heute gehen wir aber noch weiter!» Um zehn gähne ich nur noch. Sonst geh ich mal einen befreundeten DJ anhören. Andrea Oliva arbeitete bei uns im Büro, heute ist er ein Superstar in Ibiza und legt in Ushuaia vor 12’000 Leuten auf. Er hätte damals schon weltweit auflegen können. Aber er hat einen strengen, italienischstämmigen Vater, der sagte: «Sohnemann, was du am Wochenende machst, ist mir egal, aber unter der Woche gehst du arbeiten.» Also arbeitete er bei uns, am Wochenende flog er in die weite Welt hinaus und kam am Montag mit kleinen Augen zurück.
Was machte eure Art von Nachtleben vor zehn Jahren so erfolgreich?
Gusti: Alles, was wir machten, war sehr kommerziell. Wir kamen in einer Zeit, die sehr elektronisch war. Wir kramten die alten Party- und Discohymnen hervor. Am Anfang wurden wir belächelt, plötzlich war es der neue Trend. Partys wie Saturday Nite Fever im Terminus waren ausverkauft, die Ü25-Partys ebenso. Wir waren gut im Copy-Pasten. Wenn mal was funktionierte, wiederholten wir es immer wieder.
Eure Ansprüche waren hoch. Wenn 250 Menschen zum Bligg-Konzert kamen, nanntest du dies eine «bezahlte Bandprobe». Im Coq wäre dies bereits ein grosses Fest gewesen.
Kissi: Die Zeiten haben sich geändert. In den letzten 20 Jahren sind viele Subgenres entstanden. Gerade, was die Tanzmusik betrifft. Das Exil in Zürich ist nicht gross, am Dienstagabend ist dort Reggaenacht. Dann kommen 200 Personen und das reicht ihnen. Wenn du eine breite Gesellschaft abdecken willst, musst du grösser sein. Da machst du anders Werbung. In den Bussen auf dem Land – mit den Plakaten.
Gusti: Wir konnten uns finanzieren, weil wir eine Fabrik wurden. So klein alles begann – am Ende hatten wir 110 Teilzeit- und 25 Vollzeitangestellte. Zuerst meinten wir, wir können in Olten die Location aus Aarau kopieren. Vergiss das. Aber das lernst du erst nachher. Wenn etwas funktioniert, verdienst du schnell gutes Geld. Aber etwas ausprobieren kostet immer Geld.
Kissi: Und dabei gilt es zu bedenken, dass bei Konzerten und Events die Kosten gleich hoch sind, egal ob du 250 oder 1000 Leute in der Bude hast. Die Technik, Verpflegung, das Barpersonal und so weiter.
Gusti: Genau, das machte mich fertig. Da legte dieser «verdammte» DJ George auf, der mein Partner war. Und es kamen wieder 800 Leute. Dann flogen wir eine Topband ein – Übernachtungen, Catering und Extramikrofone waren nötig. Kaum jemand kam. Mein Motto wurde immer mehr: Der Wurm muss dem Fisch schmecken und nicht dem Fischer. Aber wir wurden älter, das Publikum blieb gleich alt. Also wussten wir gar nicht mehr, wie der Wurm riechen muss. Wenn ich den Jungen heute zuhöre, weiss ich nicht mal mehr, wovon sie sprechen.
Was habt ihr in eurer Fabrik verkauft, was war die Essenz? Im Coq d’Or war’s Kultur und Kater.
Gusti: Disco-Kultur. Die Kettenbrücke war eine 800er-Location, das Metro ein 1000er-Lokal. Klar hätten wir auch den einarmigen Flötenspieler einmal holen können, aber er wäre nicht happy gewesen mit den 40 Leuten und wir auch nicht. Beim Lotteriefonds anklopfen oder öffentliche Gelder einholen, um weniger kommerzielle Konzerte zu finanzieren, wollten wir nicht. Wir mussten niemandem Rechenschaft ablegen, ausser uns selbst.
Kissi: Wir waren 10 Flughöhen tiefer – aber selbst wenn du diese Grösse wie wir mit dem Coq d’Or hast, muss immer Geld reinkommen. Du bezahlst Löhne, du hast offene Getränkerechnungen …
Gusti: So toll es ist, wenn das Lokal voll ist, so traurig ist’s, wenn du nur ein halbvolles Haus hast. Als wir die Rechnung machten, was es kostet, wenn der Klub öffnet, erschraken wir zuerst. Wir brauchten Massen an Leuten. Alles andere hätte nicht geklappt.
Du kamst mit dem Coq d’Or fast nach der Pop-Art-Zeit.
Kissi: Meine Leute wuchsen mit dem auf, was wir machten. Rockmusik gab’s in Olten wenig. Einmal im Jahr das Mad Santa in der Schützi – im Metro die La-Roca-Veranstaltungsreihe. Die ersten 100 Liter Bier waren gratis, die haben wir übrigens auch immer genossen (beide lachen). Was es in Olten nicht gab, war alternative Kultur, die überrascht und du nicht kennst. Für uns war das einfach der Himmel. Klar konntest du ins Metro ans Drink & Dance, aber es war nicht dein Sound, eigentlich nicht deine Art Ausgang. Aber ich glaube guter Ausgang ist der Mix aus all dem.
Gusti: Je mehr in einer Stadt stattfindet, desto interessanter wird es für alle. Es ist egal, ob es verschiedene Bars und Klubs gibt. Je mehr, desto besser. Nachdem wir in Aarau die Kettenbrücke eröffnet hatten, kam plötzlich ein Lokal nach dem anderen. Wir dachten: «Jetzt wird’s nicht mehr so einfach für uns.» Das Gegenteil war der Fall.
Kissi: Das haben wir immer wieder erlebt. Wenn wir am Samstag eine Show angesagt hatten, blickten wir in die Agenda und dachten: «Geil, wir sind die Einzigen.» Aber dann kam an diese Show auch niemand. Am Wochenende danach war dies und jenes, überall waren die Lokale voll, auch bei uns. Wenn wenig läuft, gehen die Leute in eine andere Stadt oder bleiben daheim.
Dezentrale Kulturlokale wie das Coq d’Or oder das KIFF in Aarau haben’s also schwerer. Entweder sie machen sich einen Namen oder ziehen die Leute mit aussergewöhnlichem Programm an?
Gusti: Oder es etablieren sich Marken wie die Mafia-Partys im KIFF. In der Kettenbrücke am Ende der Altstadt hatten wir an einem schlechten Abend doch 400 Leute und 100 schneite es in den Morgenstunden noch runter. «Komm, wir gehen noch in die doofe Kettenbrücke», sagten die Leute mangels Alternativen.
Kissi: So läufts im Moment beim Terminus. Es würden noch mehr dahin gehen, wenn sie wüssten, sie hätten um halb 2 noch eine Auswahl. Jetzt gibt’s nur noch das Termi, oder du gehst in den Untergrund. Ich bin oft nach dem Metro in der Bar 97 gelandet. Die lebten extrem von ausgespuckten Klubgästen.
Gusti: Oh ja, scheisse (lacht). Alle gingen Pouletflügeli essen.
Kissi: Das war der Klassiker.
Gusti: Denen haben wir gerade nochmal die Bar gefüllt.
Kissi: Das ist der Kreislauf, den du brauchst. Du brauchst die Beizen, dann die erste Bar, wo du was trinkst oder das Konzert anhörst, dann den Klub, die Tanzfläche …
Wenn ein Investor käme, der Olten zu einer Nachtstadt machen will: Glaubt ihr, so geschaffene Institutionen würden funktionieren?
Gusti: Das wäre etwas retortenartig.
Kissi: Da müsstest du Leute von hier haben, die es betreiben, höchstens die Geldgeberin von sonst wo.
Gusti: Ich glaube schon, dass das Nachtleben natürlich wachsen muss. Wenn jemand Geld hat, muss er ein Lokal auch noch betreiben können.
Kissi: Es braucht Leute, die eine Community aufbauen können. Auf der grünen Wiese kannst du kein Nachtleben machen. Vielleicht ging das früher mal.
Gusti: Die Leute sind heute verwöhnt. Wenn du Bilder aus den Discos der 70er-Jahren siehst, da genügte eine farbige Birne, laute Musik – es war egal, wie sie tönte. Das war schon geil, eine Revolution.
Kissi: Im Untergrund geht’s schon noch rudimentärer, aber dann stehen der gemeinsame Geist, die Musik, die da läuft, die Menschen, die man kennt, im Vordergrund. Wenn du Masse willst, musst du Highclass sein, weil die Leute mit den Städten vergleichen. Sie wissen, wies in den grossen Klubs tönt.
Gusti: In der Disco gehts auch ums Sehen und Gesehenwerden. Ich weiss noch, als wir grosse Flaschen zu verkaufen begannen. Das hatte ich mal in Saint Tropez gesehen. Da bespritzten sich die Leute mit zwanzig- bis dreissigtausend Franken teuren Champagnerflaschen. Bei uns ging’s nicht darum, sich zu überschütten. Aber wer die grösste Flasche kaufte, war der Held der Nacht.
Das ist vermutlich, was du an der Popkultur verabscheust, Kissi?
Kissi: Ich sehe die Kulturpraktik, aber es war nicht unsere Klientel. Sobald es wirkte, als wollten wir Geld verdienen, waren die Kunden angepisst. Wir mussten immer zeigen, dass wir sozial sind. Wir konnten und wollten keine harten Preise verlangen. Bei einer Disco, an der – sagen wir – 600 Leute sind, ist der Eintritt kein Problem. Für ein Konzert einer unbekannten Band aber bezahlen die Leute nicht 15 Franken. Bei Klubnächten ist die soziale Komponente viel grösser. Ich hatte immer die Hoffnung, beides unter einen Hut zu bringen: Einen Discoabend zu machen und dann am Abend irgendwann einen Liveact auftreten zu lassen.
Gusti: Das habe ich im Kaufleuten erlebt. An einer Discoparty war da plötzlich Bonnie M. hinter dem Vorhang. Die Leute drehten durch. Wir haben mal DJ Tiësto geholt. 90 Minuten kosteten uns 60’000 Franken. Das Verrückte war, dass niemand uns glaubte, weil die Show lange nicht auf seiner Webseite aufgeführt war. Wir konnten dies tun, weil wir mit dem Perfect Friday einen der umsatzstärksten Freitage der ganzen Schweiz hatten. Jeden Freitag rund 13 Jahre lang hatten wir über 1000 Menschen im Klub. Niemand interessierte sich dafür, wer der DJ war. Wenn einer nicht mehr für 800 Franken Musik machen wollte, standen 20 hintendran und sagten, dass die gerne kommen. Da konnten wir auch mal experimentieren. Eigentlich würde es alles brauchen, das würde das Nachtleben am interessantesten machen. Dies sieht man in New York, London oder anderen Grossstädten.
Kissi: Wobei New York wegen der Gentrifizierung auch leidet. Ich war 2016 vor dem Cakeshop, dem wichtigsten Underground-Klub für die Indieszene aus den Nullerjahren. Alle amerikanischen Indierockbands spielten dort ihre ersten Konzerte. Vor dem Eingang hatte es grosse Schilder: «Bitte seid ruhig wegen der Nachbarn» oder «Wir müssen mit dem Konzert früher anfangen». Ich dachte, okay, es ist New York, aber das Problem ist das Gleiche wie in der Kleinstadt.
Gemäss dem, was ihr bisher gesagt habt, würdet ihr also sagen: Das Nachtleben kommt und geht mal wieder, das gehört dazu?
Gusti: Ja, es ist schon zufällig. Wir hatten mit der Kettenbrücke einen Saal, der eigentlich innerhalb eines Jahres zu einem Casino hätte werden sollen. Wir haben 2000 Franken Miete für den Saal bezahlt. Die Nachbarn fürchteten sich nicht, weil sie dachten, es sei bloss eine Zwischennutzung. Wir experimentierten, öffneten zunächst nur am Samstag und machten uns so rar. Als der Bundesrat die Casino-Lizenz an Baden vergab, kriegten wir einen Mietvertrag zu guten Bedingungen. Wir sagten immer: Zur Geburt und zur Beerdigung kommen alle. Aber der lange Weg ist der dazwischen. Da musst du überleben.
Brachliegende Lokale gäbe es in Olten eigentlich genug. Zum Beispiel die SBB-Werke …
Kissi: Da wären grosse Investitionen nötig. Ich habe ein Dutzend Lokale im Kopf, die toll wären. Aber mit einer Halle ist’s nicht gemacht. Entweder du hast Investoren, die es gut mit dir meinen, oder dann die öffentliche Hand. Fakt ist: Unter den Schweizer Konzertlokalen gibt’s kaum eins, das selbständig rentiert. Das Dynamo in Zürich ist ein Jugendhaus, das komplett durch die Stadt finanziert ist. Die Rote Fabrik ist zwar unabhängig, bekommt aber 2,5 Millionen Franken im Jahr. Das KIFF erhält jährlich 600’000 Franken von der Stadt. Das Kofmehl 100’000 Franken.
Gusti: Da frag ich mich dann: Braucht es eine solche Location? Wir haben auch in solchen Lokalen Events gemacht. Für mich war schnell klar, warum sie alle Jahre Geld abholen müssen.
Warum?
Gusti: Da ist zu viel Personal beschäftigt. Zwei arbeiteten, zwei rauchten – da würde ich als Inhaber gleich durchdrehen. Im Nachtleben kannst du während einer so kurzen Zeit Geld verdienen. Da musst du Vollgas geben. Dann gab’s Lokale mit drei Chefs, Unmengen an Barpersonal. Ich dachte immer: Wir könnten uns dies nie leisten.
Kissi: Es gibt sicher Orte, wo das Geld etwas genossen wird. Aber ich muss auch sagen, dass das Nachtleben übertrieben burnoutgefährdet ist. Es ist eine ungesunde Art, sein Geld zu verdienen. Du hast lange Schichten an der Bar, musst hart kalkulieren.
Gusti: An der Bar gibt’s immer wieder Abende, an welchen weniger läuft als gedacht. Da musst du das Barpersonal nach Hause schicken. Du kannst zwei Zahlen beeinflussen: die Waren- und die Personalkosten. Bei zu vielen Personalstunden verdienst du an einem mittelmässigen Abend bereits keinen Rappen mehr.
Kissi: Die Margen sind verdammt schwach, darum ist es jetzt mit Corona ein riesengrosses Problem.
Gusti: Darum habe ich jetzt meinen letzten Betrieb auch noch verkauft. Ich bin raus aus der Gastronomie. Es war schon vorher schwierig und es wird nicht einfacher. Ich denke sehr kommerziell, das verstecke ich auch nicht.
Aber wer sich umhört, spürt, dass die Lust am Nachtleben da ist. Gerade für die jungen Generationen ist in Olten jedoch ein Vakuum auszumachen.
Kissi: Die Nachfrage wäre vorhanden für einen guten Ort in Olten. Etwas Popartiges, für die breite Masse. Aber auch für den Untergrund. Nur ist die Rechnung verdammt schwierig. Jetzt etwas aufzumachen, ist der dümmste Zeitpunkt. Die Leute haben zum Teil verlernt auszugehen. Und ich frage mich immer, was mit den Teenies zwischen 16 und 20 ist, die nun diese Sozialisation nicht kennen.
Gusti: Genau, wissen sie noch, wies läuft, oder geht alles ins Private retour?
Kissi: Verdammt viele haben ihre Hausbar aufgerüstet in den letzten zwei Jahren. Andere haben ihren Bandraum ausgebaut, in welchem sie halbprivate Geschichten fahren können. Das Konzept war bisher: Leute treffen sich, weil sie den Ort, die Musik toll finden und trinken dazu Alkohol, was deine Haupteinnahmequelle ist. Eigentlich ist das eine junge Kulturform. Das gibt’s in dieser Art erst seit 100 Jahren. Kann gut sein, dass es nicht für immer so bleibt. Ich glaube aber, wir sind noch nicht an diesem Punkt.
Nachtkultur funktioniert aber noch immer, wie ich neulich im goldenen Fass in Basel selbst erlebte.
Kissi: Das ist die Art Lokal, das ich mir vorstellen könnte. Restaurant, Bar und Klub unter einem Dach. Du kannst so Buchhaltung, Personal, Werbung und alles andere zentralisieren.
Gusti: Eines der tollsten Eventzentren, das ich je gesehen habe, war in Thessaloniki, Griechenland. Auf einem alten Industrieareal mit roten Backsteinwänden gab’s Läden, Cafés, Klubs, Open-Air-Bars. Da waren Tausende Leute.
Kissi: Entweder du suchst die Laufkundschaft in der Stadt. Da hast du die Probleme der finanzierbaren Räume, des Platzes und Lärms. Oder du machst ein ganzes Areal in der Peripherie. Aber ich weiss, dass selbst die Rote Fabrik in Zürich Mühe hat, Leute dorthin zu kriegen.
Gusti: In der Innenstadt wird es immer schwieriger. Es gibt Einsprachen, bevor du einen Gedanken verschwendet hast. Was ich nicht begreife, ist, dass Leute in die Altstadt neben eine Bar wohnen gehen und sichbrüskiert fühlen, weil im Sommer Leute draussen sind. Aarau hat sich deshalb klar bekannt, das fand ich richtig gut: Wir wollen eine Wohnstadt, aber auch eine kulturelle Stadt sein mit allem, was dazugehört. Wenn du die Ruhe des Landes suchst, musst du dorthin.
Kissi: Manchmal bekennt sich die Politik auch in die andere Richtung …
Gusti: In Zofingen war das krass damals. Die haben alles gekillt. Die Behörden haben den Riegel geschoben. Erst machten sie die Altstadt autofrei und das Gastgewerbe konnte raustischen. Sobald die Leute nach zehn Uhr nachts noch draussen waren, reklamierten die Anwohner. Die Behörden sagten: Zofingen soll eine Wohnstadt sein. Nach zehn Uhr darf nichts mehr leben. Seither sind das Gewerbe und die Gastronomie weggestorben.
Ich habe das Gefühl, ihr müsstet etwas zusammen machen. Gusti das Kommerzielle, Kissi lebt sich kulturell aus.
(Beide lachen) Gusti: Nein, ich hatte eine super Zeit – von der Fetisch- bis zur Schlager-Party. Jetzt bin ich 52 und habe es gesehen.
Kissi: Man hat auch eine kurze Halbwertszeit im Nachtleben. Die Leute an der Front, an der Bar oder an der Tür – sie alle machen es nicht lang. Hinter der Bar bis am Morgen um 4 muss ich auch nicht mehr stehen. Aber ich glaube, meine Zeit ist noch nicht vorbei.
Gusti: Ich habe ganz am Anfang zuerst im Alten Spanier in Zofingen, dann im Terminus an der Bar gearbeitet.
Kissi: Alle haben so angefangen. Das Nachtleben ist ein Durchlauferhitzer. Bei einem Undergroundklub machst du alles. Ich war gefühlt am Donnerstagmittag im Coq und kam am Sonntagabend wieder heim. Nach vier Stunden Schlaf brachte ich den Bands noch das Frühstück.
Gusti: Aber die Band hatte Freude. Das ist schön, so nah dran zu sein.
Kissi: Das ist auch, was ich vermisse, dass man eine Rolle spielt in der Gesellschaft. Je nachdem auch in einem nationalen oder internationalen Netzwerk. Das Coq hinterlässt eine Lücke nicht nur in Olten, sondern in der Szene. Du bist Teil einer Kultur. Wie poppig sie auch ist, ob heavy oder schräg – es gibt auch diese Welt. Herr und Frau Oltner nimmt sie nicht wahr, sie interessieren sich nicht dafür. Ihr hattet ja die Fetischgeschichten im Metro.
Gusti: Ja, da kamen Leute von überall! Die Chärre kamen aus Deutschland, Österreich – halb Europa. Das Hotel Arte war im Voraus immer ausgebucht. 800 Leute kamen und alle zahlten 40 Stutz Eintritt.
Kürzlich war ich wieder mal in der Schweiz. In Bern, um genauer zu sein. Es ist eigenartig: Eigentlich kenne ich die Stadt nur aus den Liedern von «Züri West». Trotzdem hatte ich schnell das Gefühl, wieder zu Hause zu sein. Die grünen Altstadthäuser, die vielen Bankomaten, das Prix-Garantie-Thonsandwich. Alles schien mir so schön vertraut. Schweiz, ich habe Dich vermisst.
Nach ein paar Tagen war die Nostalgie allerdings wieder verflogen. An ihre Stelle trat eine gewisse Ratlosigkeit über die lieben Landsleute. Warum demonstrieren die jeden Donnerstag auf dem Bundesplatz gegen die «Corona-Diktatur»? Warum schauen die alle so grimmig drein? Und überhaupt: Was regen die sich eigentlich so auf, wenn der Nachbar das Altpapier ungebündelt an die Strasse stellt?
Wenn man lange genug im Ausland lebt, läuft man Gefahr, allmählich zu «entschweizern». Die Entwicklung kommt schleichend, aber man kann sich ihr kaum entziehen. Klar: Auch nach bald sechs Jahren in Belgien knurrt bei mir noch pünktlich um 18 Uhr der Magen. Und am Samstag wird das Klo geputzt.
Aber wenn ich aus der Schweiz wieder zurück nach Brüssel reise und den Schlüssel in das Schloss meiner Wohnung stecke, dann ist das jetzt ein Ankommen, Heimkehr. Die kaputten Rolltreppen in der Metro, der Hundedreck in den Strassen, das lärmige Gewusel der Grossstadt, der neu gewonnene Freundeskreis – das ist jetzt meine Lebenswirklichkeit.
Dazu gehört auch, dass ich als Ausländer, der ich ja jetzt bin, regelmässig auf meine Herkunft angesprochen werde. Ich muss dann mit ein paar Standardfragen rechnen, die über Schoggi, Käse, Alphorn hinausgehen. Eine, auf die ich in meinem beruflichen Alltag immer wieder treffe, lautet: «Ihr seid doch gar nicht in der EU – warum interessiert euch das alles überhaupt?» Ich antworte dann jeweils, dass uns das sehr wohl interessiert, weil wir eben gerade nicht dabei wären. Oder so. Eine leicht zugespitzte Version der Frage lautet: «Was ist genau euer Problem?»
Nicht einfach fiel mir auch die Antwort auf die Frage, die ich im Viertel Matongé gestellt bekam, wo viele afrikanischstämmige Menschen wohnen. Weshalb eigentlich jeder afrikanische Diktator seine Millionen in der Schweiz verstecke, fragte mich ein junger Herr mit ehrlichem Interesse. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wahrscheinlich liegt es daran, dass es irgendwie «unschweizerisch» wäre, jemandem seine guten Dienste zu verwehren, wenn der mit einem Sack Geld vor der Türe steht? Ich meine: Wenn wir es nicht täten, täte es jemand anderes, und wenn schon, dann ist es doch besser, wenn wir es tun. Oder wie ist das?
Damit es keine Missverständnisse gibt: Ich mag unser Land. Ich würde sogar behaupten, dass ich ein guter Patriot wäre. Aber ein paar Dinge fallen einem erst richtig auf, wenn man mal eine Zeit lang weg ist.
*Remo Hess (35) lebt und arbeitet seit 2016 als Journalist in Brüssel.
Wie ein Gespräch mit einer alten Kollegin fühlt es sich an, als mich Carla Opetnik Ende November anruft. Ihre Stimme löst lose Bildfetzen in meinem Kopf aus. Das Sälischulhaus. Eine Herbstnacht. Ein paar Freunde. Der Vögeligarten?
Vielmehr ist da nicht. Zu einem Film werden sich die Bilder nie mehr zusammenfügen. Aber geblieben sind ein paar Eindrücke, ihr Wesen bleibt unvergessen. Irgendwie wollte sie damals schon anders sein. Und sie konnte die Menschen um sich beeinflussen, sie für kleine Dinge begeistern und mitreissen.
Item. Abgesehen davon erinnert eigentlich nichts mehr an Carlas Jugendjahre in Olten. Breites Züridütsch spricht sie. «Wänn ich öppis mache, dänn richtig.» Schon ihre Mutter habe ihr immer gesagt, sie gehe mit dem Kopf durch die Wand. «Ein typischer Stier eben», sagt sie. Ihr Leben kennt keine Kompromisse. Wäre sie eine Romanfigur, so wäre sie die rote Zora. Aber mit blauen Haaren. Denn diese trug sie, als sie nach Zürich kam. Nach der Schneiderinnenlehre verliebte sie sich mit 19 Jahren in einen Zürcher. Und auch gleich in die Stadt. «Meine Grosseltern wohnten in Zürich, es hat mich wie in diese Richtung gezogen.» Sie tauchte ein und genoss das pulsierende Grossstadtleben. «Ich machte mir nicht viel Gedanken über meinen Konsum und Lebensstil», sagt Carla.
Hey Züri, do bini
Mit 25 Jahren änderte sich dies. Ziemlich radikal, wie es Carla entspricht. Sie las ein Buch darüber, wie sie Ordnung in ihr Leben bringen kann. «The life-changing magic of tidying up» («Die lebensverändernde Magie des Aufräumens») von Marie Kondo half ihr, sich mit all ihrem Besitz auseinanderzusetzen. Carla begann ihre Wohnung aufzuräumen und wollte sich nachhaltig verändern. Sie merkte, wie nach jedem Einkauf sich ein Abfallsack füllte. In dieser Zeit ging in Zürich der erste Zerowaste-Laden auf, wo Nahrungsmittel ganz ohne Verpackung über die Theke gehen. «Dort konnte ich andocken», erzählt Carla. Und eben, wenn sie mal etwas macht, dann richtig.
Erst wollte sie einen Monat lang ohne Müll auskommen. Mit ihrem Freund startete Carla eine Challenge. Wer kann weniger verschwenden? «Es wurde zu einem Spiel, bei welchem wir zugleich die Stadt entdeckten», sagt Carla. Immer auf der Suche nach ökologischen Produkten, die möglichst keinen Abfall verursachen. Sie putzte sich mit Aktivkohle und Kokosnussöl die Zähne. Füllte im Monat nur noch ein Konfitüreglas mit Abfall. Carla traf damit den Nerv der Zeit. Obendrauf erst noch in der Konsumhochburg Zürich. Einer Stadt, in welcher viel Geld fliesst. In welcher Kleiderketten etliche Male im Jahr die Kollektion auswechseln.
Alle wollen sie vor der Linse haben
«Ich versuche dagegen zu halten, die Menschen um mich zu begeistern, dass Secondhand und nachhaltig produzierte Ware genauso glücklich machen.» Mit ihrem Charisma und der kompromisslosen Art war sie bald bei den Medien beliebt. Schweiz aktuell, die SRF-Doku «Die Selbstoptimierer»,der Tagesanzeiger, die NZZ – sie alle interessierten sich für ihren radikalen Lebenswandel. Und machten sie zu einem Gesicht der Zerowaste-Bewegung Zürichs. Carla scheute sich nicht vor dem Blitzlicht, auch wenn sie es nicht bewusst suchte. Die provokative Rolle gefällt ihr und findet in der Grossstadt nahrhaften Boden. Zürich ist eben nicht nur Konsumhochburg, sondern gerade auch ein Daheim für viele Subkulturen. Die Zerowaste-Bewegung wuchs rapide, ist fast schon massentauglich geworden. Mittlerweile gäbe es allein in Zürich fünf Läden mit unverpackter Ware, zählt Carla auf. Die Migros hat am Limmatplatz einen neuen Alnatura-Laden mit Offenverkauf eröffnet. «Es ist mega schön, den Wandel zu beobachten», sagt Carla in ihrem authentischen Züridütsch.
Sie auferlegt sich als Minimal-Wasterin selbst nicht mehr ganz so strikte Spielregeln wie vor fünf Jahren, als sie den eigenen Lebensstil auf den Kopf stellte. Statt sich ein verpacktes Sandwich zu kaufen, hätte sie damals noch lieber gehungert. «Jetzt finde ich, dass es etwas Menschenverstand braucht. Dogmatisch zu sein, lohnt sich nicht, denn es geht um mehr als um Plastik. Zum Beispiel: Wie reise ich in die Ferien?»
Rastlos radelt sie durch die Stadt
Ihren Prinzipien ist sie treu geblieben. Die Kreislaufwirtschaft bestimmt ihren Rhythmus, ihre Ideen und Projekte. Mittlerweile studiert Carla Art Education (Kunstvermittlung) an der Hochschule der Künste in Zürich. Auf dem Weg dorthin lebte sie ihre kreative Ader mit einer Liebeserklärung an die Limmatstadt aus und publizierte zwei Stadtführer. In «Geliebtes Zürich» liess sich Carla von Zürchern Stadtgeschichten erzählen, die an einen speziellen Ort gekoppelt sind. Das Produkt ist – wie könnte es anders sein – lokal gedruckt, Cradle-to-Cradle-zertifiziert (Material wird ohne Qualitätsverlust wiederverwendet) und erschien bloss in limitierter Auflage. «Auch um zu zeigen, dass nicht alles endlos verfügbar sein muss», sagt Carla.
Ein anderes Projekt, das sie vor ein paar Jahren auf der sozialen Medienplattform Facebook anriss, entwickelte rasch eine grosse Eigendynamik. «Will öpper» heisst die Gruppe, in welcher sich mehr als 10’000 Menschen gefunden haben, die sich gegenseitig gebrauchte Gegenstände schenken, die sie nicht mehr brauchen. Von der Zahnpasta bis zum Klavier oder einem VW-Bus: Pro Tag werden rund 100 Objekte angeboten.
Haben und Wollen neu gedacht
Die Idee einer solchen Gruppe kam Carla eher zufällig. Eine Freundin nervte sich, dass in ihrer Gruppe «Hät öper» immer wieder Dinge angeboten wurden. Also gründete Carla mit «Will öpper» kurzerhand das Gegenstück. In mehreren weiteren Schweizer Städten klonten andere Menschen die Idee, womit es fast schon zu einer Bewegung heranwuchs. Die Nachfrage an diesem Kreislauf sei immens, sagt Carla. «Die häufigste Rückmeldung, die wir kriegen, ist: ‹Scheisse, ich war nicht schnell genug, jetzt ist alles schon wieder weg.›»
Dass die Bewegung auf Facebook gross wurde, stört Carla heute. «Weil Facebook nicht die netteste Partnerin ist», sagt die 30-Jährige diplomatisch. Die Social-Media-Gigantin könnte die Gruppe jederzeit löschen. Zudem seien sie mit «Will öpper» ein Datengenerator für Facebook. Darum soll «Will öpper» ein eigenes Zuhause kriegen. Dafür gründete Carla mit Freunden den Verein WOP. Ihr Ziel: eine eigene App, die langfristig den schweizweiten Austausch ermöglichen soll. Eben hat der Verein eine erfolgreiche Crowdfunding-Kampagne hinter sich gebracht, mit welcher das Projekt voll lanciert ist. Für Carla scheint der Erfolg fast courant normal zu sein. Angetrieben vom Ideal, eine gerechtere Zukunft zu schaffen, in der wir verschenken statt entsorgen, treibt es sie durch die Stadt.
Übrigens: Fürs Zähneputzen hat sie eine valable Alternative zur Aktivkohle gefunden. In ihrem Heimatdorf Poschiavo entdeckte sie eine unverpackte En-bloc-Seifenzahnpasta.
(«Und wenn wir jene feierten, die nichts zu feiern haben?»)
Der belgische Musiker Stromae in seiner Comeback-Single «Santé», 2021
Stromae gehört zum Glück nicht zum Club 27, also jenen Musikern, die mit 27 starben. Aber auch er verschwand urplötzlich von der grossen Bühne. 2015 war das, nachdem ihm Welthits wie «Alors on danse» oder «Formidable» gelungen waren. Er war gerade auf Afrikatournee, als er wegen Panikattacken alle Konzerte absagen musste.
Wie er später erklärte, waren diese durch ein Malaria-Medikament ausgelöst worden – und hörten nicht mehr auf. Er, der sich in seiner Kunst immer für die Vulnerablen eingesetzt hatte, gehörte plötzlich selbst zu diesen. Nun, sechs Jahre später, ist Stromae ebenso plötzlich und gottlob zurück. Er hat kürzlich seine neue Single «Santé» veröffentlicht, die in bester Stromae-Manier gleichzeitig zum Tanzen und zum Nachdenken anregt. Auch der Titel kann vielschichtig gedeutet werden; die Comeback-Single nach krankheitsbedingter Absenz «Gesundheit» zu taufen und diesen Song in Zeiten der Pandemie den Menschen zu widmen, die arbeiten, während andere feiern, Krankenpfleger etwa, und auf diese anzustossen – Santé! –, das ist schonmal eine gute Basis für ein Comeback.
Der Song selbst zeigt dann, dass Stromae auch sonst nichts von seiner Genialität eingebüsst hat; er bleibt unverkennbar in Rhythmus und famoser Stimme, Stromae bleibt der Maestro, den sein Künstlername suggeriert: Verlan nennt sich dieses Sprachspiel, wenn die Silben vertauscht werden, das besonders im französischen Immigranten-Slang weitverbreitet ist. «Verlan» selber ist auch ein Verlan («à l’envers», also «verkehrt herum»).
Mit richtigem Namen heisst der 36-Jährige Paul van Haver. Seiner neuen Single wird ein ganzes neues Album folgen und diesem eine neue Tournee, die auch in die Schweiz führt: Am 24. Juli 2022 tritt der Belgier, dessen Vater aus Ruanda stammte und im dortigen Bürgerkrieg ums Leben kam (darum der Songname des Hits «Papaoutai»?), am Paléo-Festival in Nyon auf. Das Festival ist leider ausverkauft, aber wenn ich sonst einmal zu «Santé» tanze, werde ich mit Stromae gedanklich auf jene anstossen, die wenig zu feiern haben. Und hoffen, dass der Maestro gesund bleibt.
Computerstimme in Flugzeugen vor der Landung, zitiert von Pilot Mark Vanhoenacker im Buch «Skyfaring».
Wenn Mark Vanhoenacker als Pilot so gut ist wie als Buchautor, dann möchte ich in Zukunft nur noch mit Mark Vanhoenacker fliegen. Der belgisch-amerikanische Doppelbürger hat vor fünf Jahren erstmals ein Buch über das Fliegen veröffentlicht. «Skyfaring» ist auch für Nichtaviatiker faszinierend, weil Vanhoenacker der Fliegerei ein Stück Poesie zurückgibt und auch vermeintlichen Banalitäten wie Computerdurchsagen im Cockpit geistreiche Gedanken abgewinnt. So erzählt er beispielsweise, wie irgendwann im Landeanflug das Flugzeug jeweils zur Pilotin sagt: «Decide!». Entscheide! Der Airbus spricht mit Männerstimme, bei Boeing ist es eine weibliche; beide tun das auf der sogenannten Entscheidungshöhe, freundlich, aber bestimmt und mit dieser Computerintonation: Deeee – cide!, und zwar sofort, zwischen Luft und Erde, Landung oder nicht. Es geht um die Frage: Siehst du genug, um landen zu können?
Mark Vanhoenacker führt dann aus, wie er sich wünschte, dass solche programmierten Aufrufe auch in anderen Lebenssituationen hin und wieder erklängen, bei langatmigen Sitzungen zum Beispiel. Manchmal, im Alltag, wenn er kleine Entscheidungen aufschiebt, sage er zu sich selbst, den 747-Akzent imitierend: Deee-cide! Er nennt das die 747-Entscheidungsfindung-Strategie. Apropos Landen: Sein letztes Buch heisst «Wie man ein Flugzeug landet». Darin steht am Anfang: «Wenn sie dieses Buch geöffnet haben, weil sie gerade ein Flugzeug landen müssen, aber kein Pilot sind, können Sie die Einführung überspringen und direkt zu Kapitel 2 ‹Aviate, Navigate, Communicate› übergehen.»
PS. Weiterer guter Flugzeug-Stoff auch für Leute, die sich nicht besonders für Flugzeuge interessieren: der neue Film «Boîte noir», in dem ein Absturz in einem richtig guten Thriller mündet, sowie dieses Video mit Captain Sully, in dem er in zwölf Minuten Schritt für Schritt erklärt, wie es ihm gelang, sein Flugzeug im Hudson River zu landen.
3. «Nicht jeder Wissenschaftler oder Arzt, der Zeit hat, in Talkshows zu gehen, ist immer gleich der beste Experte – manchmal ist es auch umgekehrt.»
Prof. Dr. Michael Hallek, Leiter Intensivmedizin der Uniklinik Köln, im Podcast «Das Politikteil» der «Zeit»
Es kommt auch nach bald zwei Jahren Pandemie noch vor, dass ich es interessant finde, Menschen zuzuhören, wie sie über die Pandemie sprechen. Aber es kommt schon nicht mehr oft vor. Eine gute Ausnahme erlebte ich kürzlich beim Podcasthören. Prof. Dr. Michael Hallek, Leiter Intensivmedizin der Uni Köln, sprach in einem Zeit-Podcast über die Pandemie oder genauer darüber, warum gerade Deutschland in dieser Krise immer wieder versagt.
Man möchte den Deutschen zurufen, dass sie nicht alleine sind im Versagen. Es ist ja auch recht schwierig, nicht zu versagen gegen dieses Virus, das, wie Hallek sagt, eine so wahnsinnig tückische Mischung mitbringt aus hoher Infektiosität und einer gewissen Letalität – aus Sicht einer Gesellschaft könne ein Virus kaum verheerender designt sein, sagt er. Wäre es tödlicher, würde es sich weniger verbreiten und damit gesamtgesellschaftlich weniger Schaden verursachen. Uniprofessor Hallek deckt in seiner Analyse auch schonungslos auf, wie unsere Mediengesellschaft sich schwertut im Meistern der Krise. Dass Social Media Spaltung vorantreibt, ist nichts Neues. Die Probleme sind aber vielfältiger: «Nicht jeder Wissenschaftler oder Arzt, der Zeit hat, in Talkshows zu gehen, ist immer gleich der beste Experte – manchmal ist es auch umgekehrt», sagt Hallek exemplarisch.
Dennoch bleibt sein Fazit, dass wir der aktuellen Gefahr nur als Gesellschaft begegnen können. Das dünkt mich eine gute Botschaft: Es ist Zeit, wieder zusammenzurücken. Denn in einem sollten sich Massnahmenskeptiker und Impfgegnerinnen auf der einen Seite, Angehörige von Opfern und solche, die um ihre Gesundheit fürchten, auf der anderen Seite, mittlerweile einig sein: Das perfide Virus mit all seinen Folgen (nicht nur den gesundheitlichen) ist tatsächlich eine Gefahr für unsere Gesellschaft.
PS. «Mitem Hümpu ids Agility»: Was Leute in Bern antworten, wenn sie eine Einladung für ein Feierabendbier ausschlagen müssen. Mehr von Tinu Salzmann
* Pierre Hagmann war erster Chefredaktor von KOLT, stammt aus Olten und blickt heute von Bern auf die schöne, komische Welt.
Möglicherweise ist es gar nicht die Digitalisierung, die in den nächsten Jahrzehnten am disruptivsten auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft einwirken wird. Es könnten nämlich nicht Kryptowährungen und intelligente Brillen sein, die unser Leben auf den Kopf stellen, sondern der demographische Wandel. Er bezeichnet die Tatsache, dass wir immer länger leben. Weil zudem weniger Kinder geboren werden, verändert sich das Verhältnis von jungen und alten Menschen.
Zahlreiche Bewohner der Mitte werden in den nächsten Jahrzehnten über 100 Jahre alt werden. Folglich wandert die politische und ökonomische Macht noch mehr zu den alten Menschen. Ein letzter Leuchtturm für die Mitte könnte es darum sein, sich früher als andere Regionen auf eine alternde Gesellschaft einzustellen und entsprechende Projekte medial geschickt zu inszenieren. Zugegeben, diese Idee steht im seltsamen Widerspruch zu jungen Influencern oder den Tatort-Kommissarinnen, die jedes Jahr jünger werden. Oder unterliege ich einer optischen Täuschung und werde einfach selbst immer älter, während alles einen normalen Verlauf nimmt?
Infrastruktur für alte Menschen
Innovation für die Gesellschaft der 100-Jährigen könnte für die Mitte bedeuten, ihre Laufwege, Kommunikationsformen und kulturellen Angebote zusammen mit älteren Menschen zu entwickeln. Sie haben andere Bedürfnisse als junge, was sich in ihren Erwartungen an Bahnhöfe, Supermärkte und soziale Medien spiegelt. Wichtig sind etwa grosse Schriften in der Signaletik oder Wege ohne Treppenstufen. Ältere Menschen bevorzugen weiter Verpackungen, die einfach zu öffnen und möglichst leicht sind. In Zügen könnte man über Abteile nachdenken, die speziell für reisende Rentner gestaltet sind. Auch beim Ladenmix, den Cafés und den kulturellen Angeboten der Innenstädte könnte man auf silbrige Co-Creation setzen. Damit ist nicht gemeint, dass es in der Oltner Hauptgasse nur noch Hörgeräte, Rollatoren und Brillen zu kaufen gibt. Ältere Menschen würden so eher diskriminiert als in ihrer Lust zur Entfaltung und zum Vergnügen unterstützt. Gefragt könnten Simulationen sein, in denen man in die 1960er Jahre zurückkehren kann, oder Cafés, die von 70- statt 20-Jährigen geführt werden.
Neue Wohnformen
Ein zweites Innovationsthema, das an den demographischen Wandel anschliesst, sind neue Wohnformen für ältere Menschen. Die Mitte könnte im Rahmen dieses Leuchtturms für Dulliken, Däniken und Schönenwerd Alters- und Pflegeheime der nächsten Generation erfinden. Alle Gemeinden eigenen sich als Standorte, sind sie doch von Luzern, Basel und Bern gut per ÖV erreichbar. Mit Wohngemeinschaften für Ältere könnte die Mitte ebenso auf sich aufmerksam machen wie mit architektonisch auffälligen Heimen, so sie ältere Menschen mit Studierenden zusammenführt.
Sie könnte mit Hotels zusammenarbeiten, die sich an silbrige Nomaden richten, die von Hotel zu Hotel ziehen, statt ständig an selben Ort zu leben. Oder die Mitte könnte Versuche mit Home-Treatment forcieren und an Wohnformen arbeiten, die es Menschen ermöglichen, ganz lange zu Hause zu bleiben. Das bedingte, an intelligenten Kameras, Toiletten und Fenster zu tüfteln, die rund um die Uhr das Wohl der Bewohnenden überprüfen. Genauso wichtig sind telemedizinische Apps, mit denen explizit ältere Menschen ihre Gesundheit überwachen, vermessen und die entsprechenden Daten an medizinisches Fachpersonal schicken können.
Neue Sterben, neues Erben
Am innovativsten wie provokativsten wäre eine Clusterbildung mit Start-ups für das zukünftige Sterben und Vererben. Dazu gehörten etwa Unternehmen, die an neuen Lösungen für das Begräbnis arbeiten. Vielleicht möchten mehr Menschen ihre Körper spenden, damit dieser im Sinne des Recyclings möglichst konsequent weiterverarbeitet wird. Weltraumbegeisterte möchten allenfalls nach ihrem Tod in einem Mini-Satelliten um die Erde kreisen. Ebenso viel Innovationspotenzial gibt es beim Vererben in einer digitalen Gesellschaft. Lenzburgerinnen könnten sich wünschen, ihre digitalen Überreste dem Stapferhaus zu vermachen. Das preisgekrönte Museum könnte das digitale Erbe dann für das Design von Zeitreisen aus dem Jahre 2050 in unsere Epoche verarbeiten. Genauso könnten sich Menschen dafür entscheiden, ihre digitalen Überreste einer künstlichen Intelligenz zu vererben, die aus all ihren Gedanken, Fotos und E-Mails lernen kann. Wieder andere möchten am liebsten ganz verschwinden und einen online tätigen Roboter beauftragen, alle ihre digitalen Spuren so konsequent wie möglich zu löschen.
Die Mitte – was meine ich damit? Meine ganz persönliche Mitte liegt in der Nähe meiner beiden schwarzen Katzen, meines Schlaf- und Schreibzimmers – und die befinden sich in Dulliken. Zu dieser Mitte gehört auch der Bahnhof Olten, der mich vom elften Gleis nach Bern, vom siebten nach Zürich, vom zwölften nach Luzern und vom zehnten nach Basel führt. Diese Mitte liegt in Zwischenräumen. Es ist ein Viereck mit den Ecken «Lenzburg», «Liestal», «Sursee» und dem Moment, wo ich auf der Neubahnstrecke Richtung Bern in den ersten Tunnel eintauche.
An der weit über die Region hinaus berühmten Treppe am Born ist übers ganze Jahr hinweg Betrieb. Ob mit Wanderschuhen, einfachen Sneakers oder sportlichen Laufschuhen, alle, die unten loslaufen, vereint ein Ziel: Sie wollen die 1150 Treppenstufen erklimmen.
Wir suchen Herausforderungen, wie sie das 1000er-Stägeli bietet. Wer die Treppe schon mal überwunden hat, weiss, was ihn erwartet. Auch wenn sie von unten unendlich erscheint, endet die Himmelsleiter, wie sie auch genannt wird, – vor dem Himmelszelt – abrupt zwischen den Felsen der Bornkrete. Wer zum ersten Mal nach oben unterwegs ist, wird über das gut schweizerische Diminutiv des Stägeli fluchen. Bloss die schmalen Stufen mögen die verniedlichende Form der Monstertreppe rechtfertigen. Aber wer mal oben angelangt ist, wird die Treppe immer wieder bezwingen wollen. Menschen sind Gewohnheitstiere.
Andere loten die Grenzen neu aus. «Zehn Mal?! Zehn Mal?!», wiederholt ein Mann ungläubig, als ein paar Mitglieder der OL Regio Olten ihm erklären, was die Verrückten unter ihnen vorhaben. Warum tut sich der Mensch dies an?
Ist es das Ziel vor Augen, die Suche nach dem eigenen Limit oder die Faszination für das Stägeli?
Ich wollte es selbst herausfinden und hab mich ans Experiment gewagt. Fünfmal genügten mir, um zu fühlen, was die Von-Arx-Brüder erfahren haben dürften. Ein Protokoll.
Zum 4. Mal …
… haben die Gebrüder von Arx dieses Jahr das 1000er-Stägeli zehn Mal hintereinander erklommen. «Nachdem ich in einem Training mehrmals die Treppe hochgestiegen war, sagte mir jemand: ‹Wieso machst du’s nicht mal zehn Mal hintereinander?›», erzählt David, wie er und sein Bruder auf die verrückte Idee kamen. Den Anlass tauften die beiden Orientierungsläufer Tio-Tuusiger – Tio steht für zehn auf Schwedisch. Der Name ist an eine der grössten OL-Staffeln in Schweden angelehnt, die Tiomila.
«Mich fasziniert die Treppe, gerade weil sie ein Anziehungspunkt für alle ist», sagt Philipp. «Von jener, die vielleicht sonst kaum Sport treibt, bis zum Profisportler tummeln sich hier alle.» Auch für David macht dies die Magie der Treppe aus. «Egal ob die nimmermüde Seniorin, der Handwerker, welcher nach dem Feierabend noch kurz in den Arbeitskleidern hochsteigt, oder eine Familie auf dem Sonntagsspaziergang», sagt er, «am Ende kommen alle oben an und sind erschöpft und glücklich.»
Laura Ramstein macht sich auf, das Tuusiger-Stägeli zu bezwingen.
Was ihnen durch den Kopf gehe, während sie die Treppe bezwingen, will ich wissen. «Ich wollte einfach immer unter 10 Minuten bleiben», antwortet Philipp, als die zehn Aufstiege geschafft sind. Ganz hat er es nicht erreicht: Beim letzten Mal stoppte er die Zeit bei 10 Minuten und 5 Sekunden. Zum Vergleich: Der aktuelle Rekord liegt bei 6 Minuten und 37 Sekunden, gelaufen am offiziellen 1000er-Stägeli-Lauf. Wer auf dem Geoportal des Bundes nachmisst, dem werden als Marschzeit für die gemessene Strecke 41 Minuten angegeben.
Ich muss bei Philipps Antwort an ein Interview in der NZZ am Sonntag denken, das ich nach unserem Lauf las. Darin sagt der Mentaltrainer Ray Popoola: «Profis können generell recht gut abschalten, sie sind vielleicht zu 98 Prozent bei der Sache. Hobbysportlern schwirren oft sehr viel mehr Dinge durch den Kopf.»
Mit dieser Aussage kann ich mich gut identifizieren, denn im Vergleich zu Philipp und David bin ich der Hobbysportler – sie die Profis. Bei mir schweifen die Gedanken ab, während ich mich in 12 bis 14 Minuten hoch quäle. «Die Treppe ist wie das Leben. Jeder Tritt ist anders», spreche ich auf mein Tonband, als ich ein erstes Mal oben angelangt bin.
11 Mal
Vor zwei Jahren übertrafen Philipp und David mit ein paar Freunden das eigene Ziel bei der dritten Ausgabe des Tio-Tuusigers und stiegen ein elftes Mal hoch. Damals nahmen sie noch den kurzen Weg runter über die Treppe. Das war in diesem Jahr wegen des pandemiebedingten Einbahnregimes beim Stägeli nicht mehr möglich. «Der direkte Rückweg über die Treppe sparte uns zwar Zeit, aber der Muskelkater danach war umso heftiger», sagt Philipp.
22 Teilnehmende …
… sind zum vierten Tio-Tuusiger gekommen, den die Brüder von Arx für die OL Regio Olten durchführen. Das sei ein Teilnehmerrekord, versichert David. Die Zehn zu vollbringen, ist für die wenigsten das Ziel. «Ich mach’s nur einmal», sagt der kleine Mats, als er bei der 700. Stufe angelangt ist. «Ach komm schon, später sehen wir, wie es ausgeht», antwortet die Mutter. Das Stängeli schaffen am Ende drei Läufer: Philipp, David und Joël Morgenthaler.
Bei 27,65 Kilometer …
… hält die GPS-Uhr von Philipp nach gut vier Stunden Laufzeit. Die durchschnittliche Herzfrequenz: 147 Herzschläge pro Minute. Verbrannte Kilokalorien: 2855. «Die alljährliche Unvernunft», kommentiert er später seinen Lauf auf der Plattform Strava, dem Facebook der Sportverrückten. Anzahl Kudos (Likes): 119.
244 Höhenmeter auf gut 500 Metern Luftlinie
Beim vierten Aufstieg pumpt das Herz gewaltig, ich versuche auf den letzten Stufen so viel Sauerstoff wie möglich in die Lungen aufzusaugen. Je länger je mehr kommt mir das gewölbte Laubdach wie ein Tunnel vor. Ich fühle mich ausgelaugt wie die Herbstblätter, die mich umgeben und ich nur noch verschwommen wahrnehme. «Hab ich nur das Gefühl, dass es hier oben immer heller wird, oder ist es nur die Sauerstoffknappheit?», witzelt mein Begleiter Andreas. Das Nirwana ist nah. Erste Sonnenstrahlen durchdringen den dichten Nebel. Ganz wird die Sonne ihn heute aber nicht verbannen können.
Auf zwei Meter Distanz führt das 1000er-Stägeli durchschnittlich fast einen Meter den Born hoch, der an der Südflanke übrigens den Flurnamen «Oltnerberg» trägt. Nach vier Stunden haben die Von-Arx-Brüder über 2400 Höhenmeter – und logischerweise ebenso viele Meter abwärts – hinter sich gebracht. Dies entspricht ungefähr den Höhenmetern, die zwischen Engelberg und dem Gipfel des Titlis liegen. «Mein Bein zittert einfach so. Ich glaube, das sind die Muskeln», sagt ein erschöpfter David, als er nach dem zehnten Aufstieg wieder unten angelangt ist. Beim letzten Mal kamen die Krämpfe.
1150 Stufen
Aller Anfang ist schwer. Das gilt auch für das 1000er-Stägeli. Die ersten 300 Stufen steigen steil an. Danach kommt die erholende Phase. Bis zur 800. Stufe sind die Tritte vergleichsweise leicht zu erklimmen. Allein, beim fünften Mal ist jeder schwer. Die Beine heben sich nur noch so in einem Rhythmus, der sich gerade ergibt. Der Verstand lässt nach, wird immer nebulöser und gleicht sich der Umgebung an. Die 800. Stufe führt in den Felsgrat, der ein nahes Ende mit Schrecken ankündigt: die steile Wand. «Die letzten 100 sind nur noch Genuss und Leiden. Genuss und Leiden gepaart», spreche ich auf mein Tonband.
Wenn man so an die gängigen Klischees von Norwegern und Schweizerinnen denkt, merkt man: Die sind ja gar nicht so unterschiedlich! Zurückhaltend zu Beginn, aber nach einer Weile sich dem Gegenüber öffnend, sodass man durchaus eine gute Zeit zusammen verbringen kann. Ein Attribut der Norweger, von welchem wir uns – wie ich finde – eine Scheibe abschneiden könnten, ist ihre Gelassenheit und Geduld.
Seit August lebe ich im Rahmen meines Austauschjahres in Trondheim, Norwegen. Ja, ich wusste, worauf ich mich einlasse. Die Wintertage sind tatsächlich so kurz und das Wetter tatsächlich so schlecht, wie wir uns dies vorstellen. Dafür werde ich mit atemberaubender Natur und – eben – gelassenen, geduldigen Mitmenschen entschädigt.
Schon in der Schweiz war ich ein mehr oder weniger ambitionierter Orientierungsläufer. Deshalb war es naheliegend, dass ich mich, sobald angekommen, dem örtlichen OL-Klub anschloss. Trondheims Universität NTNU hat gar einen eigenen OL-Verein nur für Studenten. In einem der ersten Trainings, an denen ich teilnahm, wurde mir dann sogleich mitgeteilt, dass in zwei Wochen die norwegischen OL-Meisterschaften stattfänden. Ob ich nicht mitkommen wolle. Das werde bestimmt lustig. In Erwartung eines in der Schweiz typischen OL-Wochenendes mit je einem Wettkampf am Samstag und am Sonntag sagte ich kurzerhand zu.
P-o-r-s-g-r-u …
Als ich mich also noch am Abend dafür anmeldete, wurde ich zum ersten Mal überrascht. Das Wettkampfwochenende bestand nicht nur aus zwei Wettkämpfen, sondern umfasste zwischen Donnerstag und Sonntag gleich alle Walddisziplinen: Langdistanz, Mitteldistanz-Qualifikation und -Final und zum Abschluss die Staffel. Das wird anstrengend, aber aufregend, dachte ich mir in bemühter norwegischer Leichtigkeit. Und den verpassten Unterrichtsstoff werde ich schon irgendwie nachholen.
Die nächste Überraschung bot sich mir, als ich den Austragungsort googelte. Porsgrunn liegt etwas südlich von Oslo. Ich würde also das halbe Land durchqueren müssen. Gewöhnt an die Annehmlichkeiten der kleinräumigen Schweiz, musste ich mir eingestehen, dass die Anreise wohl etwas anspruchsvoller werden würde, als wenn ich am Bahnhof Olten einfach in den nächstbesten Zug steige.
Schliesslich vermittelte mir jemand eine Mitfahrgelegenheit in einem Auto. Als mich die freundliche Fahrerin am vereinbarten Treffpunkt abholte, fragte ich sie, wie man sich mental auf eine neuneinhalbstündige Autofahrt vorbereitet. «Wieso mental vorbereiten?», war ihre Antwort. «Wir fahren doch nur rund neun Stunden.» Überrumpelt ob der Selbstverständlichkeit, wie sie dies sagte, erklärte ich ihr, dass ich noch nie auch nur annähernd so lange in einem Auto gesessen sei. «Velkommen til Norge!» und ein verschmitztes Lächeln war alles, was sie mir erwiderte.
Das neue Nationalgericht für zwischendurch
Was mir nach der Abfahrt als Erstes auffiel, war der Fahrstil. Während in der Schweiz der Grossteil der Automobilisten gerne mal fünf Stundenkilometer auf die Höchstgeschwindigkeit drauflegt (ich persönlich zumindest handhabe das so …), werden hier eher fünf Stundenkilometer abgezogen. Kein Wunder also, dauert das alles so lange, dachte ich mir, als wir mit durchschnittlich 75 km/h durch die norwegische Pampa tuckerten.
Es verging nur wenig Zeit, da standen wir zum ersten Mal still. Als sich die Autokolonne auch nach einer halben Stunde nicht weiterbewegte, war selbst die Geduld der einheimischen Chauffeurin erschöpft. Sie entschied sich, umzukehren und die Stelle grossräumig zu umfahren. Aber das sei ja nicht so schlimm, die Fahrt dauere nur etwa eine Stunde länger. Langsam an die Gemächlichkeit der Reise gewöhnt, konnte ich die wunderschöne Fjelllandschaft geniessen und dachte nicht mehr bloss daran, wie wir wohl etwas schneller am Ziel ankommen könnten. Als sich später herausstellte, dass die Strasse nur zehn Minuten nach unserem Wendemanöver wieder geöffnet worden war, nervte ich mich auch nicht darüber.
Nach rund sechs Stunden machten wir eine Pause und assen etwas. Es gab das norwegische Nationalgericht des 21. Jahrhunderts: qualitativ minderwertige Pizza mit viel Cocktailsauce obendrauf, damit man sie auch runterbekommt. Gestärkt setzten wir unsere Reise fort, um letztlich gegen 23 Uhr in Porsgrunn anzukommen. Zwei Stunden später als geplant.
Wie also geht man am besten eine elfstündige Reise an? Ganz einfach: Lass dich nicht stressen und sei geduldig. Der Weg ist das Ziel!
*Marius Kaiser (22) kommt aus Starrkirch-Wil und lebt seit diesem Sommer für ein Jahr in Norwegen, wo er Bauingenieurswesen studiert.
Wer nie ruht, vergisst die Zeit. Und altert nicht? Pema Sonam eilt durch die Eingangstür vom Cultibo. Wache Augen, faltenloses Gesicht. Wie ein Wasserfall beginnt sie aus ihrem Leben zu erzählen.
Wie lange sie schon in der Schweiz lebt? Kurz muss sie nachdenken, lachen. 18 Jahre. 18 Jahre schon in der Schweiz.
Damals kam sie nach Matzendorf ins tiefe Thal. Hinter den Jurahügeln fühlte sie sich mit ihrer Familie geborgen. Die Weite des Thals erinnert sie ein wenig an das tibetische Hochland. Pema wuchs aber als Tochter von Exil-Tibetern in Südindien auf. Die stark gläubige Mutter stammte aus dem Osttibet, der Vater aus Zentraltibet. Wenn sie sich an jene Zeit besinnt, klingt dies, als würde sie aus einem früheren Leben erzählen.
Nimmermüde
Mit einem abgeschlossenen Studium in Businessmanagement kam sie in die Schweiz. Pema Sonam sprach fliessend Englisch und ein wenig Hindi. Sie blickte kaum zurück, denn dafür hatte sie in ihren Lebensplänen keinen Platz. Aber sie vergass nicht, woher sie kommt. «Tief in meinem Herzen trage ich die eigene Kultur mit. Auch wer sich integriert, kann etwas aus der eigenen Kultur behalten und weitergeben», sagt sie.
Nach diesem Prinzip lebt sie, seit sie in die Schweiz gekommen ist. Über die bald zwei Jahrzehnte hinweg initiierte Pema Sonam eine Fülle an Projekten. Im Cultibo in Olten fand sie eine Plattform, um sich auszutauschen und ihre Ideen zu entfalten. Kaum noch vermag sie zeitlich einzuordnen, wann was in ihrem Leben vonstattenging.
Begonnen hatte sie mit dem Mittagstisch und dem Café International. Vor neun Jahren gründete und leitete sie in Olten die Tibetische Schule. Rund achtzehn Kinder besuchen heute die Schule und werden dort mit der tibetischen Sprache und Kultur vertraut gemacht. «Für jene, die nur die Muttersprache sprechen, will ich eine Brücke sein», sagt sie. Heute führt sie einen Femmes-Tisch, an welchem sich Frauen mit verschiedensten kulturellen Hintergründen austauschen und über Familie, Integration und Gesundheit sprechen. Und im Bereich der Früherziehung unterstützt Pema Sonam tibetische Familien über das Projekt «Schenk mir eine Geschichte». Es soll helfen, die Erstsprache der Kinder vor dem Kindergartenalter zu stärken, damit sie später schneller Deutsch als Zweitsprache erlernen.
23 Sternschnuppen: Zehn Jahre voller Überraschungen
Der Oltner Kultur-Adventskalender feiert in diesem Jahr seinen runden Geburtstag. Vom 1. bis 23. Dezember gilt auch dieses Jahr wieder jeden Abend: Bühne frei! Zu sehen sind 23 Kulturhappen – das Programm ist bekannt, nicht aber, wer an welchem Abend auftritt. Die Kulturanlässe finden dieses Jahr in der Stadtkirche, der Schützi und an einem Abend im Stadttheater statt (jeweils 18.15-18.45 Uhr). Den runden Geburtstag feiern die 23 Kulturveranstalterinnen mit einer «Nacht der langen Sternschnuppen» am 18. Dezember. Eintritt frei, Kollekte. Weitere Infos
Pema Sonam kennt die tibetische Gemeinschaft der Region besser als sonst wer. Und alle kennen sie. «Ich bin fast wie die Grossmutter für sie», sagt sie. Schon früh nach ihrer Ankunft in der Schweiz war sie in die diplomatische Rolle gerutscht. Wo sie nur konnte, half sie geflüchteten Familien, die nur Tibetisch sprachen, indem sie freiwillig als Sprachmittlerin fungierte. Noch heute erhält sie manchmal Anrufe – selbst aus Schwyz – von Menschen, die um ihre Hilfe bitten. Mittlerweile konnte Pema Sonam ihre sprachlichen Fertigkeiten zu ihrem Beruf ummünzen. Sie befolgte den Rat der Behörden: Sie solle die Dolmetscherschule absolvieren, der Bedarf sei gross. Und so reist die Exil-Tibeterin täglich zwischen vier Kantonen von Termin zu Termin, um als Dolmetscherin zu wirken. Mal ist es ein Arztbesuch, mal ein Behördengespräch.
Sie wirkt nimmermüde. Neben all ihren Projekten zog Pema Sonam ihre drei Kinder auf. Zwischenzeitlich hatte sie mit ihrem Lebenspartner zudem das tibetische Restaurant «Little Tibet» aufgebaut und geführt. Kurzum absolvierte sie dafür das Wirtepatent. Mit dem Tod ihres schwer an Krebs erkrankten Lebenspartners gab Pema Sonam das Lokal an eine andere tibetische Familie weiter. Selbst dieser Rückschlag konnte ihr die Kraft nicht nehmen.
Erinnerung an die Kindheit
«Aber du willst mich bestimmt noch fragen: Der Lhakar-Tanz, was ist das?», sagt sie. Ihre Wangen füllen sich, die Augen leuchten. Die Tanzgruppe ist eine ihrer neusten Ideen. Das Cultibo habe sie angefragt, ob sie nicht etwas machen könnte, um die Menschen anzuziehen, die noch zurückhaltend sind, sich nicht über den sprachlichen Austausch gewinnen lassen. «Warum nicht tanzen?», habe sie gefragt. Mit dem traditionellen tibetischen Tanz verbindet Pema Sonam Kindheitserinnerungen.
Lhakar ist in Tibet eine Bewegung – auf Deutsch «weisser glücksverheissender Mittwoch». Sie ist an den Mittwoch angelehnt, jenen Wochentag, an welchem Dalai Lama zur Welt kam. In Tibet ist er zum Tag des stillen Protests geworden, an welchem die tibetische Kultur gelebt wird. Sei es kulinarisch, mit einem Klosterbesuch oder eben dem Tanz in traditioneller Kleidung. «Wir tanzen solidarisch mit dem Tibet, indem wir die Kultur leben», sagt Pema Sonam. Der Tanz öffne die Türen für neue Menschen und dabei liessen sich andere Hormone ausschütten, lacht sie.
Die Anfrage für die 23 Sternschnuppen bedeutete ihr viel. Es wird der erste Auftritt ihrer Tanzgruppe. Sie werden ihre Tänze als bunte Gruppe mit verschiedensten privaten Trachten darbieten. Pema Sonam hat bereits die nächste Idee. «Mit der kleinen Gage, die wir erhalten, wollen wir neue Kostüme für unsere Lhakar-Tanzgruppe kaufen.»
Stundenlange Debatten und trotzdem bleiben die Meinungen festgefahren. Wenn das Oltner Parlament über die Stadtfinanzen diskutiert, ähneln sich die Voten in den letzten Jahren. Es ist ein Politdrama erster Güte. Das war auch dieses Jahr nicht anders. Wir erklären, warum es sich bei diesen zähen Debatten lohnt, über das kommende Jahr hinauszublicken. Und zeigen, was die Steuererhöhung fürs eigene Portemonnaie bedeutet.
Die Vorgeschichte: Wie Olten sich wieder fing
Der Schock war heftig: 2014 brachen die Steuereinnahmen des Stromriesen Alpiq komplett ein. Auf einen Schlag flossen 27 Millionen Franken weniger Unternehmenssteuern in die Oltner Kasse. Die Stadt zog ein rigoroses Sparprogramm auf. Trotzdem gabs zunächst rote Zahlen – die Kleinstadt musste sich verschulden. Die Trendwende gelang 2016. Damals belief sich die Pro-Kopf-Verschuldung auf 3’363 Franken. Der Stadt ist es gelungen, die Schuldenlast bis heute auf mehr als die Hälfte zu reduzieren. Möglich war dies, weil Olten die Ausgaben herunterfuhr und in den letzten Jahren nur zögerlich neue städtebauliche Projekte umsetzte.Seit 2013 investierte Olten durchschnittlich pro Jahr rund 9 Millionen Franken. Die Investitionen von vergleichbaren Städten – mit weniger als 30’000 Einwohnerinnen – belaufen sich im Durchschnitt jährlich auf rund 14.5 Millionen Franken.
Und nun? Die grossen Pläne
Was die Kleinstadt mit Zentrumsfunktion in den letzten Jahren vernachlässigte, möchte sie nun nachholen. Zumindest zeigt der politische Kompass in diese Richtung: Parlament und Stadtrat sind urban-progressiver geprägt denn je. Und somit ist auch der politische Drang, Neues zu gestalten, deutlich spürbar. Aber die Bürgerlichen drücken auf die Bremse: In den letzten Jahren nahmen sie sukzessive die Oppositionsrolle ein und waren mit dem Budgetreferendum 2019 erfolgreich. Das Seilziehen wird in den nächsten Jahren weitergehen. Im Zentrum immer die Frage: Was braucht Olten, um eine lebenswerte Stadt zu sein? Kultur, Begegnungsräume, intakte Infrastruktur fordert die Linke. Die Ausgaben einschränken und die Steuern nicht erhöhen, das wollen die Bürgerlichen.
Auf dem Tisch liegen wegweisende Projekte
Diese städtebaulichen Projekte haben Stadtrat und Parlament aufgegleist:
Schulhaus Kleinholz mit Dreifachturnhalle: 40 Mio. Franken – Stimmvolks-Ja im Frühling 2021 (im Finanzplan mit 36 Mio. Franken ausgewiesen, da die ersten 4 Mio. Franken bereits dieses Jahr fliessen)
Schulbauten Frohheim: 19 Mio. Franken (10 Mio. für einen Klassentrakt, 8.7 Mio. für den Erweiterungsbau)
Kunstmuseum: brutto 14 Mio. Franken (2 Mio. sollten von Dritten zurückfliessen)
Neuer Bahnhofplatz: 23 Mio. Franken (Investitionen bis 2028 – Bauprojekt geht darüber hinaus)
Die Stadt geht im Finanzplan davon aus, über die kommenden sieben Jahre insgesamt 127 Millionen Franken (durchschnittlich jährlich gut 18 Millionen Franken) zu investieren. Dabei gilt es zu beachten: Einen grossen Brocken (31 Prozent) machen die Investitionen in den Werterhalt aus – Gelder, welche die Stadt beispielsweise für den Strassen- und Gebäudeunterhalt benötigt. Möchte Olten darüber hinaus die oben genannten Projekte stemmen können, müssen die Steuern leicht erhöht werden. Dies hat der Stadtrat bekanntgegeben. Das letzte Wort wird bei den Grossprojekten jeweils die Stimmbevölkerung haben. Lehnt sie ein Grossprojekt ab, würden die Finanzen zwar entlastet, aber auch das Projekt verzögert – die Entwicklung der Stadt gehemmt.
Die Steuersituation
Bevor die Alpiq-Quellen versiegten, lebte Olten ohne finanzielle Sorgen. Wer in die Bücher blickt, sieht, dass die Stadt 2012 und 2013, also in den Jahren vor dem Kollaps, einen Steuerfuss von 95 Prozent hatte. Das erscheint im Vergleich zu heute fabulös. Als die Stadt auf den Boden der Realität zurückgekehrt war, hob sie den Steuerfuss in zwei Schritten auf 108 Prozent an. Seit 2015 blieb er unverändert – die Bürgerlichen wehrten die Absichten des Stadtrats, den Steuerfuss zu erhöhen, jeweils ab. Dieses Jahr ist die Debatte von neuem lanciert.
Fakt ist: Ohne Steuererhöhung wird die Stadt die Investitionen bremsen müssen. Denn die finanzielle Situation würde prekär werden. Olten müsste sich noch stärker verschulden, da die eigenen Gelder, um die kommenden Projekte selbst zu finanzieren, noch knapper wären. Die Pro-Kopf-Verschuldung stiege gemäss Prognosen auf rund 5000 Franken, der Nettoverschuldungsquotient auf knapp 150 Prozent – beides Grenzwerte, welche nach Gemeindegesetz zur Schuldenkontrolle durch den Kanton führt. Dabei wird der Handlungsspielraum eingeschränkt. Die Stadt könnte nicht mehr grosse Projekte umsetzen, weil sie diese zu 80 Prozent selbst finanzieren müsste – ein Ding der Unmöglichkeit.
Nettoverschuldungsquotient – was ist das?
Er gibt an, wie hoch die Verschuldung im Verhältnis zu den Steuererträgen von juristischen und natürlichen Personen bei einem Steuerfuss von 100 Prozent ist. Bei einem Nettoverschuldungsquotient von 150 Prozent müsste die Stadt demnach über 1.5 Jahre sämtliche Steuereinnahmen (berechnet auf Steuerfuss von 100 Prozent) beiseitelegen, um ihre Nettoschulden zu tilgen.
Steuerfuss 112 statt 108 Prozent: Was heisst das für mein Portemonnaie?
Solothurn zählt seit jeher nicht zu den steuerattraktiven Kantonen. Weil der Kanton dezentral organisiert ist, sind die Steuerfüsse in den Gemeinden ausserdem verhältnismässig hoch. Ein Beispiel: Im Kanton Baselland etwa gibt es nur ein Bauinspektorat (in Liestal) – in Solothurn ist dies eine Gemeindeangelegenheit.
Was aber bedeutet die vom Stadtrat geforderte Steuererhöhung für den einzelnen Haushalt? Eine wenig verdienende Einzelperson mit einem steuerbaren Einkommen von 29’000 Franken (nach allen Abzügen, bspw. Hypotheken, Zahlungen an die dritte Säule der Altersvorsorge) müsste bei einem Steuerfuss von 112 Prozent pro Jahr 50 Franken mehr an die Gemeinde bezahlen (insgesamt 1400 Franken). Bei einer Familie aus dem Mittelstand mit einem steuerbaren Einkommen von 100’000 Franken betrüge die Differenz 265 Franken (7433). Für eine Familie mit einem hohen Haushaltseinkommen und einem steuerbaren Einkommen von 210’000 Franken wären es 730 Franken (20’086).
Für Firmen würde sich die Steuererhöhung auf 112 Prozent marginal auswirken. Vor allem die grossen Unternehmen mit einem Gewinn von über 100’000 Franken profitierten von der letztes Jahr in Kraft getretenen Unternehmenssteuerreform, über die Kolt bereits vertieft berichtete. Im Jahr 2020 sinken gemäss Prognose die Steuereinnahmen von juristischen Personen der Stadt Olten um mehr als ein Drittel – von über 20 Millionen auf gut 12 Millionen Franken. Noch macht sich dies in der Kasse nicht in vollem Umfang bemerkbar, weil der Kanton bis 2027 Ausgleichszahlungen leistet.
Der unbestrittene Urnengang
Nach der Parlamentsdebatte hat sich die Ausgangslage nochmal verändert: Hauchdünn setzte sich erwartungsgemäss die Ratslinke mit ihrem Ansinnen durch. Dies nachdem die Bürgerlichen den Kompromissvorschlag der Linken, die Steuern sowohl für natürliche wie auch für juristische Personen auf 110 Prozent zu erhöhen, im Vorfeld abgelehnt hatten. Für die linken Parteien war der Kompromissvorschlag der Rechten, bei den Ausgaben zu sparen und den Steuerfuss wie gehabt zu belassen, ebenso keine Option. Olten jetzt!, die Grünen und SP / Junge SP zimmerten daraufhin einen eigenen Vorschlag: Ein Steuerfuss von 110 Prozent (+ 2 Prozent) für Privathaushalte – und 118 Prozent (+ 10 Prozent) für die Unternehmen. Das letzte Wort gibt das Parlament der Stimmbevölkerung: Im Februar kann sie über das Budget befinden. Somit verhinderte das Parlament das drohende Referendum.
Die Rechte drohte schon in der Debatte, dieses Budget werde an der Urne wie 2019 nicht mehrheitsfähig sein. Die Linke aber glaubt, dass die Ausgangslage nun anders ist. Sie wird argumentieren, das Ja zum Schulhaus Kleinholz legitimiere die leichte Steuererhöhung. Für sie wird es zur grossen Herausforderung, der Bevölkerung aufzuzeigen, dass die Steuererhöhung für die Unternehmen de facto keine ist. Von der Steuerreform profitierten vor allem jene Betriebe mit grossen Gewinnen. Kleine Unternehmen mit geringen Gewinnen spürten die Reform kaum – auch weil sie höhere Abgaben für die Altersvorsorge leisten müssen. Jedoch würde der um 10 Prozentpunkte erhöhte Steuerfuss sich kaum auf ihre Steuerabgaben auswirken.
Zahlen über Zahlen
Das Beispiel Olten zeigt: Für eine Kleinstadt, die sich entwickeln will, ist es schwierig, die finanzielle Balance zu finden. Aber der Fall der Alpiq hat deutlich gemacht, dass die Stadt sich bei grossen Rückschlägen rasch an eine neue Situation anpassen kann. Jene Zeiten, in welchen sich die Stadtkasse durch Firmensteuern alimentieren lässt, scheinen ohnehin weit weg: Die Unternehmenssteuern verlieren aufgrund der Steuerreform weiter an Gewicht. Mittelfristig müssen die Steuereinnahmen aus den Privathaushalten das Gerüst für eine gut aufgestellte Stadt bilden, die sich auch weiterentwickeln kann.
Unweigerlich kommt hier die Frage nach der Wohnattraktivität ins Spiel. Der Steuerfaktor bildet dabei nur einen Parameter und aufgrund der kantonal bedingt hohen Steuerlast wird Olten in der Schweiz nie im Konzert der steuerattraktiven Gemeinden mitspielen. Die Kleinstadt kann sich aber auf andere Stärken besinnen: Tiefe Mietpreise, die zentrale Lage und die vielfältige Kulturszene. Zur Frage, was nun Wohnattraktivität ausmacht, gibt’s keine richtige oder falsche Antwort. Das zeigen die divergierenden, vielzitierten Städterankings: Im Massstab der Handelszeitung landet Olten punkto Lebensqualität auf dem 462. Rang (von den 936 Gemeinden mit über 2000 Einwohnerinnen). Im Städteranking der Bilanz aber erreichte Olten dieses Jahr den 32. Rang (von 162 möglichen Rängen).
Zuvor sah Marion Rauber, wie die Sonne über Olten aufstieg. Jetzt sieht sie, wie sie sich schlafen legt. Zimmer 711. Das Büro der Baudirektorin. Der Tag legt sich, hüllt die Stadt in blaues Licht, das die nahenden Wintertage ankündigt. Die Oltnerin verliess für ihre zweite Legislatur die Sozialdirektion, verabschiedete sich von ihrem angestammten Fachgebiet. Die nächsten vier Jahre will sie ihre Heimatstadt gestalten. Dafür wagte sie den Sprung ins kalte Wasser.
«Der Arbeitsaufwand ist unvergleichbar grösser», sagt Marion Rauber in ihrem Büro. In der Baudirektion brummt das Tagesgeschäft stärker als überall sonst. Gleich mehrere Projekte stehen an, welche das Gesicht der Stadt verändern werden. Der Schulhausneubau im Kleinholz, der Bahnhofplatz, die Stadtteilverbindung Hammer … Und: das Kunstmuseum. Mit ihm will die Stadt die Kirchgasse weiter aufwerten. Eben erst entschied der Stadtrat, sich auf das Kunsthaus zu beschränken – die Liegenschaft nebenan will er über einen Wettbewerb im Baurecht an eine Investorin abgeben und von dieser entwickeln lassen.
Der Stadtrat hat entschieden, das Projekt an der Kirchgasse aufzuteilen. Aus welchen Gründen?
Dass wir nur ein Gebäude für das Kunstmuseum nutzen, war seit längerem klar. So lautet auch der politische Auftrag. Beide Gebäude im Herzen der Stadt gehören uns, beide müssen wir dringend sanieren. Der Liegenschaft Nummer 8 neben dem Kunstmuseum wollen wir einen anderen Zweck geben. Wir sehen kein Vakuum, das wir als Stadt füllen müssen. Entweder wir hätten das Gebäude selbst entwickelt, verkauft oder, wofür wir uns nun entschieden haben, es im Baurecht an einen Investor abgegeben.
Rendering: «VEDO DOVE DEVO» (1. Rang / 1. Preis), ARGE Buchner Bründler Architekten AG, Basel / Proplaning AG, Basel / Robin Winogrond Landschaftsarchitekten, Zürich
Dass die Stadt dort eine Jugendherberge oder ein offenes Kulturzentrum betreibt, war keine Option?
Nein, zu keinem Zeitpunkt. Denkbar wäre gewesen, dass wir selbst investieren, die Liegenschaft entwickeln und später Mieterinnen suchen. Der Stadtrat hat sich dagegen entschieden.
Beide Projekte müssen nun dennoch koordiniert sein.
Für das Kunstmuseum müssen wir im nächsten Schritt im Parlament den Projektierungskredit abholen. Gleichzeitig wollen wir für die Nummer 8 einen Investorenwettbewerb ausschreiben. Im Baurecht können wir Vorgaben machen. Wir möchten den Rahmen nicht zu eng stecken, aber doch kundtun, was an der Kirchgasse aus unserer Sicht möglich ist. Für die Investorin muss es gleichwohl attraktiv sein. Eine Jury wird ein Projekt auswählen. Im Gremium sollen Menschen über das Stadthaus hinaus vertreten sein, beispielsweise aus dem Gewerbe und Tourismus.
Hat der Stadtrat diskutiert, was mögliche Wunschlösungen sind?
Für mich muss das Projekt eine Aussenwirkung haben. Wir wollen kein stilles Gewerbe mit verschlossenen Fenstern. Es könnte Gastronomie oder eine Markthalle beinhalten. In den Obergeschossen ist attraktiver Wohnraum denkbar.
Sollte an dieser Lage nicht das ganze Gebäude der Allgemeinheit offenstehen?
Das erfüllen wir an der Kirchgasse 10 mit dem Kunstmuseum. An der Kirchgasse 8 wird der wichtigste Teil, nämlich das Erdgeschoss, für alle zugänglich sein. In den Obergeschossen wären beispielsweise offene Co-Workingplätze denkbar, diese gibt’s in der Stadt aber genügend. Eine Jugendherberge hatten wir vor ein paar Jahren abgeklärt, vonseiten Dachorganisation bestand kein Interesse. Wir sind grundsätzlich offen für gute Ideen. Für uns als städtische Vertretung muss vor allem ein Mehrwert für die Bevölkerung gegeben sein. Ein Investor möchte natürlich auch einen Ertrag sehen.
Die Neugestaltung des Munzingerplatzes will der Stadtrat noch nicht einbeziehen. Würde dies raumplanerisch nicht Sinn ergeben?
Der Munzingerplatz soll nicht einfach ein Anhängsel der Liegenschaften sein. Eine räumliche Abhängigkeit ist gegeben. Aber wir wollen sie nicht koppeln, damit die Liegenschaften und der Munzingerplatz eigenständig funktionieren können. In zehn Jahren ist der Zeitgeist vielleicht ein anderer.
In seinem letzten Communiqué erklärt der Stadtrat, warum Olten ein Museum braucht. Wieso unterstreichen Sie dies?
Weil in der Diskussion um das Kunstmuseum ein wichtiger Punkt vergessen geht: Nämlich dass wir eine namhafte Sammlung besitzen, um welche wir uns kümmern müssen. Wir hätten ein riesiges Problem, wenn wir kein Kunstmuseum mehr hätten. Was würden wir nur mit allen Kunstwerken machen, die der Stadt gehören? Teilweise sind es Schenkungen, Leihgaben und so weiter … Die Kunstwerke können wir nicht einfach in einen Keller stellen und dann vergessen. Mit dem Wegfall unseres Kunstmuseums würde ein Eckpfeiler des städtischen Kulturangebots verloren gehen.
Gewisse Politexponenten argumentieren, ein Kunstlager liesse sich günstig in der Industrie machen und in der Innenstadt könnten die Gebäude mit hoher Rendite geführt werden.
Ein Kunstmuseum gehört für mich ins Zentrum der Stadt. Die unter Denkmalschutz stehende Liegenschaft erfüllt einen sinnvollen Zweck und bleibt als öffentliches Gebäude mitten in der Stadt erhalten. Die Reichweite des Museums wird unterschätzt. Am Ende sagen Parlament und Volk, wie es weitergehen soll.
Wie wollen Sie die kritischen Stimmen überzeugen?
Ein sehr wichtiger Punkt ist für mich die neue Art von Museum, das die Kuratorinnen leben. Heute sind die Museen keine elitären Orte mehr, wo der Eintritt viel Geld kostet. Wer auf einem Stadtspaziergang ist, soll auch durchs Museum gehen können und dann weiterziehen. Dieser Aspekt sollte in der Bevölkerung mehr Resonanz kriegen. In den neuen Räumen werden sich den Kuratorinnen noch mehr Möglichkeiten bieten. Heute schon vermitteln sie den Schulklassen Kunst. Das Museum soll ein Angebot für alle sein.
Rendering: «VEDO DOVE DEVO» (1. Rang / 1. Preis), ARGE Buchner Bründler Architekten AG, Basel / Proplaning AG, Basel / Robin Winogrond Landschaftsarchitekten, Zürich
Ein offenes Museum liesse sich mit einem Begegnungszentrum verknüpfen, einer Art zweites Cultibo.
Solche Überlegungen gibt es, aber ein Kunstmuseum eignet sich nur bedingt. Die Kunsträume vollständig zu öffnen, würde nicht funktionieren. Ich sähe ein Begegnungszentrum eher mit anderen Nutzungen kombiniert. Einer Bibliothek oder einem Zentrum mit neuen Medien.
Der Stadtrat lässt das Kunstmuseum-Siegerprojekt vom Architekturbüro überarbeiten. Steht dabei auch das offene Museum im Fokus?
Primär geht es darum, Betriebsabläufe zu optimieren und das Kostendach einzuhalten. Dabei stellen sich die Fragen zu den unterirdischen Geschossflächen und den verwendeten Materialien. Das Parlament hat ein Kostendach von 14 Millionen Franken festgelegt, darin müssen wir uns bewegen.
Das Siegerprojekt war unbestritten die beste Eingabe. Der Entwurf kommt von einem Büro aus der Museumsstadt Basel, wo klassische Museen funktionieren, was dem Projekt anzusehen ist. Sollte das offene Museum für eine Kleinstadt darin nicht stärker mitgedacht sein?
Da habe ich keine Bedenken. Für mich ist ebenso wichtig, dass das Museum eine komplett eigenständige Fassade nach hinten erhält. Der Munzingerplatz ist für mich ein zentrales Anliegen und den müssen wir aufwerten. Das Museum soll eine eigene Identität haben und im Kontext zu unserer Innenstadt stehen.
Das Museum wächst in den Platz der Begegnung hinein. Damit wird auch ein grosser Baum weichen müssen.
Das ist unbestritten schade, in der Interessenabwägung aber sinnvoll. Alternativ hätten wir beide Liegenschaften fürs Kunstmuseum gebraucht. Dafür fehlt die politische Akzeptanz. Zudem hätten wir die grosse Chance verpasst, die heutige Hinterhofsituation aufzuwerten. Im Siegerprojekt ist dies besonders gut gelungen.
Das Parlament hat sich mehrmals zum Kunstmuseum bekannt. Vielleicht weil aber nie eine deutliche Mehrheit dahinterstand, gelang es jeweils nicht, vollständige politische Klarheit zu haben.
Ein Kunstmuseum ist für politische Uneinigkeit prädestiniert. Wenn wir über das Stadttheater, die Badi oder die Eishalle sprechen, erheben sich weniger Stimmen dagegen, weil man sich unbeliebt macht. Was wir etwa in unsere Sportanlagen investieren, ist aber genauso für eine Minderheit. Da geben wir auch viel Geld aus. In der Kunst und Kultur ebenso. Gewisse Bereiche sind nun mal stärker mit Polemik beladen.
Umso wichtiger wäre die Frage, wie die Stadt die Bevölkerung einbeziehen kann. Am Ende stimmt sie ab.
Unsere Aufgabe wird es sein, der Bevölkerung den Mehrnutzen zu zeigen und was sie für die Investition kriegt. Wir als Stadt sind dafür verantwortlich, das historische Erbe zu erhalten. Seien es Bilder oder Bauten.
Was bekommen Olten und die Region?
Ein offenes Kunstmuseum an bester Lage, das die Innenstadt rundherum bespielt. Sie werden die Fensterläden nicht verschliessen. Nicht alles, was lebt, muss Gastronomie oder Konzerte sein. Auch ein Museum, das sich öffnet, kann dies.
Antworten darauf liefert uns Experte John P. Manning von der Fachhochschule Nordwestschweiz. Wir erreichen ihn per Videotelefongespräch im Homeoffice. Transparenz, sagt er gleich zu Beginn, sei das Gegenmittel, um die aus dem Lot geratenen Lieferketten zu reparieren. Nur, so einfach ist das nicht. Der Hochschuldozent sprach mit uns über das fragile System.
Der Flaschenhals, der defekte Reissverschluss, der sich nicht mehr schliessen lässt: Viele Bilder eignen sich, um die aktuellen Lieferengpässe als Metapher zu begreifen. Welches ist für Sie am passendsten?
John P. Manning: Der Flaschenhals passt sehr gut. Aber ich sehe auch das Bild einer geschlossenen Grenze vor mir, wenn ich an die Situation denke. Zum Flaschenhals: Jede Lieferkette verläuft bildlich gesprochen durch einen oder mehrere Trichter. Manchmal staut er wegen der Maschine. Manchmal ist auch der Mensch die Ursache. Etwa wenn wir nach England schauen, wo momentan die Lastwagenchauffeure fehlen. Die Abhängigkeit vom Menschen gilt derzeit auch für die Fracht-Flugindustrie. Für Unternehmen ist bei Lieferengpässen die Frage entscheidend: Wie viele Flaschenhälse habe ich? Sie müssen sich überlegen, ob eine einzige Quelle, im Fachjargon die Single Source genannt, ausreicht. Und zur Grenze: Bisher hielten wir geschlossene Grenzen nicht für möglich. Die Pandemie hat gezeigt, dass auch dadurch Lieferketten plötzlich gestört sein können.
Zur Person
Dr. John P. Manning stammt aus den USA und studierte physikalisch-technische Chemie. Seit über 30 Jahren lebt er in der Schweiz. Er arbeitete zunächst für Sandoz – und blieb nach der Fusion mit Novartis in der Pharmaproduktion tätig. Nachdem er vor eineinhalb Jahren in Frühpension ging, wechselte der Wahlschweizer an die Fachhochschule Nordwestschweiz. Er doziert zu digitalen Lieferketten (Digital Supply Chain) am Institut für Wirtschaftsinformatik der Hochschule für Wirtschaft in Basel.
Wie stark kriegen Sie als Wissenschaftler das Problem draussen in der Welt mit?
Zunächst habe ich es als Privatperson unmittelbar mitbekommen, als ich vor kurzem ein E-Auto kaufen wollte. Das Soundsystem, das ich wollte, war nicht verfügbar, weil die Chips nicht vorhanden sind. An der Hochschule interagieren wir mit der Wirtschaft in unserer Forschung und Lehre. Beispielsweise mit der global tätigen DHL. Obwohl diese Unternehmen stark betroffen sind, hört man sie kaum klagen. Neulich führte uns ein Seminar mit der Swiss WorldCargo vor Augen, wie stark die Passagier- und Cargoflüge in der Schweiz voneinander abhängen. Darum nahm die Swiss WorldCargo während des Lockdowns die Sitze aus Passagierflugzeugen raus. So konnte sie mehr Güter transportieren, mit welchen wir die Pandemie bekämpften.
Hätten Sie einen Kollaps des Systems für möglich gehalten?
Durchaus. Aus meiner Sicht war er vorprogrammiert. Nur schon weil eine Konsolidierung der Lieferanten und Lieferketten stattfand. Viele Unternehmen arbeiten nicht mit einer Mehrzahl von Lieferanten für alle wichtigen Ausgangsmaterialien. Wenn ich alles vom selben Lieferanten beziehe, habe ich einen besseren Preis. Das System war auf Kostenreduktion und Schnelligkeit ausgerichtet. Keine administrative Verschwendung, wenig oder keine Lagerhaltung. Sobald eine Perturbation – ein Störfaktor – eintritt, fällt die Lieferkette aus dem Gleichgewicht. Es gibt wenig Polster. Oder die Lager sind auf der anderen Seite der geschlossenen Grenze. Dieses Szenario wurde leider unterschätzt. Viele überlegen sich nun, wie ihre Lieferketten an Robustheit dazugewinnen können. Das sieht man daran, dass Hersteller sich überlegen, wie sie wieder lokaler produzieren können. Zum Beispiel ist Österreich nun bereit, Subventionen für die lokale Produktion von Antibiotika zu bezahlen.
Für viele kleine Unternehmen ist der Aufwand zu gross, einen zweiten Händler zu suchen.
Es ist sicher eine Kostenfrage. Der Aufbau und die Pflege der Beziehungen kosten. Es ist aufwändiger, wenn ich mehrere Stufen der Lieferkette manage und auch die Fragen stelle: Wer sind die Unterhändler, woher kommen die Rohstoffe? Aber das gehört zur Robustheit.
Glauben Sie, die Unternehmen werden diesen Weg gehen?
Gewisse Industrien haben sich damit auseinandergesetzt. Etwa im Pharmabereich, wobei dort die Margen auch entsprechend gross sind, die Unternehmen können es sich besser leisten. Für Firmen, die im tieferen Margenbereich arbeiten, ist es schwierig. Aber sie zeigen sich innovativ. Ich finde es beeindruckend, wie viele Schnapsbrenner das Geschäftsmodell angepasst haben und nun Desinfektionsmittel anbieten. Es riecht toll nach Kirsch (lacht). Das finde ich ein gutes Beispiel.
Der Metallbauer oder die Holzbauerin, sollten sie ihre Lieferkette besser verstehen?
Ich denke ja. Jeder sollte die Gelegenheit nutzen. Wie weit will ich in meiner Lieferkette zurückgehen? Welche Alternativen gibt es? Solchen Fragen sollten sie sich im Idealfall stellen.
Da geht es auch um den Nachhaltigkeitsaspekt. Glauben Sie, dies könnte sich längerfristig ändern?
Ich glaube, längerfristig nicht. Sobald der Störfaktor weg ist, strebt das System wieder das Lean Manufacturing an. Aus dem Fachjargon übersetzt heisst dies, dass im Produktionssystem möglichst viel Zeit (Verschwendung) gespart wird, indem unnötige Bewegungen oder Lagerhaltung vermieden werden. Es ist nicht per se eine schlechte Sache, weil so die Verschwendung reduziert wird. Lean heisst weniger Fett. Ich würde auch gerne mal ein paar Kilo verlieren. Aber wenn ich eine Erkrankung überstehen will, brauche ich diese Extrakilo.
Wie stark glauben Sie, wird die Lage von den Zwischenhändlern ausgenutzt, um höhere Preise zu verlangen?
Das ist eine schwierige Frage. Ich weiss es nicht. Ich weiss, dass es ausgenützt werden könnte. Dass die Knappheit zu höheren Preisen führt, ist logisch. Dass höhere Preise für gewisse attraktiv sind, ist auch logisch. Wo Geld zu verdienen oder Kundschaft zu gewinnen ist, besteht die Versuchung, dies auszunützen. Wissenschaftlich finde ich spannend, dass die Preise steigen, aber nicht unbedingt die Inflationsindexe. Zumindest noch nicht.
Was ist aus Ihrer Sicht das grösste Problem der aktuellen Knappheit?
Die grösste Herausforderung wird sein, die Lieferketten wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Wenn wir ans Trichtermodell denken: Bildlich gesprochen verschiebt sich der Flaschenhals an einen anderen Punkt. Etwa durch das Herdenverhalten. Das meistbekannte Beispiel sind die Hamsterkäufe von Toilettenpapier. Damit die Kette wieder «normal» wird, braucht es Vertrauen in die Systeme und Partner. Damit wir nicht Sachen horten. Ansonsten entstehen wellenartige Schwankungen, weil das System mit Überkompensation reagiert. Die Hersteller wissen nicht, ob sie noch mehr produzieren müssen oder nicht. In der Automobil- und Flugzeugbranche ist dies momentan die grosse Frage: Wie viel Kapazität sollen sie für die Zukunft aufbauen?
Was wirklich knapp ist und wo nur die Lieferketten stocken, lässt sich kaum abschätzen. Wie behalten die Firmen den Überblick?
Mit Transparenz und Vertrauen: Wenn ich weiss, dass das Toilettenpapier immer verfügbar sein wird, gehe ich zurück zu normal. Sonst bleibt es ein Blick in die Kristallkugel. Ob Mensch oder Firma, beide verhalten sich bei den Hamsterkäufen ähnlich.
Viele wollen vermutlich ihre Geheimnisse nicht preisgeben und Transparenz schaffen.
Das ist die asymmetrische Informationslage: «Ich weiss es, aber du nicht.» Firmen sollten in den sauren Apfel beissen und Transparenz schaffen. Sonst wird es sehr lange dauern, bis das System ins Gleichgewicht kommt. Hohe Transparenz bindet ausserdem Kundschaft.
Was raten Sie den lokalen, kleineren Betrieben?
Drei Dinge: Erstens in der Lieferkette ein paar Stufen nach vorne und nach hinten schauen. Herausfinden, woher die Ware kommt, welche Flexibilität die Lieferanten haben. Das zweite ist die geographische Überlegung: Suche ich vielleicht einen zweiten oder dritten Lieferanten in der Nähe? Einige gehen bereits diesen Weg. Der dritte Rat: Nachhaltiger, längerfristig denken und an Robustheit zulegen. Damit nicht so schnell wieder nur die sichtbaren Kosten und die Geschwindigkeit zählen, sondern die echten Kosten und der Gesamtaufwand.
Jederzeit alles kriegen, wann immer wir möchten. Für uns war es das neue Normal. Selbst bei Luxusgütern. Bei Dingen, die wir nicht für unseren alltäglichen Bedarf benötigen. Die Pandemie rüttelte an dieser Gewohnheit. Der Warenfluss begann zu stocken. Lieferketten stauen sich. Güter sind knapp geworden.
Der Grund war teilweise offensichtlich – wie etwa beim Toilettenpapier, wo Angstkäufe eine Knappheit erzeugten. In unserem alltäglichen Konsum hat sich die Situation mittlerweile weitgehend normalisiert. Hinter den Kulissen aber ist der Welthandel noch lange nicht im Lot.
Zu spüren bekommen dies alle Branchen, die vom Rohstoffhandel abhängig sind. Auch die lokalen Handwerker, Baufirmen und die Industriebetriebe aus der Region Olten, die weltweit tätig sind. Die Mechanismen, die hinter den Lieferengpässen stecken, sind vielseitig und komplex. Staus vor Häfen, Mangel an Containern und Lastwagenchauffeusen: Die NZZ veranschaulichte, wo die Probleme liegen. Und das Oltner Tagblatt berichtete, wie sich die Wirtschaftslage auf Transportfirmen ausgewirkt hatte.
Holzbau: Angstkäufe trieben den Preis
Mit den unmittelbaren Folgen haben die Produktionsbetriebe zu kämpfen. Die Stimmungslage ist unterschiedlich, die Probleme je nach Branche oder gar je nach Unternehmen individuell, wie unsere Umfrage bei den Firmen zeigt. In gewissen Bereichen hat sich die Lage bereits entspannt. Etwa im Holzbau. Als der Holzpreis in den USA vor ein paar Wochen wieder sank, wirkte sich dies unmittelbar auf den Markt in Europa aus, erzählt der Geschäftsführer eines der führenden Holzbau-Unternehmen in der Region. Er möchte nicht mit Namen genannt sein, weil das Geschäft gut läuft und er nicht für den eigenen Betrieb werben möchte. «Wir können im Moment gar nicht alle Offerten beantworten.»
Der neue Hauptsitz der Aare Energie AG. Der Bau ist im Fahrplan – mit den Rohstoffpreisen hatte man teilweise zu kämpfen.
Trotz gutem Geschäftsgang hat der lokale Holzbauer ein turbulentes Jahr hinter sich. «Materialien, für die wir zuvor Lieferfristen von nur einer Woche hatten, erhielten wir plötzlich erst innerhalb von zweieinhalb Monaten», erzählt der Geschäftsführer. Der Preis für gewisse Holzarten lag zwischenzeitlich bei 250 Prozent verglichen mit dem vorherigen Handelspreis. Statt 16 kostete ein Quadratmeter plötzlich 40 Franken. «Es verhielt sich wie beim WC-Papier», sagt er. «Auch wir haben Angstkäufe gemacht.» Der Markt werde nun versuchen, den Preis hochzuhalten, glaubt der Holzbau-Unternehmer. Deshalb würden sie auf keinen Fall grössere Lagerbestände anlegen, um den Druck auf die Händler zu erhöhen. Die meisten Preise haben sich normalisiert. Für aus dem Ausland gelieferte Holzwerkstoffplatten sind die Lieferfristen jedoch hoch geblieben – bei rund drei Monaten.
Nicht bloss die Lieferketten verzögerten auf dem Bau die Arbeit, glaubt der Geschäftsführer der lokalen Holzbau-Firma. Auch die Planerarbeiten gerieten in Rückstand. Der Grund ist für ihn naheliegend: «Im Homeoffice war die Leistungsfähigkeit der Leute weniger gross.»
Die rasche Rückkehr zur «Normalität» überraschte den Geschäftsführer daher. Sein Unternehmen habe davon profitiert, dass es wenn immer möglich Schweizer Holz verbaut. Zudem pflege man die Beziehung zu den Lieferanten. «Wir bezahlen alle Rechnungen immer pünktlich, so bist du nicht am Ende des Rattenschwanzes, wenn es darauf ankommt.» Viele Schweizer Schreinereien seien mit Anfragen überhäuft worden.
Weniger angespannt war die Lage für die lokale Möbelbau-Firma «made by innenausbau augsburger». Holzwerkstoffe seien für ihre Produkte mehrheitlich verfügbar und zahlbar geblieben, schreibt Beat Augsburger auf Anfrage. Auch weil sie ihre Produkte im inländischen Markt einkaufen, der sich hauptsächlich durch europäisches Holz speise. Nur die Lieferzeiten haben sich verändert. «Wir werden nicht mehr so verwöhnt wie früher.» Bis am späteren Nachmittag bestellte Ware erhielt der Betrieb zuvor meist schon am nächsten Tag. Tempi passati. Für das System sei dies nicht unbedingt negativ, findet Augsburger. Lager anlegen sei für seine Firma keine Option. «Wir müssen die Lager der Holzproduzenten so voll werden lassen, dass diese die unfaire Marktverzerrung mit künstlich knapp gehaltener Ware nicht weiterführen können.»
Der kaputte Reissverschluss
Die Verzögerungen auf dem Bau, sie sind Dominik Fischers grösste Sorge. Die Auftragslage war vielversprechend und eigentlich ging der Unternehmer davon aus, seine Metallwerkstatt wäre im zweiten Jahr der Pandemie gut ausgelastet. Es kam anders. «Wir können auf den Baustellen den Zeitplan oft nicht einhalten, weil vorausgehende Handwerker wegen fehlender Materialien in Verzug sind», sagt der Geschäftsführer der Firma aus Dulliken. «Auf einer Baustelle gehören so viele Teile dazu, bei denen der Takt nicht mehr stimmt.» Das sei wie bei einem defekten Reissverschluss, der sich wegen eines fehlenden Zahns nicht mehr schliessen lässt.
Anders als der Name der Metallwerkstatt vermuten lassen könnte, arbeitet die Firma von Dominik Fischer mit verschiedensten Materialien. «Wir sind die Handwerker, die individuell bauen, was der Kunde wünscht», sagt er. Dadurch hat er einen differenzierten Blick auf die Situation der einzelnen Rohstoffe– sein Betrieb benötigt meist nicht sehr grosse Mengen der einzelnen Materialien.Die Knappheit sei vor allem bei Holz, Glas, Kunststoffen und Textilien spürbar.
Im Bereich der Metalle sei es spezifisch unterschiedlich. Er macht dafür zwei Beispiele: Baustahl ist momentan rund 30 Prozent teurer als vor der Pandemie. Wesentlich drastischer ist die Lage auf dem Markt für Blech, das zwei bis zweieinhalb Mal teurer ist. Weshalb dies so ist, weiss Dominik Fischer nicht in jedem Fall, weil er die Lieferketten nicht weit zurückverfolgen kann. Er bezieht beispielsweise seinen Stahl von einem Händler, welcher den Werkstoff wiederum auf dem internationalen Markt importiert, ein Teil komme auch von einer Schweizer Firma. Er als Produzent müsse sich letztlich auf die Zertifikate verlassen können. Der Trend für die nähere Zukunft sei klar: Die Materialien werden tendenziell nicht günstiger werden, die Transporte schon gar nicht. Und: «Die Planbarkeit hat massiv abgenommen», sagt Dominik Fischer.
Alle wollen eigenes Obst
Abseits der Weltmärkte sorgte die Pandemie für weitere aussergewöhnliche Phänomene. Gartenbauer Oliver von Arx konnte seine Kundinnen in diesem Jahr kaum noch mit Obstbäumen versorgen. Nicht weil die Lieferketten verrücktspielten. Sondern wegen der explodierenden Nachfrage. «Die Menschen bewegten sich wegen der Pandemie in Richtung Selbstversorgung», sagt der Oltner Gartenbauer.
Die grösseren Obsthändler in der Schweiz mussten auf Baumschulen in Holland oder Deutschland ausweichen. Unabhängig der Pandemie nimmt im Gartenbaubetrieb von Oliver von Arx generell die Nachfrage nach einheimischen Arten zu. «Durch die Debatte rund um die Biodiversität wollen die Menschen vermehrt einheimisches Gehölz», sagt er. Und während früher beispielsweise Granitsteine aus China kamen, bestellen die Kunden nun eher Granit aus Portugal, Polen oder der Schweiz. Sie seien eher bereit, dafür den Aufpreis zu bezahlen.
Die Schokolade fliesst
Wie gehen die grösseren Firmen, die Rohstoffe auf dem Weltmarkt beziehen und ihre Produkte dann weiterverkaufen, mit der Situation um? Antworten darauf blieben weitgehend aus. Sowohl die Seilbahnkabinen-Herstellerin CWA wie auch die mit ihren hochwertigen Tasten, Tastaturen und Bedienelementen weltweit tätige EAO und das Haustechnik-Unternehmen Nussbaum verzichteten auf eine Stellungnahme. Vor allem aus zeitlichen Gründen. Die für den Rohstoffzukauf zuständigen Stellen seien derzeit stark ausgelastet, liess etwa die Medienstelle der EAO verlauten.
Eine schriftliche Antwort lieferte die in Kilchberg ansässige Lindt & Sprüngli, die in dieser Jahreszeit wieder die Stadt Olten mit ihrer Kakaomasse-Produktion in bittersüssen Duft hüllt. Eben erst hatte die Schokoladenfabrikantin angekündigt, den Standort in Olten auszubauen. Zum jetzigen Zeitpunkt könne Lindt & Sprüngli die Lieferkette gewährleisten. Die Firma stelle keine allgemeine Knappheit fest. Mit einer «vorausblickenden Einkaufsstrategie» würde die «langfristige Verfügbarkeit unserer Rohstoffe» abgesichert. Mit einem eigenen Farming Program kann das Unternehmen seit letztem Jahr 100 Prozent seiner Kakaobohnen zurückverfolgen (rund 80’000 Kakaobauern weltweit).
Transparenzhinweis: Die angefragten Firmen sind zufällig ausgesucht.
In Schottland findet die Welt zusammen und debattiert darüber, wie die Klimapolitik doch noch auf Kurs kommen kann. Warum die Gesellschaft noch nicht so richtig vorangekommen ist, dafür gäbe es unzählige Beispielgeschichten. Auch jene der Oltner Energieversorgerin gehört dazu. Während vieler Jahre setzte die Aare Energie AG (a.en)unbeirrt auf Erdgas und niemand mischte sich vehement ein. Das Gas floss. Und zwar «bequem, günstig und stabil», wie die städtische Energieversorgerin kürzlich in einem politischen Vorstoss schrieb. In den Städten florierte das Millionengeschäft mit dem Erdgas in den vergangenen Jahrzehnten. Die städtischen Betriebe bauten Gasnetze bis in die Agglomerationen. Die Gasbranche positionierte sich als neue grüne Energiebringerin, die das Öl ein Stück weit ablöste.
Ich will es genauer wissen: Die Klimabilanz der Energieträger
Heizöl weist die schlechteste Klimabilanz aus. Pro Kilowattstunde Wärme stossen Ölheizungen durchschnittlich 347 Gramm CO2 aus, wie aus einer Studie von zwei führenden Energieberatungsfirmen hervorgeht. Erdgas ist im Vergleich dazu um rund einen Viertel klimaschonender – daher kommt der ursprünglich gute Ruf. Gasnetzbetreiberinnen wie die sbo boten in den letzten Jahren zunehmend Biogas an. Wer bereit ist, mehr zu bezahlen, kann heute bei der a.en 100 Prozent Biogas beziehen. Nur: Dabei handelt es sich grösstenteils um über Zertifikate zugekaufte Anteile aus dem Ausland. Durch die Leitung fliesst weiterhin fast ausschliesslich Erdgas. Es lässt sich derzeit noch nicht rückverfolgen, ob beispielsweise eine deutsche Produzentin das Biogas ein zweites Mal verkauft. Das Potenzial für die Biogasproduktion ist in der Schweiz arg limitiert. Gemäss Berechnungen des Bundes könnte sie maximal zehn Prozent des heutigen Verbrauchs decken. Beim Biogas entsteht heute gegenüber Erdgas rund die Hälfte der CO2-Emissionen. Durchschnittlich sind dies 130 Gramm CO2-Äquivalente. Bei der Produktion entweicht jeweils Methan – ein Treibhausgas. Bei technisch optimierten Anlagen – über eine solche verfügt ein Solothurner Klärwerk – sind sehr tiefe Emissionswerte möglich, nur sind diese nicht die Norm. Die Gasbranche hofft für die Zukunft auf die synthetischen Gase. Konkret: Wasserstoff. Aus überschüssigem Strom aus der Solar- und Windenergie könnte dieser über das «Power-to-Gas-Verfahren» produziert werden. Bereits heute wird er limitiert als Treibstoff für Lastwagen verwendet. Auch für Hochtemperatur-Industrieprozesse könnte Wasserstoff dienen. Das Problem: Wasserstoff ist auf dem Markt noch kaum verfügbar. Als Stromspeicher oder für Gebäudeheizungen ist er nach heutigem Stand der Wissenschaft in der Gesamtbilanz noch sehr ineffizient.
In Olten hob die Energieversorgerin mit dem Gasgeschäft nicht von Beginn weg ab. Und weil der Betrieb im Stadthaus geführt wurde, diskutierte das Parlament bei seinen Sitzungen regelmässig den Gaspreis. Die Politik nahm sich selbst den direkten Einfluss, schickte die Städtischen Betriebe Olten in die Selbständigkeit und gab dem verschuldeten Unternehmen gewissermassen als Startkapital Bauland mit. Die Aare Energie AG entstand 2001 als entkoppeltes Unternehmen, das im Auftrag der sbo die Betriebsaufgaben wahrnimmt und die Stadt mit Gas, Wasser und Strom versorgt. Ein rapider Aufstieg begann.
Das Konstrukt der öffentlich-rechtlichen sbo und der privatrechtlich organisierten a.en, die aber gleichwohl der Stadt gehört, sorgte immer wieder für politischen Diskussionsstoff. Vor allem weil die a.en bis vor einem Jahr nicht alle Zahlen offenlegte. Im Fokus standen zudem die Verwaltungsratshonorare. Die Öffentlichkeit störte sich an den üppigen Entschädigungen, welche die Mitglieder des Verwaltungsrats kassieren. Hinzu kommt, dass sie doppelt vergütet sind, weil die beiden Verwaltungsräte der sbo und a.en identisch besetzt sind. Einigen Lokalpolitikern missfällt bis heute das Doppelkonstrukt, weil dies dem Parlament die Kontrollmöglichkeit nehme. Indem die Tochtergesellschaft der sbo dem politischen Druck nachliess und die stillen Reserven offenlegte, erfüllte sie einen grossen Wunsch der Kritiker. Zur Ruhe kommt die Energieversorgerin dennoch nicht. Lange Zeit interessierte sich die Lokalpolitik fast nur für die finanzpolitischen Aspekte. Seit einem Jahr aber erhöht sie den Druck auf die sbo und a.en, die Energiewende anzugehen.
Was hast du für ein Heizsystem? Und: Fernwärme als Zukunftsmodell
Auf diese Frage wissen viele Menschen, die in der Stadt oder Agglomeration eine Wohnung mieten, meist nicht einmal die Antwort. Die Heizung funktioniert nach unserem Selbstverständnis einfach, die Wärme strömt durch den Boden oder die Heizkörper, wenn’s draussen kalt wird. Viele der Mietwohnungen sind bis heute gerade im städtischen Raum an das feingliedrige Gasnetz angeschlossen, oder im Keller steht eine Ölheizung. Die beiden fossilen Energieträger sollen künftig ganz verschwinden. Einen radikalen Weg gehen die Industriellen Werke Basel (IWB) – auf Druck der Politik. Die Energieversorgerin sorgte für Aufsehen, als sie aus dem Verband der Schweizerischen Gasindustrie austrat. In den nächsten 15 Jahren investieren die IWB rund eine halbe Milliarde Franken ins Fernwärmenetz. Fernwärmenetze sind jedoch nur in dicht besiedelten Gebieten wirtschaftlich sinnvoll. Die Wärme gelangt dabei über ein Warmwassernetz in die Wohnungen. Um das Wasser aufzuwärmen, gibt es eine Vielzahl an möglichen Energieträgern:
Industrielle Abwärme oder auch jene einer Kehrichtverbrennungsanlage
Wärmepumpen
Kalte Fernwärme: Durch die technische Entwicklung genügt die Temperatur von Seen oder vom Grundwasser, um sie in Fernwärmenetze einzubinden
Blockheizkraftwerke, beispielsweise mit Holzschnitzel, Pellets oder Biogas betrieben
Geothermie (Versuchsbohrungen in Basel wurden gestoppt, nachdem sie ein Erdbeben ausgelöst hatten)
Dass die Zeiten der roten Zahlen bei den Städtischen Betrieben weit zurückliegen, ist derzeit in der Mülimatt ersichtlich. Es ist ein Novembertag, an dem die feuchte Kälte bis in die Knochen vordringt. Ein Lastwagen bohrt mit Spezialvorrichtung das Loch für eine Erdwärmesonde. Nebenan entsteht der neue dreigeschossige Bau der a.en. Noch ist er halbnackt – eingekleidet mit Dämmungsmaterial. Im Annexbau wird der operative Betrieb unterkommen. Das Dach versieht die a.en mit einer grossen Photovoltaikanlage. Die Energieversorgerin baut sich ein Gebäude, das den neusten energetischen Ansprüchen gerecht wird.
Ein Bau mit Symbolkraft, der eine neue Ära der Energiewende einläutet? Der Geschäftsführer Beat Erne gibt sich vorsichtig. «Das kann man vielleicht so betrachten», sagt er. Gemeinsam mit Verwaltungsratspräsident Daniel Probst führt er die Oltner Energieversorgerin in die Zukunft. Mit grünen Helmen weisen sie erstmal auf der Baustelle den Weg.
Experten aus der Oltner Energiebranche und -politik finden, Sie seien um Ihre Aufgabe nicht zu beneiden.
Daniel Probst: Das kann ich nicht bestätigen. (lacht) Wir stehen vor grossen Herausforderungen, ja. Vieles verändert sich derzeit. Mit der Energiestrategie 2050 bekennen wir uns zur Dekarbonisierung. Dafür werden wir mehr Strom brauchen. Wärme brauchen wir auch, denn unser Land kommt nicht ungeheizt durchs Jahr. Dass wir mit Anforderungen und Wünschen konfrontiert sind, empfinde ich als partnerschaftliches Interesse. Die Eigentümerin, die Stadt und auch das Parlament haben Ideen und möchten die Zukunft der sbo mitgestalten. Das Wichtigste ist unser Kerngeschäft als Versorgungsfirma. Die Menschen klatschen zwar nicht jeden Morgen, wenn sie Licht haben, das Wasser bedenkenlos trinken oder warm duschen können. Das sicherzustellen gehört aber zu unseren Hauptaufgaben.
Beat Erne (zeigt auf ein Kreisdiagramm, das die Tätigkeitsfelder der Aare Energie AG abbildet): Das ist für uns der «Kompass». Da ist alles drauf, was wir alles leisten, ohne die einzelnen Punkte zu gewichten. Die Wünsche sind vielfältig. Die einen möchten vielleicht mehr Solarkraft, die andern wünschen sich den Fokus bei der Wasserqualität. Wir müssen versuchen, dies im Gleichgewicht zu behalten. Und wenn wir von der Energiestrategie 2050 sprechen, haben wir viele Aufgaben vor uns: Gas, funktioniert das überhaupt noch? Wie schaut die Wärmeversorgung der Zukunft aus? Vielleicht hätten wir schon früher Antworten suchen müssen. Wir sind jetzt dran. Ich denke nicht, dass wir zu spät kommen.
Andere sagen, Sie hätten schon vor 10 Jahren beginnen müssen. Ein Experte zeichnete eine passende Metapher: Mit den fossilen Energieträgern verhalte es sich wie mit einem Erbe. Wer das Erbe einfach verprasst, ohne es in die Zukunft zu investieren, hat bald nichts mehr davon. Sie haben die Transition miterlebt und sind jetzt in der Geschäftsführerposition. Warum hat sich die a.en auf dem Erbe ausgeruht?
Erne: Wenn man zehn Jahre zurückschaut, haben wir bereits einiges getan. Wir betreiben einen der grössten Wärmeverbünde im Kanton mit Holzpellets, Erdgas und Biogas im Bornfeld und Kleinholz. Wir haben unsere Produkte ökologisiert. Alle Kunden kriegen 100 Prozent erneuerbaren Strom. Und wir liefern standardmässig einen grossen Biogasanteil. Klar, dabei handelt es sich vorwiegend um Zertifikate aus dem Ausland. Auch für Olten Südwest haben wir wärmemässig eine Projektstudie erstellt. Wir haben der Eigentümerschaft eine Offerte machen können, ihr ein Konzept zur Grundwassernutzung mit Wärmepumpen eingereicht. Wenn wir in Olten Südwest einen Wärmeverbund realisieren könnten, würden wir mehr bewirken, als wenn wir in einem bestehenden Quartier dreissig Einfamilienhäuser mit Fernwärme versorgen.
Probst: In der Region haben wir – anders als in Solothurn – keine Kehrichtverbrennungsanlage. Also brauchen wir eine eigene Wärmeerzeugung. Wenn wir in ein bestehendes Quartier gehen, müssen wir erst einen Standort für die Wärmeerzeugung finden und dann beispielsweise für den Bau einer Holzschnitzelheizung Akzeptanz finden. Zudem braucht zunächst niemand die Fernwärme, weil alle bereits ein Heizsystem installiert haben. Da kommt die Frage auf: Investieren wir dort, obwohl niemand anschliesst?
Wegen dieser Unsicherheit argumentierte die a.en in der Vergangenheit jeweils, sie wolle ihr Gasnetz nicht konkurrenzieren. Etwa an der Kirchgasse verzichtete sie darauf, Leerrohre für ein potenzielles Fernwärmenetz zu installieren. Würden Sie Anschlussverpflichtungen befürworten, um Planungssicherheit zu haben?
Probst: Da bin ich sehr skeptisch. Bei bestehenden innerstädtischen Strukturen eine Anschlusspflicht durchzusetzen, würde echte Widerstände auslösen. Das sieht man bei jeder neuen Gesetzgebung. Das kantonale Energiegesetz wurde mit über 70 Prozent abgelehnt. Leider fand auch das CO2-Gesetz keine Mehrheit. Zur Energiestrategie 2050 sagten die Leute vor ein paar Jahren schnell «Ja», weil es noch sehr unkonkret war. Wenn das Benzin mehr kostet oder man zwangsweise eine Heizung ersetzen muss, lehnen die Menschen dies ab.
Erne: An der Kirchgasse ging damals alles sehr schnell. Es gab keine Abklärungen zum Wärmepotenzial (Energieträger für ein Fernwärmenetz, Anm. d. Red.) und zu den Abnehmern. Das ist entscheidend für die Dimension der Rohre, die man in die Strasse legt. Beispielsweise in der Altstadt werden Wärmeverbünde längerfristig kein Thema sein, das ist schweizweit so.
Trotzdem kündigte die a.en letztes Jahr an, sie wolle Fernwärmenetze prüfen. Können Sie hierzu heute mehr sagen?
Erne: Wir sind ein Jahr klüger. Wir haben das gleiche Büro beauftragt, welches für die Stadt Olten die Netto-Null CO2-Strategie bis 2040 plant. Die Untersuchung zeigt verschiedene Szenarien. Der Gasverbrauch wird zurückgehen, damit rechnen wir. Wir haben geprüft, welche Wärmepotenziale in Olten vorhanden sind, und etwas über zehn Gebiete definiert. Rund sechs davon würden sich für Wärmeverbünde eignen. Für innerstädtische Zentralen wären beispielsweise die Umgebung des Sälischulhauses oder der Schützenmatte geeignet. Aber wir reden von einem Zeithorizont von mindestens 10 bis 15 Jahren. Wärmeverbünde werden unsere grosse Herausforderung sein. Wir sind aber überzeugt, dass auch Gas weiterhin eine Rolle spielt.
Probst: Der Verwaltungsrat hat die Strategie noch nicht festgelegt. Aber wir möchten im Bereich der Wärmeverbünde vorwärtsgehen. Damit sie Sinn machen, müssen wir jeweils einen grösseren Ankerkunden haben als Basis. Solche Gebiete suchen wir.
Sehen die Modelle vor, wie die Fernwärmenetze gespiesen würden?
Erne: Pro Gebiet ist dies noch nicht festgelegt. Wahrscheinlich wird es sich um Grundwasser-, Holz- oder Geothermiesysteme handeln. Aarewasser für ein «kaltes Fernwärmenetz» zu verwenden, wäre eher schwierig, weil das Aarewasser im Winter zu kalt ist.
Probst: Abwärme von bestehender Industrie ist kein Thema?
Erne: Wir verfolgen eine Idee mit Lindt & Sprüngli. Aus ihrer Produktion haben sie grosse Mengen an Schalen von Kakaobohnen, die wir allenfalls verwenden könnten. Im Industriequartier bestehen ansonsten aber bereits viele industrieinterne Wärmeversorgungs- und -rückgewinnungssysteme.
Probst: Das ist aus anderen Städten bekannt. Ein aktuelles Beispiel sind die Rheinsalinen, wo die von Swiss Shrimps gewonnene Wärme abgeben wird.
Erne: Olten hat selbst einen kleinen Wärmeverbund im Stadthaus, an welchem die Museen, das Hübelischulhaus und die Raiffeisenbank angeschlossen sind. Die Stadt plant, beim Blockheizkraftwerk vom Gas wegzukommen. Wir haben grosses Interesse daran, diesen Verbund zu übernehmen. Je nachdem bietet sich ein innenstädtisches Fernwärmenetz an. Eine Möglichkeit wäre, Grundwasser aus der Schützi zu verwenden. Die Alternative wäre wohl eine Erdsonde.
Sie überraschen mich. In der politischen Debatte zeigte die a.en bisher wenig Initiative, vom Gas wegzukommen. Die Strategie blieb sehr neblig formuliert. Das klingt nun anders.
Probst: Gas ist trotzdem Teil der Energiestrategie 2050. Rund die Hälfte unseres Gases liefern wir in die Industrie, die für die Produktion hohe Temperaturen benötigt. Da wird es schwierig, das Gas zu ersetzen. Darum sagen wir: Gas ist nicht böse, Gas wird weiter notwendig sein. Wir reden jetzt sogar wieder vom Bau von Gaskraftwerken, um mögliche Stromengpässe zu überbrücken. Wichtig ist, bei Energiefragen die Scheuklappen zu öffnen, um eine 360-Grad-Sicht zu haben. Damit wir alles reinwerfen können und gemeinsam die Energiewende schaffen.
Erne (lächelt): Uns ist das politische Image schon bewusst. Der Spiegel wird uns oft vorgehalten. Mit dem neuen Präsidenten möchten wir auch in der Kommunikation neue Wege beschreiten.
Sie bestreiten aber nicht, dass Erdgas keine langfristige Zukunft hat. Und dass Gas künftig primär für Prozesswärme in der Industrie verwendet wird.
Erne: Dort und beispielsweise im Wärmebereich, wie gesagt etwa in der Altstadt. Oder um in Wärmeverbünden die Spitzen im Winter zu decken. Dort soll es aber ab 2050 erneuerbares Gas sein. Die Gaswirtschaft besteht seit über 100 Jahren. Früher verbrannte man die Kohle, um das übliche Brenngas zu gewinnen, das als Stadtgas bekannt war. Dann fand eine Transformation statt: In den 60er-Jahren kam das Erdgas. Jetzt haben wir 50 Jahre gut mit dem grünen Erdgas-Blatt gelebt. Die Welt hat sich aber weitergedreht und auch die Gaswirtschaft wird sich weiterentwickeln müssen, hin zu den erneuerbaren Gasen.
Wir sind nicht stromautark, aber auch beim Gas haben wir eine Abhängigkeit. Die zuletzt gestiegenen Preise haben gezeigt, dass der Markt unberechenbar werden könnte.
Probst: Die Versorgung war jederzeit gewährleistet. Es waren Marktkräfte, die gespielt haben. Jahrelang gingen die Preise runter, jetzt stiegen sie stark an. Die Lage scheint sich aber bereits wieder etwas zu entspannen. Ohnehin besteht bei allen Energieträgern eine Abhängigkeit.
Ist die Marge durch die gestiegenen Preise kleiner geworden?
Erne: Wir geben den Preis an die Kunden weiter. Die Marge ist unverändert, aber die Konzessionsabgabe an die Stadt und die Aussengemeinden ist prozentual an den Umsatz gekoppelt. Je höher der Gaspreis, desto höher unsere Abgaben und somit umso kleiner unsere Marge. Da wird sich die Stadt freuen.
Probst: Grundsätzlich spüre ich von der Politik eine grosse Zufriedenheit, wie sich die sbo entwickelt haben. Es ist eine Erfolgsgeschichte. Die sbo liefern der Stadt Jahr für Jahr Geld ab. Wir sind ein öffentlich-rechtliches Unternehmen und wollen darum gemeinsam Lösungen finden, um der Klima- und Energiepolitik gerecht zu werden. Insofern ist der Wechsel bei der sbo/a.en mit Beat und mir in gewisser Weise schon ein Neuanfang. Vorher standen andere Arbeiten im Fokus: Nach der Verselbständigung war der Aufbau des Unternehmens im Zentrum, dann die Zusammenführung mit der AVAG (Alpiq Versorgungs AG, Anm. d. Red.) und später die Entflechtung. Jetzt haben wir andere Themen auf dem Tisch.
Die a.en ist eine Erfolgsgeschichte, aber sie verwehrte sich trotz politischem Druck lange, ihre finanzielle Lage transparent darzulegen. Warum haben Sie nicht klar gezeigt: Wir haben genügend Ressourcen, um die Energiewende anzugehen?
Probst: Indem wir die stillen Reserven bei den sbo auflösten, sind wir dem Wunsch nachgekommen. Ja, wir haben dies nicht von uns aus gemacht. Für die Firma hat es nicht nur Vorteile, wenn alle Wettbewerber unsere Zahlen sehen. Aber wir verstehen, dass die Politik wissen will, wie die eigene Firma aufgestellt ist. Auch die Verwaltungsratshonorare haben wir offengelegt. Wir haben nichts zu verstecken.
Erne: Das Eigenkapital ist massiv erhöht worden. Mit 130 Millionen Franken Eigenkapital haben wir einen Selbstfinanzierungsgrad von rund 75 Prozent. Rund 30 Millionen haben wir unter anderem für Marktrisiken zurückgestellt.
Wieso hat die a.en bisher nicht klarer aufgezeigt, dass sie von der Dampflocke auf den TGV umsteigen will und die Energiewende angehen möchte?
Erne: Wenn wir unsere Sichtweise in der Politik einbringen, mag dies klingen, als ob wir komplett gegen die Energiewende wären. Dabei versuchen wir aufzuzeigen: Ja, wir sind auf diesem Weg, aber nicht bis morgen, vielleicht bis überübermorgen. Das Gas kann man nicht einfach abstellen. Darum kommen wir womöglich als bequem oder als ewiggestrig rüber. Für uns ist aber ebenso wichtig, morgens um 2 Uhr in Trimbach oder im Säliquartier auf der Matte zu stehen, wenn der Strom ausfällt oder die Wasserleitung unterbrochen ist.
In der bisherigen Wahrnehmung war die a.en ein Schäflein, das unter dem Diktat des Verbandes der Schweizerischen Gasindustrie (VSG) zu agieren schien. Gegenüber der Politik bauten die sbo eine Abwehrhaltung auf.
Probst: Ich war 23 Jahre im Gemeindeparlament. Lange waren die sbo kein Thema, auch nicht als die Energiewende kam. Parlamentarierinnen haben selten die Gelegenheit, sich direkt mit den sbo auszutauschen. Die sbo sind nur präsent, wenn sie dem Rat die Rechnung vorstellt. Die Parlamentarier wollen aber mit den sbo über alles diskutieren. Hier möchten wir einen neuen Weg gehen und den Dialog verstärken. Den gesamten Stadtrat hatten wir schon zu Besuch. Im Dezember gehen wir vors Parlament. Wir wollen zeigen, wo wir heute stehen und wohin wir wollen.
Erne: Eben ist das 20-jährige Bestehen der a.en und die rechtliche Verselbständigung der sbo verstrichen. Damals ging die Verselbständigung nach kurzer Debatte mit 46:0 über die Bühne, wie den Protokollen zu entnehmen ist. Heute gäbe es dazu ganz andere Debatten und Erwartungen.
In jener Zeit gab die Politik der sbo keinen ökologischen Auftrag, sie machte nur ökonomische Vorgaben. Gerade unter der vorherigen Führung fuhren die sbo eine rigide Gasstrategie.
Erne: Stadtwerke wie die sbo, aber auch jene in Grenchen oder Frauenfeld oder anderswo waren nicht auf Alternativen angewiesen. Ganz im Gegensatz zu den Stromversorgern, die schon immer erneuerbare Wärmelösungen anboten, weil sie in ihrem Portefeuille «nur» Strom hatten (wegen der Gasmarktregulierung, Anm. d. Red.). Das ist wohl mit ein Grund, warum Stadtwerke aus heutiger Sicht im Rückstand sind. Das Mindset der Dekarbonisierung ist ein paar Jahre alt, und dem müssen wir uns jetzt stellen.
Probst: Die grossen Stromversorger gingen in andere Wärmelösungen, weil sie kein Gas hatten. Sie hatten gar keine Alternative. Wenn sie im Wärmegeschäft mitspielen wollten, mussten sie neue Wege finden. Wir hatten nun mal das Gas.
Wie will die a.en den Rückstand aufholen? Hat Olten in 10 bis 15 Jahren ein halbes Dutzend Wärmeverbünde?
Erne: Ohne dem Verwaltungsrat vorzugreifen: Als Grössenordnung dürfte dies in etwa unser Ziel sein. In Bern, Basel und Zürich werden in den nächsten Jahren bis zu einer Milliarde Franken in neue Wärmeverbünde investiert. Wir werden in Olten wohl mit Investitionen im zweistelligen Millionenbereich rechnen müssen.
Probst: Die Wende braucht eine saubere Planung. Wir haben Kunden, die von uns abhängig sind. Gegenüber ihnen müssen wir unsere Verantwortung weiterhin wahrnehmen. Wir werden uns zum Gasnetz jedoch Gedanken machen müssen. Aus der Zielnetzplanung wird hervorgehen, wo das Gasnetz in Zukunft noch Sinn macht. Nur noch dort betreiben wir es auch.
Erne: Das Gasnetz ist gebaut. Wir haben eine gewisse Sanierungspflicht, weshalb wir Leitungen altershalber ersetzen müssen. Für die Zukunft hilft es uns zu wissen: Am Standort X haben wir nach unserer Planung in 20 Jahren keine oder nur noch wenige Kunden. Dann rentiert dieser Strang nicht mehr und er wird langfristig nicht mehr saniert.
Das Netz wird also stillgelegt. Dann müssten sie aber konsequenterweise auch keine Gasheizungen mehr anpreisen.
Erne: Wir weisen noch niemanden ab. Im Neubau gibt’s schon länger nur noch höchst selten Anfragen. Im Sanierungsbereich war der Vorteil von Gas gegenüber Öl lange angesehen. Alleine in der Region Olten werden dadurch jährlich rund 30’000 Tonnen CO2 eingespart. Heute zählt dieses Argument aber nicht mehr. Wenn im Sanierungsbereich jemand eine Öl- durch eine Gasheizung ersetzt, machen wir noch einen Anschluss am bestehenden Netz. Tun wir dies, gehen wir jedoch davon aus, ab 2050 vollständig erneuerbares Gas liefern zu können.
Welche Lebensdauer hat das a.en-Gasnetz noch?
Erne: Im Schnitt sind die Leitungen etwa 30-jährig. Die Abschreibungsdauer beläuft sich auf 60 Jahre, die effektive Nutzungsdauer kann aber deutlich länger sein. Wenige Netze sind älter als 1960, das Gros ist aus den 80er- und 90er-Jahren. Im Niederamt sind die neusten, in Olten eher ältere Leitungen installiert. Die städtische Bauverwaltung zeigte auf: Wenn sie jetzt alle städtischen Gebäude CO2-neutral heizen möchte, würden Anlagewerte vorzeitig vernichtet. Dasselbe Szenario würde auch für unsere Leitungen eintreffen.
Das Szenario, die Abschreibungsdauer nicht zu erreichen, droht also.
Erne: Ja. Wenn wir die Leitungen vorzeitig stilllegen würden, hätten wir als unmittelbare Folge ein weniger gutes Unternehmensergebnis.
Hat die a.en/sbo in den letzten Jahrzehnten genug zur Seite gelegt, um die Investitionen in neue Wärmeträger angehen zu können?
Erne: Wir dürfen nicht vorsorglich Geld anlegen, um es später investieren zu können. Nur für Marktrisiken sind Rückstellungen möglich.
Probst: Das Eigenkapital ist der Gradmesser für mögliche Fremdfinanzierungen. Da sind wir ausgezeichnet aufgestellt. Aber es ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch der personellen Ressourcen und Kompetenzen. Im Bereich der Wärmeversorgung werden wir diese weiter ausbauen müssen. Zudem werden wir uns überlegen müssen, was wir selbst angehen und wo wir Partnerinnen suchen. Mit der Dekarbonisierung geht uns die Arbeit auf alle Fälle nicht aus. Und ja, vielleicht hätten wir früher beginnen können.
Erne: Heute besteht die Erwartungshaltung, man müsse vom Gas weg. Wenn wir das Gasnetz bis 2050 stilllegen, wissen wir aber nicht, ob dann jemand sagt: «Die damalige Führung der Städtischen Betriebe hat das Netz zu schnell stillgelegt, heute bräuchten wir es.» Ob sich bis dann Wasserstoff oder ein anderer Energieträger durchgesetzt hat, wissen wir nicht …
Probst: Wichtig ist, dass wir uns ohne Scheuklappen bewegen und offen für Neues bleiben. Auch die Politik weiss nicht immer genau, was kommt.
Aber die Energiewende ist eng begleitet von der Wissenschaft. Die Abstimmungsresultate in der Stadt Olten sprechen eine klare Sprache: Eine deutliche Mehrheit will die Energiewende und stimmte etwa fürs CO2-Gesetz.
Probst: Da habe ich mich sehr gefreut. Aber wir sollten uns nicht auf etwas versteifen. Es braucht Zeit, ein breiter Mix an Energieträgern und Infrastrukturen. Die Herausforderung ist dermassen gross.
“Boxer? Did you go on the Riesenrad this summer? It was special this year.”
“Charles, heights do not interest me. Nor do depths. Only in the figurative sense do they appeal to one’s appreciation of contrast.”
“That was an elegant way of saying you’re scared of heights.”
“As you wish.”
“So, you don’t see yourself as a Seiltänzer, a high-wire acrobat, like the Great Lorenzo?”
“What? Who is the Great – uh – Lasagne?”
“Lorenzo. The Great Lorenzo. Haven’t you heard of him? He’s a touring acrobat. And he’s coming to Olten. Look over there!” We were passing Café Ring, and I pointed to St Martin’s church, the unofficial Oltner Dom, our very own cathedral.
“Yes, Charles. Martinskirche. So?”
“The Great Lorenzo is going to climb up one of the towers, cross over on a tight-rope or high wire he will install to the other tower, and then climb down.”
“I assume he has papal approval? Or at least the local OK.”
“It’s all set! It will be in a month’s time. And it’s free to watch. There is usually a collection after the performance. He’s been doing this in many Swiss cities.”
“And there has never been any trouble?”
“Only in Basel. The Great Lorenzo was scheduled to perform at the Münster – between the Georg and the Martin towers. But then there was that business with the escaped basilisk, so the event had to be cancelled.”
“Ah, yes. The basilisk! A fabulous creature. Have you ever seen one, Charles?”
“Not in the flesh. But they won’t bother us here. Something to do with the fog filtration system keeps them away.”
“Yes, of course. A month from now, you say? That should give me enough time to investigate.”
“Investigate what, Boxer?”
“Why, the church towers, of course. I would like to know more about them.”
“You mean like how tall they are, that sort of thing?”
“Yes. And their names. Their load-bearing capacity. Just a few intimate details.”
* * * *
The big day finally arrived. The square in front of the church was crowded, with wiser observers standing farther away to get a better view. Ringstrasse had been closed to traffic as had all the surrounding streets with vantage points to the two towers. Only Ziegelfeldstrasse was kept open. All windows which afforded a view were jammed with onlookers.
The posters advertising the event told people to expect the action to begin at 11.30, and right on time, a deathly pale, skinny young man dressed in white started working his way through the crowds of bankers, farmers, shoppers, children young and old, all curious to see some excitement in Olten. Even the various street gangs were there, walking around as if unable to focus their attention on the wire stretched between the towers. Boxer and I stood above the crowd on the balcony of a furniture shop across the square.
The Great Lorenzo wore heavy gloves to protect his hands during the climb. His shoes seemed specially designed for high-wire movement. Around his waist was a rope with a clamp at the end to attach to the high wire, for safety reasons, obviously. And around his neck hung a heavy-looking leather pouch. His silver-white hair hung loose and long, down past his shoulders.
Then he disappeared into the church vestibule. As the great clock struck 11.45, the Great Lorenzo popped out of the window above the clock dial, waved, and began his miraculous ascent of the sloped tower up to the globe just below the cross. The climb took him only five minutes!
After a quick clamp onto the high wire, he waved again and began his slow crossing to the other tower. It seemed to take forever, as each second stretched to a minute, each centimetre stretched to what seemed like a metre. He had no pole to balance himself, yet he remained steady – and very slow!
As the crowd all gazed upward, the great bell began to strike the hour of 12.00, and then – it appeared as if the Great Lorenzo, now in the exact centre of the space between the towers, had slipped! The noise of the bell had broken his concentration. What was happening?
Yes, he had slipped, but only as a joke, it seemed, for the Great Lorenzo took the leather pouch from around his neck and opened it, releasing a rain of golden coins upon the crowd. He had timed it all to perfection! As the crowd applauded, some scrambled for the coins, whilst others, previously unnoticed, so well had they blended in, moved quickly amongst the onlookers.
“Boxer! Look! Down there! What on earth is happening? Those people! Who are they?”
“Which people? Mine or Lorenzo’s?”
“What? What the devil do you mean? Boxer! Explain yourself!”
“Have you ever been to Prague, Charles?”
“No. Why? Why Prague?”
“There is a marvellous astronomical clock in the church square, with many moving figures and actions. At mid-day a great crowd gathers to watch, and thieves come to pick the pockets of the distracted onlookers.”
“You mean that the Great Lorenzo is just a fraud?”
“Oh, hardly! He is a very talented young acrobat, as you have just seen. His grandfather was Lazlo Shunt, the legendary Leuconian writer.”
“Leuconian? Who — ?”
“Those inconspicuous, nearly invisible pickpockets are all Leuconians. And they ARE nearly invisible, so delicate and colourless is their complexion. They seem to fade in, blend, in, like camouflage. Indeed, it is even difficult to find Leuconia on a map. They use their invisibility to their advantage. Usually.”
“And what about those down there that you call ‘your people’?”
“My street friends. I told them what to expect and to prevent what they could. Some of the crowd are undercover police, as well. The Leuconians will not get away with it this time. Not in Olten.”
“You’ve really turned your street friends into — “
“No, Charles. I have done nothing more than shown them how to use their innate sense of goodness and kindness in order to help and to serve others in the wider community.”
“Boxer, you are an inspiration. What will happen to the pickpockets?”
“They are going back to Leuconia with a message of warning. And of hope. Some of my friends will go along to teach them better manners at home and abroad. It is a small step, but that is how lessons are learnt.”
“And how did you learn about the Leuconians, Boxer?”
“Ah! Quite by accident. I was looking up the statistics of Martinskirche, and I read that St Martin is also the patron saint of the fabled land of Leuconia. That side-tracked my research.”
“And what about the church towers? What did you learn?”
“Not a single fact, Charles. The data are as elusive as the Great Lorenzo. He seems to have disappeared, did you notice? Scrambled away, most likely.”
“But facts are still facts, Boxer. You should be able to determine the height of the towers digitally.”
“Why, Charles! How clever you are! I was going to ask you to climb each one and throw a rope down. Then we would measure the rope and — “
“Stop! But what about their names? What are the names of the towers?”
“Are you going to write this incident as one of your stories, Charles?”
“I suppose I should. My readers have been asking for more action. And there was certainly enough of that today.”
“Well, in the absence of any other data, you could name the towers whatever you wish. Gog and Magog. Pantagruel and Gargantua. Castor and Pollux. Cennet and Cehennem. Quasi and Modo. The choices are fantastically endless.”
David Pearce ist ein Schweizer Schriftsteller, wohnt seit 2000 in Olten und hat amerikanische, englische und französische Wurzeln. Er schreibt auf Englisch Kurzgeschichten, Romane und Theaterstücke.
Sie hatte am Telefon angekündigt, was uns erwartet: «Der Eingang ist etwas Boheme, dann kommt die Fata Morgana.» Ein Backsteinbau. Ursprünglich eine Hemdenfabrik aus der ersten Hälfte das 20. Jahrhunderts. Drinnen leuchtet das Tanzstudio in beigen Farben. Wer den Raum betritt, möchte tatsächlich glauben, in eine kleine Traumwelt einzutauchen. Oder in eine Zeitmaschine, die einen in die rauschenden Zwanzigerjahre des Swings versetzt. Kurz: ein Raum, dem eine scheinbar unerschöpfliche Energie innewohnt. Und diese muss sich auf die Hausherrin übertragen haben.
Ursula Berger begrüsst herzhaft, mit ihrem Lachen, das wie ein Freudenjubel durch den Saal hallt. Oltens Grande Dame des Tanzes wirkt nimmermüde. Aber wie sie erzählt, ist die Pandemie auch an ihr nicht spurlos vorbeigezogen. Eben kam sie aus Paris heim, ihrer zweiten Heimat des Herzens. Erstmals seit zwei Jahren kehrte sie an den Ort zurück, der ihr viel Kraft und Inspiration gibt.
Dort habe sie die Aufbruchstimmung gespürt. «Die Künstler haben den Mut, etwas aus dem negativen Erlebnis zu machen», sagt die 71-Jährige. In einer Vorstellung erlebte sie, wie eine Tanzgruppe am Ende des Stücks rausströmte und die Menschen im Saal umarmte. «Alle weinten – alle waren so berührt, dies wieder zu erleben.» Mit dieser Emotion ist sie heimgekehrt. Mit der Kraft, die aufgeschobenen 25. Oltner Tanztage doch noch auf die Bühne zu bringen. Ein Jubiläum, das viel über die Schaffenskraft von Ursula Berger aussagt. Woher diese Kraft? Sie führte uns durch ihre kleine Oltner Fata Morgana und erzählte, wie sie ihre Inspirationsquellen anzapft.
Wie fühlst du dich momentan?
Ich bin sehr inspiriert und beseelt. Ich habe gesehen, dass alle, die sich mit Kunst befassen, Kraft aus dieser Zeit schöpfen. Dass sie nicht aufgeben. Die Energie des Tanzes – das Stück, das ich in Paris erleben durfte, hat mir gezeigt, dass wir mit unseren Gefühlen arbeiten können, ohne dass es zum plumpen Narrativ wird. Ein Flow entsteht, eine Lösung, in der du weitergehen kannst. Deshalb freue mich ich auf die Tanztage. Endlich.
Wenn du auf die Bühne stehen würdest, wie würde die Choreographie aussehen?
Was ich mache, sind Wellen, es ist der Raum. Die Schwerkraft, das Fliegen. Uns verbinden, mit dem, was im Raum ist. Und die Freiheit. Freiheit! Eine Sehnsucht nach Weite, die wir jetzt alle zumindest teilweise wieder erobert haben. (lacht)
Du sagtest, deine physische Inspirationsquelle sind jene Dinge, die du von unterwegs aufnimmst.
Oder wenn ich selbst tanze. Die Kraft des Tanzes ist, was wir aufnehmen und in Energie umwandeln. Wenn die Nachrichten nur negativ sind, versuchen wir, einen anderen Flow zu entwickeln. Daraus entsteht eine Vision, die als Kontext für das Programm der Tanztage steht. Die Frage, was wir eigentlich mit unserem Programm aussagen wollen.
Ist es ein Manko unserer Gesellschaft, dass sie sich zu wenig der Suche nach Inspiration hingibt?
Wir treffen viele Menschen, die sagen, sie verstehen nicht, was wir machen. Für den Tanz musst du Spielfreude haben. Ob als Zuschauerin, als Künstlerin oder Kuratorin. Du musst loslassen können. Im Nichts entwickelt sich etwas Magisches und der Horizont öffnet sich uns. Wir müssen uns erlauben, in den Flow zu kommen. Das ist, wie wenn man sich im Kindergarten den Sinnen hingibt. Oder beim Räuber und Poli auf dem Pausenplatz. Nicht immer alles mit den beiden Hirnhälften analysieren zu wollen, braucht Überwindung. Dass wir mit dem Ohr, dem Auge, dem Rücken wahrnehmen – als ganzes Wesen.
Und Scheitern gehört dazu.
Wenn’s mal nicht gefällt, so what?! Menschen, die sagen: «Das war ja schrecklich!», erzählen noch in zehn Jahren davon. In einer Zeit, die von Negativschlagzeilen geprägt ist, spüre ich, dass die Menschen weniger experimentierfreudig sind. Die Produktion muss nur noch schön sein. Die Sehnsucht nach Berieselung finde ich anstrengend. Wir versuchen darum, die Spielfreude zu kitzeln. Momentan befasse ich mich mit Wolken. Ein Künstlerkollege aus Paris hat mir ein Leporello gemacht, eine Art Anleitung, um Wolken zu bauen. Ich bin drauflos gestürzt und habe gedacht: Das ist, was ich mache. Natürlich ist eine Ratio dahinter. Aber zuerst kommt die kreative Phase. Wenn wir es kuratieren, bauen wir einen Kontext, für den wir die Hirnhälften aktivieren. Wichtig ist, zuerst die Kontrolle aufzugeben.
Der zeitgenössische Tanz nimmt die ständige Veränderung, die neuen Strömungen auf. Wo steht er aktuell?
Das Problem der Gesellschaft ist, dass wir immer zuerst ein Bild oder einen Text verinnerlichen wollen. Das ist gefährlich. Alles, was wir machen, ist der Veränderung ausgesetzt. Darum ist das, was der Choreograph in Paris umsetzte, indem er die Menschen mit Maske sich umarmen liess, eigentlich ein gefährlich kitschiges Element. Aber es war so grossartig gemacht, dass es nicht peinlich war. So wird eine Produktion zu Kunst.
Was machte es so grossartig?
Die Tänzer kamen aus allen Türen auf sämtlichen Stockwerken. Es hätte auch beschämend sein können. Corona ist ja fast zum Tabu geworden. Wenn du diesen Akt als Kunstwerk behaupten kannst, hast du es geschafft. Viele versagen dabei. Die Tanzschaffenden spüren nach der grossen Lücke eine enorme Kreationskraft. Auf einmal kommt zu viel. Im Moment entsteht fast ein Stau. Wir müssen zusehen, dass ein Flow entsteht, auch wenn die Hektik bleibt.
Kommen nun die Roaring Twenties?
Es wäre schön, wenn jedes Mal noch fünfzig Menschen vor der Schützi Schlange stehen. Meine Sehnsucht ist, dass wir uns wieder mehr anfassen können ohne Angst. Dass wir dabei nicht jedes Mal ein Sterillium-Bad nehmen müssen. Ich bin ein taktiler Mensch. Im Tanz arbeiten wir gerne mit Berührung – mit Körperkontakt. Wir fliegen, fallen und erobern mit der Tanztechnik neue Körperräume.
Wann ermüdet dich die Suche nach Inspiration?
Wenn ich Angst spüre. Die Existenzangst, die Angst vor Corona. Die Regeln. In Amerika musste ich oft hören: «It’s not the rule, lady.» Wir brauchen ja Regeln, aber Verbote, die von Angst genährt sind, manipulieren uns. Das bremst mich.
Wo findest du Ruhepausen, schöpfst du neue Kraft?
Das kann ein Bad sein. Es kann das Zusammensein mit der Familie oder Freunden sein. Oder wenn ich vierzehn Tage für mich alleine nach Paris reisen kann. Ich benötige ab und zu Einsamkeit, aber kann diese auch in einer Stadt finden. Die Eindrücke als Mensch aufnehmen zu können, ist für mich wie ein Biotop. Alleine Aufführungen anschauen gehen oder im Café Menschen beobachten, das inspiriert mich.
Seit über vierzig Jahren bist du im Tanz tätig. Warum gehen dir die Ideen nicht aus?
Improvisation. Ich glaube, den zeitgenössischen Geist verinnerlicht zu haben. «Never stop moving» – einfach weitertanzen – weiterbewegen und im Fluss bleiben. Solange ich mich mit dem Tanz auseinandersetze, bleibe ich dran. Was war vorher, was jetzt, was könnte kommen? Was ist die Herausforderung in der heutigen Zeit?
Warum veränderst du dich weniger schnell?
Ich versuche, täglich zu trainieren. Am besten geht es mir, wenn ich jeden Tag tanze. Am besten den ganzen Tag. (lacht) Was mich fasziniert – du kannst nach Indien gehen oder wohin du willst: Je mehr wir in einer hybriden Welt leben, desto wichtiger ist der Körper und seine Ausdruckskraft. Desto mehr treffen wir uns auf dieser Ebene. Du spürst, wenn jemand auch körperlich kommunizieren kann.
Im Tanz drückst du deine Emotion aus. Wie intim ist der Tanz für dich?
Er bleibt eine Kunstform, wie etwa die Malerei. Das Verständnis, was «intim» ist, hat sich seit den 1920er- oder 30er-Jahren verändert. Im zeitgenössischen Tanz ist die Bewegung in der Wirbelsäule zentral. Zur Kunst wird es, wenn du dich der Frage stellst, wie du eine Botschaft umsetzen kannst. Da kommt der Intellekt, die Ratio ins Spiel, welches zu einem wundersamen, entdeckungsreichen Ganzen verwebt und interpretiert wird.
Sind dein Körper und Geist abgesehen von den Alterserscheinungen über die vierzig Jahre gleich fit geblieben?
Neulich habe ich mich erstmals an der Hüfte leicht verletzt. Trotzdem funktioniert mein Körper noch ganz gut. Das hat damit zu tun, dass wir versuchen, beim Tanz die Wirbelsäule so beweglich zu lassen, als wären wir Kleinkinder geblieben. Das ist sehr gesund und macht den Körper geschmeidig, weil es nicht mit falscher Kraft geschieht.
Und der Geist?
Mein Geist ist quirlig, offen und schnell geblieben. Manchmal fast zu schnell, dann muss ich mir selbst einreden, das Tempo zu drosseln. Mit dem Tanz bleibst du wach. Wenn ich Tanzstunden nehme, ist mein Jahrgang nicht ersichtlich. Hoffentlich.
Wie hat sich dein Blick für Ästhetik verändert?
Schönheit ist für mich nicht Schönheit. Ich sehe als Schönheit zum Beispiel die Durchlässigkeit der Wirbelsäule und des ganzen Körpers. Tanzstücke sind nicht immer schön. Aber mit performativem Blick kann ich in der Hässlichkeit was Schönes sehen. Die Tänzerinnen bringen mit ihrem Körper Unausgesprochenes, Emotionen und abstrakte Denkprozesse zum Ausdruck. Als Kunstform.
Wie eine Büchse der Pandora ist die Oltner Industrie. Hinter jeder Tür kann sich eine Überraschung auftun. Grau und seelenlos wirken die Gebäude von aussen. Wer sich reinbegibt, findet vielerorts das Leben vor. Die berühmte Industrie war schon immer vielmehr als jener Strassenstrich, der Olten einst schweizweit in die Schlagzeilen brachte. Tür an Tür mit Brockenstube und Industriegebäude haben die Karatekas und Judokas an der Haslistrasse ihren «Ort des Weges», wie sich das «Dojo» aus dem Japanischen übersetzen lässt. In der japanischen Kultur ist das Dojo der Trainingsraum der Kampfkünste.
Simo Ilic, weiches Gesicht, runde Stimme mit Berner Einschlag, erzählt, wie es dazu kam, dass er mit seinem Karateklub vor einem Jahr in der Oltner Industrie eine Schule eröffnete. «Ich habe die Karte geöffnet und geschaut, wo es Sinn macht», sagt der 29-Jährige. Ein Entscheid mit einer grossen Portion Kalkül also. In der Region hat er nämlich kaum Konkurrenz. Vor mehreren Jahren schon zerfiel die letzte Oltner Karateschule. Die nächste grosse Schule ist in Aarau daheim. Zwischen Aare-Stauwehr und Eisenbahn verfolgt Simo Ilic mit seinem Team mit einer Disziplin, die an die japanische Kultur mahnt, seine Ziele. Mit seiner Karateschule zu wachsen und die Sportart weiterzuvermitteln, hat er sich zur Lebensaufgabe gemacht.
Der Erfolg treibt ihn an. In Balsthal führt er seit 2008 eine Karateschule, die heute achtzig Mitglieder zählt. Die Grösse ist umso überraschender, als dass im Ballungszentrum der Region Thal gleich mehrere Vereine japanische Kampfsportarten betreiben. Neben einem Judoklub ist ein zweiter Karateverein angesiedelt. «Es wäre schöner, wenn ich alleine wäre in Balsthal», sagt Simo. Aber er respektiert den anderen Verein, der ebenfalls schon viele Jahre am Platz Balsthal aktiv ist.
Während seine Schülerinnen einen Karateschlag angeleitet durch Trainer Sandro Tartaglia immer und immer wieder ausführen, erzählt Simo seine persönliche Geschichte.
8 Jahre …
… alt war Simo, als sein aus Serbien stammender Vater ihn in die Karateschule mitnahm. Mit harter Hand führte er seinen Sohn an den japanischen Kampfsport heran. «Ich durfte keinen Gedanken daran verschwenden, aufhören zu wollen», sagt Simo. «Mein Vater sagte mir: ‹Solange du unter achtzehn Jahre alt bist, machst du Karate.›» Als Bub versuchte er mehrmals, das Training sausen zu lassen, und vergass absichtlich mal die Tasche daheim. «Mein Vater kehrte zurück nach Hause und packte sie für mich.» Heute ist er ihm für seine harte Linie dankbar. «Ich will nicht wissen, wo ich gelandet wäre, wenn er nicht so zu mir gewesen wäre.»
Das Dojo war für Simo wortwörtlich der Ort, der ihm den Weg vorgab. Einen Weg, den er heute konsequent weitervermittelt. «Meine Philosophie ist in erster Linie, die Jugend weg von den Zigaretten, Drogen und dem Alkohol zu bringen und dass sie nicht hobbylos auf der Strasse sind», sagt er. Er selbst sei noch nie betrunken gewesen und habe nicht das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Das nüchterne Leben kriegte er daheim von klein auf mit.
Im Dojo verlangt er den vollen Fokus. «Du lernst, komplett runterzufahren. Wenn du durch die Tür kommst, lässt du alles draussen, begibst dich in eine kleine Welt. Nachher gehst du zurück in die reale Welt.»
10 Meistergrade …
… kennt der Karatesport. Wer in der sieben Farben umfassenden Gürtelhierarchie beim schwarzen Gürtel angelangt ist, hat noch lange nicht den Zenit erreicht. Zehn Prüfungen kennt der Karatesport allein auf der letzten Gürtelstufe. Doch eigentlich sei der zehnte Dan, wie die Meistergrade auf Japanisch heissen, in der Karatekultur zu Lebzeiten unerreichbar, erklärt Simo. In der japanischen Tradition erreichten die grossen Meister den neunten Dan und wenn sie starben, legte man den zehnten als Ehrengurt auf das Grab. «Für mich ist der Gurt im Kopf oben», sagt Simo, der sich an der Kommerzialisierung und dem Bruch mit der alten Kultur stört. Heute würden die hohen Dan zum Teil für viel Geld vergeben. Weder die Farbe noch der Grad des Gurtes sage etwas über die Reife eines Karate-Do-Kämpfers aus.
Simo selbst hat seit 2012 keine Prüfung mehr abgelegt und trägt momentan den zweiten Dan. Nicht die Gurte, sondern seine eigenen Schüler sind heute sein grösster Antrieb, wie er sagt. «Sie spornen mich an, besser zu werden.» Wettkämpfe möchte er noch bestreiten, bis er 35 Jahre alt ist. Aber die Balance zwischen dem Dasein als Trainer und dem eigenen Wettkampf zu finden, sei schwierig. Sein grösster Traum: einen eigenen Schüler an Olympia zu begleiten.
Mit 16 …
… gründete Simo seine eigene Schule. «Wenn du etwas erreichen willst, dauert es.» Ein Satz, der für sich allein sagt, wie sehr der Karatesport sein Leben prägt und ihn gelehrt hat, beharrlich zu bleiben. Als Teenager verbrachte er Nächte am Computer, um die eigene Karateschule aufzubauen und zu lernen, was es dazu alles braucht.
80 bis 100 Schülerinnen …
… will er in den nächsten paar Jahren an seiner Karateschule in Olten ausbilden. Gestartet hat er mit deren zehn. «Alles in meinem Leben richtet sich nach dem Training», sagt Simo, der mit seinen jungen 29 Jahren Filialleiter eines Möbelgeschäfts ist. Was er unter Trainingsdisziplin versteht? «Selbst wenn wir heute zu zweit wären, würden wir trainieren.»
In Balsthal lernte Simo, sich durchzubeissen. «Am Anfang habe ich manchmal gezweifelt, als wir nur sieben Schüler waren.» Er zog das Training durch und konnte nach und nach neue Schülerinnen dazugewinnen. Heute hat er sich zum Ziel gesetzt, die Marke von 90 Karatekas an seiner Schule zu erreichen.
2014 …
… erreichte er seinen persönlich grössten Erfolg und gewann den Schweizer Meistertitel. Im gleichen Jahr brachte er vier Schülerinnen in den Final.
2021
In Tokio war Karate erstmals in der Geschichte olympisch. Für Paris ist die Sportart aber bereits wieder aus dem Kalender gestrichen. Karate musste zugunsten von Breakdance weichen. Gemäss den Organisatoren weil die Spiele ein junges, urbanes Publikum ansprechen wollen. Gemäss Simo hat dies aber auch mit der Karatewelt zu tun, die sich nicht einig ist. Es gibt zwei grosse Weltverbände. «Die einen sagen, Karate sei eine Kunst – die anderen wollen Karate als Sport massentauglich machen», erklärt er. Die beiden Verbände müssten sich zunächst einigen, um wieder ins Olympia-Programm aufgenommen zu werden, glaubt Simo.
Ohnehin müsste der Karatesport womöglich den Wettkampfmodus nochmal überdenken. Die Schweizer Hoffnungsträgerin Elena Quirici war nach Olympia in Tränen aufgelöst. Sie mutmasste, ihre Gegnerinnen hätten sich abgesprochen und sie so um eine Medaille gebracht. Der Wettkampf bestand aus einem dreiminütigen Kampf. Erreicht eine Kämpferin einen 8-Punkte-Vorsprung, ist der Kampf vorzeitig zu Ende.
«Die Kampfzeit müsste auf zwei Minuten gesenkt werden, um die Intensität hochzuhalten», sagt Simo. So hätte vermutlich vermieden werden können, was Elena Quirici widerfuhr. Die Schiedsrichter vergeben Punkte je nach Schwierigkeitsgrad eines Schlages. Dabei wird zwischen den drei Stufen Yuko (1 Punkt), Wazari (2) und Ippon (3) unterschieden. Der zweite Bestandteil des Wettbewerbs ist die «Kata». Sie besteht aus einer stilisierten Übungsform gegen einen imaginären Gegner und wird durch eine Fachjury bewertet.
Absolute Körperkontrolle
Während Simo erzählt, zeigt Sandro an einem Schüler einen Mawaschi Geri. Er schwingt das Bein energisch zur Schläfe seines Gegenübers hin und stoppt den Fuss wenige Millimeter neben dessen Wangenknochen. «Mit dem Karate lernst du dich selbst kennen», sagt Simo und meint damit die Körperkontrolle, die minutiös und in stundenlangem Training erlernt sein muss.
Kunst und Sport – für Simo geht beides zusammen. Karate ist für ihn eine umfassende Lebensphilosophie. «Ich brauche keine Vorbilder aus dem Fernsehen. Auch meine Schüler sollen sie sich hier im Dojo suchen», sagt er. «Ronaldo und Messi sind viel zu weit weg, sage ich den Schülern jeweils.» Er selbst bewundert lieber den eigenen Bruder für dessen Kämpferherz. «Ihm ist egal, wer ihm gegenübersteht.»
Immer wieder spricht Simo von seinem Team. Die Idee hinter dem Karatesport will er über das Dojo hinaustragen. «Wir arbeiten nicht nur im Karate, sondern auch im übrigen Leben zusammen», sagt er. Von jedem lerne er etwas für die Hürden im Alltag. Er glaubt an die Kraft der Gruppe. Nicht umsonst will er mit seinem Verein wachsen. Dahinter steht ein grosses Ziel. Er möchte für den eigenen Verein eines Tages ein eigenes Zuhause, ein Dojo haben. Einen Ort des Weges.
«Das Einkaufserlebnis ist infrage gestellt», sagte Hans Ruedi Kern. Seit bald sieben Jahren managt er als Geschäftsführer die Coop-City-Filiale. Über diese Zeit sei das düstere Bild des Kirchensockels ein steter Begleiter gewesen: harter Drogenkonsum, Lärm und Streitereien. Er berichtete von Drogendepots in den Dielen der Restaurant-Toilette, von Diebstählen von Luxusgütern wie Champagner oder Markenschuhen. «Es gibt Menschen, die der Oltner Altstadt fernbleiben und sie nicht mehr besuchen.» Nun seien Lösungen gefragt, forderte Kern. Er wehrte sich aber gegen den Eindruck, das Gewerbe wolle die Randgruppen weghaben. «Die Menschen sind willkommen, aber es braucht einfach Verhaltensregeln», sagte Kern. Der Coop-City-Chef warf die Idee in den Raum, die Stadt solle einen zentralen Platz bestimmen und ihn mit einem Bus oder einem Container ausstatten, um auch einen Unterstand zu bieten.
Die Kirche
Die Christkatholiken als Besitzerin des Sockels haben auf die Situation reagiert. «Was dort vor sich geht, können wir nicht länger tolerieren», sagte Präsidentin Monique Rudolf von Rohr. Wie vom Gewerbe gewünscht, veranlasste die Kirche ein richterliches Verbot. Littering, laute Musik über Ghettoblaster und nicht angeleinte Hunde können künftig mit bis zu 2000 Franken Busse bestraft werden. «Was uns stört, ist, dass unsere Anliegen oft belächelt werden», sagte Rudolf von Rohr. Ein Polizist habe ihr neulich gesagt, die Situation am Kirchensockel entspreche dem Zeitgeist. Ein falscher Schluss, findet die Präsidentin der Kirchgemeinde: «Der Konsum von harten Drogen und Streitereien im öffentlichen Raum dürfen nicht sein.» Monique Rudolf von Rohr wurde nicht müde zu wiederholen: «Wer sich an die Regeln hält, ist willkommen.»
Von links: Hans Ruedi Kern (Geschäftsführer Coop City), Monique Rudolf von Rohr (Präsidentin Christkatholiken Olten), Joël Bur (Leiter SIP), Raphael Schär-Sommer (Stadtrat, Direktion Soziales)
Die Interventionsgruppe SIP
Joël Bur, Leiter der neuen Interventionsgruppe SIP (Sicherheit, Intervention, Prävention) berichtete über die Erfahrungen, seit die Gruppe im Januar dieses Jahres die Arbeit aufnahm. Ihr Ziel sei es, dass alle Nutzungsgruppen aneinander vorbeikommen. Dafür definierte die Stadt gemeinsam mit der SIP vorgängig Schwerpunkte. «Wir haben störendes Verhalten wahrgenommen und dann interveniert oder dies weitergemeldet», sagte er. Am Kirchensockel würden sich viele Menschen aufhalten, es sei viel los und im Schnitt seien ungefähr dreissig Personen da. «Aber es sind wenige, die auffällig sind und ein Verhalten an den Tag legen, das als störend wahrgenommen wird.» Ihr Ziel sei es, diese Menschen rauszupicken und mit ihnen nach Lösungen zu suchen. Seit Anfang Jahr konnte die SIP bisher sieben Menschen zu einer Entzugstherapie begleiten.
Die Politik
Neo-Stadtrat Raphael Schär-Sommer (Grüne) betonte, die SIP sei ein Bindeglied zwischen den repressiven und präventiven Massnahmen. «Es ist nicht nur eine Betreuungsgruppe für die Menschen am Kirchensockel», sagte er. Sie müsse allgemein dafür schauen, dass «unsere Vorstellungen für den öffentlichen Raum eingehalten werden». Prioritär will die Stadt die Problematik der Toiletten angehen. «Die WC laden momentan teilweise geradezu zum Drogenkonsum ein», sagte Schär-Sommer. Was die Situation am Kirchensockel betrifft, da habe die Kantonspolizei im sonnigen Septembermonat die Präsenz erhöht und in dieser Zeit auch drei Wegweisungen ausgesprochen. Die Stadt wolle die Zusammenarbeit mit allen Parteien künftig weiter intensivieren, kündigte er an.
Marcel (am Mikrofon) und Tascha (links) gehören zu den Menschen, die am Kirchensockel verweilen. Am Kolt-Treffen äusserten sie ihre Sichtweise der Dinge.
Die Menschen vom Kirchensockel
Mit Marcel und Tascha waren zwei Menschen anwesend, die regelmässig in der Szene am Kirchensockel anzutreffen sind. «Ich bin seit dreissig Jahren in Olten, es war immer ein Hin und Her um diesen Magnetpunkt», sagte Marcel. Der Kirchensockel aber sei nicht der Umschlagplatz für Drogen. Geringe Mengen an Drogen würden hier gekauft. «Die Menschen auf der Kirchentreppe haben kein Geld. Sie haben alle eine gescheiterte Existenz. Wir sind Gesellschaftsmenschen und wollen uns treffen.» Tascha ergänzte: «Aber wir wollen sicher nicht in einen Container reinsitzen. Der Austausch ist uns wichtig.» Sie würden sich Mühe geben, den Abfall aufzuräumen. «Das macht nicht jeder, schon klar», sagte Tascha. Wenn es zu Schlägereien komme, versuche er zu schlichten, so Marcel. «Manchmal chlöpfts, manchmal nicht. Ich bin auch nicht Jesus.»
Die diskutierten Lösungsansätze
Das Verbot
Zuletzt hatte es vonseiten SVP die politische Forderung gegeben, ein Alkoholverbot am Kirchensockel solle geprüft werden. Die Christkatholiken haben nun ein abgeschwächtes Verbot erwirkt. «Ich finde es einen interessanten Ansatz», sagte Stadtrat Schär-Sommer und gab sich bedeckt. Er bezweifle die Umsetzung, weil die Grenze zwischen Kirchensockel und städtischem Raum fliessend sei. «Was nützen Bussen, wenn jemand ohnehin kein Geld hat, um diese zu bezahlen?», warf Marcel eine rhetorische Frage in den Raum. Und SIP-Chef Joël Bur äusserte sich skeptisch zum Verbot. Dieses verlagere das Problem meist nur. «Wir haben kleine Lösungen erzielt, indem wir einzelnen Menschen eine Hilfestellung geben, die ihre Lebenslage verbessert.»
Mehr Aufenthaltsqualität
Ein belebter städtischer Raum könnte unter Umständen das Zusammenleben fördern. Dies zeigte sich etwa 2016 beim Projekt «Stadtgespräch», als eine Bar am Kirchensockel den Raum belebte. Der Denkmalschutz habe eine Fortführung dieses Pop-up-Projekts verhindert, sagte Kolt-Herausgeber Yves Stuber. Ob die Stadt nicht verstärkt die Aufenthaltsqualität verbessern müsse – beispielsweise mit niederschwelligen Sitzgelegenheiten? «Vielleicht findet hier ein Sinneswandel statt, aber ich kann heute nichts versprechen», sagte Stadtrat Raphael Schär-Sommer. Sitzmöbel gehörten für ihn zum öffentlichen Raum dazu. «Mir ist das lieber als ein Container, so schaffen wir auch eine Durchmischung.»
Ein Weg, den auch Joël Bur unterstützt. Seit es den Menschen gebe, gebe es die Sucht. Daher sei es auch nicht ihr Ziel, die Menschen mit Suchtproblematik aus dem öffentlichen Raum wegzukriegen. «Sie beanspruchen ihn, so wie wir ihn beanspruchen.» Für Coop-City-Geschäftsführer Hans Ruedi Kern ist klar, dass die Stadt den Raum nicht einfach der Öffentlichkeit überlassen darf. «Man muss ihn pflegen, sonst nimmt jeder das, was er will, und wir schauen einfach zu.»
Der Dialog
Aus dem Publikum kam wiederholt das Votum, der Dialog bilde die Basis für eine harmonische Koexistenz. Urs Widmer, selbst SIP-Mitarbeiter und Sozialarbeiter, sprach aus seiner persönlichen Erfahrung und erzählte von einer Studienarbeit zum Thema, für welche er Chur und Langenthal untersuchte. «Repressive Methoden brachten langfristig nicht viel. Nur der Dialog: ein entspanntes Aufeinanderzugehen.» Die Kirche mit diesem wunderbaren Standort sei der perfekte Ort der Begegnung. Und die Kirche habe sich selbst den Auftrag gegeben, auch als solchen zu wirken, sagte er. Eine Stadt werde daran gemessen, wie sie mit Phänomenen wie jenem am Kirchensockel umgeht.
In Bern versuchte die Heiliggeistkirche Ende der 90er-Jahre, die Randständigen von draussen in die Kirche zu holen. Man öffnete die Türen und offerierte eine Suppe. Ein Modell, das auch in Olten denkbar wäre? Monique Rudolf von Rohr winkte ab. Die Kirchgemeinde in Olten habe turbulente Zeiten hinter sich und sei zu sehr mit sich selbst beschäftigt. «Wir sind eine kleine Gemeinde mit Finanzen unter null», sagte sie.
Jörg Dietschi, ein Zürcher, der zufällig an diesem Tag in der Stadt seiner Vorfahren zu Besuch war und zur Debatte kam, appellierte «als überzeugter Christ»: «Gehen Sie nach den christlichen Grundsätzen vor. Es sind wunderbare Menschen, und ich denke immer bei jedem, er könnte ja Christus sein.»
Moderatorin und Organisatorin Finja Basan (stehend) führte durch das Kolt-Treffen.
Ein anderer Besucher erzählte seine persönliche Geschichte. «Ich war einer der Randständigen, aber heute bin ich dank Zufällen erfolgreich im Leben.» Er schilderte, wie er auf dem Stadelhoferplatz in Zürich Teil einer grossen Gruppe gewesen war, die sich täglich traf und den Platz mit einer grossen Zahl an Hunden einnahm. Das habe politisch eine riesige Diskussion ausgelöst. «Dort veränderte sich aus meiner Sicht erst etwas, als man aufeinander zuging.» Der Filialleiter von Mc Donald’s habe ihnen das WC geöffnet und im Gegenzug gefordert, sie sollten ihren Dreck aufnehmen. Und Coop habe ihnen Container-Restwarenabgegeben. «Danach entwickelte sich ein friedliches Zusammensein, auch wenn weiterhin geklaut und gebettelt wurde. Wir schauten, dass Ordnung ist. Der gegenseitige Respekt zählt.»
Für SIP-Leiter Joël Bur ist dies das langfristige Ziel in Olten. «Betroffene zu Beteiligten machen, besonders im Raum, in welchem sie sich aufhalten. Das wünsche ich mir für Olten auch.»
Nach der Diskussion gab’s Glühwein und Strassenmusik auf der Kirchgasse.
Die Verantwortlichkeit
Für das Gewerbe fehlten die klaren Lösungsvorschläge vonseiten der Stadt, wie Dominik Maegli aus dem Publikum unmissverständlich sagte. Er sei enttäuscht von Stadtrat Raphael Schär-Sommer, weil er nach seinem Empfinden konsequent alles schönrede. Schär-Sommer entgegnete, er nehme die Thematik sehr wohl ernst, aber er störe sich an den Generalisierungen. «Es geht um ein paar wenige Menschen, die Probleme verursachen. Wie ich vernommen habe, kamen die Wegweisungen selbst in der Szene gut an.»
Stadtrat Nils Loeffel (Olten jetzt!) schaltete sich ebenfalls ein und versicherte, der Stadtrat diskutiere Lösungen. Was die Belebung der Kirchgasse betrifft, sei er jederzeit bereit, mit Menschen zusammenzusitzen, die gute Projektideen hätten. Er brachte spontan die Idee, eine Arbeitsgruppe mit Vertretern vom Gewerbe zu gründen, die mit den Menschen am Kirchensockel das Gespräch sucht. Hans Ruedi Kern vom Coop City erwiderte, die Idee habe er schon vor einem Jahr gebracht: «Warum fragt man die Menschen nicht?» Geschehen sei seither kaum etwas. Für ihn ist klar: «Die Stadt muss den Lead übernehmen.»
Jedes Stück ist ein Unikat. Jedes hat seine eigene Geschichte. Viele bleiben verborgen. Einige erzählen die Menschen, die sich im Hinterhof von einem gebrauchten Kleidungsstück lösen. Da ist der Mantel, den eine ältere Frau in den Laden brachte. Innen ist er mit «Création Olten» angeschrieben. Ihre Urgrossmutter hatte ihn gekauft. Nun hat sie ihn auf die Reise gegeben. Ihn der Familie von Regina Graber (49) anvertraut.
Ihre Söhne Yannic (28) und Léon Aeschbacher (26) kennen ein paar Geschichten zu den Kleidern, die in ihrem neuen Laden hängen. Klein, aber fein kuratiert auf drei Etagen. Das verwinkelte Lokal im unscheinbaren Hinterhof könnte besser zum Ladenkonzept nicht passen. Die Spuren des ursprünglich angesiedelten Elektrofachgeschäfts sind geblieben und verleihen dem Lokal einen industriellen Charme. Da steht zum Beispiel ein Massivholzgestell, in dem früher Elektro-Ersatzteile verstaut gewesen sein müssen. Heute sind darin gebrauchte Turnschuhe und Birkenstocks zur Schau gestellt.
Wie ein kleines Museum
Im Untergeschoss hängen Fussballtrikots aus früheren Tagen, zeugen von einer Zeit, in der der Kommerz den populärsten Sport der Welt noch nicht komplett vereinnahmt hatte. Die Leibchen schlicht, die Werbung ebenso. Yannic schwärmt. «Gestern hab ich ein 25-jähriges Trikot von Paris verkauft.» Für Liebhaberstücke muss die Käuferin im Hinterhof etwas mehr Geld hinlegen. Aber weniger als auf den gängigen Online-Verkaufsportalen.
Aber Yannic sagt: «Wir haben hier für alle etwas. Auch jene, die weniger Geld haben, sollen bei uns Klamotten zu einem fairen Preis kriegen.» Neulich habe er drei Winterjacken an Flüchtlinge verschenkt, die noch immer in Jeansjacken unterwegs waren, erzählt er. Das Aus des Caritas-Ladens riss eine Lücke für Menschen mit weniger Ressourcen. Dies habe sie bestärkt, ihre Ladenidee in die Stadt zu bringen. Secondhand in einem Lokal, das ist die Antithese zum Onlinekaufwahn, zum Päckliboom, zur Generation Zalando. Anders als viele junge Menschen haben sich die beiden Brüder nie vom Konsumhype anstecken lassen. In einem Elternhaus aufgewachsen, in dem vieles selbst repariert oder umgestaltet wurde, hat ihre Sicht auf den Konsum geprägt. «Wir kauften immer schon secondhand ein», sagt Yannic. Im Laden bietet der Hinterhof zudem einen Reparaturdienst für Textilien und andere Materialien an.
Yannic (28) arbeitet neben dem Hinterhof-Projekt nach wie vor im Oltner Kinderhaus auf seinem angestammten Beruf als Fachmann Betreuer Kind.
Secondhand soll sexy sein
Was in grösseren Schweizer Städten und gerade auch in anderen Ländern schon länger ein Geschäftsmodell ist, gab’s in Olten in dieser Form noch nicht. Die vielen Brockenstuben sind mehrheitlich dezentral und präsentieren die Kleidungsstücke nicht, wie der Hinterhof dies tut. Andere Secondhand-Läden deckten eher ein anderes Segment ab und sind mittlerweile wieder verschwunden. Diese Lücke will die Familie Graber Aeschbacher füllen. «Obwohl ich glaube, dass die Menschen hier zusehends ökologisch eingestellt sind», sagt Yannic. Um Kundschaft anzulocken, will das Hinterhof-Team den verstaubten Ruf der Secondhand-Ware aufpolieren. Zeigen, dass gebrauchte Kleidungsstücke auch sexy sein können. Zuhause waschen sie jedes Kleidungsstück, das ihnen gespendet wurde oder sie zugekauft haben. Yannic weiss: «Viele, die noch nie in einem Secondhandladen waren, sind gehemmt, weil sie denken, bei uns nur ungewaschenes Zeugs zu kriegen.»
Ein bis drei Personen liefern pro Tag im Hinterhof gebrauchte Kleidungsstücke ab. In der Startphase kauft das Familiengeschäft auch Ware aus zweiter Hand zu. Wer seine Stücke nicht umsonst abgeben will, erhält einen Drittel des geschätzten Weiterverkaufspreises. Weil die Familie die Kleider aber vorab bezahlt, birgt dieses Modell für sie ein finanzielles Risiko. Darum sagt Yannic: «Unser grosses Ziel ist, dass Olten und Region uns über Spenden mit Kleidern versorgt.» Gelingt dies, könnten sie umso fairere Preise anbieten. Abgesehen von den Secondhand-Kleidern gibt’s im Laden ein Schauregal, auf dem kleine Kunsthandwerk-Labels eine Plattform erhalten. Wer selbstgefertigte Ware bei ihnen verkaufen möchte, kann einen Platz auf dem Regal mieten. Derzeit arbeitet der Hinterhof beispielsweise mit dem Label TheGreenWolf aus Zürich zusammen, der Mikrogarten-Workshops organisiert.
Dass ein grosses Potenzial für ein Ladenkonzept wie ihres besteht, merkte Regina Graber durch ihr privates Hobby. Mit einer Freundin organisierte sie im eigenen Keller über mehrere Jahre regelmässig Secondhand-Kleiderbörsen im Kleinformat. «Wir haben gemerkt, wie stark das zieht. Es machte wusch und wir hatten vier Kellerräume gefüllt», erzählt sie.
Konsumlust stillen, aber ökologisch
Vor einem Jahr lanciertesie mit ihren Söhnen das Secondhand-Ladenprojekt. Gemeinsam begaben sie sich auf die Suche nach einem geeigneten Lokal. «Wir sagten, lass es uns versuchen. Vielleicht passt der Laden gerade in unsere Lebenssituation.» Alle drei führen trotz neuem Abenteuer ihre anderen Lebensprojekte weiter – der Laden bleibt zumindest vorerst eine Nebenbeschäftigung.
Regina (49) war viele Jahre Präsidentin des Vereins Pro Kultur Olten und ist als Lehrerin tätig.
Nicht ausschliesslich der karitative, auch der ökologische Gedanke ist für ihre Ladenidee zentral. «Wir leben in einem solchen Überfluss, wir alle haben daheim volle Schränke. Eigentlich muss gar nicht viel Neues produziert werden. Indem wir bereits produzierte alte Schätze wiederentdecken, können wir unsere Konsumlust stillen. Alle wollen ein wenig Veränderung in ihrem Leben», sagt Regina. Der Familie Graber Aeschbacher war es wichtig, den Aspekt des Rezyklierens vorzuleben. Deshalb ist auch die Ladeneinrichtung aus zweiter Hand. Sie stammt aus dem ehemaligen Oltner Kleiderladen «Casa Moda», die Kasse ist ein Überbleibsel aus dem Caritas-Laden. «Bis auf den Klebstreifen ist nichts neu hier», scherzt Regina.
Eigentlich hätte die Familie Graber Aeschbacher gerne ein Lokal auf der rechten Aareseite der Stadt gefunden. Alle drei wohnen in dieser Gegend und sie hätten, wie sie sagen, was zum Aufschwung beitragen wollen, der in den letzten Jahren auszumachen sei. Aber die Verhandlungen um das gewünschte Lokal versiebten im Nichts. An freien Ladenlokalen und Gewerbeflächen mangelts in der Kleinstadt bekanntlich nicht. Trotzdem gestaltet sich die Suche nach einem Lokal für ein Start-up-Projekt wie jenes der Familie Graber Aeschbacher als schwierig. Dies merkten sie bei den vielen Besichtigungen und Telefonaten bald.
Panorama der leerstehenden Ladenlokale
«Wir haben unzählige Lokale angeschaut, wussten über alle Mietpreise Bescheid», sagt Regina. Die Reaktionen der Verwaltungen waren vielerorts ähnlich, erzählt Léon. Unter anderem habe er zu hören bekommen: «Was, ich soll mit dem Preis runter?! Ihr macht mir den Laden ja sowieso kaputt.» Die Resonanz sei insgesamt sehr skeptisch gewesen. Beispielsweise bei einem Mietpreis von über 2000 Franken für 75 Quadratmeter hätte er maximal 100 Franken Mietreduktion herausschlagen können. «Dann lassen Sie es lieber leer?», habe er jeweils gefragt. Die Antwort: «Ja, wir lassen es lieber leer.» Vielleicht habe diese Haltung auch damit zu tun, dass die Eigentümer vielmals nicht Oltnerinnen sind und sich deshalb weniger mit dem Ort und den in Olten vorhandenen Ideen identifizieren, vermutet Regina.
Léon (26) machte eine Lehre als Konstrukteur und absolviert nun noch die Schule zum Umwelttechnologen.
Eine weitere grosse Hürde: Oftmals regelt ein Vertrag über fünf Jahre die Mindestmietdauer. Für Regina und ihre beiden Söhne aber war klar, dass sie ihr Ladenkonzept zunächst für ein Jahr ausprobieren wollen. Sie sagt: «Was ich ernüchternd finde: Die Allgemeinheit beklagt, in der Innenstadt gäbe es zu viel Leerstand, der Ladenmix sei schlecht, die Altstadt biete ein Trauerspiel und so weiter. Gleichzeitig geht es doch allen noch zu gut, sonst würde man schneller reagieren, würden die Lokale vereinfacht rausgegeben, um die Stadt mehr zu beleben.»
Hinter der verkehrsbefreiten Kirchgasse, wo das Leben dank Gastronomie stärker als früher pulsiert, fand die Familie Graber Aeschbacher doch noch, was sie suchte. Ein Lokal mit industriellem Charme, einen Einjahresvertrag und eine dialogfreudige Verwaltung. Erleichtert hat sich die Situation auch dadurch, dass sich eine kombinierte Mietlösung ergab. Die Cousine der Aeschbacher-Brüder eröffnet im oberen Teil der Liegenschaft ihr Bauplanungsbüro. «So haben wir neun Monate Zeit, unser Ladenmodell auszuprobieren und wir müssen nicht die ganze Miete tragen.» Sie glauben daran, mit ihrem Laden den Nerv der Zeit zu treffen. Über zwei Besucherinnen freuten sie sich in den Startwochen besonders: Zwei Teenies kamen extra aus dem Gäu, um den Hinterhof aufzusuchen.
Ein verrostetes Eisentor erfüllt seinen Zweck noch als Balustrade am Treppenende. «Es diente als Tür zum Tresor einer Bank», sagt Marielle Studer lachend. Die Treppenstufen führen runter ins Herzstück des KultA. Ein Raum schwarz wie die Nacht. Wie eine Insel ist er umgeben von einer Tiefgarage. Der perfekte Ort, um ungestört zu sein. Für ein Konzert, ein Seminar, eine Ausstellung. Das Schlagzeug auf dem Podest kündigt an, was kommen wird. Eine neue Bühne für die Stadt ist im Untergrund des ehemaligen Camera-Kinos entstanden. Nur noch der leicht schiefe Boden erinnert an ein Kino. Eine Handvoll grosse Löcher oben in der Wand liefern die Antwort, warum der Verein APA sich noch ein paar Wochen gedulden muss, ehe es endlich losgeht. Die Lüftung lässt auf sich warten und muss speziell angefertigt werden. Die weltweiten Lieferengpässe wirken sich auch im KultA-Keller aus.
Die Treppenstufen führen runter ins Herzstück des KultA.
Bald zwei Jahre sind verstrichen, seit ein paar Mitglieder des APA im Coq d’Or beim Bier zu später Stunde mal wieder nach einem Lokal suchten. «Im Coq ist verdammt viel entstanden», sagt Marielle. Sie surften ein wenig im Netz und fanden das ausgeschriebene alte Kino, das zwischenzeitlich eine Freikirche genutzt hatte. Im Frühjahr startete der Verein ein Crowdfunding mit hohem Ziel. 50’000 Franken wollten sie versuchen, von den Menschen da draussen zu kriegen. Am Ende waren es 40’000. Sie hätten nicht erwartet, diese Marke zu erreichen, sagt Lea Hartmann. Die wirklichen Hürden kamen danach. Notausgang und Brandschutzauflagen, Lüftung, Besitzerwechsel. «Wir wussten ja, dass es schwierig ist, ein solches Projekt hochzuziehen. Das ist wohl auch der Grund, warum APA siebzehn Jahre brauchte, um von der Gründung bis hierhin zu gelangen», sagt Lea. «Das Projekt KultA ist organisch gewachsen.»
Das Schlagzeug auf dem Podest kündigt an, was kommen wird.
Was hat euch das Crowdfunding gelehrt?
Lea: Ich werte es als Erfolg, dass uns eine sehr breite Palette an Menschen unterstütze. Hilfe kam von verschiedensten Seiten, so auch von etablierten und engagierten Kulturschaffenden verschiedenster Ecken, wie etwa von den Kabarett-Tagen. Die Reaktion war nicht: Das ist APA, die sehen alle aus wie Punks. Das ist das Schöne an Olten: Weil wir die Leute kennen, sind die Hemmschwellen nicht so hoch wie andernorts. Wenn wir etwa in einer Grossstadt einen solchen Schuppen eröffnen würden, wäre dies vermutlich anders.
Das heisst, ihr bedient nicht einfach ein links-alternatives Klientel.
Lea: Wenn wir Veranstaltungen machen, dann kommen wir nun mal aus dieser Ecke. Das ist kein Geheimnis. Aber «Aktion Platz für alle» meinen wir wörtlich. Wir sind für Vermietungen sehr offen. Das KultA soll davon leben, allen einen Platz zu bieten.
Also kann bei euch der Punk mit dem SVP-Präsidenten pogen.
Lea: Oder der SVP-Präsident kann selbst einen Anlass organisieren. Wenn er eine Houseparty durchführen will, kann er sie hier machen.
Marielle: Wir haben die gleichen Regeln wie alle andern auch. Was unter der Gürtellinie oder respektlos ist, ist nicht willkommen. Das ist auch die Idee des Konzepts. Wir könnten das KultA allein nicht voll auslasten. Es ist ein Hobby von uns und soll dies auch bleiben. Vorher hatten wir den Coq-Keller, jetzt gibt’s den nicht mehr. Das war auch ein ausschlaggebender Punkt für uns. Wir wissen, wie es ist als Verein, der immer auf die Null arbeitet. Der mit Null beginnt, am Abend viel Geld einnimmt und dann wieder sehr viel ausgeben muss, um im Optimalfall am Ende wieder auf der Null zu stehen. Wir wissen, wie wertvoll solche Orte sein können.
Lea: Mit zwanzig Jahren haben einige von uns in der Schützi Reggaekonzerte organisiert. Damals erhielten wir von Geschäftsleiter Oli (Oliver Krieg, die Red.) die Möglichkeit. Er unterstütze uns sehr. Nun wollen wir hier einen solchen Raum bieten und anderen die Chance geben.
Da kommt mir unweigerlich das schöne Wort «niederschwellig» in den Sinn.
(beide lachen) Lea: Ich wollte es extra nicht in den Mund nehmen. Aber ja: Früher, als wir jünger waren, gabs noch mehr Möglichkeiten, etwas Einfaches zu organisieren. Etwa in der Paraiba oder im Vario-Club. Es gibt schon noch Räume, aber weniger für Nacht-Kultur.
Marielle: Raus kam am Ende trotzdem kaum jemand. Man machte es aus Goodwill oder aus Freude und weil es einfach wichtig ist. Es ist halt doch wichtig. Kultur lebt davon.
“Das KultA soll einfach mal zu leben beginnen.” Marielle Studer
Verstehe ich richtig, dass ihr hier ein Stück weit einen Coq-Ersatz bieten wollt?
Lea: Das wollen wir uns nicht anmassen. Das Coq hat ein riesiges Loch gerissen, das wir nicht füllen können. Unser Konzept bedingt, dass die Menschen etwas organisieren und ein gemischtes Publikum anziehen. Damit der Raum möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht wird. Bei uns gibt’s aber nicht immer ein Feierabendbier.
Welche Kadenz an Veranstaltungen schwebt euch vor?
Lea: Das ist noch sehr schwer zu kalkulieren.
Marielle: Wir bezahlen Miete und sie muss Ende Monat gedeckt sein. (lacht) Ideen sind verdammt viele da. Aber dann kommt die Realität, und vieles bleibt unerfüllt. Aber – ja, wir haben sogar einen Businessplan gemacht – am Ende müssen wir darauf vertrauen.
Lea: Darin haben wir Annahmen gemacht. Letztlich müssen wir schauen, was sich aus dem organischen Wachstum ergibt. Unsere Hoffnung wäre, dass sich auch regelmässige Vermietungen, wie beispielsweise für einen Tanzkurs, ergeben.
Marielle: Unsere Preisliste umfasst vom Kulturanlass über den Businessevent bis hin zur Ausstellung oder zum Kurs alles. Das KultA soll einfach mal zu leben beginnen.
Ihr habt vom Loch gesprochen, welches das Coq riss. Mit der Paraiba ging ein anderes Lokal für alternative Kultur schon vor der Pandemie zu. Wie kommt Olten aus diesem Vakuum?
Lea: Einen Beitrag zu leisten, ist unser Ziel. Indem wir machen, was uns gefällt.
Lea: Bei uns musst du dich nicht um die Lichttechnik oder die Tonanlage kümmern, weil alles da sein wird. Das ist bei kleinen Räumen oft ein Manko.
“Eigentlich ist Olten schon eine verdammt schöne Stadt.” Lea Hartmann
Ihr wollt für alle offen sein. Das ist einfacher gesagt als getan.
Marielle: Wir haben schon viele Anfragen. Es hat echt weh getan, wegen den Verzögerungen vielen absagen zu müssen. Wir wollen einfach endlich mal loslegen. Die Ideen gehen uns nicht aus. An diesem Projekt sind wir gewachsen. Jetzt muss Olten daran wachsen.
Ihr lebt die Macherkultur – das Projekt lebt von eurer Eigeninitiative. Soll Kultur eurer Ansicht nach so entstehen, oder bräuchte es mehr städtische Unterstützung?
Marielle: Was ich in Olten schwierig finde: Es ist eine Stadt, die ihr Nachtleben hat und es gibt Menschen, die hier leben …
… die Lärmdiskussion …
Marielle: Ja! Olten ist so eine kleine Stadt, eigentlich ein grosses Dorf. Interessenskonflikte prallen immer wieder aufeinander. Du investierst so viel Energie, um sowas auf die Beine zu stellen, und irgendwann musst du dir überlegen: Will ich dies noch? Vorausschauend lässt sich einiges abfedern. Wir haben uns auch überlegt, wer hier wohnt. Das Kloster hat dicke Mauern. Auf die übrige Nachbarschaft gingen wir proaktiv zu, was das Verhältnis stärkt.
Lea: Für ein Konzertlokal braucht’s schon Idealismus und viel Herzblut. Darum sag ich, dass unser Projekt über Jahre gereift ist. Und wir wissen nicht, ob wir in zehn Jahren noch hier sind.
Marielle: Ich möchte hier noch meine Beerdigung feiern. (beide lachen)
Lea: Mein Vater auch, er hat schon angekündigt, hier seine Abdankung feiern zu wollen.
Aber Kultur gehört für euch in die Stadt, nicht in die Peripherie.
Marielle: Gegenfrage: Was ist Kultur? Alles, was von Menschenhand erschaffen ist. Alles, was wir machen, ist Kultur. Sie gehört nicht an einen spezifischen Ort. Kultur bringt Menschen zusammen und soll für alle zugänglich sein. Wir haben uns auch überlegt, in die Industrie zu gehen. Aber wir finden, wir gehen mit dem öV in den Ausgang, weil wir auch gerne mal eins trinken. Darum ist es gut, alles in Gehdistanz zu haben.
Lea: Wir haben mit der Familie begonnen, in Schweizer Kleinstädten Ferien zu machen. Wir waren in Brugg und Stein am Rhein. Das hat mich veranlasst, Olten mit Touristenaugen anzuschauen. Eigentlich ist’s schon eine verdammt schöne Stadt. Was das Leben betrifft, hat sich schon etwas entwickelt. Mir gefallen jene Kleinstädte, wo das Leben pulsiert. Darum sollte man, auch wenn es manchmal mühsam ist, nicht einfach sagen: Jetzt machen wir nichts.
Marielle: Dieses Jahr hätten wir Grund genug dazu gehabt, aufzuhören. Weil es uns manchmal zu blöd wurde. Doch am Ende sagten wir: Wir lassen uns doch nicht von unserer Idee, von unserem Baby, unserem Träumli abbringen. Wer so denkt, überlebt ein wenig länger, aber es braucht Kraft und Energie. Mein Mami hat immer gesagt: «Fang im Chliine a.»
Wir lesen von den globalen Lieferketten, die gestört sind. Ein Freund erzählt, dass sie im Geschäft plötzlich 40 Prozent mehr für Aluminium-Teilchen bezahlen müssen. Der Lieferant verkauft zudem nur die zehnfache Menge und will innerhalb von zwei Stunden Bescheid wissen. Geschichten wie diese hören wir momentan tagtäglich. Die Nachfrage ist hoch – beim Angebot holpert’s. Die Grenzen der Globalisierung werden in unserem Alltag ersichtlich. Wie gehen die lokalen Handwerkerinnen, die Logistikbetriebe und Gärtner mit den Engpässen um? Vertrauen sie weiterhin auf den Weltmarkt wie etwa die Jura in Niederbuchsiten? Wie gelingt es, neue Lieferantinnen zu finden?
Ausflugstipp für die Herbstferien gefällig? Lust auf mediterrane Stimmung? Unsere Kollegen vom Oltner Tagblatt wissen, wo sie zu finden ist. Nämlich in unmittelbarer Nachbarschaft. Die Reise muss nicht in die Toskana gehen, auch das Niederamt hat lauschige Plätzchen.
Quelle: Oltner Tagblatt vom 25. September
Dennoch: Auch wenn nun gerade dieses Bild es nicht erahnen lässt, ist es doch so, dass das Mediterrane näher zu uns rückt. Neulich las ich, die Schweizer Bevölkerung entwickle zunehmend einen mediterranen Charakter, sie sei weniger verschlossen. Das mediterrane Lebensbedürfnis geht womöglich mit dem Klimawandel einher. Schon 2017 schrieb die NZZ: «Die Sommer in der Schweiz werden mediterraner.» Und 20 Minuten schrieb im gleichen Jahr, der mediterrane Lebensstil bringe die Städte an ihre Grenzen. Weil alle wollen raus.
Flanieren ist das Gebot der Stunde
Auch in Olten ist die Mediterranisierung – das Wort gibt’s tatsächlich – in vollem Gang. Daran hat auch das Regenjahr 2021 nichts geändert. Stadt im Fluss und am Fluss. Das Regierungsprogramm des Oltner Stadtrats spricht für sich. Wenn im Sommer das Barometer die 25-Grad-Marke übersteigt, wird die Aare zum Schauplatz einer Parade. Wie Stecknadelnköpfe ziehen die Menschen im Wasser flussabwärts.
Olten will an die Aare. Will noch mehr Piazze, noch mehr Grünraum. Corona hat dieses Bedürfnis zusätzlich gestärkt, schreibt der Stadtrat in seinem Regierungsprogramm. Er geht mit der Zeit, mit einer Mehrheit der Volksvertreterinnen im Parlament. Auch im räumlichen Leitbild ist der mediterrane Kurs vorgegeben. Den Munzingerplatz wollen die Parlamentarier von den Autoparkplätzen befreien. Einen Teil der Schützi zum Park machen. Den Ländiweg zur Strandpromenade. Olten am Mittelmeer.
Aber ganz so lau wird die Mittelmeerbrise nicht sein, die dem Stadtrat auf den neu geschaffenen Oltner Piazzen entgegenweht. Mit den beiden neu gewählten Nils Loeffel und Raphael Schär rückte er nochmals nach links – Benvenuto Savoldelli ist als einziger Bürgerlicher geblieben. Im Parlament aber bleibt eine Pattsituation bestehen. Die Ratsmitte und -rechte machten gleich in der ersten Sachsitzung klar, dass sie die Rolle der Opposition gerne einnimmt. Nachdem der neue Stadtpräsident Thomas Marbet den Umfang des Regierungsprogramms im Vergleich zu den zwei vorherigen hervorstrich, um dann gleich selbst zu entgegnen, dass die Quantität nicht massgebend sei – aber eben, 20 Seiten – kamen die ersten harschen Töne.
«Das Regierungsprogramm ist aus unserer Sicht sehr einseitig, es hat gewisse Ansätze eines Parteiprogramms», sagte Marc Winistörfer (SVP). Für ihn war ebenso wie für die FDP klar, dass die wirtschaftlichen Aspekte im Programm zu kurz kämen. «Olten hat mehr Arbeitsplätze als Einwohner, ein Phänomen das nicht so häufig vorkommt in der Schweiz. Arbeitsplätze als Teil der Wohnqualität unserer Stadt, sind zu wenig gewichtet», sagte Nico Zila (FDP). Darauf entgegnete Daniel Kissling (Olten jetzt!): «Wer glaubt, dass die Wirtschaft für sich selbst wirtschaftet, hat nicht viel von unserer Gesellschaft verstanden. Eine attraktive Stadt bringt Arbeitsplätze, führt zu Konsum, zu neuen Ideen und neuen Investitionen.»
Nach Logik der Linken heisst dies: Das mediterrane Olten wird die Wirtschaft ankurbeln. Die bessere Lebensqualität wird Menschen anziehen und die Steuereinnahmen stärken. Bloss linke Träumereien? «Als wir träumten» ist im Regierungsprogramm des Stadtrats Programm, angelehnt an die Leuchtschrift, die im Rahmen der Kunstausstellung entlang der Aare an der Alten Holzbrücke hing. Der Stadtrat habe sich sehr viel vorgenommen, empfand Thomas Kellerhals (CVP). «Wir hoffen nicht, dass es nur Träumereien sind.»
Die harte Realität
Der mediterrane Lebenswandel hat seinen Preis, wie die im Bau stehende Aarepromenade am Ländiweg veranschaulicht. Im Juni letzten Jahres hatte sich im Parlament gezeigt, zu welchem Grad die Legislative doch auch die Macht hat, etwas zu bewirken. Eine linke Mehrheit bestehend aus SP / Junge SP, Grüne und Olten jetzt! fand, die Stadt solle den Ländiweg gleich im Zuge der Strassenarbeiten des Kantons attraktiveren. Es war ein so unschweizerischer (man könnte sagen mit südländischem Temperament) gefällter Entscheid. Ohne ein ausgearbeitetes Projekt als Grundlage zu haben, sprach das Parlament drei Millionen Franken, die sich bloss auf eine Schätzung stützten. Denn das Projekt war zunächst für 2026 anberaumt gewesen. Ein Jahr nach der Kreditvergabe haben die Bauarbeiten nun, – oh Wunder – zu Tage gebracht, dass zusätzliche Kosten anfallen.
Salamitaktik!
Das Parlament musste im September über den Nachtragskredit von knapp 900’000 Franken befinden. Das Projekt erreicht somit nahezu die 4-Millionen-Marke, die eine Volksabstimmung bedingt hätte. Gefundenes Fressen für die Bürgerlichen, die Linke zu bezichtigen, dem Vetorecht des Volkes bewusst ausgewichen zu sein. Denny Sonderegger (FDP) brachte die Salamitaktik wieder auf den Tisch: Die Kredite würden in Scheiben zerstückelt, um den Urnengang zu umgehen.
Damit der Metaphern nicht genug. «Jetzt haben wir den Salat. Und zwar ein bunt gemischter. Mit ein wenig Gurken von den Grünen, Tomaten der Linken, Spitzkohl von Olten jetzt! und einer Prise Salz der Baukommission», benannte Sonderegger die Schuldigen fürs Ländiweg-Schlamassel. Heinz Eng (FDP) appellierte an das «Gewissen der politischen Verantwortung» und mahnte, dass Kostensteigerungen wie diese in der Privatwirtschaft harte Konsequenzen hätten. Auch Christian Ginsig (GLP) warnte, die Steuerlast solle nicht unnötig erhöht werden. «Ohne Not, nur wegen Ungeduld hat das Parlament potenzielle Fördergelder von über einer Million Franken verspielt», sagte Thomas Fürst (FDP) und meinte damit mögliche Unterstützungsgelder aus dem Agglomerationstopf.
Daniel Kissling sah stellvertretend für die Linke kein Politversagen vorliegen, wie dies die Bürgerlichen heraufbeschwören täten. Die Debatte widerspiegele vielmehr die Mentalität in der Kleinstadt, fand er. «Olten ist unglaublich gut darin, Sachen nicht fertig zu machen», habe ihm ein Bekannter einmal gesagt. «Ich wünsche mir, dass wir dies künftig anders machen.» Die grosse Mehrheit im Parlament sah im Fall vom Ländiweg von einer Blockade ab und gab den Nachtragskredit frei.
Während der Ländiweg noch im Bau ist, macht das Parlament bereits Druck, ein nächstes städtebauliches Projekt umzusetzen. Der Munzingerplatz soll nicht mehr einfach ein Parkplatz sein, sondern eine Piazza für die Menschen der Stadt. Die Forderung ist nicht neu: 2011 hatte das Stimmvolk eine Vorlage abgelehnt, in der die Parkplätze über ein unterirdisches Parkhaus kompensiert worden wären. Die Plätze will der Stadtrat auch diesmal kompensieren. Wo, liess er aber noch offen. Für die Bürgerlichen Grund genug, dem Vorstoss zu misstrauen und ihn als «gewerbefeindlich» zu taxieren, wie es Philipp Ruf (SVP) ausdrückte. Und Simone Sager stellte für die FDP klar, der Munzingerplatz stünde für sie nur zur Debatte, wenn ein unterirdisches Parkhaus wieder aufgewärmt werde. «Erst sollten wir die Kirchgasse nutzen, bevor der nächste Platz beansprucht wird». Allein: Mit dieser Haltung sind die Bürgerlichen im Parlament derzeit in der Minderheit. Erst recht, wenn die Mitte sich der Linken anschliesst.
An Ideen mangelts nicht
Nach der ersten Parlamentssitzung zeichnet sich ab, dass die drei progressiv-linken Parteien im Parlament den Ton angeben – und die konservativ-bürgerlichen zusehends in die Opposition gedrängt werden, obwohl die FDP die stärkste Kraft ist. Die gute Nachricht: Die ausgemachten zwei Blöcke scheinen weniger starr als in der letzten Legislatur. Die Debattenkultur war in der ersten Sitzung überaus lebendig – von rechts bis links sind neue starke Redner und Sprecherinnen im Parlament vertreten. Der junge, linksdominierte Stadtrat wird mit den beiden gemässigten SP-Vertretern in der Balance bleiben. Trotzdem: Mit Referenden wird auch in der neuen Legislatur zu rechnen sein. Ob das Stimmvolk dann die Meinung der Exekutive und Legislative stützt, wird sich weisen.
Dem neuen Parlament geht die Arbeit nicht aus. Die Traktandenliste verkommt zur Makulatur: 27 Vorstösse waren im September drauf. Von vornherein war illusorisch, dass alle behandelt werden können. Die FDP kündigte an, «kreative Mitglieder der FDP-Fraktion» würden mit Gleichgesinnten aus anderen Parteien Ideen aushecken, wie der Vorstossflut begegnet werden könne.
Blick in den Rückspiegel: Wohnliches Olten anno 1976
Heute hätten wir gern einen guten Ladenmix in der Stadt, obwohl viele Menschen nicht mehr in der Stadt einkaufen. Ein Paradox. Wir sehnen uns nach Leben, nach Begegnung in der Stadt. Die einen glauben, die Parkplätze würden dem Gewerbe die Existenz sichern. Die andern glauben, grüne Plätze und Alleen brächten Menschen und kurbelten den Konsum an. Das war schon damals nicht anders, als das Schweizer Fernsehen 1976 nach Olten kam und die Menschen fragte, wohin Olten sich entwickeln soll. Eine autofreie Altstadt, mehr Parkplätze wünschten sich die Passanten damals. Was unter einer lebendigen Stadt zu verstehen ist, war dazumal anders definiert. Die Sprecherstimme sagt: «Das Leben in den Gassen und Häusern aber hat sich verändert, im Lauf der Jahre. Restaurants wurden geschlossen, immer mehr Wohnungen werden zu Geschäftsraum umgewandelt. Dagegen wehrt sich die Gruppe Wohnliches Olten. Sie möchte verhindern, dass die Altstadt noch mehr zum Einkaufszentrum wird.»
Und zum Schluss noch dies …
Bald noch mehr Kakaoregen in der Stadt Olten? Eine defekte Lüftung sorgte vor einem Jahr weltweit für Schlagzeilen. Nun baut Lindt & Sprüngli den Standort in der Oltner Industrie neben den Bahngeleisen nochmals kräftig aus und investiert bis 2024 rund 74 Millionen Franken in seine Produktionsstätten. Hier deckt das Unternehmen seinen Bedarf an Kakaomasse für Europa. Die Kapazität wird verdoppelt, wie die Konzernleitung mitteilte. Ob somit auch der Kakaoduft, der die Stadt bei Nordwindlage und Nebel einhüllt, bald doppelt so intensiv wird?
Ostanatolien, das ist so etwas wie der Wilde Osten der Türkei. Fast 2000 Kilometer von der belebten Mittelmeerküste und der Metropole Istanbul entfernt, ist es die bevölkerungsärmste und wirtschaftlich schwächste Region des Landes.
Die politische Lage und Geschichte dieser Gegend stehen in seltsamem Gegensatz zu ihrer Geografie: Karg und schroff trotzen baumlose Hügel und steppenartige, unendlich scheinende Flächen den unwirtlichen klimatischen Bedingungen. Die Sommer sind heiss und trocken, die Winter bitterkalt und schneereich, der Wind ganzjährlich bissig in Ostanatolien. Ausser spärlichem Gras wächst hier so gut wie nichts, und Böen verzerren und verschleppen die Gebetsrufe der Muezzins von den Minaretten hinaus in endlose Weiten.
Kein Ort, an dem man sich niederlassen will, könnte man meinen. Keiner, um den es sich zu kämpfen lohnt.
Doch die Geschichte zeigt ein anderes Bild: Ostanatolien war und ist ein Schauplatz politischer Unruhen. Die Region war bis ins 19. Jahrhundert zu einem grossen Teil von Armenier*innen, aber auch von kurdischen und türkischen Menschen bevölkert und lange Zeit Teil des osmanischen Reiches. Mit dessen graduellem Zerfall beging die osmanische Regierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts das, was in Armenien als «Aghet» (armenisch: Katastrophe) bezeichnet wird und was in die Geschichte eingegangen ist als Völkermord an den Armenier*innen. Seit 1923 ist die Region offiziell Teil des in dieser Zeit gegründeten Nationalstaats Türkei. Armenier*innen leben heute kaum mehr hier, und der Streit um die Anerkennung der Geschehnisse als Völkermord belastet die Beziehung zwischen den beiden Staaten bis heute. Die türkisch-armenische Grenze jenseits des Bergs Ararat bleibt dauerhaft geschlossen.
Ruhe ist trotzdem nicht eingekehrt in den schroffen Hochebenen. Die Region ist heute mehrheitlich von Kurd*innen bewohnt, von denen manche die Gegend als Teil eines unabhängigen Kurdistans sehen möchten. Doch auch die kurdische Bevölkerung bekommt von der türkischen Regierung nicht, was sie will. Das führt zu immer wieder aufflammenden Konflikten, Armeepräsenz, Checkpoints an den Strassen. Hinzu kommt schliesslich die Grenznähe zu den Konfliktherden Irak und Syrien. Auch die bringt, zumindest im Süden, eher mehr Panzer als Stabilität mit sich.
Kurz: Es ist offensichtlich ein Ort, um den es sich zu kämpfen lohnt.
Über all dem thront seit Jahrtausenden ein einzelner Berg, majestätisch und scheinbar gleichmütig ob der vielen Konflikte: der ruhende Vulkan Ararat. Über 5000 Meter hoch, ragt er kegelförmig aus kargen Hügeln empor, der Gipfel abgeflacht und ganzjährig schneebedeckt – im Spätsommer ein weisses Leuchten inmitten brauner Steppe. Man kann und will ihn nicht übersehen.
Kühe, die nichts von ihrer Aussicht wissen
Am Fusse des Ararats, dort, wo er in seiner ganzen Pracht erscheint, steht die Eydin Süt Farm. Eine Ansammlung schmuckloser Gebäude und moderner Landmaschinen im östlichsten Zipfel der Türkei. In der Nähe liegt die Kleinstadt Doğubeyazıt, sowohl von der armenischen als auch von der iranischen Grenze nur einige Dutzend Kilometer entfernt. Nur ein klein wenig weiter östlich treibt die türkische Regierung gerade den Bau einer Grenzmauer voran, um weitere Fluchtbewegungen aus Afghanistan abzuhalten. Und hier, auf der Eydin Süt Farm, tummeln sich 300 österreichische Milchkühe der Rasse Holstein, liefern im Schnitt täglich 25 Liter Milch und bekommen von all den Wirren nichts mit.
Ja, die österreichischen Kühe bekommen im Allgemeinen sehr wenig mit von der Region, in der sie sich befinden. Nicht einmal von den Dingen, über die Kühe normalerweise Bescheid wissen, wie etwa Wiesen, nachbarschaftliche Kühe oder Wasserquellen. Denn die Eydin Süt Farm ist, um die Tiere vor Krankheiten zu schützen, mit soliden Mauern umgrenzt. Wer durch das eiserne Eingangstor der Farm fährt, muss die Autoräder in einem eigens angefertigten Becken desinfizieren. Und die Kühe wiederum sind hinter stabilen Gattern eingepfercht. Prächtig sehen sie aus, wie sie da in Laufställen liegen, stehen und wiederkäuen, mit ihren prallen Eutern, den braun-weissen Zeichnungen auf dem Fell, der kräftigen Statur.
Wie um Himmels Willen sind sie hier gelandet?
«Mit dem Lastwagen!», sagt Yasin Biçer, Manager der Eydin Süt, in seinem Büro auf der Farm. Auf dem Schreibtisch ist sein Name kunstvoll in eine Holzplakette eingraviert. Ansonsten ist der Raum so schnörkellos wie der Rest des Betriebs: weisses Licht, schlichte Stühle, helle Bodenplatten und in der Ecke ein Flipchart. «Grosse Viehtransporter haben insgesamt 300 Kühe aus Österreich hierhergebracht. 30 Stück pro Fahrzeug, und die Fahrt dauerte mehrere Tage», erklärt der Tierarzt, der 2014 aus seiner Heimat in der Nähe von Ankara in den fernen Osten gezogen ist, um sich fortan um die Farm und ihre Milchkühe zu kümmern. Die Stelle als Manager der Eydin Süt hat er angetreten, weil ihn die hochwertigen Standards der Farm bezüglich Hygiene, Infrastruktur und (natürlich) der Rasse der Kühe überzeugten. «Der Betrieb ist nach europäischen Standards zertifiziert und ist offiziell disease-free», so Yasin, der früher in einem Schlachtbetrieb der grössten türkischen Lebensmittelkette tätig gewesen war. So romantisch das auch wäre, aber eine emotionale Bindung zu den Tieren ist es nicht, die ihn in den wilden Osten gelockt hat. Trotzdem nahm er es den Vorzügen der Eydin Süt wegen auf sich, mit seiner Familie eine zweitägige Autofahrt entfernt wegzuziehen. In eine Region, die die meisten Menschen aus dem türkischen Westen nur aus Filmen kennen.
Kühe als Investition in die Heimat
«Vor allem in den ersten drei Jahren habe ich sehr viel gearbeitet. Zu Beginn war die Farm ein Chaos», erinnert er sich. Yasins Rolle ist dabei im wahrsten Sinne des Wortes die eines Managers, und nicht etwa die eines Bauern. Mit den Kühen hat er sehr viel weniger zu tun als mit der Leitung der Mitarbeitenden. Er führt täglich unzählige Telefonate, knüpft neue Geschäftskontakte oder begleicht Rechnungen.
Nun ist Yasin zwar der Manager der Eydin Süt, und er war es auch, der die edlen Holstein-Tiere in Österreich erstanden hat – einige davon auf einer Auktion ersteigert, wie er stolz erzählt – Besitzer und Gründer ist er aber nicht.
Die Idee, auf einigen Hektaren dürren ostanatolischen Bodens eine industrielle Milchproduktion mit Hochleistungskühen zu etablieren, kam von jemand anderem. Das Kapital dazu auch.
Yasin erklärt: «Mein Boss hat viel Geld, und ihre Familie denkt anders als die meisten hier. Es sind progressive Menschen, die sich Gedanken machen zur Entwicklung dieser Region.» Sein Boss, das ist Banu Konyar, und diese Region ist ihre Heimat. Heute lebt Konyar in Istanbul, wo sie an der Universität als Professorin für Kunstgeschichte lehrt. 2014 beschloss sie, die Eydin Süt Farm zu gründen und damit die Wirtschaft in ihrer Herkunftsregion anzukurbeln.
Warum wählt eine Professorin für Kunstgeschichte gerade Milchkühe?
Die Idee mit der Farm sei aus dem Gedanken entstanden, den Status der Region als historisches Viehzuchtzentrum wiederzubeleben. «In Ostanatolien gibt es die ersten Spuren von Tierhaltung in der Menschheitsgeschichte», sagt Yasin.
Und wenn schon, dann richtig, muss sich Frau Konyar gedacht und Yasin als Experten nach Österreich entsandt haben. Von der prähistorischen Viehhaltung zu den Holstein-Kühen am Ararat – da haben wir’s. Das ist die Geschichte der Eydin Süt.
Yasin rückt den ledernen Sessel zurecht, von dem aus er das Geschehen auf der Farm per Kameraübertragung auf einem Bildschirm verfolgen kann, und nippt an seinem Schwarztee. Er leckt den winzigen Löffel ab, mit dem er zwei Würfel Zucker im Tee aufgelöst hat, und erzählt weiter.
Heute ist die Eydin Süt die grösste Farm in der ganzen Osttürkei, und die einzige, die mit europäisch-standardisierten Zertifikaten ausgestattet ist. Ein Blick über die stacheldrahtgesäumten Mauern der Farm lässt erahnen, dass die Konkurrenz nicht allzu gross ist: Einige Hirten treiben dort im Abendlicht ihre Kuh-, Schaf- und Ziegenherden gemächlich über spärlich bewachsene Ebenen. Viele Kilometer legen sie so täglich zurück. Land hat es genug hier, nur die saftigen Wiesen fehlen, die die Rinder fett machen würden. «Nur mit unseren Zertifikaten dürfen wir Milch in den Einzelhandel bringen», erklärt Yasin, «ohne disease-free-Garantie darf man nicht legal an Supermärkte verkaufen.»
Kühe, die Arbeitsplätze schaffen
Elf Vollzeit-Mitarbeitende beschäftigt die Farm, um täglich drei Tonnen Frischmilch und seit kurzem auch Joghurt zu produzieren. Alle Angestellten kommen aus der Umgebung, manche aus der direkten Nachbarschaft. So etwa die Köchin Zehra, die für die ganze Crew täglich zwei warme Mahlzeiten hinzaubert und auch mal für ein regelrechtes Bankett einspringt, wenn wichtige Gäste kommen. Und Yasin hat häufig wichtige Gäste. Er hat sich in seinen Jahren im Osten ein breites Netzwerk in der Region aufgebaut und hat neben Tierärzten auch mal ranghohe Armeeoffiziere oder gar den Gouverneur von Doğubeyazıt zu Besuch. «Unsere Grillfeste sind legendär», sagt Yasin bei einem Mittagessen. «Nimm noch ein Stück Fleisch, du brauchst Vitamine», sagt Zehra und serviert Nachschub.
Die zierliche Frau bewegt sich flink und rasch, spült Berge schmutzigen Geschirrs, während auf dem Herd schon die nächste Mahlzeit köchelt. Nur die regelmässige Lust auf eine Zigarette bringt sie dazu, sich manchmal auf einen Plastikstuhl zu setzen und einen Moment innezuhalten. Die tiefen Lachfalten neben ihren grossen, wachen Augen deuten auf ein arbeitsames und freudvolles Leben hin. «So ist es», erzählt sie, «Ich bin als 16-Jährige mit meinem Mann durchgebrannt. Heute sind wir 32 Jahre verheiratet. Unser Leben war nicht immer einfach, aber bei Allah, ich liebe diesen Mann so sehr.»
Derweilen tauschen zwei Stallarbeiter nebenan ihre Gummistiefel gegen Badeschlappen, waschen sich die Hände, giessen Tee auf, setzen sich dazu und rauchen mit. Das abendliche Melken steht noch an, danach ist Feierabend. Dann werden sie durch eine Desinfektionslösung und das eiserne Eingangstor der Eydin Süt nach Hause spazieren, ins Dorf direkt neben der Farm. Yasin mit Frau und Tochter und eine Mitarbeiterin, die aus einer ferneren Stadt kommt, sind die einzigen, die auf der Farm wohnen. Yasin versucht seit Jahren, dem trostlosen Stück Land mehr Charme einzuhauchen, es zu einem richtigen Zuhause zu machen. Er hat zu diesem Zweck etwa unzählige Bäume und Blumen gepflanzt, die er gewissenhaft wässert, oder eine Schaukel und einen hölzernen Unterstand mit Esstisch gebaut. Dort sitzt er gerade und telefoniert mit zwei Smartphones. Die Stallarbeiter erzählen währenddessen von ihrem Tag. Es ist heute ein neues Kalb geboren, und einige weitere Kühe sind hochschwanger.
Ja, wie eigentlich, wenn doch nur Kühe aus Österreich angeliefert wurden?
Gelächter. Die Frage war naiv. Das Sperma wird, so ist das üblich in der Milchwirtschaft, aus dem Katalog bestellt, die Kühe werden künstlich befruchtet. Der Holstein-Stier kann bleiben, wo er hingehört. Zehra bringt eine nächste Runde Tee. Am Ararat glüht rot das letzte Abendlicht.
Wenn wir nachts in den Sternenhimmel schauen, blicken wir hinaus in einen Raum, der unsere Vorstellungskraft sprengt. Nicht aber jene von Kathrin Altwegg. Sie scheint da draussen, wo es dunkel ist, daheim zu sein. Auch wenn sie noch nie dort oben war. Über ein halbes Leben lang hat sie sich mit dem Universum beschäftigt.
Eingepfercht zwischen Bahngleisen und Länggass-Quartier liegt das «ExWi», wie die Studentinnen den Kubus nennen, in welchem die exakten Wissenschaften gepriesen werden. «Es war ein guter Sommer für die Wissenschaft», sagt Kathrin Altwegg und lacht, als sie mit festem Schritt durch die labyrinthartigen Gänge marschiert. Wobei an Jahreszeiten hier unten in den dunklen Vorlesungssälen sowieso nicht zu denken ist.
Wer in der Schweiz über die Weiten unseres Universums forschen will, läuft früher oder später durch die langen Gänge des Physikalischen Instituts in Bern. Das war auch bei Kathrin Altwegg so. Nicht der Kindheitstraum Astronautin führte sie in die Weltraumforschung. Vielmehr der Zufall. So erzählt sie. Ein Archäologiestudium hätte es werden sollen. Aber die Naturwissenschaft hatte sie am Gymer in Solothurn fasziniert. Notabene, obwohl sie im Schwerpunkt die alten Sprachen belegte. Sie ging zum Berufsberater und der riet ihr, Chemie zu studieren, weil da noch ein paar andere Frauen seien. «Für mich war Chemie ein wenig wie Kochen», sagt Kathrin Altwegg. Also schrieb sie sich an der Universität Basel für Physik ein. Und war die einzige Frau.
Ein Entscheid, der sie unbewusst zur Vorkämpferin für Frauenrechte und zur Frauenförderin machte. Vielleicht beschritt sie unbeirrt ihren Weg, weil schon die Eltern daheim die Geschlechtergleichheit vorlebten. Gemeinsam führte das Ehepaar von Burg eine Landpraxis in der Klus in Balsthal, die bereits der Vater von seinem Vater geerbt hatte. Viel später, als seine Tochter schon zum Weltraum forschte, vertraute er ihr an: «Weisst du, ich wäre auch gerne Physiker geworden.»
Die Arztpraxis der von Burgs lag direkt gegenüber den industriellen Werken der Von Roll. Altweggs Grossvater hatte den Standort strategisch gewählt, in einer Zeit, in der es den Ärzten schlecht ging. In der Von Roll kam es ab und an zu Unfällen, womit die Praxis Klienten auf sicher hatte.
Nicht der Himmel, die Natur prägte Kathrin Altweggs Kindheit in diesem engen Tal, welches das Tor zum Jura öffnete. Direkt hinter ihrem Elternhaus ragte die kantige Fluh mit dichtem Wald empor. Mit ihren Geschwistern kletterte sie am Kalkgestein und entdeckte Karsthöhlen. Vater war oft im Militär, weshalb Mutter die Praxis mit kleiner Klinik oft allein führte. «Etliche Balsthaler kamen bei uns auf die Welt», erzählt Kathrin Altwegg. Hinzu kamen Sprechstunden, in Herbetswil in der Bauernstube, in Welschenrohr in der Beiz. Für Krankenbesuche auf den Thaler Höfen stieg sie im Winter mit den Skiern hoch. Marianne von Burg wurde 1973, zwei Jahre nach Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts, auf Anhieb in den Solothurner Kantonsrat gewählt. Neun Jahre später war sie die erste Kantonsratspräsidentin.
Rauschen wie in einem Raumschiff
Den Namen von Burg hätte Kathrin Altwegg gerne behalten, doch das Eherecht liess dies noch nicht zu, als sie heiratete. Nun habe sie sich «an das alte Weggli gewöhnt», sagt sie lachend, als wir den Laborraum betreten. Eine grosse Kapsel erinnert an ein Modell einer Raumsonde, ist aber in Wirklichkeit ein Weltraum im Kleinformat. Rohrgestänge, in Alu verpackte Deckel und eine Plastikhülle umgeben die runde Kapsel, in welcher die Physiker die Bedingungen im Weltraum simulieren. Dort drinnen testen sie Instrumente, die später im Orbit bestehen müssen.
Neben dem Weltraum-Simulator steht ein vier Meter langes Gerät mit langen Armen. «Das ist unser Komet», sagt Kathrin Altwegg. Der Apparat erlaubt es, die zu erwartenden Gase rund um den Kometen zu simulieren und so die Instrumente auf ihre Belastbarkeit zu testen. Die Technik wird im Labor über Jahre hinweg geprüft. Wenn die Raumsonde am Tag X ein paar Millionen Kilometer entfernt ist, müssen die Messgeräte funktionieren und Daten liefern, welche die Wissenschaftler auf der Erde entschlüsseln können.
Kathrin Altwegg und ihr Team vor der Rakete im Jahr 2003, beim letzten Test vor dem Start. Quelle: zvg
Unzählige Stunden hat Kathrin Altwegg an den Testgeräten verbracht, um ihr Lebenswerk fürs Weltall fit zu machen. Mit der Uni Bern war sie als Projektleiterin an der Rosetta-Mission beteiligt. Einem wegweisenden Weltraum-Forschungsprojekt, das auf den Kometen mit dem Kosenamen «Chury» führte. Die Aufgabe der Uni Bern war es, herauszufinden, welche Materien in der Atmosphäre des Kometen vorhanden sind. Als die Rakete 2004 in Französisch-Guayana abhob, stand sie den Tränen nahe. Nach einem zehn Jahre dauernden Flug gelangte die Rosetta-Raumsonde 2014 zum Kometen und konnte ihn während zwei Jahren auf der Sonnenumlaufbahn begleiten. Über zwei Millionen Datensätze sandten die Berner Messgeräte in dieser Zeit zur Erde. Niemand kennt sich in diesem Wald an Daten besser aus als Kathrin Altwegg. Auch wenn sie als emeritierte Professorin mittlerweile in Pension ist, forscht sie weiter. Auf der Suche nach neuen Molekülen und Atomen, die erklären könnten, woher wir kommen.
Das Beweisstück zur Mondlandung
«Ich sage jeweils, ich war Birchermüesli-Professorin», sagt sie. Sie hatte auf eine vollwertige Professur verzichtet und war assoziierte Professorin geblieben. Doch wie scheinbar alles in ihrem Leben war auch dies ein selbstbestimmter Entscheid: «Ich hatte festgestellt, dass Nicht-ganz-100-Professoren das spannendere Leben haben.» Für die Forschung brannte sie und so blieb ihr mehr Zeit dafür.
Unmittelbar nach dem Start der Rakete am 2. März 2004 feiert Kathrin Altwegg mit Hans Balsiger, einem ihrer grossen Förderer. Quelle: zvg
Über Umwege war Kathrin Altwegg nach Bern gekommen. Nach einem zweijährigen Postdoc in der Festkörper-Physik in New York beabsichtigte sie wie ihr Ehemann, auch er Physiker, in der Privatwirtschaft eine Stelle anzutreten. «Ich wollte etwas Sinnvolles tun, ein Telefon erfinden oder so …» Doch als Frau fand sie in der Industrie keine Stelle. In der akademischen Welt hingegen schon. Der renommierte Astrophysiker Johannes Geiss stellte sie ein.
Ihr Förderer war schon bei der ersten Mondlandung dabei gewesen. «Darum haben wir den Beweis bei uns im Labor, dass die Mondlandung stattgefunden hat», sagt Kathrin Altwegg, als sie wieder in den Flur hinaustritt. Im gelblichen Licht leuchten grosse Mond-Poster an den Wänden. Irgendwo im «ExWi» lagert noch ein Stück Alufolie, auf dem die Wissenschaftler nach der Rückkehr der Astronauten Teile der Sonne nachweisen konnten. «Weil der Mond im Gegensatz zur Erde weder ein Magnetfeld noch eine Atmosphäre hat, gelangen die Teilchen der Sonne über den sogenannten Sonnenwind direkt auf den Mond», gibt Altwegg eine kleine Physik-Stunde.
Erst Halley, dann Chury
Die Laufbahn der heute 69-Jährigen begann in den 80er-Jahren mit der Kometen-Mission «Halley», welche die Europäische Weltraumorganisation (ESA) durchführte. Halley ist ein aussergewöhnlicher Komet, weil er sich nicht in der Ebene der Planeten und erst noch rückwärts bewegt. Einen Kometen wie diesen zu begleiten, hätte viel mehr Energie gebraucht, da die Rakete nicht die Geschwindigkeit der Erde um die Sonne (107’226 km/h) mitnehmen kann. Deshalb bestand die Mission daraus, Halley zu treffen, während er die Laufbahn der Planeten (Ekliptik) durchbrach. «Wir hatten etwa zwei Stunden Zeit, um zu messen», erzählt Altwegg. «Es war ein sehr aktiver Komet, der ausgegast hat wie verrückt.»
Der Anfang ihrer Karriere: Abreise von Bern nach Kourou, im Jahr 1985 mit den Berner Instrumenten (IMS=Ionenmassenspektrometer) im Gepäck. Quelle: zvg
Halley hatte erste Antworten geliefert, woraus Kometen bestehen. Aber auch neue Rätsel mitgegeben. Auf «Chury» wollte die Wissenschaft die neuen Rätsel entschlüsseln. Kathrin Altwegg führt uns quer durchs Gebäude, bis wir in einem anderen Labor stehen. Auf einem Tisch leuchtet ein Gerät, das aus einem Science-Fiction-Film sein könnte. Es ist das Flugmodell des Massenspektrometers der Chury-Mission. Eines der drei Instrumente, welches die Uni Bern zum Kometen Chury schickte. «Der Zwilling ist oben auf dem Kometen», sagt Altwegg. Das Ersatzmodell sei meist noch ein wenig präziser und werde zuletzt gebaut, erklärt sie. Das Instrument nahm in der Atmosphäre von Chury die Teilchen auf, als die Raumsonde sich bis auf zwei Kilometer dem Kometen nähern konnte. Anhand der Geschwindigkeit der Teilchen kann die Masse errechnet werden. «Es ist wie bei uns, die Dicken können nicht so schnell rennen wie die Dünnen.» Wasser hat die Masse 18, CO2 die Masse 44. «Das Prinzip ist einfach», sagt Altwegg. Nur schickte der Computer auf dem Kometen keine ausformulierten Testresultate, sondern bloss Einsen und Nullen. Das Zwillingsgerät hilft Kathrin Altwegg bis heute, die Resultate zu entschlüsseln. Die Rätsel gehen ihr nicht aus.
Du willst wissen, was Kometen über unser Leben verraten, warum unsere Erde ein komischer Planet ist und was Kathrin Altwegg zu Gott sagt: Hier geht’s zum grossen Interview.
Sie begannen in den 80er-Jahren mit der Weltraumforschung und waren Teil der Halley-Mission. Ein aussergewöhnlicher Komet. Was war für Sie die interessanteste Erkenntnis?
Zu jener Zeit wussten wir nicht einmal, ob ein Komet einen Kern hat. War er innen bloss eine Wolke oder war er fest? Wir hatten das Gefühl, ein Komet besteht aus Wasser und Staub. So waren wir erstaunt darüber, was wir vorfanden. Als Erstes merkten wir, dass das Wasser viel mehr schweren Wasserstoff beinhaltet. Im Wasser auf der Erde ist pro 10’000 Teilchen eines schwer, das schmecken Sie nicht. Bei Halley sind es dreimal mehr. Damit eliminierten wir die Theorie, dass das Wasser auf der Erde von Kometen stammt. Später ergaben Messungen von Wasserteilchen bei einem anderen Kometen das exakt gleiche Verhältnis wie auf der Erde, womit dies plötzlich wieder möglich war. Mit Chury gaben wir dieser Theorie jedoch den Todesstoss. Chury und andere Kometen, die wir seither erforscht haben, verfügen über noch mehr schweren Wasserstoff als Halley. Auf Halley hatten wir andere schwere Moleküle ausgemacht. Nur konnten wir sie nicht identifizieren. Auf Chury haben wir dies nun geschafft.
Aus den Einsen und Nullen, die der Computer ausspuckt, finden Sie heute heraus, woraus die Moleküle bestehen. Wie finden Sie in all den Messdaten die Nadel im Heuhaufen?
Der Computer spricht nicht Klartext. Zudem haben wir das meiste nicht vorausgesehen. Wir wussten zwar, dass es schwere Moleküle gibt, aber wir haben sehr viel komplexere Dinge gefunden, als wir uns vorgestellt hatten. Darum müssen wir auch heute noch Substanzen aus dem Labor nehmen, durch die Maschine lassen und schauen, wie viele Nullen und Einsen es ergibt.
Glossar
Galaxie: Sternensystem, das durch Schwerkraft zusammengehalten wird. Der Durchmesser kann mehrere hunderttausend Lichtjahre betragen. Wir leben in der Milchstrasse. Die Forschung schätzt aktuell, dass es im beobachtbaren Universum über eine Billion Galaxien gibt.
Lichtjahr: Längenmass, definiert als Strecke, die das Licht im Vakuum zurücklegt. 300’000 Kilometer pro Sekunde ergeben aufs Jahr hochgerechnet 9,5 Billionen Kilometer.
Supernova: Explosion eines sterbenden Sterns. Dabei gibt er seine Materie ab, woraus ein neuer Stern entstehen kann.
Sternengeneration: Ein Stern der ersten Generation besteht nur aus Wasserstoff. Explodiert er als Supernova bilden sich schwere Atome wie Sauerstoff, Kohlenstoff und Eisen. Unsere Sonne ist ein Stern der zweiten, vermutlich gar der dritten Generation.
Komet: Kleinplanet aus Staub und Eis. Wenn er sich der Sonne nähert, werden Gase freigesetzt, was zum Schweif führt.
Asteroid: Zwillingsbruder zum Kometen, aber ohne Eis, da innerhalb der Jupiterbahn geblieben.
Molekül: Einheit aus zwei oder mehr Atomen, die chemisch verbunden sind.
Spektroskopie: Experimentelles Verfahren, bei dem die Farben von Lichtquellen zerlegt und untersucht werden. So lassen sich die Eigenschaften der Strahlenquelle festlegen.
Das ist wie ein Kreuzworträtsel.
Wie ein Puzzle, pflege ich zu sagen.
Kennen wir alle Stoffe, die Sie finden konnten, oder gibt’s im Weltall welche, die Sie nicht zuordnen können?
Die Elemente, die Atome sind dieselben. Aber Moleküle haben wir relativ viele, die auf der Erde nicht stabil wären. Dort oben ist’s minus 240 Grad kalt. Dort oben findet eine andere Chemie statt als bei uns. Etwa Kohlenstoffmonoxid gibt’s bei uns, aber es ist nicht stabil. Es wird zu CO2 und reagiert (zum Beispiel mit Wasser / Anm. der Redaktion). Solche Moleküle hat es auf Chury sehr viele.
Der Komet Chury, Originalaufnahme durch die Kamera Osiris auf der Raumsonde Rosetta, 2015. Quelle: zvg
Welches sind die bisher unerwarteten Moleküle?
Etwa Aminosäure. Sie braucht es für das Leben. Oder auch Phosphor. Die Erde hat Phosphor in den Mineralien der Gesteine. Aber diesen Phosphor kann das Leben nicht brauchen, weil er gewissermassen eingeschlossen ist. Das heutige Leben nutzt rezyklierten Phosphor von toten Pflanzen und toten Tieren. Also muss der Phosphor irgendwann zugänglich gewesen sein. So wie wir ihn auf dem Kometen gefunden haben. Das Phosphormonoxid würde bei uns reagieren und es gäbe eine Verbindung, die wir für das Leben nutzen könnten. Die Kometen sind vermutlich gleich alt wie unsere Erde, also 4,5 Milliarden Jahre alt. Nun haben wir den Phosphor weiter zurückverfolgen können. Bis in jene Zeit, in der es noch keine Sterne gab. Im Prinzip zu jener Supernova zurück, bei der das Atom erst gebildet wurde. Wir können den ganzen Weg bis zur Erde nachvollziehen.
Das klingt abenteuerlich. Wie lässt sich dies zurückverfolgen?
Wir arbeiteten mit Forschern, die die Sternformationsregionen beobachten. Dort, wo jetzt neue Sterne entstehen. Dann gingen wir weiter zurück zu den dunklen Molekülwolkenzeiten, als es noch keine Sterne gab. Und noch weiter zurück, zur Supernova. Überall sahen wir das Phosphormonoxid. Möglich ist dies mit einem Teleskop und Spektroskopie des Lichtes. Daraus ergeben sich charakteristische Sequenzen, die auf Phosphor rückschliessen lassen.
Nun müssen Sie noch erklären, weshalb der Mensch Phosphor braucht, um zu leben.
Wir nehmen ihn mit dem Essen auf. Wir brauchen ihn für die DNA und den Energieumsatz. Die Kohlenhydrate können wir nur mithilfe von Phosphor verbrennen. Leben braucht noch viele andere Moleküle. Sie sind alle auf dem Kometen vorhanden. Darum ist die Theorie, dass die Kometen nicht das Wasser, aber möglicherweise die Substanzen brachten, die das Leben auf der Erde ermöglichten, sehr viel wahrscheinlicher.
Vergeht kein Tag, ohne dass Sie an «Ihren» Kometen denken?
Kaum ein Tag (lacht). Im Moment bin ich am Salz. Chury hat Salz, aber nicht Kochsalz, sondern Ammoniumsalz.
Und Sie sind nach all den Jahren noch immer aufgeregt bei der Suche nach neuen Geheimnissen?
Ja. Es ist wie beim Puzzeln. Ich fühle mich wie Sherlock Holmes, der einer Spur folgt.
Was ist Ihre längste Durststrecke ohne neue Entdeckung?
Ein paar Wochen. Aber wenn ich dran bin, kommen die Resultate nahe hintereinander.
Funktionieren Sie als emeritierte Professorin als Einzelmaske, oder sind Sie noch immer ins Team eingebunden?
Wer in der Wissenschaft Erfolg haben will, muss publizieren. Die Papers werden gezählt. Leider Gottes ist dies der Lauf der Dinge. Ich brauche definitiv keine Papers mehr (lacht). Erstens habe ich viele, zweitens liegt meine Karriere hinter mir. Ich nuele in den Daten. Ich weiss, wo ich schauen muss, weil ich die ganze Mission miterlebt habe. Die Doktoranden, die jetzt kommen, waren bei der Mission nicht dabei. Ich sage ihnen: Schaut mal dort, da sind die guten Daten. Das ist jetzt mein Auftrag. Sie schreiben dann das Paper.
Sie sind die gute Fee, die es ins Ohr flüstert.
Genau, das braucht es. Ich hatte auch Mentoren und gebe mein Wissen nun gerne weiter. Eine junge Chemikerin arbeitet mit uns. Sie hat ein Kind und ist am Anfang ihrer Karriere. Ob sie es schafft, ist nicht sicher. Sie doktorierte in Chemie und hatte danach Mühe, ausserhalb der Akademie eine Stelle zu finden. Auch, weil sie einen Teilzeitjob suchte. Über das RAV kam sie zu uns. Wir haben sie nach einem Praktikum angestellt und mittlerweile ist sie drei Jahre bei uns. Sie ist super und bringt das chemische Wissen mit, das mir teilweise fehlt. Heute könnte ich die Chemie brauchen, die ich damals nicht studieren wollte. (lacht)
Computer mit Baujahr 1996: Die Kopie dieses Exemplars kam auf dem Kometen Chury zum Einsatz und lieferte die Daten.
Die Geschichte der jungen Chemikerin hat Parallelen zu Ihrer Geschichte, die Sie selbst zur Frauenförderin machte. Das Bild der Forscherin, die Tag und Nacht ein Problem zu lösen versucht, ist tief in den Köpfen drin. Konnten Sie sich damals von der Arbeit lösen, als Sie eine 35-Prozent-Stelle innehatten?
Ich musste. Ich hatte Kinder und konnte nicht einfach hierbleiben und sie daheim vor der Tür stehen lassen. Ich sage es immer wieder: Oft ist dies auch gut. Dazu erzähle ich gerne eine Anekdote: Als wir für Chury ein Instrument in der Weltraumsimulation testeten, ging ein Teil kaputt. Wir standen kurz vor dem Ablieferungstermin an die ESA. Je ein französisches und ein deutsches Team waren für den Test bei uns. Wir sahen, was kaputt war, aber wussten nicht, wieso. Es war ein Freitagmorgen. Um 12 Uhr sagte ich, entschuldigt mich, ich muss gehen, meine Kinder warten. Am Montag komme ich wieder. Die armen Cheibe haben das Wochenende durchgearbeitet. Wir machten am Samstag mit der Familie einen Ausflug. Und wie wir unterwegs waren, fiel das Zwänzgi runter. Plötzlich wusste ich, wieso das Instrument kaputt ging. Am Montag rief ich zu einer Sitzung – sie hatten die Ursache nicht herausfinden können. Das Gute war, dass ich eben nicht die ganze Zeit an das Problem gedacht hatte.
Sie begannen mit 30 Jahren, sich mit dem Weltraum zu beschäftigen. Einmal sagten Sie, am Anfang kamen Sie sich so klein vor. Machen Ihnen die grossen Fragen zum Universum noch immer Angst?
Überhaupt nicht mehr … Am Anfang, als ich mir überlegte, wie kurzlebig wir sind, fühlte ich so. Die 80 Jährchen, die wir haben, sind nichts.
Dasselbe dachten wir, als wir im Erdgeschoss an der CO2-Kurve vorbeiliefen, die 800’000 Jahre abbildet.
Auch das ist nichts. An meinen Vorträgen zeige ich oft die Temperaturentwicklung über die letzten 500 Millionen Jahre. Selbst das ist nur ein Neuntel der Existenz des Sonnensystems. Das Universum ist gar 13 Milliarden Jahre alt. Auch die räumliche Dimension – unser Meter ist verglichen mit der Galaxie oder dem Universum nichts. Definitiv winziger als eine Ameise, eher ein Staubkörnchen. Im ersten Moment wird man ein wenig verrückt, weil wir das Gefühl haben, wichtig zu sein. (lacht)
Aber …
Ehrlich gesagt sind wir nicht wichtig, ausser für uns selbst. Der Mensch hat die Verantwortung für die Erde. Was wir mit ihr machen, entscheiden wir und da hilft uns niemand. Wir haben nicht die Verantwortung für das Sonnensystem. Schon beim Mars können wir nicht mehr viel machen, weiter aussen sowieso nicht. Der Sonne können wir auch nichts anhaben. Dem Universum erst recht nicht. Es wird sich weiterentwickeln, ob es uns gibt oder nicht. Das ist beruhigend: Wir sind nicht an allem schuld, was geschieht. Auf der anderen Seite sind wir doch ein Teil von etwas Riesigem, Schönem. Das ist fantastisch. Die Atome, die uns ausmachen, werden überleben. Auch wenn die Erde nicht mehr existiert. Irgendwann frisst die Sonne die Erde auf, danach stirbt die Sonne, sie gibt das Material wieder an das Universum ab und vielleicht entsteht eine vierte Sternengeneration, vielleicht neue Planeten und wer weiss, ob neues Leben entsteht. Dann sind unsere Atome an einem anderen Ort.
Das klingt nach wissenschaftlich begründeter Reinkarnation.
Auch das Universum ist nicht nachhaltig. Das heisst, es braucht mehr Ressourcen, als es neu schafft. Das Universum verbrennt den Wasserstoff, und der Wasserstoff stammt aus dem Big Bang. Es gibt keine andere Quelle. Irgendwann braucht das Universum den Wasserstoff auf. Dann wird’s dunkel. In den letzten zwei Milliarden Jahren hat das Universum die Hälfte der Leuchtkraft eingebüsst. Am Anfang des Universums entstanden viele Sterne, die jetzt nach und nach sterben. Es entstehen immer noch neue, aber es sterben mehr, als neue entstehen.
Das Universum dehnt sich aus. Nimmt die Leuchtkraft nicht durch die grössere Dimension ab?
Nein, die Sterne werden schwächer, die Galaxien. Es hat nichts mit der Ausdehnung zu tun. Wenn wir Galaxien anschauen, blicken wir in die Vergangenheit. Je weiter weg sie sind, umso früher ist am jeweiligen Ort das Licht weg, das wir heute beobachten können. Wenn wir weit in die Ferne schauen, ist das Licht womöglich Milliarden Jahre alt. Vor zwei Milliarden Jahren hat es doppelt so hell geleuchtet wie heute.
Sie sprachen von der Verantwortung, die wir für unsere Erde haben. Was tragen Sie als Weltraumforscherin dazu bei?
Indem wir die Erde besser verstehen, merken wir, was wir an ihr haben. Es gibt keinen Planeten B. Wir können zeigen, dass es nicht funktioniert, auf dem Mars zu wohnen. Wir können auch zeigen, dass es keinen Planeten in der Nähe hat, auf dem wir sein könnten. Die Erde ist ein extrem komischer Planet. Wir können nicht erwarten, dass es viele Planeten wie unseren gibt.
Heute kennen wir bereits über 4000 Planeten – es dürften noch viele mehr sein. Somit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass andere komische Planeten existieren, auf denen es Leben gibt.
Ja, aber vermutlich auf viel weniger Planeten, als wir denken. Leben ist wahrscheinlich. Für Mikroben braucht’s nicht viel und die gab es auch bei uns schon 700 bis 800 Millionen Jahre nach Entstehung des Planeten.
Dazu brauchte es unter anderem Phosphor.
Genau, ohne das geht’s nicht. Wir wissen nun, dass Kometen häufig vorkommen. Auch in anderen Sternensystemen und wahrscheinlich in anderen Galaxien. Doch es brauchte 3,7 Milliarden Jahre, bis es uns gab. Über diese Zeit muss das System wahnsinnig stabil gewesen sein. Sonst gäbe es uns nicht. Das braucht extrem viel Glück.
Sie glauben an Glück? War es Glück, das unseren komischen Planeten ermöglichte?
Ja! Ein Beispiel: In den letzten 500 Millionen Jahren hatte die Erde die längste Zeit keine Eiskappen. Also ist Eis an den Polen eine aussergewöhnliche Situation. Die Temperatur schwankte aber bloss um ungefähr 20 Grad. Jedes Mal, wenn die Temperatur zu heiss oder zu kalt zu werden drohte, geschah etwas. Ein Vulkan brach aus, ein Asteroid stürzte auf die Erde … Es ist reiner Zufall, dass dies immer im richtigen Augenblick geschah. Säugetiere entwickelten sich in einer Heissphase und wären sonst womöglich nicht entstanden. Bevor es aber zu heiss wurde, schlug es irgendwo wieder ein. Es wurde wieder kalt. Wir entstanden in der Kaltphase. Wir sind eher ein bisschen kalt, nicht wahr? (lacht) Ein anderes Beispiel ist unser Mond. Unsere Erdachse ist schräg, und der Mond stützt uns. Dank ihm gibt es an den meisten Orten auf der Erde die regelmässigen Jahreszeiten. Der Mond ist ein Bruchstück, entstanden durch den Einschlag eines anderen Planeten auf der Erde. Wissenschaftler haben beweisen können: Wäre der Monddurchmesser 10 bis 80 Kilometer grösser, gäbe es uns nicht.
Warum?
Unser System wäre seit längerer Zeit nicht mehr stabil. Jetzt hält das System noch 1,5 Milliarden Jahre. Durch die Gezeitenkräfte des Mondes wird die Erde gestaucht und gedehnt. Das braucht Energie. Die Erde nimmt sie von der Drehung. Durch diese entfernt sich der Mond ständig ein wenig von uns.
Irgendwann verlieren wir ihn?
Er kann uns nicht mehr stützen. Wenn er grösser gewesen wäre, hätte die Erde früher geschwankt und es gäbe uns nicht. Wahrscheinlich wird uns aber die Sonne gefressen haben, bevor wir den Mond ganz verlieren. Aber darüber lässt sich streiten.
Sie beschäftigen sich mit Dingen, die unvorstellbar weit zurückliegen. Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart vermischen sich im Universum. Was haben Sie für ein Verhältnis zur Zeit?
Es relativiert uns. Zeigt, wie wenig wir in dieser Zeit bewirken können. Ich zeige jeweils eine Folie von einem amerikanischen Astronomen, der die Geschichte des Universums in ein Jahr packt. Der Big Bang ist am 1. Januar und wir sind nun am 31. Dezember. In diesem Jahr gibt’s den Menschen erst seit sechs Minuten. Die Dinosaurier hielten fünf Tage durch. Ob wir es nochmal ein paar 100’000 Jahre schaffen, ist sehr fraglich.
Die Wissenschaft kommt der Antwort auf die Frage, woher wir kommen, langsam näher. Wohin wir gehen, scheint auf einen weiten Horizont von 1,5 Milliarden Jahren auch beantwortet.
So viel Zeit bleibt uns nicht. Wir nehmen an, in 600 Millionen Jahren kein CO2 mehr in der Atmosphäre zu haben. Das hängt mit der Leuchtkraft der Sonne zusammen, die Leuchtkraft nimmt schon lange zu. Sprich, es wird auf der Erde immer heisser ohne menschliches Zutun. Aber natürlich nicht über 1000 oder 10’000 Jahre, sondern über Millionen Jahre. In 600 Millionen Jahren ist es wahrscheinlich so heiss, dass das Gestein mit dem CO2 aus der Luft reagiert. Ohne CO2 gibt’s keine Bäume, keine Pflanzen. Und keine Tiere, denn sie brauchen den Sauerstoff der Bäume. Das wäre das Ende – vielleicht gäbe es noch Mikroben. Hinzu kommt der feuchte Grünhauseffekt, durch den die Ozeane verdampfen. Das Wasser wäre in der Atmosphäre statt im Boden. Es würde noch heisser. Schliesslich verlieren wir das Magnetfeld. Es wird aus flüssigem Eisen im Innern durch einen Dynamoeffekt gebildet. Flüssig ist das Eisen dank der Radioaktivität, die wir im Erdinnern haben. Weil sie zerfällt, endet dieser Effekt irgendwann und das Eisen friert ein. Beim Mars ist es schon eingefroren. Ohne Magnetfeld könnte der Sonnenwind in unsere Atmosphäre eindringen und sie wegradieren. Das alles kommt wahrscheinlich, bevor wir den Mond verlieren. Die Aussichten sind nicht gut. (lacht)
Noch vorher könnte ein Asteroid oder ein Komet einschlagen und unseren Planeten unbewohnbar machen.
Asteroiden sind viel näher an der Sonne und auf Kreisbahnen, weshalb sie die Erde nicht treffen sollten. Manchmal werden sie aber abgelenkt. Wenn wir frühzeitig merken würden, dass ein Asteroid auf die Erde zusteuert, könnten wir dies vielleicht abwenden.
«Armageddon» ist also nicht blosse Fiktion. War’s da ein Asteroid oder ein Komet?
Ich weiss nicht, ob jene, die den Film machten, dies wussten. (lacht)
Wie wäre es denn bei einem Kometen?
Sie kommen extrem schnell. Letztes Jahr kam der Komet Neowise, den wir von Auge sehen konnten. Erstmals entdeckte man ihn im Mai. Im November war er am sonnennächsten Punkt. Wenn ein Komet wie dieser auf Erdkurs ist, können wir nichts machen. Fällt er auf Bern, haben wir Pech gehabt und ihr in Olten auch. Wenn er auf Australien fällt, haben nur sie Pech. Aber ein Körper wie dieser macht ein grosses Loch. Dabei geht so viel Staub in die Atmosphäre, dass es hier nach zwei Monaten dunkel wird. Bei einem nuklearen Winter – der durch Nuklearwaffen provoziert werden könnte, würde das Gleiche passieren. Darum habe ich mehr Angst vor Nuklearwaffen als vor Kometen oder Asteroiden.
Animation der Raumsonde Rosetta, die dem Kometen Chury entgegenfliegt. Quelle: zvg
Bleibt noch die fieberhafte Suche nach technologisiertem respektive intelligentem Leben auf einem anderen Planeten.
Die Chance ist relativ klein, dass es – Intelligenz gibt’s sowieso nicht (lacht) – technologisiertes Leben gibt. Und dass wir kommunizieren können, ist fast unmöglich. Erstens müsste die Zivilisation zur selben Zeit existieren. Zweitens müsste sie in unserer Nähe sein. Es gibt eine statistische Annäherung, die nicht viel mit Physik zu tun hat: Demnach könnte es heute 1000 Zivilisationen in der Milchstrasse geben, die über Technologien verfügen. Das tönt nach vielen, aber wenn statistisch berechnet wird, wo die nächste liegt, wäre sie 1600 Lichtjahre weg. Das heisst, eine Antwort käme nach 3200 Jahren.
Für Sie ist die Frage, ob es technologisiertes Leben gibt, nicht die interessanteste.
Wir werden dies wahrscheinlich nie beantworten können. Natürlich ist es spannend. Es wäre lustig, wenn dem so wäre. (lacht)
Was wir für das Leben brauchen, haben wir entschlüsselt. Das Wie bleibt weitgehend im Dunkeln.
Vielleicht ist’s besser, wissen wir nicht, wie das Leben entstanden ist. Sonst gäbe es Menschen, die das sofort zu kopieren versuchten. Das würde ungut enden. Dann müssten wir wirklich intelligent sein und nicht nur technologisiert.
Die Weltraumforschung treibt unsere Technologisierung voran. Hinterfragen Sie die Entwicklung auch kritisch?
Vor allem die bemannte Raumfahrt. Was die Menschen nun machen, schnell hoch und wieder runter, um sich zu vergnügen, da habe ich sehr Mühe damit. Ich kann nicht mehr über die bemannte Raumfahrt reden und sie propagieren. Das ist auch ökologisch gesehen ein Unsinn, den sich ein paar Superreiche leisten können. Dabei könnten sie in den Europapark, um ein wenig Null G zu erleben. Ohne dass es 250’000 Dollar kostet. Hinzu kommt der ganze Müll, der im Weltall bleibt. Auf der Erde wollen wir alles mit Robotern erledigen. Ausgerechnet ins Weltall, wofür der Mensch nicht gemacht ist, will man jetzt Menschen schicken.
Hatten Sie selbst nie den Wunsch, einmal in den Orbit zu fliegen?
Früher fand ich: Einmal auf dem Mond zu stehen, das wäre schon was. Jetzt zieht mich nichts mehr dorthin.
Wer sich mit dem Weltraum befasst, wird auch mit der Frage nach einer höheren Macht konfrontiert. Sind Sie gläubig aufgewachsen?
Ich bin von Haus aus Katholikin, aber meine Eltern gingen nicht in die Kirche. Nur uns haben sie geschickt. Heute gehe ich nur noch für Vorträge in die Kirche.
Zur Aufklärung?
Nein, die Frage nach dem Glauben gehört zu unseren Themen hinzu. Wir arbeiteten interdisziplinär und hatten bei uns einen Theologen der Uni Bern angestellt. Das ist super spannend. Theologen sind nicht mehr fundamentalistisch. Bald fanden wir heraus, dass wir fast die gleichen Fragen stellen. Wir Naturwissenschaftler fragen nach dem Wie, die Theologen nach dem Warum. Ich kann Ihnen erklären, wie der Big Bang ging, wie ein Stern, ein Planet entsteht und was es braucht, dass Leben möglich ist. Aber ich kann Ihnen nicht erklären, warum. Ich sagte immer: Gott sei Dank hab’ ich Physik studiert. Das Warum wäre mir viel zu kompliziert. (lacht) Der Theologe sagte mir mal: Schau, die Bibel ist eigentlich die erste naturwissenschaftliche Publikation. Die Menschen versuchten zu beschreiben, was sie sahen. Wenn einer in 3000 Jahren meine Publikationen liest, denkt er vielleicht auch: Was hat denn die sich gedacht? (lacht)
Das Warum wäre die Frage nach den Zufällen oder dem Glück.
Wer gläubig ist, würde sagen, es war eben nicht Zufall. Jemand hat eingegriffen. Wie wollen wir beweisen, dass es Zufall war? Wir können nicht beweisen, dass es Gott gibt. Aber noch viel weniger, dass es ihn nicht gibt. Das können wir nicht messen, fotografieren oder spektroskopieren. Ich zitiere gerne Augustin von Hippo, einen Kirchenfürsten. 500 Jahre nach Christus sagte er: «Gott schuf die Welt nicht in der Zeit, sondern mit ihr.» Sprich: Ohne Welt gibt es keine Zeit. Einstein sagte genau das Gleiche 1905, nur auf physikalischer Basis. «Ohne Materie gibt es keine Zeit» – und Einstein fügte bei: «und keinen Raum». Damit ist die Frage nach dem Vorher sinnlos.
Sie sagten, unsere Atome werden so oder so bleiben. Gibt das Ihnen Ruhe?
Es geht etwas von mir weiter. Und wenn es nur ein paar Atome sind. Ich bin schon mit wenig zufrieden.
Since I hadn’t seen or heard from Boxer for over a week, I was relieved when he texted me to meet him by the steps of the Stadtkirche. I needed to do some shopping on that side of town, so this was a convenient rendezvous.
I stopped in at Hermann’s Pâtisserie to say hello to Mina, Boxer’s young cousin.
“Charles! I’m so glad you stopped by! Boxer was here an hour or so ago, and I didn’t recognise him – he’s got a beard now!”
“A very clean, dapper, slightly devilish goatee, eh? That would suit him well.”
“No! He looks like a – a – oh, I can’t say it. Like a clochard. Very untidy. Do you know anything about this?”
“Not a whisker, as we say. I’m set to meet him now, so I’ll see what’s up. I’ll report back to you as soon as I can, OK, Mina?”
“I’m not worried, you understand, just a bit surprised. He is always so well groomed. But, yes, thank you. Let me know what you learn.”
So as to sneak up on Boxer and observe him secretly, I walked well out of my way from Marktgasse, down Graben, then behind Kino Lichtspiele, to the Klosterkapelle, then through a passage to Baslerstrasse. Now, Baslerstrasse used to be called Trimbacherstrasse, for obvious reasons. But to find out why it was changed to Baslerstrasse, I shall probably have to hire someone from the Boxer Detective Agency.
I approached from behind the church, passing the pissoir (not a Parisian vespasienne, but a cabin of sorts, nonetheless) and the old weighing scales for goods wagons. Perhaps the cows were weighed here when this was the Viehmarkt, or maybe they weighed the Kuhfladen, I’m not sure.
And there was Boxer, in conversation with an elderly man, small and thin, wearing a fedora (or a trilby – I’m never sure which is which). The old gent then headed across Kirchgasse and went into Schreiber’s bookshop, removing his hat as if he were entering a church. I snuck up on Boxer from the side.
“Boo!”
He turned around slowly, not the least bit perturbed by my surprise attack.
“Boo to you, too.”
“Are you auditioning for a new play, Boxer? Or are you in full Google Incognito mode today?”
“If you are referring to these whiskers, I am growing a beard.”
“Really? I would never have guessed. Have you thought this through?”
“Yes, of course, Charles. To grow a proper beard, one must grow it out, and then shape it. I was thinking of something Mephistophelian. What do you think?”
“Who was that man?”
“Who? Mephist — oh, you mean Herr Schreiber. The German fellow who runs the bookshop. We were discussing books, no less.”
“Books in general?”
“Books in general, yes. Any book in the right hands is powerful, and any book in the wrong hands is dangerous. That was our conclusion. Now, shall we go to Gryffe for a beer?”
We sat outside near the back by the path to Platz der Begegnung. Boxer noticed a self-service kiosk of sorts, filled with what looked like books. We thought it merely decorative, and had put it out of our thoughts, when a deathly pale young woman with a wild-looking dog went to the kiosk, opened one of the doors and removed a book, replacing it with another from her shoulder bag.
“It is a book exchange station, Charles! How wonderful! Wait! Someone else is approaching it. These readers in Olten seem a starving lot. He is not very healthy looking. Rather dishevelled, actually. And his dog, too.”
“Those are the outsiders, the Randständige – the ones living on the edge, the border of society. At least they know how to read, it seems.”
“Let us take a look, Charles. There may be just the book for me. Of course, I have no book to trade in, but I shall leave an IOU and a promise to you to return as soon as possible with a book to donate. Now, what have we here? Lazlo Shunt, August Wilhelm von Schlegel, the Memoirs of Monsignor Bonifatius Ettlin. Well, these are not top-of-the-chart reading.”
“Did you notice, Boxer, how those two before us went right in and found a book almost without looking? And – Boxer, listen. I think that fellow took out the same book that the woman had just put in. Could that be?”
“I did not notice, to be honest. I was paying attention to the dog the two had. It was the same dog. I am sure of it.”
“Boxer? Where were you the past week?”
Boxer gave me the oddest look I had ever seen on his face until now. It was a mixture of surprise and guilt and pleasure. Surely he hadn’t been — No. Impossible, or at least highly improbable.
“Oh, it was such great fun, Charles. Yes, I shall tell you. Do not worry. I was in a television programme re-enacting a crime scene. That one on German television.”
“‘X, Y …’? That one?”
“Exactly. That was thanks to my biblio-friend Herr Schreiber, you see. He pointed me in the right direction. And since my appearance lends itself so well to disguise, I was hired to portray the victim of a vicious robbery. The beard was part of the disguise.”
“You mean it’s not real? Here, let me see.”
“Ha ha! Be careful not to get glue on your hands, Charles. It is real only in the physical sense. I played a trick on young Mina earlier today. I am not sure she appreciated it. Let us stop in for a pastry.”
When we got to Hermann’s, Mina was talking with a policeman. Boxer was unsure of the uniform, and so he said something wrong.
“Ah, Mina! Another postman in your life. For shame.” She had turned bright red before she noticed that Boxer was beardless.
Well, THAT situation was soon straightened out, just as another arose. Hearing of Boxer’s acting career and recalling the incident of the four bars of smash, added to Boxer’s uncanny ability to get himself involved in the strangest of cases, the policeman took us into his confidence on a certain matter after we had said goodbye to Mina.
In short, Boxer was to resume his bearded appearance and infiltrate the street crowd of ‘outsiders’ to learn what he could about drug trafficking in Olten. At that time, I thought this all quite humorous, but, as you shall read, it all turned rather nasty. I, by agreement, was not to be informed of developments until or unless I was needed.
Try as I might to ignore Boxer, during nearly all the next month, I only heard my next-door neighbour coming home very late at night and leaving again after just a few hours. I hoped he was getting some sleep during those times. And indeed I did see him occasionally, usually sitting on the Chilestäge, deep in discussion with one or more of the out-crowd.
As I have written earlier, Boxer is the sort of fellow who instils trust, and people feel free to confide in him, as I did from our very first meeting. He had gained entry into their netherworld as easily as a moth into a hidden corner of a carpet. When I saw him, he looked at ease in the company of his new ‘friends’.
After the second week of his undercover work, I got a text message from him. He said, of course, not to worry about anything. He was home long enough every night to do what needed doing. He said that he was discovering more than he had imagined. ‘These people,’ he wrote, ‘are not outsiders at all. They are at the centre of life, of society. We are the ones at the edge, behind the fence, looking in. I shall be doing my best to help these people, not to criminalise the innocent. There are some guilty ones here, to be sure. Some are evil, others only venal. I have no reservation about turning those over to the authorities. I think we shall meet again in a week or so.’
I had said that this affair turned nasty, and it was only a miracle that Boxer came out of it alive, according to his account. He had been embedded, so to speak, with the drug crowd, and had managed successfully to plead allergies when offered any substance not to his liking. He said he had to be careful what he ate and drank, as well, and he had even not smoked his usual cigarettes during that time. Until that final day —
“Charles, I had it all set up. My plans were finalised for my new friends. As for my new enemies – they were going to get coordinated and simultaneous surprise visits from the police forces of several cantons. I had discovered all I needed, and I had just passed on the information. There were only the goodbyes to say, so to speak.”
“No one ever suspected you?”
“Not once, of that I am sure. Until that final day — “
“Yes, Boxer, I’ve already written that down.”
“Charles, I am glad you are taking notes. Anyway, I was just getting ready to leave these criminals forever, when the big man himself offered me a cigarette from his pack. Well, out of sudden weakness, I accepted. But as he was lighting it for me, his hand slipped, and my beard caught fire. Instead of trying to put it out, you see, I merely pulled it off. The fellow was so shocked, I just had time to run out of the house before he came to his senses about my real identity. He would have shot me, Charles, or stabbed me.”
“He got away?”
“No, Charles, it was I who got away. I had timed my departure to coincide with the police raids. I was still incognito to most of the officers and was glad I had no further explaining to do.”
“So, what is this plan you devised for your friends, Boxer?”
“Literary tea and coffee afternoons.”
“Boxer! Ha ha! What on earth? You’re not serious!”
“Oh, yes, indeed, Charles. Herr Schreiber and I have disabled the book exchange as a drug trading spot and turned it into a true cultural event. Once a week, these people will gather in Schreiber’s reading room and listen to someone read from a book relevant to their interests and their needs. After half an hour or so, tea and coffee will be served and the reading topic discussed. Hermann’s has agreed to provide suitable pastries. Most of my new friends are actually quite excited about the idea. We may even discover some real talent amongst them.”
“Did you have anyone in mind for the first reading?”
“Charles! How splendid of you to volunteer! I know you have been writing stories. Here is an excellent chance for you to present your work to the public. We shall expect you next Tuesday at four o’clock. Dress casually.”
David Pearce ist ein Schweizer Schriftsteller, wohnt seit 2000 in Olten und hat amerikanische, englische und französische Wurzeln. Er schreibt auf Englisch Kurzgeschichten, Romane und Theaterstücke.
Für Schönrederei hat Cynthia Mathez keine Zeit. Sie bevorzugt das Direkte. Die Wahrheit. Und sie scheut sich nicht, mit ihr konfrontiert zu sein. Fast gleichmütig erinnert sie sich an den Tag, als ihr der Neurologe offenbarte, dass sie an Multipler Sklerose erkrankt sei. Er habe einen Stapel Bücher aus dem Regal gezogen und gesagt: «Wenn Sie Fragen haben, können Sie hier nachlesen.» Cynthia rief ihre Mutter an und erzählte ihr von der Diagnose, ohne wirklich zu wissen, was sie bedeutete. «Ihrer Reaktion wegen wusste ich, dass es schlimm ist», erinnert sie sich. Sie war 24 Jahre alt. Soeben hatte sie drei Wochen in der Rehabilitation in Montana verbracht – «weil ich wie betrunken herumlief». In der Nacht vor der Diagnose waren ihre Beine ganz steif geworden und hatten geschmerzt. Sie brauchte einen Stock als Gehhilfe, weshalb die Kolleginnen im Büro sie «Doctor House» nannten.
«Ich war immer positiv eingestellt», sagt Cynthia. Ihr Leben wurde nach und nach durch den Rollstuhl bestimmt. Sie gab die Wohnung in Zürich auf, die im dritten Stockwerk ohne Lift lag, und zog nach Olten Südwest. Kaufte sich einen Fernseher. Doch sie merkte bald: Auf dem Sofa würde sie nicht vor sich hinvegetieren. «Am Anfang erwartete ich immer den nächsten Schub», erzählt sie. «Aber dann dachte ich mir: Es kommt einfach, wie es kommen muss. Hoffentlich so spät wie möglich.» Also lebte Cynthia fortan wann immer möglich ihren aktiven Alltag weiter. Sie weiss, dass die Gegenwart alles ist, was zählt. Sollte die Multiple Sklerose ihr eines Tages die Freiheit nehmen, ihren Alltag selbständig zu bestimmen, Dinge zu tun, die ihr Freude und Sinn vermitteln, würde sie ihr Leben beenden. Als sie die Diagnose erhielt, schrieb sie sich bei der Sterbehilfeorganisation ein. Wenn sie darüber spricht, übersetzt sie gerne ein französisches Sprichwort: «Je ne veux pas finir comme un légume». – «Ich will nicht wie Gemüse herumliegen.»
Leben am Limit
Doch der Tod ist nicht allgegenwärtig. «Ich bin voll im Leben», sagt Cynthia. Draufgängerin war sie schon als Teenagerin gewesen, und sie ist es bis heute. Mit 13 fuhr sie erstmals bei einem Autocross-Rennen mit. Das «Rallye für die Bauern», wie sie es nennt, ist in Tramelan, ihrem Heimatdorf im tiefen Berner Jura, eine populäre Sportart. Ihren Vater, dem die Leidenschaft fürs Autocrossen erhalten geblieben ist, begleitet sie noch heute an Rennen. Mit 15 zog Cynthia für ein Jahr von zuhause weg, um im grossen Zürich Deutsch zu lernen. Und mit gut 20 führte sie ihr eigenes Hotel im Kanton Waadt.
Vier Jahre später, nach der Diagnose, gab sie die Hotellerie auf. «Die Krankheit zwang mich zu einem gewissen Grad in ein normales Leben», erklärt sie. «Es ist ein anderes, ein anständigeres Leben. Im Hotelbereich erlebten wir viel, arbeiteten viel, machten viel.» Sie lacht herzlich, ohne mehr zu verraten.
Quelle: zvg / Swiss Paralympic, Gabriel Monnet
Die Diagnose Multiple Sklerose muss sich anfühlen wie ein haushoher Felsblock, der einem plötzlich vor die Füsse fällt auf einem Pfad, auf dem man vorher leichtfüssig vorangeschritten war. Cynthia Mathez fand den Pfad, der am Felsblock vorbeiführte. Obwohl die Multiple Sklerose ihr Nervensystem beschädigt und sie deswegen seit der Diagnose an den Rollstuhl gebunden ist. Obwohl sie ihre Beine und ihren Rumpf bis zum Bauchnabel hoch nicht mehr spürt und in den Händen kein Gefühl mehr hat.
Der Rollstuhl hat Cynthias Blick auf die Welt verändert. «Wir leben in einer Parallelwelt zu euch Fussgängern», sagt sie. Und sie selbst habe diese Parallelwelt damals mitgeformt, indem sie Menschen im Rollstuhl weitgehend ignorierte. «Ich war so dumm. Vorher hab ich nie mit jemandem im Rollstuhl gesprochen, weil ich nicht wusste, wie ich mit dieser Person umgehen soll. Dabei sind wir die gleichen Menschen.»
Das «normale Leben»
Die Multiple Sklerose raubt ihrem Körper viel Kraft. Statt 15 Stunden zu arbeiten, wie es in ihrem früheren Leben Normalität war, benötigt Cynthia Mathez nun bis zu 15 Stunden Schlaf. Sie gab deswegen ihre Arbeit bei einer Pensionskasse auf, als die Last der Krankheit zu gross wurde. Ohne Arbeit, ohne Plan fühlte sich Cynthia nutzlos. Da war es, das Dahinvegetieren, das sie so fürchtete. «Je weniger du machst, desto weniger willst du machen», sagt die 35-Jährige. «Aber es ist extrem wichtig, etwas zu tun, denn nur so bleibst du selbstständig.» Sie suchte nach einem Rollstuhl-Sport und stiess zuerst auf Rugby. Die Sportart interessierte sie, durch ihren grossen Bruder war sie mit ihr vertraut. Doch die Ärzte rieten ihr wegen ihrer Krankheit davon ab.
Quelle: zvg / Swiss Paralympic, Gabriel Monnet
Also begann Cynthia Mathez vor gut sechs Jahren mit Parabadminton. Es war der Beginn einer Passion, die sie bis an die Paralympischen Spiele in Tokio bringen würde. Schon als Kind war Japan zu ihrem Sehnsuchtsort geworden. Als Judoka war sie von der japanischen Kultur fasziniert. «Das wird für immer mein Lieblingsland bleiben», sagt sie. Eines Tages möchte sie sich einen Kirschblütenbaum auf den Rücken tätowieren lassen.
Apéro, Kuhglocken, Gemeindepräsident
Das Ziel Tokio vor Augen wäre für Cynthia Motivation genug gewesen. Doch nicht der blosse sportliche Erfolg treibt sie an. Mit dem Parabadminton als Lebensaufgabe erlangte sie grosse Teile ihrer Autonomie zurück. «Ich konnte nicht mehr selbständig essen, nicht mehr schreiben. Mit so viel Sport kann ich dies wieder», erzählt sie auf ihrer Terrasse in Boningen. Sie will nicht im Schatten sitzen. Lieber die Herbstsonne aufsaugen. Mit stundenlangem Training lernte sie von neuem, wie sie ihre durch die Nervenkrankheit gefühllos gewordenen Hände brauchen kann. Ohne ihre Augen weiss sie nicht, ob das, was sie gerade anfasst, heiss oder kalt ist, aus Plastik oder Holz besteht. «Neulich nahm ich die Eier aus dem heissen Wasser und hab sie einfach so geschält. Mein Partner sagte: ‹Du spinnst, die sind brühend heiss!›.» Vor einem Jahr ist Cynthia mit ihm aufs Land gezogen. Das 800-Seelen-Dorf machte ihr den Hof, als sie von den Paralympischen Spielen in Tokio heimkehrte: Apéro, Kuhglocken, Gemeindepräsident. 100 Menschen empfingen sie lautstark, um sie zu feiern. «Das war mega geil», sagt Cynthia.
Parabadminton: auf dem ½ Feld
Anders als im Fussgänger-Badminton wird das Einzel auf halber Breite des üblichen Spielfeldes gespielt. «Wir können uns seitlich nicht so schnell bewegen», erklärt Cynthia. Badminton ist als Sportart schneller als Tennis oder Pingpong. Das Ziel ist es, die Gegner fahren zu lassen. «So wie ihr die Gegner mit langen Bällen laufen lässt», sagt Cynthia Mathez. Das ist ihre grösste Stärke: «Ich bin schnell und kräftig. Das hilft mir bei den langen Ballwechseln.»
Ihre persönliche Nummer 1
«Wir sind eine grosse Familie im Parabadminton», sagt Cynthia. Geld gebe es keines zu verdienen – an Turnieren erhält die Siegerin eine Plastikmedaille. Dafür entstehen tiefe Freundschaften, erzählt sie. Besonders verbunden fühlt die Boningerin sich mit einer thailändischen Spielerin. «Für mich ist sie die Nummer eins, als Mensch und als Spielerin. Ich liebe diese Frau.» Einen engen Austausch pflegen auch die europäischen Athletinnen untereinander. Im Oktober treffen sich mehrere Nationen jeweils zum Trainingslager. «Ohne Coaches», frohlockt Cynthia. «Wir spielen und chillen am Abend zusammen.» An den Turnieren aber, da gelte es ernst. Sie lacht und sagt: «Auf dem Feld sind wir alle Bitches.»
Quelle: zvg / Swiss Paralympic, Gabriel Monnet
2 Kategorien
Im Einzel kennt das Parabadminton zwei Kategorien: Jene Athletinnen, die bis zu den Beinen gelähmt sind, treten gegeneinander an. Die Höhergelähmten, welche keine Rumpfkraft haben, bilden eine zweite Kategorie. Im Doppel gibt es keine Unterscheidung dieser beiden Kategorien. «Weil wir in der zweiten Kategorie die Kraft im Rumpf nicht haben, sind wir weniger schnell. Das macht viel aus in unserem Sport», erklärt Cynthia.
Rang 4
Mit ihrer Doppelpartnerin Karin Suter-Erath blieb Cynthia Mathez an den Olympischen Spielen die undankbare lederne Auszeichnung. Doch Cynthia sagt: «Das war unser höchstes Ziel – mehr war nicht realistisch.» Die asiatischen Mannschaften sind für die Europäerinnen kaum zu schlagen. «Sie trainieren ganz anders, leben im Trainingszentrum mit ihrer ganzen Familie», erzählt Cynthia. In Europa war das Schweizer Duo das Mass aller Dinge: An der EM feierte es mit der Goldmedaille seinen grössten Erfolg. Mit 50 Jahren geht Karin Suter-Erath nun in «Pension», wie Cynthia sagt. Ihre neue Doppelpartnerin steht bereits in den Startlöchern.
Im Einzel wurde der Schweizerin an den Paralympics eine schwierige Gruppe zugelost. Gegen eine chinesische Konkurrentin war Cynthia Mathez nahe an der Sensation, eine scheinbar übermächtige Gegnerin zu bezwingen. Das Dreisatzspiel dauerte über eine Stunde: «Ich hätte gewinnen können, aber im Kopf war ich nicht bereit dazu.»
5 Jahre lang …
… drehte sich im Leben von Cynthia Mathez alles um die Paralympischen Spiele. Jedenfalls fast: Die Boningerin kann mit ihrem Partner abschalten. «Für ihn ist Sport Mord», sagt sie, lacht und scherzt: «Ich glaube, er kennt nicht einmal die Regeln vom Parabadminton.» Darum störte es sie überhaupt nicht, dass ihr Partner sie nicht nach Tokio begleiten konnte.
In Cynthias Alltag aber drehte sich alles um die Spiele in Japan. «Du stehst auf und denkst an die Paralympics, du isst und denkst an die Paralympics», sagt Cynthia Mathez, bald drei Wochen, nachdem sie aus Japan heimgekehrt ist. «Darum bin ich auch froh, ist der ganze Druck weg.»
10 Turniere …
… bestritten die Schweizer Doppelpartnerinnen ab 2019, um sich für Tokio 2020 zu qualifizieren. Dafür mussten sie zu den besten sechs Teams der Welt gehören. «Wir durften bei all den Turnieren nicht unsere Taktik verraten, um für die Paralympics einen Joker offen zu haben», sagt Cynthia.
Zwischen 12 und 15 Stunden …
… Schlaf benötigt Cynthia Mathez pro Nacht, seit sie an den Symptomen der Multiplen Sklerose leidet. An einem Turnier kann sie ihren Schlafbedarf nicht decken. «Das Adrenalin und das Mentale helfen mir, dass ich dies aushalte. Ich zwinge meinen Körper, etwas zu machen, was er nicht will. Er will nur pennen», sagt sie. «Aber wenn ich heimkehre, bin ich jeweils eine Woche todmüde und muss den Schlaf nachholen.»
20 bis 25 Stunden …
… trainiert Cynthia Mathez jede Woche verteilt auf sechs Wochentage – den Sonntag ausgenommen. Mit ihrem umgebauten Auto ist sie vollständig autonom und kann zu den Trainings in Birr, Luzern und Nottwil fahren. Weil ihr das Gefühl in den Händen fehlt, musste sie das Spiel mit dem Schläger neu erlernen. Wie fest sie ihn halten muss, wie stark sie schlagen kann je nach Situation: «Vieles erlerne ich mit den Augen.»
Paris 2024
In drei Jahren möchte Cynthia Mathez erneut an die Paralympischen Spiele fahren. Gemeinsam mit der 21-Jährigen Ilaria Renggli arbeitet sie in den kommenden drei Jahren an diesem Ziel. Zu ihrer neuen Partnerin sagt Cynthia: «Sie ist sehr stark und hat grosses Potenzial.»
Die Randregion Thal soll einen besseren Anschluss ans Mittelland kriegen. So haben knapp 59 Prozent der stimmberechtigten Solothurnerinnen entschieden. Gross ist die Hoffnung bei vielen, die hinter den Jurahügeln wohnen, dass die Umfahrung Klus die Stauproblematik in Balsthal und in der Klus löst. Aber die Krux ist: Ein Gerichtsentscheid hat das letzte Wort darüber, ob die Strasse auch tatsächlich entstehen darf.
Ein Plangenehmigungsverfahren ist noch hängig. Das heisst: Das Verwaltungsgericht prüft, ob das Projekt rechtens ist und bei der Raumplanung Umwelt-, Natur- und Heimatschutz eingehalten sind. Vor der Abstimmung machten die Gegner der Umfahrung ein Gutachten publik: Die eidgenössische Kommission für Natur- und Heimatschutz urteilte darin, die Umfahrung störe das Ortsbild des geschützten Städtleins Klus. Stefan Müller-Altermatt, einer der vehementen Befürworter der Strasse, empfand das Gutachten als «weltfremd». Vor zwanzig Jahren habe eben ein Gutachten wie dieses befunden, das Städtlein Klus würde durch eine Umfahrung wieder zum Leben erweckt.
Ist das Ja ein Zeichen der Solidarität, wie oft kolportiert? An einer Strasse die Solidarität festzumachen, scheint gar romantisierend. Den Ausschlag für das Ja gab wohl, dass die Strasse nicht über Steuern, sondern hauptsächlich über einen zweckgebundenen Geldtopf finanziert wird.
Wenn jene, die bestimmen, sagen, dass jene, die nicht bestimmen dürfen, weiterhin nicht mitreden dürfen
Chancenlos blieb der neue Anlauf der umtriebigen Jungen SP Region Olten. Die Forderung, den Gemeinden das freiwillige Ausländerwahl- und -Stimmrecht zu überlassen, scheiterte klar. Selbst in den urbanen Zentren fand sie keine Mehrheit. Trotzdem ist der «Stadt-Land-Graben light» augenfällig: Am deutlichsten ist die Ablehnung nicht dort, wo der Anteil der ausländischen Staatsbürger hoch ist, sondern draussen auf dem «Land».
Abstimmungen, welche das Stimm- und Wahlrecht zu erweitern versuchen, haben es traditionell schwer. Besonders in der Deutschschweiz, wie der Politologe Lukas Golder in einem Interview gegenüber SRF sagte. Die Westschweizer sind in diesen Fragen offener. «Die Französischsprachigen sind in der Schweiz oft in der Minderheit. Es gibt ein Bewusstsein, dass eben das Mitbestimmen, auch wenn man eine kleinere Kraft ist, sehr wichtig ist. […] In der deutschsprachigen Schweiz ist das Recht, Schweizerin und Schweizer zu sein, ein Privileg, das wissen wir.»
Ja, Winznau will. Ganz besonders fest
Wuchtig war das Ja zur Ehe für alle. Ab kommendem Jahr dürfen also auch homosexuelle Paare heiraten. Bis auf Beinwil sprachen sich im Kanton Solothurn alle Gemeinden für die Initiative aus. Zu den urbanen Zentren hin war die Zustimmung tendenziell höher. Das kräftigste Ja kam aber aus der Oltner Agglomeration: Winznau zeigte sich aussergewöhnlich progressiv. Über 80 Prozent stimmten im Niederämter Dorf der Vorlage zu.
Die grüne Welle im Aargau
Nichts wars mit der von der SVP angekündigten «Rückeroberung der Städte». Zumindest kurzfristig. Die Kritik an der Coronapolitik wirkte sich für die Rechtspartei nicht positiv aus. Im Gegenteil. Im Aargau musste die SVP vor allem in den Zentren arg Federn lassen. Zofingen, Baden, Wettingen oder auch Obersiggenthal: Überall waren die Grünen die Gewinner der Parlamentswahlen. Was auffällt: Die grünen Erfolge gehen nicht auf Kosten der politischen Gegenseite, wie zuletzt im Kanton Solothurn, als meist SP-Sitze an die Grünen übergingen.
Aarau: Rot verteidigt
Auch bei den Personenwahlen für die Exekutive triumphierte in den Aargauer Städten die Linke. In Aarau verteidigten die Sozialdemokraten ihren Sitz mit Silvia Dell’Aquila im ersten Wahlgang. Die Initiantin der Online-Plattform We Love Aarau gilt als pointierte Linkspolitikerin. Sie ist die erste Seconda und offen Homosexuelle im Aarauer Stadtrat.
Solothurn: Rot gewinnt
Nach über 100 Jahren verliert der Freisinn das Stadtpräsidium in Solothurn. Mit dem Abgang von Kurt Fluri wählte die Kantonshauptstadt den Wandel: Stefanie Ingold setzte sich gegen den FDP-Kandidaten Markus Schüpbach durch. «Für die FDP ist es eine Niederlage mit Symbolkraft», analysierte die NZZ. Die Verlierer erklärten in der Solothurner Zeitung derweil, der Sieg der SP-Frau sei primär ihrem Geschlecht wegen zustande gekommen.
Die Lokalzeitung bilanzierte die billige Argumentation richtig: «Die FDP muss intern über die Bücher. Und sich eventuell eingestehen, dass die Gegenseite die bessere Kandidatur ins Rennen schickte; sich eingestehen, dass es die falsche Strategie war, ein Schreckensszenario heraufzubeschwören für den Fall, dass die SP ins Stadtpräsidium zieht. Sich eingestehen, dass es einfach nicht reicht, das Erbe von Kurt Fluri weiterführen zu wollen.»
Deutschland redet über die Ampel, Jamaika und Kenia
Wer redet mit wem? Das ist in Deutschland momentan die Frage der Stunde. Rot hat am Wochenende bei unserem grossen Nachbarn gewonnen. Die Sozialdemokraten sind nach dem Abgang von Bundeskanzlerin Angela Merkel wieder zur stärksten Partei aufgestiegen. Allerdings nur knapp. Die Presse rechnet deshalb mit schwierigen Koalitionsverhandlungen. Orientieren tun sich diese an den Parteifarben. Deshalb redet Deutschland nun beispielsweise von der Ampel-Koalition (SPD rot, FDP gelb und Grüne). Wer sich ausmalen will, wie das hinter den Kulissen so vor sich gehen könnte: Die dänische Erfolgsserie «Borgen» macht den politischen Prozess fassbar.
Vieles dreht sich um Olaf Scholz (SPD) und Armin Laschet (Union). Aber ohne Grüne oder FDP werden sie nicht weit kommen: Sie sind die Königsmacher. Für die Grünen wohl ein schwacher Trost, da sie auf das Kanzleramt aspirierten. Doch die grünen Flecken auf der Wahlkarte sind rar geblieben. Nur in den Grossstädten gewannen sie die Wahl. Die Zeit schreibt zum Abschneiden der Grünen: «War das schwache Abschneiden der Grünen ein Plebiszit gegen eine ernsthafte Klimawende? Oder haben die Leute nur den anderen Parteien geglaubt, die den Eindruck vermittelten, ein gutes Klima sei bei ihnen billiger und noch zumutungsfreier zu haben als bei der Ökopartei?»
Die Bifangmatte an einem spätsommerlichen Samstagabend: Kinder rennen kreuz und quer, auf dem roten Platz im Hintergrund wird Fussball gespielt, im Rasen sitzen zwei Teenager, schauen sich verliebt an. Und dazwischen: zweimal drei Ringe in jeweils einer Reihe, auf unterschiedlich hohe Stangen montiert. «Der höchste muss glaubs 1.71 Meter hoch sein, der niedrigste zirka 90 Zentimeter», erklärt mir Stefan, seines Zeichens Captain der Occamys Olten. «Muss der tall hoop nicht mindestens 1.81 sein?», schaltet sich Patrick in rot-gelb geflammtem Trikot der Phönixe Solothurn ein. «Ich kann mir die Masse auch nie merken. Die sind ungerade, weil in den USA mit Inches gemessen wird. Aber das steht alles im Rulebook der IQA.»
Tall hoop? Rulebook? IQA? Ich verstehe Bahnhof. Beziehungsweise fühle mich wie ein Muggel, wie die Nicht-Zauberer und -Hexen in den Fantasy-Büchern der britischen Autorin J.K. Rowling genannt werden, während Stefan, Patrick und ihre drei Mitspieler über Torringe und Spielpositionen fachsimpeln, als wäre es das Normalste auf der Welt. Und mir dabei von der International Quidditch Association erzählen und dem Regelbuch, welches von ihr herausgegeben wird. 164 Seiten dick sei dieses und enthalte alles, was man über Quidditch wissen müsse.
Dabei dachte ich, über den magischen Ballsport eh schon alles zu wissen. Denn ich gehöre zur «Generation Potter». Als 1997 der erste Band der Geschichten um den jungen Zauberer auf Deutsch erschien, war ich selber zehn Jahre alt, ein Jahr jünger als die Hauptfigur, also Zielpublikum. Zusammen mit Harry, Hermine und Ron wurde ich erwachsen und zusammen mit ihnen erlebte ich nicht nur epische Kämpfe zwischen Gut und Böse, sondern eben auch fast so epische Quidditch-Spiele im Stadion von Hogwarts. Ron, der als Keeper versuchte, den Quaffel abzuwehren, während seine Brüder Klatscher knallten und Harry in seiner Position als Sucher nach dem goldenen Schnatz Ausschau hielt. Und das alles auf fliegenden Besen hoch durch die Luft sausend.
Keine Hexerei, dafür abwechslungsreich!
Natürlich schwirrt an diesem Samstagabend nichts und niemand über der Bifangmatte herum. Weder Besen noch goldener Schnatz. «Ja, Magie, insbesondere das Fliegen können wir halt nicht bieten», gibt Stefan den vermutlich grössten Unterschied zwischen Fantasie und Realität in leicht bedauerndem Ton zu. Doch auch so sei das «Muggel-Quidditch», wie die reale Version zur Unterscheidung auch genannt wird, unglaublich abwechslungsreich und fordernd, «Quidditch ist Handball, Völkerball und Rugby in einem.» – «Und die verschiedenen Bälle und der Besen gibt es sonst natürlich nirgends», fügt Patrick an und führt umgehend aus, wie der Vollkontakt-Sport (in gewissen Situationen sind auch Tacklings erlaubt) Mitte der Nullerjahre in den USA aus magischen Höhen auf die Sportplätze amerikanischer Universitäten heruntergebrochen und seither fortlaufend verfeinert wurde.
Ich falle ihm ins Wort. Also doch Besen? Stefan lacht: «Ganz am Anfang wurde sogar noch mit richtigen Besen gespielt, doch die Verletzungsgefahr war damit zu hoch. Heute spielen wir drum mit diesen Brooms.» Er nimmt einen der rund ein Meter langen, schwarzen Kunststoffstangen, die neben ihm im Rasen liegen und hält ihn mit einer Hand zwischen seine Oberschenkel. «Du siehst: Durch den Besen hast du immer nur eine Hand frei und das wirkt sich natürlich auch auf dein Ballspiel aus.»
Magisches Quidditch
Gespielt wird auf fliegenden Besen, sieben Spieler pro Team. Drei Jäger (engl.: Chaser) versuchen einen Ball, den Quaffel, vorbei am Torwart (Keeper) in die drei gegnerischen Ringe zu werfen und damit Punkte zu erzielen (10 Punkte pro Treffer). Zwei Treiber (Beater) versuchen die Jäger dabei mit drei schwarzen Kugeln, genannt Klatscher, abzuknallen. Währenddessen sucht der Sucher (Seeker) davon unabhängig den Schnatz, eine kleine, goldene, fliegende Kugel. Wird dieser gefunden, gibt es nicht nur 150 Punkte, sondern ist die Partie zu Ende (was in der magischen Welt von Harry Potter auch bedeutet, dass eine Partie gut und gerne auch mal über mehrere Tage dauern kann).
Muggel-Quidditch
Gespielt wird auf Rasen, ebenfalls sieben Spieler auf dem Feld (wobei ein Team aus maximal 21 Spielern bestehen darf). Der Besen (Broom), ein nachgiebiger, zirka 1 Meter langer Plastikstab, muss auf dem Spielfeld permanent entweder mit einer Hand oder durchs Zusammenklemmen zwischen den Oberschenkeln gehalten werden. Die Positionen, durch Stirnbänder in bestimmten Farben kenntlich gemacht, und die Bälle sind die gleichen wie im magischen Quidditch. Wird ein Spieler von einem Beater mit einem Klatscher (Softball) getroffen, muss er zurück zur eigenen Torlinie und den Quaffel (Volleyball) fallen lassen. Regelverstösse werden mit blauen (1-Minuten-Strafe, unbegrenzt sammelbar), gelben (1-Minuten-Strafe, nach zwei vom Platz) und roten Karten (direkter Platzverweis) geahndet. Da es (noch) keine selbst fliegenden Bälle gibt, wird der Schnatz von einem neutralen Spieler verkörpert, an dessen Rücken eine Art Socke mit Tennisball drin befestigt ist. Das Team, dessen Sucher den Schnatz, also die Socke ergattert, erhält 30 Punkte. Im Verlauf des Spiels wird die Bewegungsfreiheit der den Schnatz spielenden Person immer weiter eingeschränkt, sodass eine Partie normalerweise maximal eine Stunde, meistens aber deutlich weniger lange dauert.
Der Hägendörfer Patrick, 31 und Postangestellter, wie auch der Oltner Stefan, 26 und Ingenieur, sind so etwas wie Veteranen in der Schweizer Quidditch-Szene. Zwar wurde die real existierende Variante bereits Anfang der Nullerjahre von Studierenden in den USA konzipiert und seither fortlaufend verfeinert, doch in die Schweiz fand der Sport erst vor wenigen Jahren. Und seither sind Patrick und Stefan dabei. Als 2017 der Schweizerische Quidditchverband SQV gegründet wurde, als 2018 die zweite Schweizer Meisterschaft von Patricks ehemaligem Team, den Hyppogreifen Hägendorf, ebendort ausgetragen wurde, und sie waren dabei, als die Schweiz ebenfalls 2018 nach Florenz fuhr, um erstmals am IQA Worldcup, der Quidditch-Weltmeisterschaft, teilzunehmen. Als Teil der Schweizer Nationalmannschaft spielten sie dabei gegen Länder aus allen Ecken des Globus, von Island bis Australien und von den USA bis Malaysia.
Ein Fluch namens Corona
2020 hätte erneut eine Weltmeisterschaft stattfinden sollen. Doch die fiel, wie praktisch alles andere auch, Corona zum Opfer. Wann und in welchem Rahmen die Schweizer Quidditch-Liga, die derzeit aus acht Teams besteht, wieder startet, ist unklar. Ebenfalls, ob die beiden Solothurner Teams daran überhaupt teilnehmen können. Der Mitgliederschwund, über den nicht nur Sportvereine, sondern etwa auch Guggenmusiken klagen, hat auch sie getroffen. Waren die Occamys Olten 2019 noch zu neunt, zählen sie aktuell noch vier Aktive, bei den Solothurner schrumpfte die Mannschaft auf fünf und da bei einem regulären Quidditch-Match sieben Spieler auf dem Feld stehen … «Und Spielerinnen», fällt mir Patrick ins Wort, «Quidditch ist ein gemischtgeschlechtlicher Sport. Eigentlich musst du mindestens drei Frauen im Team haben. Das macht die Sache noch schwieriger …»
Das Freundschaftsspiel zwischen den beiden Vereinen hätte daher auch eine Art Neustart sein sollen. Irgendwann muss man ja wieder anfangen. Doch zeigt sich auch an diesem Samstagabend das Problem fehlender Mitglieder. Neben Stefan und Patrick haben es nur drei weitere Spieler, allesamt Männer, allesamt von den Phönixen Solothurn, auf die Bifangmatte geschafft. «Den einen ist der Weg zu weit, die anderen haben Stress im Beruf oder in der Schule», erklärt es sich Patrick und erzählt mit Bedauern, dass sie sich 2020 an der abgesagten SoloCon, einer Convention für Gamer, Fantasy-Fans und anderem Nerdtum, hätten vorstellen können. Es ginge immer noch drum, den Sport bekannt zu machen. «Beim Fussball war das ja am Anfang auch nicht anders», pflichtet ihm Andi, 33, Laborant und seit 2018 dabei, zu.
Saugutes Cardio
Ein reguläres Spiel liegt an diesem Abend also nicht drin. Gespielt werden soll aber trotzdem. Weil die Ringe stehen (und bisher nur einmal von einem übermütigen Kind umgestossen wurden). Weil wir hier sind. Und weil es halt einfach verdammt viel Spass mache. Also wird kurz besprochen, wie. Raus kommt: Zwei Jäger gegen zwei Jäger und Stefan macht den Treiber, der anstatt wie üblich einem Team zuzugehören, dieses Mal neutral allen Jägern mit seinen Klatschern das Leben schwer macht. Nachdem sich alle einen Besen geschnappt haben, knien sich die Jäger bei ihren jeweiligen Torlinien auf den Rasen. Stefan gibt das Kommando: «Ready? Ready? Brooms down! Brooms up!» Die Mini-Partie ist eröffnet.
Und tatsächlich: Da geht ordentlich was ab auf dem Spielfeld. Schon nur bei fünf statt vierzehn Spielern scheint es schwierig, den Überblick zu behalten. Die Bälle wechseln schnell, wer von Treiber Stefan getroffen wird, muss den Ball an Ort und Stelle fallen lassen und einen seiner Torringe berühren. Dementsprechend wird gerannt, viel gerannt. Tore fallen, Menschen fallen zu Boden. Es wird auch mal gecheckt. Nach etwa fünf Minuten stehen sie nicht mehr auf. «Stopp! Pause!», keucht Niels, mit 44 der Älteste in der Runde. Und an uns gewandt: «Saugutes Cardio ist das – aber ich bin nach zwei Minuten k. o.!»
Gesucht: Quidditch-Nerds
Acht Quidditch-Mannschaften gibt es in der Schweiz, die meisten davon in grossen Städten – in Zürich, Basel, Genf, Luzern. Im Kanton Solothurn hat es gleich zwei und beide kämpfen um Mitglieder. Ob eine Fusion nicht die Lösung für das Problem wäre? «Haben wir auch schon überlegt», meint Stefan, «aber wir haben jetzt schon das Problem, dass für manche die Anfahrt zu lange dauert.» Das richtige Mittel, da sind sich alle einig, ist mehr Aufmerksamkeit. Ihre Hoffnung: Die Schweiz wird Austragungsort der Weltmeisterschaft. Das würde einen Boom auslösen, sind sie überzeugt.
Wer bis dahin nicht warten will: Sowohl die Occamys Olten als auch die Phönixe Solothurn freuen sich jederzeit über Interessierte, die an einem Schnuppertraining teilnehmen oder auch einfach mehr über die so kuriose wie fordernde Sportart erfahren wollen. Einen Vorteil hat dabei der Umstand, dass es in der Muggel-Welt keine fliegenden Besen gibt: Man muss sich selber kein eigenes, sauteures Exemplar anschaffen. Die der Norm der International Quidditch Association entsprechenden Brooms werden ebenso vom Verein zur Verfügung gestellt wie die Torringe. Sportbekleidung, ein Paar Fussballschuhe und schon ist man mit dabei.
Das historische Städtchen Klus zwischen Balsthal und Oensingen erinnert an jene Zeiten, als die Industrie im engen Tal noch blühte. Heute blättert die Farbe an den Fassaden. Grosse Arbeitgeber wie von Roll sind nicht mehr. Auch im Thal nahm die Zahl der Arbeitsplätze mit dem Strukturwandel ab – weg von der Industrie hin zur Dienstleistungsgesellschaft. Die Folge: Über 20’000 Fahrzeuge rauschen täglich durch die Klus. Aus den drei Juratälern Dünnerntal, Guldental und Waldenburgertal und über die Übergänge Schelten, Passwang und Oberer Hauenstein rollen die Autos morgens Richtung Klus und abends von Oensingen her wieder hoch. Die Klus wirkt dabei wie der Engpass bei einer Sanduhr. Seit 50 Jahren diskutiert die Politik darüber, wie sie das Verkehrsproblem lösen soll. 2006 kamen die Behörden über eine Mobilitätsstrategie zum Schluss: Nur eine Umfahrungsstrasse kann die Stausituation in der Klus lösen.
Das Projekt
Eine neue Strasse soll den Verkehrsfluss garantieren. Mit ihr wollen die kantonalen Verkehrsplaner die grossen Bremsklötze umfahren. Übergänge für Zufussgehende, ein zu kleiner Kreisel in der Klus, eine Bahnschranke: Die Expertinnen machen sie als Ursache für den Rückstau aus. Sie glauben, das Problem lasse sich mit einem Viadukt und einem Tunnel lösen. Die Verkehrsanbindung Thal steht stellvertretend für zwei grosse Debatten unserer Zeit: Wie gelingt es, periphere, wirtschaftsschwache Regionen anzubinden? Ist eine Strasse wie diese noch zeitgemäss, wo die Schweiz drauf und dran ist, am Klimaziel Paris 2050 vorbeizusteuern?
Die Geldfrage
Für die neue Strasse beantragt der Kanton einen Kredit von 74 Millionen Franken. Weil das Referendum ergriffen wurde, entscheidet die Stimmbevölkerung an der Urne über das Projekt. Knapp 64 Millionen finanziert der Kanton, rund 8 Millionen steuert die Gemeinde Balsthal bei (unterstützt durch andere Thaler Gemeinden). Wie die Entlastungsstrasse der Region Olten wäre auch die Umfahrung Klus hauptsächlich durch die Motorfahrzeugsteuer finanziert. Die Gelder aus dem kantonalen Topf müssen explizit für den Strassenbau und –unterhalt eingesetzt werden. Wir haben bei Bernardo Albisetti, Departementssekretär im Bau- und Justizdepartement des Kantons, nachgefragt, was dies genau bedeutet:
«Gelder aus diesem Topf dürfen nur verwendet werden, wenn ein unmittelbarer Bezug zum Strassenbau besteht. Dies könnten auch Massnahmen sein, die beim Ausbau von Nationalstrassen auf Wunsch des Kantons erstellt werden.»
Heisst dies, die Gelder könnten bei einer Ablehnung der Umfahrung Klus auch anders eingesetzt werden? Zum Beispiel für subventionierte öV-Abonnemente oder alternative Verkehrsprojekte auf der Strasse?
«Ohne, dass ich eingehende Abklärungen gemacht habe: Solche Vorschläge wären durch die gesetzliche Grundlage im kantonalen Motorfahrzeugsteuergesetz wohl nicht abgedeckt und zudem politisch sehr umstritten.»
«Wir können den öffentlichen Verkehr nicht ausbauen, weil er im Stau steht»
Stefan Müller-Altermatt. Quelle: zvg
Im Thal waren die letzten Wochen von einem heftigen Abstimmungskampf geprägt. Die Befürworterinnen machen die künftige Entwicklung des Thals von der neuen Strasse abhängig. Die Gegner bekämpfen das Projekt wegen der hohen Kosten und dem Eingriff in die Natur. Denn das Thal ist seit über zehn Jahren ein vom Bund zertifizierter Naturpark. Ein beliebtes Ausflugsziel, das mit seinen weiten Jurawäldern einlädt. Stefan Müller-Altermatt ist Mitbegründer des Naturparks und eine der bekanntesten Persönlichkeiten im Thal. Der CVP-Nationalrat ist zugleich Gemeindepräsident von Herbetswil und setzte sich in den letzten Jahren vehement für eine progressive Umweltpolitik ein. Und doch plädiert er nun ebenso bedingungslos für die neue Strasse.
Sie waren Befürworter des CO2-Gesetzes, nun möchten Sie eine millionenteure Strasse unterstützen. Steht die Verkehrsanbindung Thal nicht symptomatisch dafür, warum die Schweiz mit dem Klimaschutz nicht vorwärtskommt?
Nein, man muss sehen, was für ein Spezialfall das Thal ist. Bis in die 60er-Jahre pendelten die Menschen ins Thal, um Arbeit zu finden. Sie waren bei von Roll, in der Uhrenindustrie, im Presswerk Mümliswil und so weiter tätig. Doch all diese Arbeitsplätze sind ins Mittelland abgewandert. Darum müssen die Thaler heute den Arbeitsplätzen «nachpendeln». Das ist eine Situation, wie sie in der Schweiz selten ist. Die Thaler sind nicht ins Grüne umgezogen und pendeln, weil sie dies wollen. Unsere Geschichte zwingt uns zum Pendeln. Weil dies nur durch den Flaschenhals der Klus geht, können wir nicht anders, als im Stau zu stehen.
Trotzdem: Ist es noch zeitgemäss, eine Strasse wie diese zu bauen, die Millionen verschlingt?
Irgendwann haben die alternativen Wege auf der Zeitachse und auf dem Mengengerüst ihre Limitationen. Wir sind so weit weg von einer anderen Lösung, dass es nicht ohne Ausbau geht. Der Umweltbericht spricht eine deutliche Sprache: In zehn Jahren hat die Strasse eine positive Umweltwirkung, weil die Thaler nicht mehr in der Kolonne stehen. Zudem können wir heute den öffentlichen Verkehr nicht ausbauen, weil er im Stau steht.
Der Gemeindepräsident von Langenbruck sagte neulich in der bz basel, er stehe im Stau, wenn er mit dem Auto nach Oensingen fahre, um den Zug nach Zürich zu nehmen. Die Zeitersparnis gegenüber dem öV beträgt zehn Minuten. Würden mehr auf den öV setzen, wäre der Stau weniger ausgeprägt.
Es geht bei der Frage, ob man den öV oder das Auto nimmt, eben nicht nur um diese zehn Minuten. Die meisten, die mit dem Auto nach Oensingen fahren, tun dies, weil sie sonst keine Anschlüsse haben. In Oensingen gibts nur stündlich einen Intercity plus zwei Regionalzüge je Richtung. Und diese müssen durch die Klus aus drei Tälern erschlossen werden. Da kann der öV kaum alle Ansprüche erfüllen – und schon gar nicht, wenn er noch im Stau steht. Auch ich fahre oft mit dem Elektromobil durch die Klus, weil ich sonst miserablen Anschluss nach Bern habe.
Aber dann ist der schwache öV-Knoten in Oensingen das Problem.
Auch, ja. Aber vor allem, weil der öV im Thal total unsicher ist. Ein Beispiel: Diese Woche stand das Postauto vom Dünnerntal herkommend im Stau. Ein anderes Postauto musste den Kreisel blockieren, damit wir den Anschluss nicht verpassten. Wir kommen nicht mehr weg und zurück ins Thal – auch mit dem öV nicht.
Die Gegner sagen, die Umfahrung werde das Problem nur verlagern, ähnlich wie dies bei der Entlastungsstrasse der Region Olten (ERO) der Fall ist.
Bei der ERO war bekannt, dass die Erweiterung nötig wäre. Für die Umfahrung Klus sind die Modelle klar, wir haben auf der neuen Strasse keine Querbeziehungen mehr. Man kann den Fachleuten auch einfach mal glauben.
Könnte der Kanton Solothurn sich nicht innovativ zeigen, eine Vorreiterrolle einnehmen und die 74 Millionen einsetzen, zum Beispiel indem er Projekte fördert, die im Thal Carsharing ermöglichen, oder öV-Abos subventioniert?
Sie könnten noch eine halbe Stunde Alternativen aufzählen. Ich sage Ihnen, sie reichen nicht aus. Wir operieren in einem gewerblich-industriell geprägten Raum. Das Gebiet ist weit verzettelt und die Menschen arbeiten dezentral. Die Bedürfnisse mit Carsharing abzudecken ist schwierig. Ich wünschte mir auch, dass alternative Modelle möglich wären. Die Struktur der Bevölkerung lässt es aber nicht zu.
Die neue Strasse tangiert ein neues Quartier, während bisher ausschliesslich die Klus betroffen war. Macht dies Sinn?
Auch bezüglich des Lärmschutzes kommt der Umweltverträglichkeitsbericht zu einem positiven Fazit. Mit der Klus würde ein ganzes Städtchen vom Verkehrsmoloch befreit. Und dank entsprechenden Massnahmen wie Lärmschutzwänden und modernen Strassenbelägen werden im benachbarten Quartier wesentlich weniger Lärmemissionen verursacht.
Wer kriegt die Ferienwohnung auf der Riederalp? Wer führt die Apotheke weiter? Am liebsten würde Kaspar Heinzer alles seiner Enkelin vermachen. Denn mit den eigenen Kindern ist’s so eine Sache. «Über d’Ching regsch di bis nachem Tod uf», sagt Mike Müller – in der Rolle als Heinzer senior post mortem. Blaues Licht.
Während Vater Heinzer im Jenseits über das Leben und das Danach philosophiert, kommt seine Erbsache vors Gericht. Dort verkörpert Mike Müller alle auf einmal. Er verpackt die Charaktere in sein Stück, wie auf den hiesigen Bühnen es nur wenige verstehen. Von der dominanten Bündner Richterin über den schnöden Zürcher Anwalt bis zu dessen Gegenspieler aus dem Wallis, der gelassen bleibt und mit lateinischen Weisheiten prahlt.
Zusätzliche Frische verleihen dem Stück die Zeugen. Die beiden Polizisten und die Spitex-Pflegefachfrau «Coco», die mit einem Balletttanz die Bühne betritt. Eine absurd-witzige Szene, typisch Mike Müller. Sie lässt die Zuschauerin kurz durchatmen und bringt den vielseitigen Protagonisten ausser Atem. Das hindert den Alleindarsteller nicht daran, die Gerichtsverhandlung in gewaltigem Tempo fortzuführen.
Auch das Spiel mit den Dialekten beherrscht der aus Olten stammende Schauspieler. Er beweist dies anhand der drei Geschwister, die sich gegenübersitzen und Wortgefechte liefern. Nur der Älteste bleibt bis kurz vor Schluss ein imaginäres Wesen. Denn: Er spricht nie. Die Schwester hingegen ist penetrant und will alles für sich. Der Jüngere interessiert sich mehr für die Ablaufdaten der familieneigenen Apotheke, um seine Drogenaffinität zu stillen. Nicht die romantische Idee vom jungen Sohn, sie könnten doch alles als Erbgemeinschaft übernehmen, obsiegt. Dafür ist das Leben nach Mike Müller zu unberechenbar. Im Jenseits kommt Kaspar Heinzer derweil zur Einsicht, dass sich durch ein Testament nicht die im Leben begangenen Fehler beheben lassen. Die Geschichte der Familie Heinzer lehrt: Das Testament als Misstrauensvotum kann wie Gift wirken.
Auf der Bühne tut Mike Müller, was ihn auszeichnet. Er hält der Schweizer Gesellschaft einen Spiegel vor. In seine Charaktere projiziert er zahlreiche typisch schweizerische Eigenschaften. Aber er versteht es, diese so zu verpacken, dass das Stück nicht zu einer Abhandlung von Klischees verkommt. Somit gelingt es ihm, das Publikum immer wieder zu überraschen.
Sie haben noch Familie in Olten. Fürchtet sich Ihr Bruder schon davor, wenn sie gemeinsam das Erbe ausmachen müssen?
Nein. Er war gestern da, wir haben nachher länger getrunken und geredet (lächelt). Aber wir haben nicht ein einziges Mal ausgehandelt, wie wir dies machen, weil es bei uns kein Problem sein wird. Da bin ich ziemlich sicher.
Wie kam es dazu, dass Sie nun auf der Bühne der Erbsache nachgehen?
Schwierig zu sagen. Ich habe immer mögliche Stoffe im Kopf. Dann überlege ich mir: Ist das eine gute Idee für ein Stück, einen Film, eine Serie, 140 Zeichen auf Twitter oder reicht es für einen Sketch? Das ist von Stoff zu Stoff unterschiedlich. Und reift dann vor sich hin. Der Prozess ist immer interessant für die Bühne.
Aber es hätte kein Erbprozess sein müssen.
Bei einem Strafprozess würde die Geschichte anders erzählt. Das Erbe interessierte mich schon immer, weil es je nach soziologischer Schicht komplett anders abgehandelt wird und eine andere Bedeutung hat. Und weil man viel über die Geschichte eines Landes und die Ökonomie, aber auch über nicht erhaltene Liebe oder unerledigte Dinge erfährt. Ich habe mich für dieses Stück intensiv mit einem Juristen getroffen, der Erbrechtsprofessor und Oberrichter war. Er konnte sehr viel erzählen, aber verstand auch, was funktioniert und was nicht. Mein Stück ist in der Realität nicht möglich, weil das Meiste über den Schriftverkehr stattfindet.
Sie pflegen zu sagen, man arbeite mit dem, was man hat. Wer dieses Stück sieht, könnte denken, Sie hätten Recht studiert.
Man recherchiert je nach Gebiet unterschiedlich. Bei einem Recherchestück wäre es nochmal anders: Da führen wir Interviews und nur was auch wirklich gesagt wurde, kommt auf die Bühne. Das ist hier nicht der Fall. Aber ich war für dieses Stück auch vor Gericht und bei Urteilsverkündungen dabei. Am Ende bin ich Unterhaltungskünstler und muss in diesen 80 Minuten etwas Interessantes machen.
Was haben Sie für ein Verhältnis zu Geld?
Das ist eine schwierige Frage. Mir kommen nur Banalitäten in den Sinn.
Oder zu Vermögen?
Ich komme nicht aus einer Schicht, in der man grosse Vermögen anhäuft, aber in der man gut lebte. Das ist auch für mich entscheidend. Luxus ist, gut zu leben. Nicht riesiges Vermögen zu akkumulieren. Das hat auch mit meinem Beruf zu tun. Ein Unternehmer muss Vermögen akkumulieren, um überhaupt unternehmerisch tätig zu sein.
Was lehrt das Schweizer Erbrecht über unsere Gesellschaftsstruktur?
Ich kann nur sagen, was ich gelernt habe. Was mein Stück den Menschen mitgibt, mag ich mir nicht gross überlegen. Mein Auftrag ist es, ein Unterhaltungsstück zu machen: so schlau und so lustig wie möglich. Was ich durch meine Recherche erfuhr, ist: In der Schweiz herrscht eine grosse Testierunwilligkeit, wie man sagt. Andererseits kann man im Testament nicht alles lösen, was man vorher verbockt hat. Das Testament ist nicht immer die Lösung.
Das transportieren Sie auch in Ihrem Stück.
Im Prinzip sollte ein Testament so geschrieben sein, dass alle einverstanden sind. Es ändert sich nun auch einiges im Testamentsrecht. Die freie Quote wird grösser, über die man verfügen kann. Bisher war der Spielraum gering. In den USA ist der Erbausschluss in gewissen Familien ein ständiges Damoklesschwert. Das ist bei uns nicht möglich, ausser du würdest was tun, was Schande über die Familie bringt. Wie etwa ein Kapitalverbrechen. Sonst kann man hierzulande niemanden vom Erbe ausschliessen. Auch wenn man Krach hat ohne Ende und einander zum Teufel wünscht.
Wenn Sie ein Testament schreiben würden, dann also nur in Absprache mit den Nächsten?
Ich habe ein Testament geschrieben. Ich muss auch, denn ich bin kinderlos. Aber wer verheiratet ist und Kinder hat, braucht eigentlich kein Testament zu schreiben. Da ist der Fall klar.
Als ob er im Restaurant Rathskeller stehen würde, dreht sich Hans Schmid um die eigene Achse. Mit dem Zeigfinger sticht er Luftlöcher und zählt vor dem inneren Auge die Weinfässer ab, die damals an den Kellerwänden der Traditionsbeiz standen. «Um die 22 müssten es gewesen sein», sagt er. Dass dort unten mindestens 16 Weinfässer lagerten, kann er in seinem eigenen Keller belegen. Zwei der ovalen, massiven Eichenfässer, die sein Grossvater schuf, hat er aufbewahrt. Auf einem prangt die Nummer 16. Jahrgang 1923. Am Kopf ist der Name Hans Schmid eingraviert.
Wenn Peter Schmid durch den Keller führt, scheint er noch immer der Bube seiner Kindheit zu sein, der Grossvater und Vater ihrer Fertigkeiten wegen bewunderte. Denn wie in dieser Zeit üblich, trugen Vater und Sohn nicht nur den gleichen Namen. Hans Junior übernahm auch dessen Berufung. Sie beide waren Küfer.
Eingraviert und eingebrannt
Das änderte sich mit der Industrialisierung. Hans Junior nannte seinen eigenen Sohn Peter. Und Peter erlernte nicht den Küfer-Beruf. Ob er denn nicht gerne Küfer geworden wäre? «Nie im Leben», sagt der heute 88-Jährige. «Das ist ein Beruf, der einging.» Er schaut auf seine Hände und zählt vor, dass heute schweizweit noch 6 Küfer übriggeblieben seien. Peter Schmid ging zur PTT, der heutigen Post. 41 Jahre lang wirkte er als Briefträger und Chauffeur, übte «einen Beruf aus, den jeder erledigen kann», wie er abwertend sagt. Der alte Mann fügt an, dass er ja eigentlich Drechsler hätte lernen wollen. Sein ausgebliebener Berufswunsch lässt spüren: Gerne hätte er die eigene Familiengeschichte der begabten Handwerker weitergeschrieben.
Vielleicht auch darum verspürte er den Drang, das Werk seiner direkten Vorfahren zu bewahren. Eine Prise Nostalgie schwingt in der Stimme mit, wenn er vom Beruf der Küfer erzählt. Davon, wie der Vater die Fässer bei Vollmond schlug. Wie er das Berufsgeheimnis wahrte. «Das war eine Wissenschaft», sagt Peter Schmid. Er zieht ein Buch aus dem Regal und blättert durch die mit komplexen geometrischen Berechnungen geschmückten Seiten, die von der Kunst des Fassbaus handeln. An den Wänden hängen dutzende Werkzeuge, die nur ein Jahrhundert später antik wirken.
Papa Hans Schmid bei der Arbeit im Rathskeller-Weinkeller. Er verstarb bereits mit 52 Jahren.
1880 war Peter Schmids Grossvater als Küfermeister aus dem aargauischen Hägglingen nach Olten gezogen. «Der alte Lang kaufte den bloss drei Wochen gegärten Wein im Wallis. Dann war er am günstigsten», erzählt Schmid, wie sein Grossvater im Dienst von Werner Lang-Bürgi arbeitete, der das Traditionsrestaurant 1901 übernommen hatte. Die Langs kauften von den Rebsorten Fendant und Johannisberg und liessen die Trauben durch die Schmids keltern. Peter Schmid erinnert sich, wie sie den Wein stundenlang vom einen Fass ins andere pumpten. «Das musste richtig gemacht werden, sonst konnten 600 Liter Wein zu Essig werden.»
Mit zehn an Vaters Seite
Peter Schmid begleitete seinen Vater schon als Bub täglich in die Weinkeller und half mit, die Flaschen fürs Restaurant zu verkorken. Nicht nur im Rathskeller verdienten die Schmids ihr Geld. Auch im Salmen, Löwen und im Kreuz unterhielten sie die Weinfässer. Zudem zählten die wohlhabenden Oltner zu ihren Kunden. Zahnärzte, Ärzte und Chefredakteure besassen im Keller den eigenen Wein aus dem Wallis oder dem Burgund. «Das war eine Prestigeangelegenheit», sagt Peter Schmid. Ein weiterer Erwerbszweig der Küfer war die Landwirtschaft. Für die Bauern bauten sie etwa die Holzgüllenfässer.
Die Bilder aus den Weinkellern und Beizen haben sich in Peter Schmids Gedächtnis eingebrannt. Wenn er als Bub mit dem Vater in den «Chöbu» kam, sassen da die «alten vornehmen Geschlechter» – Büttiker, Stuber, von Arx und wie sie alle hiessen – am runden Stammtisch. Sie alle hatten ihren eigenen Stuhl. «Der Rathskeller war ein Traditionsrestaurant, die Kundschaft nicht gemischt wie heute, wo sich Arm und Reich treffen.»
Durch seinen Beruf verkehrte sein Vater mit der noblen Gesellschaft. «Früher ging er im Schweizerhof mit dem Kranen-Stirnimann essen», erzählt Peter Schmid auf der Gartenterrasse am Hausmattrain, die den Blick auf die Oltner Altstadt und die Schützenmatte freigibt. «Mein Vater war ein stolzer Küfer.» Das Hotel am Bahnhofquai galt als Spitzenadresse, in der sich nur «die Crème de la Crème» abgab. Auch im Schweizerhof überwachten die Schmids den Wein.
Auf immer verbunden
Als Mitglied der Stadtschützen war Vater Hans Schmid auch in der Freizeit mit dem «Chöbu» verbunden. Der Rathskeller war schon immer ihr Lokal gewesen. Werner Lang-Bürgi schenkte den Stadtschützen die erste Kanone – ein Dank an die treuen Stammgäste. Nicht nur als Küfer genoss Hans Schmid derweil hohes Ansehen. Bei den Stadtschützen machte er sich einen Namen, weil er der Erste war, der mit einer Kanone schoss.
Peter Schmid führte das Erbe seiner Vorfahren nicht fort, aber er bewahrte es. Noch heute prangt an der Küfer-Werkstatt, die Hans Schmid senior aufgebaut hatte, das Originalschild. Zum Ende des 19. Jahrhunderts hing es noch am Kronenplatz, wo der Grossvater einst seine Werkstätte eröffnet hatte. Auch diese hat Peter Schmid dokumentarisch festgehalten. Im Wohnzimmer hängt ein Bild der Oltner Altstadt in ihrer ursprünglichen Form. Am Abhang der heutigen Mühlegasse erstreckte sich damals noch ein zusätzlicher Gebäudezug, in welchem die Familie Schmid daheim war. Später zogen die Küfer hoch an den Hausmattrain. Die Weinfässer verschwanden in den 50er-Jahren aus dem Chöbu-Keller. Peter Schmid blieb als Zeitzeuge und als Stammgast. Noch heute kehrt er hin und wieder auf ein Bier im Rathskeller ein. «Der Chöbu hat viele Höhen und Tiefen durchgemacht», sagt er. In seinen 88 Lebensjahren hat er viele miterlebt.
Mal im eigenen Garten ein kleines Dach installieren, um ein paar Velos darunter zu stellen. Ganz so einfach ist dies in der Schweiz meist nicht. Im Kanton Solothurn ist es sogar illegal. Denn im Baugesetz ist detailliert festgehalten, wofür es alles ein Baugesuch benötigt. Die Formel ist ziemlich einfach: Nahezu jegliche bauliche Veränderung muss durch die öffentliche Verwaltung geprüft sein.
Die Gesellschaft hat es so gewollt und die Gesetze erlassen. Zu unserem aller Schutz. Gäbe es sie nicht, könnte die Nachbarin unbemerkt und ohne Kontrolle einen dreistöckigen, knallfarbenen Velounterstand bauen. Die Konsequenz der Gesetze ist aber: Selbst schlichte Veränderungen, welche die Nachbarschaft kaum beeinträchtigen, werden überprüft. Die soziale Kontrolle funktioniert: Oft melden Nachbarn bei der Stadt, wenn nebenan etwas ausserhalb der Norm läuft. «Immer, wenn der ‹liebe› Nachbar eine Meldung macht, müssen wir die Situation überprüfen», sagt Stadtbaumeister Kurt Schneider. Die Ressourcen schränken die baupolizeilichen Aufgaben massiv ein. Jene, die etwas gebaut haben ohne Baubewilligung, fühlen sich dann oft vor den Kopf gestossen. Aber auch wenn der korrekte Weg eingeschlagen wird, gerät die Stadt in die Kritik. Das Verfahren sei mühsam, die Stadt lege absichtlich Stolpersteine in den Weg, so die Vorwürfe. Wir haben Stadtbaumeister Kurt Schneider mit einem konkreten Leser-Input konfrontiert.
Wieso braucht es in Olten für einen einfachen Velounterstand ein Baugesuch?
Nicht die Verwaltung entscheidet, ob es ein Baugesuch braucht oder nicht. Wir nehmen unser Pflichtenheft wahr, welches auf der kantonalen Gesetzgebung basiert. In den Baukonferenzen wurde sie detailliert ausgelegt. Im Grundsatz gilt: Was auf die Dauer angelegt ist – länger als 3 Monate – untersteht der Baugesuchspflicht. Ein Gartenbassin, ein langfristig parkierter Wohnwagen, ein Kleintierstall oder gar ein Gartencheminée: Die Liste ist lang, die Pflicht beginnt früh. Vieles hat Auswirkungen auf die Nachbarschaft. Und diese sollte mindestens wissen, wenn etwas erstellt wird.
Basel-Stadt verlangt für kleine Velounterstände kein Baugesuch. Warum ist der Kanton Solothurn hier restriktiver?
Es gibt nochstrengere Baugesetze als unseres. Der Kanton Aargau zum Beispiel hat im Gesetz definiert, dass es für Kleinstbauten von bis zu zweieinhalb Quadratmetern keine Baubewilligung braucht. Der Umkehrschluss ist aber schnell: Für alles andere ist ein Baugesuch zwingend. Um den Aufwand zu reduzieren, gibt es bei unsdas vereinfachte Verfahren. Wer eine Unterschrift bei der Nachbarschaft holt, braucht das Gesuch nicht zu publizieren. Beim normalen Verfahren müssen wir das Gesuch veröffentlichen. Aber hier ist der Kanton Solothurn weniger streng als manch anderer Kanton: Das Gesuch liegt nur 14 Tage auf. In den meisten Kantonen sind es 30 Tage.
Die gesetzliche Grundlage lässt Interpretationsspielraum offen. Mag es sein, dass Olten das Gesetz in der Praxis streng auslegt?
Für die Bewilligungspflicht gibt es praktisch keinen Spielraum. Da ist die Antwort nur Ja oder Nein. Wer zum Beispiel den Garten ohne bauliche Massnahmen gestaltet, braucht keine Bewilligung. Verbietet die Politik Steingärten, wirkt sich dies auf die Bewilligungspflicht aus. Denn es gibt ansonsten keine Möglichkeit, die Vorgabe zu überprüfen.
Das mag sein, aber die Verfahren laufen individuell ab. Gemäss Rückmeldungen soll die Stadt immer wieder Stolpersteine in den Weg legen.
Wir haben den Prozess aufgezeichnet, um im Verfahren eine klare Struktur zu haben. (Kurt Schneider zeigt ein mehrseitiges Ast-Diagramm.) Vielfach sind verschiedene Beteiligte involviert, wie etwa die Abteilung Tiefbau, die Abteilung Ordnung und Sicherheit, die Feuerwehr und so weiter. Natürlich sind für die Hochhäuser im Areal Bahnhof Nord mehr Amtsstellen involviert als bei einem Veloständer. Bei einem Veloständer kann die erforderliche Grünflächenziffer ein Stolperstein sein. Oder – gerade bei einem Reihenhaus – dass der Mindestabstand von zwei Metern zum Nachbarn nicht gegeben ist. Dann ist dessen Zustimmung notwendig.
Aber es ist öfter zu hören, dass die Bauverwaltung pingelig vorgeht. Beispielsweise im Fall einer einfachen Dachsanierung hätten Sie einen Baustopp veranlasst.
Für einen Baustopp muss ein Verstoss gegen das Gesetz vorliegen. Wenn jemand ohne Bewilligung baut, sind wir verpflichtet, zu handeln. Das mögen die Betroffenen natürlich nicht, da wir laufende Bauarbeiten unterbrechen. Die Bauherrinnen erzählen dann natürlich nicht, dass sie sich rechtswidrig verhalten haben, sondern wettern lieber über Pingeligkeit. Ein einfacher Ersatz von Ziegeln ausserhalb der Schutzzone bedingt keine Bewilligung. Sofern aber das Dach neu gedämmt wird und damit sich auch die Gebäudehöhe verändert, ist ein Baugesuch notwendig. In der Regel beinhaltet ein solches Projekt noch ein neues Dachfenster oder eine neue Nutzung des Dachgeschosses. Es geht in diesen Fällen neben dem Baurecht auch um die Einhaltung des Energiegesetzes, Gewässerschutzgesetzes und der Brandschutzvorschriften.
Bei einem konkreten Fall entstand ein Velounterstand auf einem Abstellplatz. Dieser würde dadurch per Gesetz aufgehoben. Die Besitzer hätten dies im Grundbuchamt eingetragen müssen, was eine hohe Gebühr nach sich zieht. Zudem verlangt das kantonale Gesetz eine Ersatzabgabe, weil der Parkplatz aufgehoben würde. Das Gesetz impliziert noch immer, dass es für ein Einfamilienhaus einen Parkplatz braucht. Fällt er weg, muss ein Abstellplatz im öffentlichen Raum entgolten sein. Ist das Baugesetz noch zeitgemäss?
Gewisse Regeln sind generell abgefasst. Sie stimmen im Grundsatz, aber nicht in jedem individuellen Fall. Gerade in Olten, wo wir viele Reihenhäuser haben und im Vorgarten wenig Platz ist. Da kommen wir nicht darum herum, eine Auslegepraxis zu etablieren. Hier soll das überarbeitete Parkierungsreglement, das im Rahmen der Ortsplanung wieder auf den Tisch kommt, eine bessere Ausgangslage bieten.
“Willkür wird in der Arbeit der Stadtverwaltung nicht geduldet.”
Wegen des versenkten Parkierungsreglements hinkt also die Gesetzgebung der Zeit nach?
Das geltende Parkierungsreglement ist nicht mehr zeitgemäss. Die Abstellplatzpflicht schränkt ein und steht im Widerspruch zur gesellschaftlichen Entwicklung.
Nochmals zur Kritik an der Bauverwaltung: Je nachdem, wer am Telefon sei, werde man unterschiedlich behandelt, hörten wir. Von einer Art Willkür war die Rede. Wie können Sie dies erklären?
Wir haben jeden Montag eine Koordinationssitzung und die Arbeit ist auf wenige Köpfe verteilt. Daher kann ich diesen Vorwurf schlecht nachvollziehen. Allenfalls spielt es eine Rolle, dass in der Stadt nicht überall die gleichen Regeln gelten. Je nach Zone müssen wir unterschiedliche Bestimmungen anwenden. Es ist klar, Willkür wird in der Arbeit der Stadtverwaltung nicht geduldet.
Willkür mag ein grosses Wort sein. Die Kritik gilt nicht der Bewilligung, sondern vielmehr dem Prozess. Je nach Ansprechperson laute die Anforderung anders, heisst es.
Es gibt wie überall unterschiedliche menschliche Charakteren. Am Resultat ändert dies aber nichts.
“Wir haben eine massive Steigerung an Baubewilligungsverfahren. Die Zahl der Gesuche ist in den letzten zwei Jahren von 150 auf über 200 Verfahren angestiegen.” Kurt Schneider, Stadtbaumeister Olten
Wie stark sind Sie bei den Baubewilligungsverfahren involviert?
Ich werde immer dort einbezogen, wo die Projekte komplexer werden. Aber auch wenn Einsprachen oder Beschwerden vorliegen. Die für die Stadt bedeutsamen Areale sind zurzeit die Erweiterung von Lindt & Sprüngli, die Hochhäuser beim Areal Bahnhof Nord oder das Projekt Tertianum (bei der Usego, Anm. d. Red.). Gerade weil wir ein kleines Team sind, übernehme ich als Leiter der Direktion bei Abwesenheiten auch operative Aufgaben. Zudem bin ich die erste Ansprechstelle der Baukommission. Diese neunköpfige Kommission erteilt die Baubewilligungen der Stadt.
Im zuvor genannten Beispiel des Velounterstandes schritten Sie am Ende persönlich ein. Sie teilten der betroffenen Partei mit, der Abstellplatz müsse nicht aufgelöst werden. Das Verfahren war somit viel einfacher.
Bei dieser grossen Anzahl an Baugesuchen und der knappen personellen Ressourcen kann man die Sicht aufs Ganze verlieren. Das ist unschön für alle Seiten, darum muss hier im Interesse aller eine Änderung erfahren.
Ist dort der Haken? Fehlt eben dieser Blick aufs Ganze, weil die Verwaltung in den Aufgaben versinkt?
Wir haben eine massive Steigerung an Baubewilligungsverfahren. Die Zahl der Gesuche ist in den letzten zwei Jahren von 150 auf über 200 Verfahren angestiegen. Zudem machen die laufenden Gesetzeserweiterungen unter anderem bezüglich Energie, Umwelt und Brandschutz sowie die Rechtsprechung das Verfahren laufend komplexer. Das ist eine gewaltige Anforderung an unsere Mitarbeiter. Ein solches System ist fehleranfällig. Auch die Dauer der Bewilligungsverfahren und die psychische Belastung nehmen zu. Wir werden zusätzliche Ressourcen fordern, nachdem uns diese vor zwei Jahren nach einem Referendum verwehrt blieben. Ich möchte nochmals darauf hinweisen: Die Stelle wäre durch die Gebühren finanziert und belastet das Budget nicht.
Bauen nun wegen der Pandemie alle ein Schwimmbecken daheim?
Ein Grund für die Zunahme war bestimmt, dass die Menschen mehr zuhause waren und sich Gedanken über ihr Wohnumfeld machten. Sei es nun mit einer Pergola oder einem Veloabstellplatz. Ein anderer Grund ist aber auch, dass man Zinsen zahlen muss, wenn das Geld auf der Bank liegt. Wer kann, steckt die flüssigen Mittel lieber in eine inflationsgesicherte Investition.
Ob auf einer kleinen oder grossen Bühne, glücklich und erfolgreich kann der Mensch auf beiden sein. Zwischen den Extremen bewegte sich das fünfte Kolt-Treffen. Hier das traditionelle Oltner Modehaus Bernheim, das immer seinen Wurzeln treu blieb – dort die weitgereiste Französin Brigitte Lacombe, die mit ihrer Kamera die Grossen aus Hollywood und der Modewelt an alle Ecken der Welt begleitet und sie mit ihren Bildern zu Ikonen unserer Zeit macht. Eines haben Bernheim und Lacombe gemeinsam: Beide fingen sie klein an und beide gingen unbeirrt ihren Weg.
Im Fall vom Modehaus Bernheim begann dieser im Jahr 1931. Alain Bernheim erzählte auf der Dachterrasse des Geschäfts an der Kirchgasse, wie seine Grosseltern in einer denkbar schlechten Zeit ihr Unternehmen mit zwei Schneiderinnen und fünf Angestellten lancierten. Gleich zu Beginn hatten sie die Weltwirtschaftskrise zu überstehen. Erst als der Franken aufgewertet wurde und die Inflation gestoppt war, kam das Oltner Modehaus allmählich in eine stabilere Lage. Damals war der Laden noch an der Hauptgasse vis-à-vis der heutigen Kreuz-Apotheke stationiert. Ab den 70er-Jahren begann das Modehaus zu expandieren und wuchs kontinuierlich. Wie sehr die Familie auf die Kleinstadt Olten und die Region setzt, veranschaulichte Alain Bernheim anhand seiner persönlichen Vita. «Ich kam nie aus Olten weg», sagte er, der das Haus in dritter Generation führt.
In den letzten Jahren bekannte sich der Familienbetrieb mit einem grosszügigen Ausbau an derKirchgasse zu seinen Wurzeln in der Stadt. Entstanden ist ein eindrückliches Modehaus, das in der Kleinstadt seinesgleichen sucht. Und dies in einer Zeit, in welcher der Onlinehandel innerhalb weniger Jahre etliche Ladenketten verdrängt und verschluckt hat. «Wir werden auch in Zukunft voll auf den stationären Handel setzen», sagte Alain Bernheim. «Wir glauben sogar, dass dieser irgendwann wieder an Bedeutung gewinnt.»
Zwischen den zwei Einblicken in die so weit auseinanderliegenden Modewelten blieb Zeit, um den Kopf zu lüften. Dazu eignete sich nichts besser als die verträumten Klänge der Indie-Band Ellas. Mit der gewaltigen Stimme von Leadsängerin Jorina Stamm füllte das Brugger Ensemble die Kirchgasse mit beeindruckender Intensität.
Vom steigenden Stern der Schweizer Musikszene zu den Weltstars auf Bildern
Im Stadttheater betrat Brigitte Lacombe mit ihrer unverkennbaren Schmetterlingsbrille die Bühne. Bereits über vier Jahrzehnte lang hat sie die Berühmtheiten mit ihrer Kamera aus ungewohnter Nähe festhalten dürfen. Mit ihren Fotografien machte sie sich in der Szene selbst zu einer Ikone. In Olten öffnete Brigitte Lacombe einen kleinen Teil ihres immensen Fotoarchivs. Wenn ihre Bilder um die Welt gingen und den Glamour von Hollywood zeigten, so bedingte dies drinnen auf dem Filmset eine tiefe Beziehung. Besonders verbunden ist Lacombe mit der US-Schauspielerin Meryl Streep, die sich am liebsten nur von der Französin ablichten liess. «Sie war immer sehr scheu und stand nie gerne vor der Fotokamera», sagte Lacombe mit ihrem französischen Akzent. Ihre Erzählungen blieben darüber hinaus weitestgehend an der Oberfläche. Die 70-Jährige liess ihre Bilder sprechen und zeigte neben Streep Fotos aus ihrer Arbeit an der Seite von Regisseur Martin Scorsese und der berühmten Modedesignerin Miuccia Prada.
Die Fantasiewelt von Erik Madigan Heck
In einem starken Kontrast zu Lacombe steht die Arbeit von Erik Madigan Heck, obwohl auch diese sich intensiv mit der Mode auseinandersetzt. Der 37-jährige US-Amerikaner aus Minnesota fand mit seiner Fotografie einen ganz eigenen Stil. Einen Stil, der ihm schon früh zahlreiche Auszeichnungen einbrachte. Eigentlich hatte Heck malen wollen, aber dann entdeckte er die grenzenlosen Möglichkeiten, mit der Fotografiebearbeitung zu spielen. Auf seinen Bildern schafft er Traumwelten, die surrealistische Elemente beinhalten. Oft dient seine Familie ihm als Modell, wie er mit seinem feinen Humor verriet. Heck transportierte seine Gedanken zur Fotografie in einem kleinen Plädoyer. Seine Maxime: Die Fotografie bilde nie die absolute Realität ab, sei dies auf die Farben oder Formen bezogen. Deshalb sollte seiner Ansicht nach nie danach gefragt werden, wie stark ein Bild bearbeitet sei. Heck sagt darum: «Fotografie ist eine technische Haltung.»
Irgendwann würde der Moment kommen. Irgendwann würde ich die letzten Schachteln noch aus dem Estrich meines Elternhauses runterholen müssen. Würde ich mich meinen Sammler-Genen stellen müssen. Mich der Frage stellen: Warum bewahre ich dies alles auf?
Der Karton roch eben wie Karton, der zwei Jahrzehnte lang im Winterhalbjahr etwas Feuchtigkeit abgekriegt und während einiger Hitzesommer wieder getrocknet wurde. Wie ich die Schachteln öffnete, da kam mir eine Flut an Erinnerungen entgegen.
Mit jedem Heft, das ich aus der Schachtel zog, hielt ich ein neues Puzzlestück meiner Kindheit in den Händen. Da war dieses Gefühl, das entsteht, wenn lose Bilder einen kleinen Film an Erinnerungen auslösen. Manchmal messerscharf. Manchmal ist der Verstand nicht mehr so ganz sicher, ob die Sinne die eine Geschichte mit einer anderen vermischen. Aber was mich beeindruckte, war, dass ich bei jedem Objekt eindeutigdas Gefühl in mir trug, etwas in den Händen zu halten, was ich geschaffen hatte. So muss sich eine Nahtoderfahrung anfühlen, dachte ich mir.
Da war ich, das Steinerschulkind. Ich war eines dieser Kinder gewesen, das in der Schule ein Bild malte und ein Lied dazu sang. So das Klischee, das ich mir über die Jahre hinweg immer wieder anhören musste. Wenn mich die Kollegen im Quartier fragten, in welches Schulhaus ich gehe, musste ich jeweils erklären, dass ich tagtäglich nach Langenthal pendle.
Meine Schulzeit war von Beginn weg nicht «normal». Angefangen bei der Einheitsklasse mit zwölf Schülerinnen im winzigen Solothurner Dorf Rohr. An den ersten Schultag mag ich mich nicht mehr erinnern. Meinen zwei Klassenkollegen im selben Alter dürfte es ähnlich ergehen. Wahrscheinlich weil der Schulstart für uns kein Meilenstein war, wie er gerne zelebriert wird. Der Bauernhof, unser Zuhause, hatte uns in den ersten Lebensjahren genug Aufgaben gestellt, die wir lösen und entdecken wollten. Wieso also würden wir den Unterricht und die Hausaufgaben brauchen?
Dem Regen übergeben: Eine Lehmfigur aus den ersten Schuljahren.
Mit der Schule arrangierte ich mich schnell. Mein Wissensdurst war geweckt. Aber aus den ersten beiden Schuljahren ist mir vor allem der lange Schulweg geblieben. Die Schlittenfahrten runter ins Dorf im Winter. Der lange Weg hoch nach Schulschluss durch den Wald, in dem ich Geschichten spann und mit den Elfen und Zwergen hinter den Bäumen sprach.
Der Bruch kam mit dem Umzug in die Stadt. Achteinhalb Jahre alt war ich, als meine Eltern meine Schwester und mich an die Rudolf-Steiner-Schule in Langenthal schickten. Ein harter Schnitt wäre es auch bei einem Wechsel an die Staatsschule gewesen, wie ich heute weiss. An einem Septembertag nach den Herbstferien suchte ich verzweifelt nach meiner neuen Klasse. Die Schule feierte eines ihrer vielen Feste. Auf dem gesamten Schulareal zogen Klassen umher. Die Menschenmenge überforderte mich, der ich im abgelegenen Jura grossgeworden war. Als ich dann endlich meine Klasse gefunden hatte, begann eine lange Reise. Am Anfang war sie beschwerlich. Monate verstrichen, ehe die neuen Gspänli mich akzeptiert hatten. Einsam zog ich in den ersten Pausen meine Runden ums Schulhaus, um den Schikanen aus dem Weg zu gehen. Irgendwann gehörte ich zum Kern der Klasse.
Wie ich nun diese Schachteln vor mir hatte, mich hinsetze und wie im Zeitraffer durch die Jahre blätterte, fragte ich mich, was die Steiner-Schule aus mir gemacht hatte. Wo waren eigentlich die Absichten der Steiner-Pädagogik oder ihre Philosophie zu spüren? Kann ich sie nun besser verstehen? Muss ich? In Gesprächen hab ich verschiedenste Falschmeinungen widerlegen müssen, was die Steiner-Schule nun ist oder eben nicht. Es war keine Schule für Begabte und auch nicht eine Schule, die explizit als Auffangbecken für schwächere Schüler da war. Den kompetitiven Vergleich kannten wir kaum und erst in den letzten Jahren. Das ist, was sich mir vielleicht am stärksten eingeprägt hatte. Selbst in der Oberstufe waren wir eine sehr diverse Klasse gewesen, mit unterschiedlichen Leistungsniveaus. Und irgendwo hatte jede ihre Stärken zeigen können.
«Vom Anfang der Welt», steht auf dem Titelblatt eines meiner ersten Hefte geschrieben. Die Bibelgeschichte nimmt darin eine zentrale Rolle ein. Wir malten mit Kreiden das Geburtshaus von Noah und wie er daraufhin die Arche erbaute. Und wir malten den Untergang der alten Welt und wie sie in die neue Welt überging. Heute würde ich aufstehen und den Lehrer fragen, warum wir dies machen. Als kleiner Bub tat ich wie geheissen.
Wer aber denkt, uns Steiner-Schülern sei die anthroposophische Weltanschauung des Begründers Rudolf Steiner eingetrichtert worden, irrt. Wir lernten nie bewusst, was die Anthroposophie umfasst. Fragte mich jemand danach, ich konnte ihm nicht antworten. Und ich erklärte, was die Schule ausmachte. Die Kreativität zog sich als roter Faden durch die Schuljahre. Zeichnung um Zeichnung fertigten wir. Selbst im Physikunterricht malten wir das Experiment, das der Lehrer vorne darbot. In der Biologie bildeten wir unsere Hand- und Fussabdrücke im Heft ab. In Geschichte malten wir ein Porträt eines ägyptischen Pharaos. Wir malten die Weltkarte, lernten die Mythologien vom alten Ägypten, den Kelten und den Römern. Vor allem in den ersten Schuljahren schrieben wir seitenweise von der Wandtafel ab. Verse, Gedichte und auch abgeschriebene Sachtexte füllten unsere buntfarbenen Hefte. Meist waren die Texte mit unseren Zeichnungen illustriert.
Selbstgebautes Djembe aus dem zehnten Schuljahr.
«Das ist ja unglaublich, was wir an Papier verschwendeten», sagte meine Schwester, als wir die Schachteln räumten. Sie zweifelte mehr an der Pädagogik der Schule als ich. Als ich meine Schulzeit neulich Revue passieren liess, fragte aber auch ich mich: Verloren wir damals wertvolle Zeit, während meine Kolleginnen an der «normalen» Schule strukturiert Stoff büffelten? Wohl kaum, denn mir fehlte es an nichts. Nur mein Defizit in der Mathematik später am Gymnasium war vielleicht ein wenig der Steinerschule geschuldet, aber doch mehr mir selbst, denke ich.
Mit meiner Schulzeit bin ich im Reinen. Aufschlüsseln zu wollen, was mir die Steinerschule auf den Lebensweg gab, finde ich schwierig. Wenn mich die Schule etwas lehrte, dann wohl, auf meine Sinne zu vertrauen. Ich tat dies am Johannifeuer zur Sommersonnenwende. Im Eurythmieunterricht, wenn ich meinen Namen tanzte. Auf der Theaterbühne zum Stück «Les Miserables» in der achten Klasse. Beim Strahlen im Steinkundelager. Als ich im Bauernpraktikum lernte, Schafe zu scheren. Oder unter dem Nachthimmel ob Bad Ragaz während des Sternkundelagers. Aber sonst waren wir nicht viel anders als die «anderen». Auch wir assen Hamburger und Birne Helene zum Dessert, wie ich im Lagertagebuch festhielt. Und ich träumte vom Beruf als Pilot, ehe meine Geschwister es mir ausredeten.
Was mich die Schule auch lehrte, war Gelassenheit. Sie kam mir zugute, als ich mich an der Kanti an das Staatschulwesen adaptieren musste. Bald hatte ich mich eingefügt. Mich an die blanken Noten gewöhnt. Ich fühlte mich nicht als Fremdkörper. Wir Steinerschüler waren durch unseren Weg im Geiste nicht weniger kritisch als die anderen Menschen dort draussen. In meinem Maturajahr begegnete mir die Arche Noah nochmal. In einem Aufsatz mussten wir eine Karikatur deuten. Stand die Arche Noah der Gegenwart für die Flucht vor dem Klimawandel? Oder als Symbol eines Ankers, der die Welt retten könnte, wenn die militärische Aufrüstung der Grossmächte aus dem Ruder läuft? Als Steinerschulkind wusste ich: Oft gibt es mehr als eine richtige Lösung.
März 2006, im Feuerwehrmagazin finden sich 150 Personen ein, um über Oltens Zukunft zu sprechen. Die Diskussion orientiert sich an abgedroschenen Leitsätzen. Olten will die «Lebensqualität im weitesten Sinne» verbessern. Nun, welche Stadt, welche Gemeinde will dies nicht? Konkret wird aber die Debatte zur Frage: Wohin will Olten und was muss die Stadt verändern, was bewahren?
Vor gut 15 Jahren galten die Verkehrsprobleme, der schlechte Ladenmix und die fehlenden Verweilorte als Negativpunkte. Das Positive der Kleinstadt an der Aare: die geografische Lage, das «sensationelle Naherholungsgebiet», gute Wohnqualität und eine offene Bevölkerung.
Dies war die Disposition. Wie Bilder aus einer anderen Zeit scheinen die Aufnahmen aus dem Feuerwehrmagazin damals. «Olten 2020 – eine l(i)ebenswerte Stadt» war 2006 das Motto zum Leitbild. Mehr Raum für Begegnungen wünschten sich die Menschen. Dass der Langsamverkehr in der Innenstadt bevorzugt und oberirdische Verbindungen statt Fussgängerunterführungen geschaffen würden. Den Aareraum wollte die Stadt verstärkt nutzen.
Vieles klingt vertraut
Munzingerplatz – vom Eislauf bis zum Springbrunnen. So lautete die Vision der Arbeitsgruppe «Begegnungsräume Innenstadt». Der heutige Parkplatz sollte zum innerstädtischen Begegnungsraum werden. Auf ihm wünschte sie sich temporäre Ausstellungen, einen Platz für Gastronomie. Die Schützenmatte sah die Arbeitsgruppe als Naherholungsraum mitten in der Stadt. Ein neues Tor zu Olten sollte hier entstehen, mit Wiese, Verweilorten und Freizeitsport.
Den Fuss- und Veloverkehr ans Licht holen
Auch die Problematik der Stadtverbindungen war in den Nullerjahren aktuell. Den Visionen waren keine Grenzen gesetzt: Die Bevölkerung diskutierte über einen neuen Fussgängerübergang, der im Bereich der Winkelunterführung (alte Aarauerstrasse) über die Geleise zur Holzbrücke hätte führen können. Und der Fussgängersteg von der Bahnhofsunterführung Richtung Innenstadt war bereits dann ein Wunsch in der Bevölkerung. Ein Wunsch, der sich nicht im damals betrachteten Zeithorizont erfüllte.
Ein Busbahnhof gehörte zu den Plänen und mit ihm die Entflechtung des motorisierten Individualverkehrs und ÖV. Ebenso ein Parkhaus und Parkleitsystem. Denn es «gelte, die Strassen vom Suchverkehr zu entlasten und die Innenstadt zu beruhigen». Aber die vielleicht kühnste Idee war: eine Hochbahn für Schnellverbindungen zwischen Ost und West zum Bahnhof. (Was genau darunter zu verstehen war, blieb nicht weiter ausgeführt.)
Die Oltnerinnen wünschten sich mehr Begegnungsorte. Als langfristige Option war von einem Gemeinschaftstreffpunkt für alle die Rede. Die Idee keimte beim Mitwirkungsprogramm «Chance Olten Ost» erneut auf und ein eigener Trägerverein realisierte das Projekt wenig später. Mit dem Cultibo entstand im Bifangquartier ein Begegnungszentrum in einer Liegenschaft der Stadt. Als die Finanzlage Oltens schlecht war, verkaufte die Stadt das Haus. Das Cultibo konnte dennoch bis heute bleiben.
Kirchgasse statt Munzingerplatz
Wer heute, 15 Jahre danach, auf die Stadt schaut, stellt fest: Viele Ideen blieben Visionen. Einige setzt die Stadt in absehbarer Zeit noch um. Andere scheiterten an der Urne. Den geplanten Begegnungsraum auf dem Munzingerplatz mit dazugehörigem unterirdischem Parkhaus lehnten die Stimmberechtigten im Jahr 2010 ab. Doch bereits damals war klar: Die Stadt würde die danebenliegende Kirchgasse vom Verkehr befreien müssen. Dies verlangte der Kanton als flankierende Massnahme – also gewissermassen als Kompensation – zur Entlastungsstrasse Region Olten.
Daher ist erstaunlich, dass das vorgespurte Projekt im räumlichen Leitbild von 2008 unerwähnt blieb. Aber 2012 ging’s plötzlich schnell und innerhalb von gut einem Jahr hatte die neue «Piazza» die politischen Prozesse durchlaufen – ein Referendum scheiterte damals knapp. Mit der verkehrsbefreiten Kirchgasse wurde das für die Stadtentwicklung bedeutsamste Projekt der letzten zwei Jahrzehnte Realität. Martin Wey, der kurz nach der Einweihung der Kirchgasse das Stadtpräsidium übernahm, bezeichnete das Projekt als Symbol für den Aufbruch in Olten.
Nun denn: Die Kirchgasse blieb der grösste Wurf und dabei gilt zu bedenken, dass die Stadt ihn nicht selbst initiiert hatte. Es folgten die schwierigen Jahre mit dem Ausfall der Alpiq-Steuermillionen. Dem Loch in der Kasse fiel das Projekt Andaare zum Opfer. Dies, obwohl die Bevölkerung sich an der Urne dafür ausgesprochen hatte, dass die Stadt einen Fussgängersteg realisiert und den Ländiweg attraktiver gestaltet.
Beide Bausteine kommen verzögert doch noch: Mitten im Bau befindet sich der Ländiweg als neuer Aarezugang. Der Fussgängersteg wird kommen, wenn der neue Bahnhofsplatz entsteht. Anderes ging nur noch schleppend voran: Seit diesem Sommer verfügt Olten über das lange diskutierte Parkleitsystem. Für die Stadtteilverbindung nach Olten Südwest konnte die Stadt noch eine Lösung finden, nachdem die Bürgerlichen das Projekt verhindert hatten.
Weniger Potpourri, mehr Struktur
15 Jahre nach dem ersten Leitbild beginnt Olten den Prozess von neuem. Aber die Ausgangslage ist nicht vergleichbar mit damals. «Viele Themen waren in den Nullerjahren noch nicht gleichermassen auf dem Radar wie heute», sagt Marion Rauber an diesem Mittwochmorgen im August. Im elften Stock vom Stadthaus tritt sie erstmals als Baudirektorin vor die Medien. An ihrer Seite ist der neue Stadtpräsident Thomas Marbet. Auf den Tischen liegt der Entwurf des neuen räumlichen Leitbilds. Wie beim Leitbild 2020 schon geben Leitsätze eine Struktur vor. Wahrscheinlich haben es Leitsätze wie diese an sich: Sie prägen sich nicht ein und würden sich wohl beliebig auf jede Stadt ummünzen lassen.
Aber entscheidend ist nicht die Hülle, sondern der Inhalt. Und der ist vielversprechend. Mit einer Echogruppe (bestehend aus Vertreterinnen verschiedenster Interessensgruppen der Stadt) und der Baudirektion und Direktion Präsidium hat ein Brugger Planungsbüro den Entwurf ausgearbeitet. Das Leitbild 2020 bildete dabei die Basis. Das 55 Seiten starke Papier hat aber ungemein an Substanz gewonnen. Zunächst wurde der städtische Raum analysiert. Daraus hat die Baudirektion in einem ersten Prozess mit der Echogruppe definiert, wo sich Olten wie entwickeln könnte.
Noch ist nichts in Stein gemeisselt: Du kannst mitreden und deine Wünsche anbringen.
Hier sind die wesentlichen Punkte:
Olten strebt ein Wachstum von jährlich rund einem Prozent oder rund 200 Personen an. Somit würde die Einwohnerzahl bis 2045 auf 23’000 bis 24’000 Menschen anwachsen.
Der Entwurf legt fest, wo die Stadt sich entwickeln, wo sie das Siedlungsgebiet wahren und fördern, wo aufwerten und wo transformieren soll.
Mobilität: Dies dürfte eines der umstrittensten Themen sein. Im vorliegenden Papier gibt die Stadt eine klare Linie vor: Sie will den Velo- und Fussverkehr in den kommenden Jahrzehnten stark fördern und den motorisierten Individualverkehr einschränken. Nur war Olten in den letzten Jahren in Mobilitätsfragen wesentlich weniger progressiv und urban geprägt als bei anderen Themen. Davon zeugt etwa die Absage an das Parkierungsreglement. Die Stadt möchte primär noch den «wirtschaftlich notwendigen motorisierten Individualverkehr» ermöglichen. «Heisst das, man will ohne Autos in die Zukunft?», fragte ein Journalist an der Medienorientierung. «Sagen wir es so, wir starten mit vielen Autos», erwiderte Stadtplaner Lorenz Schmid. Physisch sei das Strassennetz nicht mehr weiter ausdehnbar. «Wir möchten Anreize mit dem Velo schaffen, damit die Leute merken, dass man schneller mit dem Velo oder zu Fuss durch die Stadt kommt», sagte Stadtentwickler Markus Dietler. Auch gelte es künftig, die Parkplätze konsequent zu bewirtschaften. Dazu gibt es einen konkreten Auftrag vom Regierungsrat.
Quelle: Stadt Olten/Räumliches Leitbild
Die Stadtseitenverbindungen sind an die Mobilität geknüpft. Hier gibt die Stadt klare Prioritäten vor. Kurz vor der Realisierung stehen der Fussgängersteg zwischen Altstadt und Bahnhof sowie die Personenunterführung Hammer. Weitere Schwerpunkte möchte sie am Sälikreisel und beim Postplatz/Winkel legen.
Die Stadtplätze: Nach der verkehrsbefreiten Kirchgasse will die Stadt weitere Plätze als Freiräume nutzen. Der Munzingerplatz, die Schützenmatte, der Bahnhofplatz, der Klosterplatz und der Bifangplatz sollen aufgewertet werden. Im Entwicklungsgebiet Rötzmatt steht ein neuer Park zur Debatte.
Die Dünnern soll in der Innenstadt revitalisiert und eventuell mit einer Promenade aufgewertet werden. Auf der rechten Stadtseite ist geplant, den Mühlitalbach abschnittweise im Siedlungsgebiet zu öffnen.
Detaillierter wird das Strategiepapier bei den «Fokusgebieten»: Die Stadt hat sechs solche definiert. Neben den Entwicklungsgebieten Schützi, Neuhard, Bifang und Chlos gehören ein Hochhauskonzept und die Hauptachsen dazu.
Jetzt ist es an dir, mitzureden
Dies kannst du direkt auf dem Online-Portal der Stadt tun. Dazu musst du dir ein eigenes Konto anlegen. Du scheust diesen Aufwand, aber möchtest trotzdem deine Stimme zum räumlichen Leitbild abgeben? Kolt möchte bei diesem Prozess als Forum dienen und bietet dir die Möglichkeit, hier mitzudiskutieren. Die Gesprächsplattform bei Kolt ermöglicht den Austausch, auf welchen die Stadt wegen der Pandemie verzichtet. Wir werden das Ergebnis in der Mitwirkung einfliessen lassen.
Was wünschst du dir in der Schützi und an der brachliegenden Stationsstrasse? Wie soll es in Olten Südwest weitergehen? Welche Stadtseitenverbindung hat für dich Priorität? Wo würdest du als Stadtplaner auf der rechten Aareseite Schwerpunkte setzen? Was braucht Olten, damit du hier bleibst? Wünschst du dir ein Kolt-Treffen, an dem wir im lockeren Rahmen über die Stadtentwicklung diskutieren?
Nur wenige Meter von der Rythalle Solothurn entfernt ist das kantonale Amt für Raumplanung in einem unscheinbaren, ehemals als Arztpraxis genutzten Gebäude untergebracht. Es wird vom üppigen Grün um das Haus nahezu verschluckt. «Wenn ich Besuch habe, höre ich öfter, mein Büro sei wohl eines der schönsten im Kanton», sagt Sacha Peter und lächelt, als er uns in den grossen Raum führt. Das Haus ist im Jugendstil gebaut, mit schönem Holzparkett.
Seit zweieinhalb Jahren ist der Aargauer der oberste Raumplaner des Kantons. Sacha Peter kam vom grossen Kanton Zürich, wo er stellvertretender Chef des Raumplanungsamtes war, und übernahm in der Barockstadt die Chefposition. Eine Aufgabe, die gerade seit dem überarbeiteten Raumplanungsgesetz 2013 besonders fordernd ist. Fast alle Gemeinden haben seither eine Ortsplanungsrevision in Angriff genommen. Ein Prozess, der sich jeweils über mehrere Jahre hinzieht. Am Anfang dieser Auseinandersetzung befindet sich die Stadt Olten. Ab Mitte August kann die Bevölkerung beim räumlichen Leitbild mitdiskutieren, Wünsche anbringen und bestimmen, wohin die Reise gehen soll. Wo aber bleibt der Kanton in diesem Prozess? Wird die grösste Stadt des Kantons bei dieser grossen Aufgabe alleingelassen? Wir sind nach Solothurn gefahren und haben mit Sacha Peter darüber gesprochen.
Wenn ich an Raumplanung denke, stelle ich mir jeweils vor, ich würde wie ein Adler über ein Gebiet kreisen. Was für ein Bild kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an Olten denken?
Klar dominierend ist der Knotenpunkt im Schweizer Bahnnetz. Ich komme ursprünglich nicht aus der Region Solothurn. Was ich aber von klein auf mitbekam, ist Oltens zentrale Lage. Als Pendler komme ich jeden Tag an diesem Bahnhof vorbei. Aber in meiner Funktion habe ich die Stadt auch aus anderen Perspektiven kennengelernt. In Olten sprechen die Menschen gerne von der Schmetterlingsform, in welcher sich das Stadtbild ausdehnt. Das finde ich ein positiv besetztes Bild, auf dem die Stadt weiter aufbauen kann. Ich finde es wichtig, dass Olten mit einem gesunden Selbstbewusstsein am eigenen Profil arbeitet. Olten ist einwohnermässig klar die grösste Stadt im Kanton. Aus meiner Optik ist dies auch mit gewissen Erwartungen verbunden. Wir denken, dass Olten eine Vorreiterrolle spielen kann mit der Art und Weise, wie das räumliche Leitbild erarbeitet wird. Auch wenn die Stadt mit der Umsetzung der neuen Raumplanungsgesetzgebung später dran ist im Vergleich zu Solothurn oder Grenchen.
Wenn Sie diesen Prozess des räumlichen Leitbilds ansprechen: Welche Priorität hat Oltens Entwicklung beim Kanton?
Wir haben im Richtplan ein Raumkonzept, das Schwerpunkte setzt und definiert, wo die Entwicklung sich abspielen soll. Olten steht da sicher weit vorne auf der Liste. Einerseits durch seine Grösse, aber auch vom Standortpotenzial her – beispielsweise aufgrund der ausgezeichneten Erschliessung oder der landschaftlichen Qualitäten um die Stadt. Ein substanzieller Teil der kantonalen Entwicklung soll in Olten stattfinden.
Es ist schwierig, sich auszumalen, wie sich eine Stadt wie Olten idealerweise entwickeln wird und was sie braucht. Wie kann gute Raumplanung gelingen?
Entscheidend ist, dass eine intensive Auseinandersetzung mit der Bevölkerung vor Ort stattfindet. Das ist eine Spezialität des Kantons: Die Ortsplanungsrevision im engeren Sinne, also auf der Stufe der Nutzungspläne, liegt nicht in der Zuständigkeit der Legislative, sondern bei der Exekutive. Darum muss die Bevölkerung im vorgelagerten Prozess zum räumlichen Leitbild umso mehr einbezogen werden. Es gibt eine Kurzformel für gute Raumplanung. Zum einen verlangt sie genaues Hinschauen. Zum anderen genaues Hinhören. Das ist exakt das, woran die Stadt Olten arbeitet und was sie noch vorhat. Am Ende setzt die Raumplanung Rahmenbedingungen für jene Menschen, die dort leben und arbeiten. Es ist wichtig, einen solchen Prozess als Möglichkeit zur lustvollen Diskussion über die Zukunft zu nutzen. Es soll kein gegenseitiges Herumnörgeln stattfinden, wer was falsch gemacht hat.
Der Kanton hat einen Richtplan und daraus definiert er Raumkonzepte. Aber wenn die grossen Städte die künftige Entwicklung definieren, spricht der Kanton nicht mit?
So wie das räumliche Leitbild im Gesetz verankert ist, ist es vor allem Sache einer Gemeinde oder einer Stadt. Der Kanton ist selbstverständlich interessiert. Aber wir haben da keine hoheitliche Rolle. Wir sehen uns vielmehr als Sparringpartner. Im Kanton Solothurn sind momentan über 70 der 107 Gemeinden im Prozess der Ortsplanung. Entweder in einem frühen Stadium wie Olten oder bereits kurz vor der Genehmigung der Ortsplanungsrevision wie Solothurn. Der Kanton versucht in der frühen Phase Tipps zu geben, auf was die Gemeinden in diesem Prozess achten müssen. Mit der Stadt Olten sassen wir zusammen, als es darum ging, das räumliche Leitbild aufzugleisen. Aber Olten verfügt über gute Kompetenzen in der Verwaltung, um einen solchen Prozess voranzubringen. In der letzten Zeit waren wir an der Seitenlinie und haben den Prozess verfolgt. Nun haben wir die Gelegenheit, eine freiwillige Stellungnahme abzugeben. Doch es gibt keine kantonalen Patentrezepte, die sich auf die Stadt Olten übertragen lassen. Nur schon die drei grossen Städte Olten, Grenchen und Solothurn haben eine unterschiedliche Geschichte und andere prägende Elemente.
Sie werden Ihre Meinung also kundtun. Können Sie bereits sagen, was Sie der Stadt empfehlen?
Wir haben den Leitbildentwurf eben erst gerade bekommen und werden unsere Einschätzung nach eingehender Sichtung abgeben. In dieser Phase möchten wir die Stadt mit unserer fachlichen Beurteilung unterstützen. Es geht nicht um eine rechtliche Vorprüfung wie bei Nutzungsplänen. Die ganze Weiterentwicklung des Bahnhofs Olten als wichtige ÖV-Drehscheibe und sein direktes Umfeld ist für den Kanton aber von besonderem Interesse. Da finden Diskussionen mit vielen Akteuren statt – schwergewichtig auch mit den SBB. Das ist nicht ohne und da versuchen wir vonseiten Kanton mit der Stadt voranzugehen. Das ist …
… schwierig, mit so vielen Playern zu verhandeln.
Es fängt nur schon damit an, dass die SBB nicht ein einzelner Player sind. Selbst innerhalb der SBB gibt’s verschiedene Perspektiven. Etwa jene als Bahnbetreiberin oder jene als Immobilieneigentümerin. Egal ob in Olten, Solothurn oder Grenchen: Überall versuchen wir einen Beitrag dazu zu leisten, dass die übergeordneten Infrastrukturen im Geist und Sinn der Gesamtentwicklung einer Stadt und des Kantons vorangetrieben werden.
Wenn wir schon bei den Grossprojekten sind: Bei der Raumplanung in Olten kommt man nicht darum herum, über Olten Südwest zu sprechen. Könnte der Kanton hier der Stadt nicht stärker unter die Arme greifen, wo doch die Stadt bisweilen mit den Verhandlungen überfordert war?
Wenn es um solche Entwicklungen geht, dann ist die zuständige Planungsbehörde nun mal klar die Stadt. Würde und Bürde der Gemeindeautonomie sind manchmal nah beieinander. Aus den bekannten Versäumnissen der letzten Jahrzehnte, als die eine oder andere Tür offen war, aber man nicht hindurchging, hat die Stadt gelernt. Sie hat erkannt, dass es wichtig ist, aktiver zu sein und die Interessen der Stadt vorzubringen. Wir sind sehr froh, dass es mit der Anbindung des Quartiers über den Bahnhof Olten Hammer vorwärtsgeht. Denn es macht uns Bauchweh, wenn ein Stadtteil entwickelt wird, der nicht wirklich an den Rest der Stadt angebunden ist. Ich trete niemandem zu nah, wenn ich sage: Die Entwicklungen in diesem Gebiet haben bisher noch nicht alle Erwartungen erfüllt, es besteht noch Luft nach oben. Im wahrsten Sinne des Wortes. Für uns ist klar: Wenn Olten den Stadtteil weiterentwickeln will, geht dies nur mit der besseren Anbindung an die Stadt.
Hier möchte ich nachhaken. Hätte die Stadt den Eigentümer nicht dazu verpflichten können, die Erschliessung zu finanzieren? Ohne dass sie ihm als Gegenleistung Land umzont und somit aufwertet.
Hierzu kann ich mich nicht detailliert äussern. Es ist Sache der Stadt, sich mit dem Grundeigentümer auf ein sinnvolles Vorgehen zu verständigen. Mit der Zeit wird man schlauer – man «kätscht» bis heute an alten Geschichten herum. Nun muss die Stadt aber das Beste daraus machen. Im Zusammenhang mit den Umzonungen hat die Stadt einen Weg gefunden. Nur wenn sich die Stadt und der Eigentümer einigen, wird es letztlich auch vorangehen. Man sollte nun froh sein, eine Perspektive zu haben.
Bei Ihrer früheren Tätigkeit in Zürich arbeiteten Sie mit Raumplanungsregionen. Im Kanton Solothurn ist die Gemeindeautonomie sehr ausgeprägt. Wie stark sollte – am Beispiel von Olten betrachtet – der Blickwinkel geöffnet werden?
Da gilt es, zwei Dinge zu unterscheiden: Die Gemeindeautonomie hat einen sehr hohen Stellenwert im Kanton Solothurn. Das ist so zu verstehen, dass die Gemeinde Verantwortung für den eigenen Lebensraum übernimmt, und so auch absolut richtig und wichtig. Eine andere Frage ist, wie die Gemeinden untereinander zusammenarbeiten. Es ist besonders herausfordernd, als Stadt mit den angrenzenden Agglomerationsgemeinden weiterzukommen. Ich erwarte, dass dies im räumlichen Leitbild auch ein Thema ist. Die Stadt Olten hat eine spezielle Rolle. Neben dem grossen Eigengewicht hat sie eine Scharnierfunktion zwischen dem Gäu und dem Niederamt.
Wie können diese Schnittstellen aussehen?
Zum Beispiel zwischen Olten und Wangen stellt sich die Frage, mit welchen Entwicklungsabsichten die beiden Gemeinden auf die geografische Grenze zukommen. Grenzen sind keine rückwärtigen Räume mehr, wo man Dinge hinschiebt, die man nicht mehr will. Lösungen suchen wir beispielsweise über das Agglomerationsprogramm Aareland. Weiter läuft nun das Projekt «All-Gäu», in welchem wir die Entwicklungsvorstellungen für die Gemeinden von Wangen bis Oensingen abbilden. Die Diskussion darf aber nicht überfordert werden. Wenn wir eine gleichzeitige Diskussion von Oensingen bis nach Schönenwerd führen würden, kämen wir nie auf einen grünen Zweig. Darum bilden wir Schwerpunkte und kümmern uns an den Schnittstellen um eine gute Vernetzung: mit Olten, dem Gäu und dem Niederamt. Unser Ziel ist eine attraktive Städtekette im Mittelland, bei der es an den Scharnieren nicht zu fest knirscht.
Was sind denn die Herausforderungen an den Scharnieren?
Es geht um grenzüberschreitende Themen. Etwa um die Frage, wie das Gäu die Gewerbeentwicklung in Korridoren gestalten kann. Oder auch um die Übergänge vom Stadtgebiet in die Nachbargemeinden bezüglich Siedlung, Landschaft und Verkehr. Ob diese Anschlusspunkte Siedlungsentwicklungen mit höherer Dichte suchen sollen. Solche Projekte gibt’s beispielsweise in Trimbach, Winznau oder in Wangen. Es ist nicht ganz trivial, sehr unterschiedliche Akteure zusammenzubringen. Am Schluss müssen sie die Themen auf Augenhöhe besprechen. Das bedeutet zweierlei: Einerseits die Bereitschaft der Stadt, die über mehr Ressourcen verfügt, sich in die Anliegen der Nachbargemeinden hineinzudenken. Andererseits müssen sich auch die Nachbargemeinden mit den Herausforderungen im städtischen Raum auseinandersetzen. Es ist ein landläufig bekanntes Phänomen: Manchmal sind die Notwendigkeit der Weiterentwicklung und das Bewusstsein in der Bevölkerung nicht auf dem gleichen Stand. Dies führt hin und wieder auch zur Ablehnung von an sich sehr sinnvollen Vorhaben.
Wir brauchen den Blick nur ein wenig weiter zu öffnen– auch Aarau hat einen Einfluss auf Olten. Da spielt die Kantonsgrenze rein. Wie kann eine Kleinstadt wie Olten diesen Faktor einbeziehen?
Das ist ein typischer Punkt, bei dem der Kanton Verantwortung übernimmt. Für eine einzelne Stadt oder Gemeinde ist es schwierig, über die Kantonsgrenze zu funktionieren. Entscheidend ist, wie die Kantone miteinander ticken. Wir haben aktuell einen sehr guten Austausch mit dem Kanton Aargau. Die Challenge ist: Auf der Aarauer Seite bestehen viele weitere Themen innerhalb der Stadt, aber auch im Zusammenwirken mit den direkten Nachbargemeinden. Darum stehen die Diskussionen mit der Oltner Seite nicht immer im Vordergrund. Darüber hinaus ist Aarau bei der Umsetzung des neuen Raumplanungsgesetzes schon einen Schritt weiter. Aber dies ist verkraftbar.
Im Kanton Solothurn bilden drei in etwa gleich grosse Kleinstädte die Zentren. Was bedeutet es für die Raumplanung, dass es kein ausgeprägtes Zentrum gibt?
Das ist relativ zu betrachten. Wenn man die drei grossen Städte in Relation mit den kleinen Gemeinden stellt, verfügt der Kanton über klassische Zentren. Im gesamtschweizerischen Vergleich sind es aber kleinere Städte. Wir müssen schauen, dass die drei Städte ihre Rolle übernehmen können und untereinander optimal vernetzt sind. Mir ist zum Beispiel ein Dorn im Auge, dass die Verknüpfung zwischen Olten und Grenchen nur bedingt funktioniert. Hier besteht nur stündlich eine schnelle Zugverbindung. Mit dem ÖV ist man auf der Achse Olten – Grenchen aber viel schneller unterwegs als mit dem Auto. Um diese angestrebte Vernetzung zu erreichen, benötigen wir die Einsicht vom Bund.
Wenn wir überlegen: Was will die kantonale Raumentwicklung? Es geht uns darum, die Städte zu stärken. Sie müssen einen grossen Teil der künftigen Entwicklung aufnehmen, damit die ländlichen Regionen nicht mehr in die Fläche wachsen. Wenn man Olten, Solothurn und Grenchen anschaut, dann würde ich mir wünschen, dass sie sich auf ihre jeweiligen Stärken besinnen. Dann hat der Kanton an sehr gut erschlossenen Lagen ein gut vernetztes Entwicklungspotenzial.
Stärken heisst, dass der Kanton das Wachstum in den Städten anstrebt?
Ja, aber das heisst nicht, dass man in den Städten weiter Land einzonen soll. Im Fall von Olten sind die Potenziale in den aktuellen Bauzonen ausreichend, das ist unbestritten. Es ist herausfordernd genug, die vorhandenen Reserven auf der Zeitachse auch zu aktivieren. Nur schon wenn wir die Entwicklungen im Bahnhofsumfeld anschauen. Olten hat Verantwortung und eine Vorreiterrolle, vor allem wenn es um qualitätsvolle Innenentwicklung geht. Das ist eine schwierigere Aufgabe als neue Areale auf der grünen Wiese zu erschliessen. Da geht es darum: Wie geht die Stadt mit bestehenden Strukturen um, wie behebt sie Defizite, wie gelingt es in den Quartieren, Umwälzungen zu begleiten, ohne Kollateralschäden zu verursachen? In der Vergangenheit galt es als aussergewöhnlich, Qualität einzufordern. Dann aber merkten die Gemeinden, dass sie doch einen höheren Standard wollen. Daraus entwickelte sich ein Grundrauschen. Wo man etwas besonders Qualitätsvolles herausholen wollte, machte man einen Gestaltungsplan. Das führte zu Gestaltungsplänen à discrétion. Auch darum ist Olten damit übersät. Künftig sollte Qualität schlicht Standard sein und die Stadt sollte sich Gestaltungspläne für Fälle vorbehalten, in welchen etwas wirklich Aussergewöhnliches entsteht.
Das ist ein springender Punkt.Durch die Bauverwaltung ist zu vernehmen, dass es schwierig ist, Investorinnen dazu zu bringen, die geforderte Qualität auch umzusetzen. Wie gelingt dies?
Es gibt Möglichkeiten, über die Grundordnungen der Ortsplanungsrevision Vorschriften zu machen. Die Stadt sollte die Messlatte höher legen und mit dieser Rückendeckung auch unterwegs sein. Im gesamten Kanton haben wir in der Vergangenheit inflationär Gestaltungspläne gemacht. Ohne zu wissen, was damit eigentlich erreicht werden soll. Wenn Grundeigentümerinnen oder Investoren die Haltung einer Stadt kennen und wissen, was diese erwartet, ist allen Beteiligten gedient.
In Olten droht sich die Debatte manchmal im Kreis zu drehen. Vermutlich liegt dies auch am kleinstädtischen Umfeld. Wie kann man den Knoten lösen?
Am Ende vom Tag hängt’s von den einzelnen Akteuren ab und davon, welche Grundstimmung sie erzeugen können. Ich erinnere mich an meine frühere Tätigkeit: Die Stadt Winterthur fristete lange ein Dasein im Schatten der Metropole Zürich und ging nicht übermässig selbstbewusst an die Sache ran. Aber dann kam eine Zeit, in der man Dinge anpackte. Und momentan ist das Beispiel Schlieren in aller Munde. Da galt gemeinhin: Wer geht schon nach Schlieren? Jetzt ist die Agglomerationsgemeinde ein absoluter Hotspot im positiven Sinne geworden, der sowohl beim Wohnen wie auch bei den Arbeitsplätzen zieht. Es liegt in den Händen der Menschen in Olten, sich nicht einen Stempel aufdrücken zu lassen. Der Prozess zum räumlichen Leitbild bringt die Chance, dass ein Ruck durch die Stadt geht. Eine Stadt wie Olten muss aber einen Spagat machen. Nur schon wegen der verschiedenen Bevölkerungsschichten und der vielfältigen Ansprüche der Menschen. Jene, die schon da sind und die Stadt mögen, reagieren oft nicht euphorisch, wenn Veränderungen bevorstehen. Sie sind skeptisch oder zurückhaltend. Die Stadt ist deshalb gut beraten, sich differenziert zu überlegen, wo die Gebiete sind, die Veränderungen erfahren sollen. Aber auch, wo die Stadt bereits eine hohe Qualität aufweist und sie nicht mit dem Zweihänder reingehen soll. Die grosse Kunst der Raumplanung ist, dass Menschen Veränderungen akzeptieren. Gelingen tut dies, wenn die Stadt am Schluss auch für jene, die schon da sind, einen Mehrwert erzeugt.
Das kleine Raumplanungslexikon Was macht eine Ortsplanrevision? Darunter ist der gesamte Prozess zusammengefasst, in welchem eine Stadt oder ein Dorf sich grundlegend überlegt: Wie will sich die Gemeinde entwickeln? Es geht um den Siedlungsraum als Wohn- und Arbeitsstandort, um die Landschaft und Umwelt, die Mobilität. Im ersten Schritt erarbeitet die Stadt mit der Bevölkerung ein räumliches Leitbild. Bei der Mitwirkung nimmt sie alle Wünsche, Visionen und Ziele auf. Die Stadt verarbeitet die Mitwirkung und das Destillat wird zum räumlichen Leitbild. Es ist die Grundlage für die Nutzungsplanung. Der Stadtrat definiert Instrumente, wie die Stadt das räumliche Leitbild mit dem Zeithorizont 2045 umsetzen kann. Die Nutzungsplanung umfasst themenbezogene Konzepte und gebietsbezogene Masterpläne, unter anderem ein städtisches Freiraum- und Klimakonzept, ein Parkraumkonzept oder ein Hochhauskonzept. Und was ist ein Gestaltungsplan? Er ist nicht Teil der Ortsplanungsrevision, sondern dient bei aussergewöhnlichen Projekten als Planungsinstrument. Eine Gemeinde kann ihn verlangen, wenn sie besonders gute Qualität erzielen will.
Um Punkt 12 Uhr schwingen die automatischen Glastüren beim Hotel Storchen auf. Hinaus treten Spieler und Staff des FC Schönenwerd-Niedergösgen, angeführt von Trainer Yannick Kühni. Einheitlich in den Vereinsfarben Rot und Schwarz gekleidet verlassen sie das klimatisierte Hotel – raus in die schwüle Mittagshitze. Etwas währschafter gehen sie die Stärkung vor dem grössten Spiel der noch jungen Vereinsgeschichte an: «Klassisch: Spaghetti mit Tomatensauce und Poulet», gibt Assistenz-Trainer Daniel Ludäscher zu Protokoll und begibt sich mit seinen Schützlingen auf die kleine Reise vom Storchen durch den malerischen Bally-Park ins Inseli.
12:10 Hoffen auf den Sturm
Dicke Tropfen fallen auf die Erde, Blitze zucken über den Himmel, der Donner grollt. Eilig suchen Spieler und Trainer Zuflucht in einer kleinen Höhle im Bally-Park. Zusammengepfercht witzeln sie über das Wetter. Von den Wetterkapriolen lässt sich niemand aus dem Konzept bringen: «Nasser Rasen kommt uns vielleicht sogar entgegen», erinnert Trainer Kühni schelmisch an eine alte Fussballweisheit.
12:20 Bringen die Rituale das Glück?
Der Regen verzieht sich und der FC SchöNie nimmt den restlichen Weg zum Sportplatz Inseli in Angriff. Einige Spieler gönnen sich noch eine kleine Pinkelpause im Gebüsch, andere nutzen die Zeit, um den Gameplan in Erinnerung zu rufen: «Es ist schwierig, sich auf einen solchen Match vorzubereiten. Das Wichtigste ist, Freude zu haben und Fussball zu spielen», erklärt Stürmer Roman Berner. Eine kleine Portion Aberglaube und Routine spielen im Leben von Fussballern, egal ob Profi oder Amateurin, eine grosse Rolle. So geht es auch dem 18-jährigen Goalie Michael Simic: «Vor jedem Spiel ziehe ich immer erst den linken Handschuh an. Das mache ich sicher auch heute so.»
12:25 Das Spiel des Jahrhunderts
Nach einer kurzen Passage durch den Wald erreicht der Tross des FC SchöNie endlich den Sportplatz. Imposant ragt die improvisierte Tribüne in den Himmel, garniert mit Banner und Fahnen der Gemeinden Schönenwerd und Niedergösgen. Fans beider Lager strömen auf das Gelände und aus den Lautsprechern begrüsst der Speaker die Besucherinnen zum «Spiel des Jahrhunderts». Die Spieler klatschen noch einmal bei Freundinnen und Familie ab und begeben sich in die Garderobe der Mehrzweckhalle. Noch ist die Vorfreude stärker als die Nervosität. «Sobald wir aber auf dem Rasen stehen und die vielen Fans sehen, fängt das Herz an zu rasen. Dann kommt die Nervosität», so Captain Fabio Liloia.
12:55 Ankunft der Profis
Im Schritttempo rollt der Teamcar des FC Basel durch den Besucherstrom. Abgedunkelte Fenster verbieten den Blick auf die Stars, während der imposante rot-blaue Teamcar auf den Parkplatz einbiegt. Hastig steigen die Profis aus dem Car und verschwinden sofort im Bauch der Mehrzweckhalle, Sicherheitsordner sorgen für den nötigen Abstand zu den Besuchern. Die Stars bleiben vorerst unnahbar. Lennox, Lean und Moritz begleiten die Ankunft der FCB-Stars mit lautstarken «Hopp-SchöNie»-Rufen. Auf die Frage, ob sie nach dem Spiel Unterschriften holen oder Selfies mit den Basel-Spielern machen, kommt ein entschiedenes «Neeeeeeii, sicher ned! Mer sind voll für SchöNie!».
13:05 Nette Wünsche aus dem anderen Fanlager
«Sehr dicke Sache, was hier auf die Beine gestellt wurde. Für die Stimmung wäre es grossartig, wenn dem FC SchöNie ein Tor gelingen würde, obwohl ich nicht wirklich dran glaube», meint FCB-Fan Dominik, der extra aus Basel angereist ist.
Besucher Dominik scheint eine gewisse Arroganz bei den Spielern des FC Basel festgestellt zu haben: «Normalerweise kommen sie zwei Stunden vor dem Spiel an. Hier sind sie gerade erst angekommen. Das zeigt schon, dass sie das etwas auf die leichte Schulter nehmen. Hoffentlich wird das heute bestraft.»
13:05 Fussballfest in der Provinz
Auf dem Gelände zeigt sich dann der familiäre Dorffest-Charakter des Events. Der Grill brutzelt, das Bier fliesst und neben den Beachvolley-Plätzen spielt jemand Alphorn. So erhält das Stadion Inseli seinen ganz eigenen, authentischen Charakter. Oder in welchem Stadion in der Schweiz gibt es sonst noch einen Spielplatz?
13:15 Schadenfreude beim Einspielen
Die Gastgeber betreten das Feld, vor ihnen die erst spärlich besetzte Tribüne. Einzig der Gästesektor mit einem Grossteil der angereisten FCB-Fans ist bereits rappelvoll. Von bis zu 500 Fans wird unter den Anwesenden gemunkelt. SchöNie-Goalie Simic lässt sich vor der Basler Fankurve einschiessen und muss sich hämische Rufe anhören, als ihm ein Schuss durch die Hände rutscht.
13:56 Bühne frei
«Hells Bells» von AC/DC dröhnt aus den Lautsprechern, der Speaker reisst ein enthusiastisches «Hopp SchöNie» an und unter tosendem Applaus kommen die Spieler in den extra angefertigten Cup-Trikots mit Namen auf den Platz.
14:01 Ball frei
Der Schiedsrichter pfeift und SchöNie bringt den Ball ins Rollen.
14:12 Schuld ist der Unparteiische
So gross der spielerische Unterschied zwischen der 2. Liga regional und der Super League auf dem Platz auch sein mag, auf der Tribüne gibt es ein verbindendes Element: Über den Schiri wird immer gewettert.
14:47 Das Wunder bleibt aus
0:3 stehts zur Pause aus Sicht des FC SchöNie. In der Pause lobt Basels Captain Valentin Stocker die schöne Kulisse und hebt die Leistung von SchöNie-Goalie Michael Simic hervor: «Den haben wir uns notiert.»
14:49 Auch die Anhänger dürfen sich versuchen
Einige Fans des FC Basels klettern über den Zaun und üben schon mal ein paar Elfmeter auf die Tore.
14:50 Den Wasserhahn aufgedreht
Die örtliche Feuerwehr kühlt die Gemüter der mitgereisten FCB-Fans ab.
15:13 Lampenfieber
Auf der Tribüne feuert Daniela Hügi ihre beiden Söhne Jennys und Ryan an. «Sie waren beide so nervös die letzten beiden Tage und konnten kaum schlafen und hatten Durchfall. Ich bin einfach nur stolz, spielen sie beide heute.»
15:45 Zuschauerrekord plus Zaungäste
Einige Zuschauerinnen klettern von ausserhalb auf die Abschrankungen und erhaschen sich so einen Blick auf das Geschehen auf dem Feld. «Ich wollte rein, aber offensichtlich ist das Spiel ausverkauft. Das Spiel kann ich mir aber nicht entgehen lassen, deshalb schau ich jetzt halt hier vom Zaun aus zu», meint einer. 2254 Zuschauer fanden den Weg auf den Sportplatz Inseli. Natürlich eine Rekordkulisse für den FC SchöNie.
15:51 Auf die Resultattafel schaut niemand mehr
Das Spiel ist aus. Am Ende steht auf der Anzeigetafel ein eindeutiges 0:7 aus Sicht des FC SchöNie. Ein Tor blieb den Lokalhelden verwehrt. In den Gesichtern der Spieler macht sich trotzdem grosse Freude breit. Erleichtert und sichtlich erschöpft tauschen die Amateure Trikots mit den Profis. Die Basler Stars verzichten aber auf die SchöNie-Erinnerungsstücke. «Unsere eigenen behalten wir natürlich», meint Goalie Michael Simic und zeigt stolz das Trikot von FCB-Goalie Djordje Nikolic. Während die einen auf Trikotjagd gehen, gönnen sich andere bereits ein kühles Bier oder stellen sich den Fragen der Journalisten.
Zum ersten Mal wirken auch die Spieler des FC Basel nahbar und zugänglich. Flügelstürmer Sene taucht ein in die Fanmenge und posiert auch zehn Minuten nach Schlusspfiff bereitwillig für unzählige Selfies mit Fans. Spieler wie Xhaka geben ihre Trikots an junge Fans weiter, die dann voller Stolz mit ihrer Beute posieren.
«Wir konnten allen ein geiles Erlebnis bescheren und deshalb sind wir mega zufrieden heute», fasst Verteidiger Rafael Malundana den vergangenen Sonntag zusammen. Auch Trainer Yannick Kühni ist stolz auf die Leistung seiner Mannschaft: «Wir haben von Anfang alles gegeben und zwanzig Minuten die 0 halten können. Es war eine super Leistung.»
16:15 Das Fest nach dem Fussballfest
Die Tribüne im Stadion Inseli hat sich zwar geleert, doch bei den Festzelten wird wohl noch lange in die Nacht gefeiert. «Der ganze Verein, inklusive Spieler, hat diesen Event auf die Beine gestellt. Offensichtlich ist der FC Schönenwerd-Niedergösgen ein gesunder Verein, den ich gerne in der Gemeinde habe», sagt Niedergösgens Gemeindepräsident Roberto Aletti.
«Es war ein richtiges Fussballfest mit allem, was den Cup ausmacht. Über diesen Event wird man wohl noch viele Jahre sprechen», bilanziert Präsident Joël Kleger.
16:30 Spiel ohne Verlierer
Während auf dem Inseli noch gefeiert wird, begibt sich der FC Basel auf den Heimweg. Resultatmässig hat Basel das Spiel gewonnen. SchöNie hatte aber schon gewonnen, bevor das Spiel losging. Für das Niederamt bleibt es ein Spiel für die Ewigkeit.
Ich mag Sätze meistens nicht, die mit «Wir Schweizer sind …» oder «Die Georgierinnen mögen …» beginnen. Das scheint mir oft alles zu generalisierend und überhaupt zu nationalistisch. Aber okay, ich bringe jetzt trotzdem eine dieser Verallgemeinerungen: Die Schweiz, das ist die Nation der doppelt versicherten Funktionswäscheträger*innen.
Wir mögen kein Risiko. Ja, wenn ich es mir genauer überlege, ist ein enorm grosser Teil unseres Lebens eigentlich darauf ausgerichtet, jedwede Risiken zu minimieren. Leuchtwesten, dritte Säulen, auf Stromer ausgerichtete Spezial-Velohelme mit Sicherheitsvisier, Vorsorgeuntersuchungen, Sparkonti und Strassenverkehrsämter gehören zur Schweiz wie der Fünfliber auf der Schoggitafel vom Grosi.
Wie tief uns die «Safety-First-Mentalität» in den Knochen sitzt, merke ich meistens beim Reisen. Ich merke es, wenn ich an die etwas rostige Bremsscheibe unseres Wagens denke, zu deren Auswechslung uns ein gewissenhafter Beamter des Strassenverkehrsamtes Bern vor der Abreise dringend geraten hat, während mir in Georgien ein Lieferwagen entgegenfährt, dessen gesamte vordere Karosserie fehlt. Ich merke es auch, wenn ich mir beim Klettern überlege, wie lange ich mein Gstältli eigentlich schon habe und was die Hersteller für eine Nutzungsdauer empfehlen, und ein (nicht schweizerischer!) Freund dann darüber mutmasst, wie Highlinen auf LSD wohl wäre. Oder, wenn ich in Rumänien einen Mann am Strassenrand stehen sehe, der seine frisch gefangenen Fische feilbietet, indem er sie am Maul haltend durch die Luft schwingt, und ich mir dabei die Schweizer Lebensmittelkontrolle vorstelle. Und auch, wenn ich mich in den kaukasischen Bergen mit einem temperaturregulierenden Merinowolle-Shirt in meinen ultralighten Daunenschlafsack kuschle und am nächsten Morgen sehe, wie der benachbarte ukrainische Bergsteiger eine alte deutsche Militäruniform trägt.
Ich muss mich dann regelmässig selbst belächeln und mich manchmal fragen, ob bei all dem Sicherheitsbewusstsein, dieser schweizerischen Nationaltugend, der Spass nicht etwas auf der Strecke bleibt. Weil unser Wohlstand es uns erlaubt, immer auf Nummer sicher zu gehen, sind wir mitunter auch schrecklich unkreativ. Oft stimmt es mich beim Reisen deshalb wehmütig, wenn ich Dinge beobachte und tue, die zu Hause inexistent, ja undenkbar sind: Kleine Lebensmittelläden an den unvorstellbarsten Orten anstelle immergleicher Volg-Filialen, die Möglichkeit, ein spontanes Dorffest zu feiern ohne vorgängiges Planungs- und Bewilligungsverfahren, nicht genormte (und vielleicht auch nicht ganz so gut befestigte), dafür kreative Ladenschilder und Leuchtreklamen, das Mitfahren auf Busdächern.
Wenn wir schon die vielleicht beste Gesundheitsversorgung der Welt haben und dann auch noch gegen jedes erdenkliche Risiko versichert sind – warum gehen wir dann eigentlich nicht mehr, sondern trotzdem viel weniger Risiken ein als alle anderen? Ich finde ein langes Leben ja eine gute Sache, aber ein bisschen Spass sollte halt schon auch sein. Dazu lässt sich ausserhalb der Schweiz wunderbare Inspiration sammeln. Und wenn es nur ein selbstfrisiertes Velo anstelle eines Marken-Stromers ist.
Da kommt ganz schön viel Glanz und Zauber aus der Welt der Fotografie. Auch die dritte Ausgabe des International Photo Festivals Olten ist so gross, wie sein Name es verspricht. Eine lange Liste an erstklassigen Fotografinnen wartet in der Kleinstadt auf. Sie alle werden von ihren Lebensgeschichten erzählen und über die Kunst, den Augenblick mit der Kamera festzuhalten. Wie viel Glamour der Fotografieszene verträgt das kleine Olten? Grosses werde im kleinen Rahmen von alleine intim, erklären Christoph Zehnder und Remo Buess. «Das Familiäre an unserem Festival ist einzigartig und das könntest du so in einer grossen Stadt nicht haben», sagt Christoph Zehnder.
Christoph Zehnder
Remo Buess
Bei den beiden Co-Direktoren laufen die Fäden für den Grossanlass zusammen. «Im Moment sind es sehr viele Fäden», sagt Christoph Zehnder. Die beiden lachen und blicken aufs Smartphone, auf welchem während der Mittagszeit die Nachrichtenflut anschwillt. Das Festival führen sie nebenbei zu ihren sonstigen Jobs. Christoph Zehnder führt ein Lederunternehmen, Remo Buess ist als Fotograf oft unterwegs.
Der Ruf eilt bis nach Übersee
«Es braucht drei Mal, bis man Wurzeln schlägt», sagt Christoph Zehnder. In diesem Jahr hätten sie als Organisatoren einen regelrechten Sog gespürt. Am stärksten machte sich dieser bei der Suche nach Sponsoren bemerkbar. «Die Qualität, die wir bieten, hat sich herumgesprochen», sagt Remo Buess. Er illustriert dies mit einer kleinen Anekdote seines Freundes und renommierten Porträtfotografen Marco Grob. In den USA sei dieser unterwegs für seine Arbeit mal von einem Bildchef eines renommierten Magazins gefragt worden, ob er schon mal was von diesem Festival in der Schweiz gehört habe, wo die Leute abends im Fluss schwimmen gingen. Marco Grob lachte und erzählte von seinem Festival in Olten.
Fotografie von Brigitte Lacombe.
Was klein anfing, scheint mit dem dritten Festival zu einer festen Grösse heranzuwachsen. Davon zeugt auch das Selbstverständnis, mit welchem die beiden Co-Direktoren über die Zukunft sprechen. «Wir müssen unsere Vision weiterverfolgen», sagt Remo Buess. Ihr Anspruch: Olten soll über Jahre hinaus die Fotografiestadt der Schweiz sein.
Remo Buess erinnert sich, dass er damals, 2017, es muss im April gewesen sein, mit Marco Grob im «Ring» beim Kaffee sass. «Wir sprachen darüber, dass in Olten wenig läuft, und nahmen uns vor, was daran zu ändern.» Warum nicht ein Fotofestival gründen? «Moment, ich hab die Nummer von Dan Winters. Ich schreibe ihm mal, ob er dabei wäre», habe Marco Grob gesagt. Ein paar Minuten später hatte einer der renommiertesten Porträtfotografen zugesagt. Eine Geschichte, die ein wenig nach amerikanischem Traum klingt. Dieser widerspiegelt sich auch in ihrem Leitmotiv «Love & Passion», das als Schild am Haus der Fotografie prangt.
Fotografie von Erik Madigan Heck.
Blick nach Schweden
Durch das eigene Museum im zwischengenutzten Gebäude an der Kirchgasse erlangte die IPFO-Organisation ein Zuhause. Ein Daheim auf Zeit. Darum blicken die beiden Co-Direktoren bereits über das Festival hinaus. «Für uns stellt sich nicht die Frage, ob, sondern wo wir die Beleuchtung wieder montieren», sagt Christoph Zehnder. Das Licht machte beim schlichten Umbau einen Grossteil der Investitionen aus, liesse sich aber am neuen Standort wieder installieren. Voraussichtlich zwei Jahre noch dürfen sie das ehemalige Naturmuseum für die Fotografie nutzen. «Wir haben ja einem neuen Schulhaus zugestimmt», sagt Remo Buess und lächelt. Sein Gedanke ist naheliegend: Das Hübelischulhaus wird in den nächsten Jahren frei. «Wir wollen einen Ort schaffen, der nicht um 5 Uhr abends ein schwarzes Loch wird», sagt Christoph Zehnder. Als Vorbild nennt Remo Buess das Fotografiska in Stockholm, das zugleich als Restaurant-Bar und Museum funktioniert.
Fotografie von Brigitte Lacombe.
Nach der Feuertaufe im aktuellen Haus der Fotografie zieht das IPFO ein rundum positives Fazit. Rund 4100 Menschen kamen nach Olten, um die Werke des US-amerikanischen Filmregisseurs David Lynch zu besuchen. Die zweite Ausstellung verspricht ebenso hochkarätig zu sein: Zum Auftakt der Festivaltage findet die Vernissage mit den Fotografien der Gewinner des «World Press Photo»-Wettbewerbes statt. Eine Ausstellung, die traditionell jedes Jahr im Landesmuseum in Zürich zu sehen war, kommt somit nach Olten. Zu sehen sind die besten Pressebilder aus allen Ecken der Welt. «Sie spricht ein ganz anderes Publikum als Lynch an», sagt Remo Buess. Mit Roland Schmid findet sich dieses Jahr zudem ein Schweizer Fotograf unter den Prämierten wieder. Der Basler wird am Festival anwesend sein und ein Seminar abhalten.
Überhaupt will das IPFO dieses Jahr einen stärkeren Bezug zur Schweiz schaffen. Gelungen ist dies mit dem Wettbewerb Photoville4600. Dreihundert Fotografen aus der ganzen Schweiz reichten ihre Arbeiten ein, die durch eine international renommierte Jury bewertet wurden. Daraus entsteht auf dem Munzingerplatz eine Ausstellung mit den 50 besten Arbeiten. Die Photoville4600 soll unter anderem helfen, noch mehr Menschen anzuziehen. «Wir rechnen dieses Jahr mit viel mehr Besucherinnen als noch 2019», sagt Christoph Zehnder.
Kolt am IPFO
Das Programm am IPFO vom 25. bis 29. August wird nahrhaft: vier Ausstellungen, zahlreiche Workshops, Seminare und drei Abendvorträge im Oltner Stadttheater. Auch Kolt nimmt dich als Medienpartner am 27. August mit ans Festival. Höhepunkt des Abends werden die Referate von Brigitte Lacombe (USA/FR) und Erik Madigan Heck (USA) sein. Beide geben unmittelbare Einblicke in die Modewelt, die sie mit ihrer Fotografie prägen. «Nicht das Handwerk steht im Fokus, sondern die Geschichten hinter den Fotos und Lebensgeschichte der Fotografen», sagt Remo Buess. Für Seminare, Workshops und Abendvorträge im Stadttheater (mit 500 Plätzen) gilt eine Zertifikatspflicht. Neben der «World Press Photo»-Ausstellung im Haus der Fotografie und der Photoville auf dem Munzingerplatz bietet das Festival zwei weitere Ausstellungen: Mit Dominic Nahr präsentiert einer der bekanntesten Schweizer Fotografen seine Werke im Haus der Museen. Eindrücke aus der Schweiz treffen auf das Weltgeschehen. In der Christkatholischen Kirche wird ein Teil von Roger Ballens Ausstellung «Asylum of the Birds» zu sehen sein. Weitere Informationen und das gesamte Programm: www.ipfo.ch
As the sun rose over Engelberg, teasing the darkness from the rooftops of Olten, two figures were to be seen walking rapidly past the bust of Maria Felchlin and up toward Vögeligarten. Approaching the middle cage of the aviary, the sprightlier of the two men looked at his watch.
“There is still time, Charles. Just remember not to say anything. Let him speak first.”
“I’m nervous, Boxer. What if he won’t say anything?”
“Then we return next month at the same time. I do think I had better do the talking. You might say something ill-advised.”
Beo was perched on the branch he seemed to favour for his pre-dawn nap. He felt the first ray of sun strike his head, and he opened his left eye, then his right. Two men were in front of his cage. Had another month gone by? He realised he had not prepared his speech as he usually did, even if he had not had an audience for many months. He would just have to wing it.
“Monika.”
“Monika,” Boxer responded, then waited impatiently for the next words.
“Monika.” They had both spoken at the same time, man and bird. Was that a good omen or bad? Boxer thought it good, but Charles, to whom his neighbour had briefly explained the methods of ornithomancy, was suspicious. Surely it was impolite to say the same thing at the same time without answering, ‘Spitz! Pass auf!”
The next word Beo would say was the important one, for it would be the official title of Boxer’s entry into the Oltner Sculpture Competition. The amateur detective, when not amateur detecting, was a Sculptor, Amateur Class. He had not even chosen his design yet, though, hoping that the monthly pronouncement of the augury ex avibus, Gracula religiosa, would inspire him.
Beo was aware neither of this detail, nor of its importance, however, and decided to say the first word he could think of.
“Blancmange.” Beo was glad he didn’t have to spell it. He thought he might say it again, this time with the usual French accent. “Blanc-manger.”
“So, Charles, it seems I shall sculpt a pudding. Our fine-feathered fellow here could hardly have said anything worse, although I do not want to waste time imagining it. Let us say farewell to Beo and get back to Geissi. Bow three times and say, ‘Long life!'”
The bird watched their obeisances and found them satisfactory. He gave a quick nod and fell back asleep.
* * * *
“Charles?”
“Yes, Boxer?”
“Why was someone else telling this story up until now? Who was it?”
“You mean the fellow typing these words, even as we speak them? That’s me. I was just assuming the role of the omniscient narrator. Why? Did it bother you?”
“I am not sure. I felt spied upon, as if the plot of this story is being manipulated. And I do not know what the readers think of it.”
“All right, we’ll go back to the way I wrote the earlier stories, agreed?”
“Thank you, Charles.”
We were at the unveiling of the Sculpture Competition winner, held at Kaplaneiplatz. Boxer had not let me see his entry, Blancmange – not even a peek at the pudding – during the time he had been working on it, so I hadn’t a clue what his idea of it would be, whether realistic or modernist abstract or what.
Now, readers may think that Boxer had actually won the competition, but that was only his assumption. He had told me he had won, or words to that effect, and at that point, I had no evidence for a reason to doubt him.
A small crowd had gathered around a plinth, covered in a white sheet, with points at the top, giving it the appearance of a tall, royal pudding. A crowned blancmange, indeed!
As we waited, all except Boxer in anticipation of what sat beneath the cloth, the Art Selection committee approached the stone column.
“Look, Boxer! It’s your book friend, Herr Schreiber.”
“I wonder, Charles. Am I going to be asked to write a book about my pudding? That would be fine, but it does go rather too far.”
After several rivetingly boring speeches, one in what sounded like Esperanto, Boxer was so excited, he was dancing on tiptoes. Finally, the Stadtpräsident took centre stage and asked the committee chairwoman to pull the cord and unveil the winning sculpture. A woman of lively demeanour, she teasingly ogled Boxer, who responded with what could only be described as a giggle.
With a quick flick of the wrist, she exposed —
“Charles! What is that? That is not my work! I was not supposed to lose. I do not want to lose. Did I really have to lose?”
“Yes, Boxer, it looks like you were meant to lose. To lose to Toulouse.”
“There! That cat! It is the very same one we had trapped between the two mirrors. If he has come back to haunt us, at least I prefer him in bronze to flesh and blood. Someone should write a book about that, Charles.”
“The Case of the Lost Blancmange?”
“No, Charles. The Case of the Bird-Brained Beo.”
David Pearce ist ein Schweizer Schriftsteller, wohnt seit 2000 in Olten und hat amerikanische, englische und französische Wurzeln. Er schreibt auf Englisch Kurzgeschichten, Romane und Theaterstücke.
Ein klein wenig erinnern diese Strassen an die Ordnung eines Schachbretts. Mittendrin im strukturierten Siedlungsteppich der Gemeinde Dulliken liegt das Haus der Familie Angst. Ein kleines Schweizer Fähnchen steckt im Briefkasten und zeugt noch vom Nationalfeiertag. Hinter dem Haus gedeihen die Äpfel. Der dazugehörige Baum hat die herrschende Ordnung mit seinen Wurzeln etwas gestört. Markus Angst lacht sein breites Lachen und sagt: «Die Pétanquebahn ist nicht mehr bespielbar.»
Ohne Pétanque kommt die Familie Angst gut aus. Ohne Schach wär’s wohl unmöglich. Auch wenn das Brett nicht schon auf dem Gartentisch bereitsteht. Aber wo ein Angst ist, ist das Schachbrett nicht weit. Und wer mit Markus Angst über das «das königliche Spiel» spricht, könnte meinen, er habe ein Lexikon zu dieser Sportart geschrieben. Schon sein Vater hatte ihm das Spiel beigebracht. Die Faszination für die Spielform, bei der es darum geht, den König so anzugreifen, dass diesem weder Abwehr noch Flucht möglich ist, hat ihn über die Jahrzehnte begleitet. Und auch seine drei Söhne Jesse (29), Robin (27) und Oliver (19) ergriffen.
«Daheim jassen wir aber meist», sagt Papa Markus Angst. Das lockere Gesellschaftsspiel sei vergnüglicher. Kommt hinzu, dass er mittlerweile im Schach gegen seine Kinder chancenlos ist. «Wir reden aber viel übers Schach», sagt der jüngste Sohn Oliver. Als Medienchef des Schweizer Schachbundes schreibt Markus Angst heute über die Erfolge von Oliver. Auch wenn alle drei talentiert waren, der 19-Jährige erreichte dieses Jahr, was seine Brüder nicht geschafft hatten. Mit dem Schweizer Juniorenmeistertitel gelang ihm der bisher grösste Erfolg für die Familie.
Markus Angst mit seinen Söhnen Oliver und Robin. Der Juniorentitel des jüngsten Sohnes macht sie alle stolz.
1 zu 1 …
… steht es im offiziellen Bruderduell Oliver gegen Robin. Zweimal trafen die beiden an einem offiziellen Turnier aufeinander. Beide gingen einmal als Sieger hervor. «Im klassischen Schach sind wir momentan sehr ausgeglichen», sagt Robin. «Aber er ist der Speedschach-Experte», ergänzt Oliver. Wenn der Zeitdruck gross und das Spiel nach fünf Minuten um ist, behält meist Robin die Überhand. Nicht mehr mit den beiden mithalten kann mittlerweile Jesse. Er spielt nicht mehr so ambitioniert wie seine jüngeren Brüder.
3 bis 4 Stunden …
… täglich investiert Oliver Angst seit anfangs Jahr ins Schachtraining. Im Sommer hat er die Matura beendet. Er will auch künftig viel Zeit fürs Training aufwenden. Auch wenn er bereits im Herbst mit dem Medizinstudium beginnt. Robin dagegen sagt: «Ich bin zufrieden mit meinem Niveau.» Der mittlere der drei Brüder trainiert heute nicht mehr aktiv, investiert aber als Jugendleiter vom Oltner Schachklub noch immer viel Zeit für seine Leidenschaft.
Die Nummern 3 und 4 …
… sind die beiden Angst-Brüder in Olten, sie gehören beim Schachklub der NLB-Mannschaft an. «Wir kämpfen in den letzten Jahren immer gegen den Abstieg», sagt Robin. Dies habe auch damit zu tun, dass der Verein konsequent nur auf eigene Spieler aus der Region setzt. Mit dieser Philosophie trifft der Oltner Schachklub auf Konkurrenz, die sich oftmals auch mit verpflichteten auswärtigen Spielern verstärken. Darum sei es schwierig, in der NLB zu bestehen. In den letzten Jahren gelang dies dem Oltner Schachklub erfolgreich.
7 Grossmeister …
… gibt es in der Schweiz. «Als Normalsterblicher kommst du nicht an einem Grossmeister vorbei», sagt Vater Markus Angst. Wer den Grossmeistertitel erlangt, hat diesen analog zu einem akademischen Titel bis ans Lebensende auf sicher. Um es so weit zu bringen, muss eine Schachspielerin dreimal die Grossmeisternorm an einem Turnier erzielen. Diese wird über ein komplexes Regelwerk definiert. So muss beispielsweise das Starterfeld am Turnier international besetzt und die Konkurrenz im Ranking (siehe weiter unten) hoch klassiert sein.
Auch Oliver Angst mag lange Partien. «Was mich auszeichnet, ist der Kampfgeist. Darum dauern meine Partien oft lang. Die Kunst dabei ist, keine grossen Fehler zu machen», sagt Oliver. Robin pflichtet bei: «Er bietet fast nie ein Unentschieden an.» Viereinhalb Stunden zog sich das längste Match am Juniorenturnier dieses Jahr in Flims hin. Sein längstes Spiel bisher? Einmal hielt Oliver sechsdreiviertel Stunden durch. Ganz lange Schachduelle nannte man Hängepartien, die sich über Tage hinzogen. Weil aber heute die Computer besser Schach spielen als die klügsten Köpfe der Welt, sind solche Spiele nicht mehr möglich. Bei einem Unterbruch könnten die Spielerinnen nämlich die Spielsituation am Computer simulieren und so Lösungen finden.
Früh übt sich: Die unter 12-Jährigen
Der älteste Sohn machte den Anfang und bewies Talent. Die Schachförderung beginnt früh. In der Familie Angst gehörte das Spiel zum Alltag. «Die Söhne kamen alle beiläufig dazu, weil ich sie an Turniere mitnahm», erzählt Markus Angst. «Jesse gehörte schweizweit zu den besten fünf bei den unter 12-Jährigen», sagt Markus. Dann kam Robin und auch er war in den Juniorenkategorien immer bei den besten dabei. Der Jüngste setzt nun neue Massstäbe: «Aus unserer Familie holte niemand Titel, wie Oliver dies nun gelungen ist.»
Das 12-jährige Oltner Talent
Mit den Erfolgen stiegen im letzten Jahr Olivers Ambitionen. Indirekt einen Anteil daran hat Suvirr Malli. «Dadurch, dass ich einen 12-Jährigen aus dem Verein trainiere, habe ich die Motivation, selbst besser zu werden. Je besser ich bin, desto länger kann ich ihn trainieren.» Oliver gibt dem Jungen drei bis vier Stunden pro Woche sein Schachwissen weiter. Der 12-jährige Oltner gehört im Land zu den besten drei seines Jahrgangs und gewann an den Schweizermeisterschaften seiner Altersklasse im Juli die Bronzemedaille. Oliver Angst ist beeindruckt von der Ausdauer des Buben. «Vor dem Finalturnier hat er fünf Stunden am Stück Schachaufgaben gelöst», erzählt er.
14 Jahre …
… alt war Papa Markus Angst, als er in Olten dem Schachklub beitrat. Damals hatte Schach nach dem WM-Final 1972 zwischen Bobby Fischer und Boris Spassky einen regelrechten Boom in der Schachszene ausgelöst. Schach war bei den Angsts schon zuvor eine Familiensache: «Ich spielte damals mit dem Vater Schach», erinnert sich Angst heute. «Nachdem ich ihn ein erstes Mal bezwungen hatte, sagte mein Vater: ‹So, jetzt kannst du in den Klub.›» Heute ist Markus Angst innerhalb der Familie nur noch die Nummer vier im Ranking. Seine drei Söhne haben ihn alle hinter sich gelassen.
Mit 19 Jahren …
… feierte Oliver dieses Jahr seinen grössten Erfolg und gewann den Junioren-Schweizermeistertitel. Sein Papa schrieb über den Erfolg seines Sohnes: «So wird man normalerweise nicht Schweizermeister: Der topgesetzte Oliver Angst (Dulliken) verlor im Junioren-Titelturnier gegen den zweitplatzierten Moritz Valentin Collin (Oberdorf/BL) und den drittrangierten Igor Schlegel (Bern) – und trotzdem reichte es ihm nach einer Achterbahn der Gefühle zum Titel.» Im letzten Spiel setzte er sich mit einem Sieg an die Spitze, da beide Konkurrenten, die ihn bezwungen hatten, ihr Schlussspiel verloren.
Die Top 20 als Ziel
Langfristig möchte Oliver den Sprung ins Nationalkader schaffen. Dafür müsste er zu den besten zwanzig Schachspielern der Schweiz gehören. In der Schweiz gibt es mit Noël Studer, Yannick Pelletier und Fabian Bänziger drei Profi-Schachspieler. Letzterer ist ein guter Freund von Oliver, der trotz seiner jungen 19 Jahre bereits beim Schweizermeister-Finalturnier der Topklasse mitspielte. «Auf diesem Niveau spielt die Matchvorbereitung eine wichtige Rolle», sagt Oliver. Um auf dieses hohe Niveau zu kommen, müsse man einen enormen Aufwand betreiben. Der jüngste Angst im Bunde hat dies bei seinem Kollegen miterlebt. Einen Grossmeistertitel oder gar ein Leben als Schachprofi mag er sich darum nicht ausmalen. «Ich möchte Medizin studieren», sagt er.
Seit 30 Jahren …
… dient Markus Angst dem Schweizerischen Schachbund als Medienverantwortlicher. Als «Hauschronist» mag er sich an viele Geschichten und Anekdoten erinnern. Markus Angst hat all die Gesichter zu seinen Schachgeschichten festgehalten. Früher archivierte er die Bilder feinsäuberlich analog – heute tut er dies digital. Eine Sammlung aus tausend Bildern sei herangewachsen, erzählt er.
Zweimal, sagt Markus Angst, habe der Schachsport in der Schweiz für grosse Schlagzeilen gesorgt. Einmal, als ein Internationaler Meister ein Finalspiel verlor, weil das Handy mitten im Spiel losging. Das zweite grosse Ereignis liegt acht Jahre zurück: Mit Alexandra Kosteniuk gewann erstmals eine Frau den Schweizer Meistertitel bei den Männern. Die mehrfach ausgezeichnete Russin verfügt über den Schweizer Pass, weil sie mit einem Schweizer verheiratet war.
«Leider spielen noch immer weniger Frauen Schach, weshalb die besten Schachspieler der Welt nach wie vor Männer sind», sagt Robin. Möglich, dass sich dies durch die Netflix-Erfolgsserie «Das Damengambit» ändern wird. Sie brach alle Quotenrekorde und löste vielerorts eine Schacheuphorie aus. Die weltweit bestklassierte Frau ist derzeit die Chinesin Hou Yifan. The New Yorker schrieb diese Woche ein Porträt über sie: «Hou Yifan und das Warten auf die erste weibliche Schachweltmeisterin.»
Rund 300 …
… Schachspielerinnen und Schachspieler kommen jährlich zu den Schweizermeisterschaften zusammen. Sie werden als Meisterturnier ausgetragen. Bei diesem Spielmodus treffen alle Altersklassen gemischt aufeinander. Für die Startpartie werden die Spiele nach der Stärkeklasse ausgelost. Wer gewinnt, steigt im Tableau auf und kriegt härtere Konkurrentinnen. Wer verliert, trifft in der folgenden Runde auf einen schwächeren Gegner. Die besten zehn Männer und Frauen tragen separat ein Turnier um den Schweizermeistertitel aus.
«Die Schachszene ist eine grosse Familie», sagt Markus Angst. Für die Meisterschaften nehmen alle eine Woche Ferien. Meist geht die Reise in die Berge, damit neben dem Schach noch Zeit für Wanderungen bleibt. In diesem Jahr konnte das Turnier wegen der Pandemie nicht wie üblich als Meisterturnier stattfinden. Deshalb lud der Schachverband die besten acht Junioren zum Finalturnier ein. Der Modus war simpel: jeder gegen jeden. Das Turnier dauerte sieben Tage und jeden Tag stand ein neuer Kontrahent auf dem Programm.
Mit drei Kollegen lebte Oliver während dieser Woche in der gleichen Ferienwohnung. Obwohl sie alle Schweizer Juniorenmeister werden wollten, logierten Oliver Angst, Vincent Lou, Igor Schlegel und Nicola Ramseyer in Flims gemeinsam in einer Ferienwohnung. «Am Brett sind wir zwar Konkurrenten, aber daneben Kollegen», so Oliver Angst. «Wir kochten am Abend zusammen. Aber wenn es ans Brett geht, sitzt nicht mehr der Kollege gegenüber.»
2019
Vor zwei Jahren schlug Oliver im Meisterturnier einen ehemaligen Schweizermeister. Weil er danach aber mehrere Partien verlor, reichte es ihm nicht zum Titel in seiner Altersklasse.
560 Kalorien …
… soll der Grossmeister Mikhail Antipov 2018 in einem über zweistündigen Spiel verbrannt haben. Die physische Leistung entspricht somit ungefähr einem acht Kilometer langen Lauf. Robin ist da ein wenig skeptisch: «Ich spiele auch noch Tennis und bin ja nicht der Fitteste. Beim Tennis bin ich physisch am Ende – nach einem Schachspiel nicht», sagt er. Trotzdem verteidigt er das Schachspielen als Sportart. «Dadurch, dass es ein Zweikampf und ein Ausdauerspiel ist, hat es doch viele Komponenten aus dem Sport», sagt Robin.
1998
Für den Oltner Schachklub war dies ein grosses Jahr: Catherine Thürig gewann den Schweizermeistertitel und ist bis heute die letzte Oltnerin, die dies vollbrachte.
2170 Punkte für Oliver und 2178 für Robin
Die Niveauunterschiede im Schach sind enorm. Nur, was macht die Differenz am Brett aus und wie lässt sie sich begreifen? Der wichtigste Indikator ist in der Schachszene die Elo-Zahl. Sie ist die Währung, die jede lizenzierte Schachspielerin ausweist: Je mehr Elo, desto stärker der Spieler. Bei einem Sieg gewinnt und bei einer Niederlage verliert die Spielerin Punkte. Einsteiger haben 1200 bis 1600 Punkte, gute Klubspielerinnen 1800 bis 2200. Die beiden Angst-Brüder gehören mit ihren Elo-Punkten zu den 150 besten Schachspielern der Schweiz. Dieses Jahr möchte Oliver sich den Top 100 annähern.
«Aber wie kann ich diesen Niveauunterschied am Brett sehen?», hake ich nach. Vieles spiele sich im Kopf ab und sei nicht ersichtlich, erklären die Brüder. «Der Unterschied zwischen uns und unserem Vater ist, dass wir mehr Varianten vorausrechnen», sagt Oliver. «Wenn wir sechs bis sieben mögliche Züge vorauskalkulieren, tut er dies vielleicht für drei bis vier Züge.» Die Top-Schachspieler haben durch ihr Vorausschauen den besseren taktischen Überblick. Und, weil der Auftakt im Schach essentiell ist, kennen sie sich mit den unzähligen Eröffnungsmöglichkeiten ungemein gut aus. «Neulich las ich, dass es bis zu 700 Eröffnungsvarianten gibt», sagt Oliver.
8643 Franken
Gemeinsam mit seinem Schachfreund Elias Giesinger organisierte Oliver Angst im April 2020 während des ersten Lockdowns spontan ein Online-Benefizturnier für die Glückskette. Rund 300 Spielerinnen nahmen am Turnier teil und erspielten 8643 Franken. Die beiden Schachspieler aus dem Nachwuchskader gewannen für ihre Initiative dieses Jahr den Förderpreis der Jugendschachstiftung, der mit 3000 Franken dotiert ist.
Wenn die Aare wie in diesen Wochen viel Wasser führt, bleiben die Schaulustigen gern auf der Holzbrücke stehen. Viele erblicken dann am Fuss der Altstadt die Wasserstandstafel. Wie ein Massbecher zeigt sie an, wie viel Wasser der Fluss im historischen Vergleich führt. In diesem Jahr rauscht das Aarewasser schon seit Wochen meist nur wenige Zentimeter unterhalb der Wasserstände aus den Jahren 2001 und 2006 hindurch. Der reissende Fluss gibt ein eindrückliches Bild ab.
Ein Bild, das im Juli Tausende von Menschen sahen. Wie eine Flutwelle verbreitete sich eine Aufnahme aus Olten auf den sozialen Netzwerken im Internet. Gerade in Deutschland ging das Bild der Oltner Aare viral. Unter anderem der AfD-Politiker Max Kneller teilte das Bild mit einem ironischen Kommentar: «Die Klimakatastrophe von 1852 war besonders schlimm.» Die Botschaft war eindeutig. Der Politiker und mit ihm viele andere Menschen suggerierten: Das diesjährige Hochwasser habe nichts mit dem Klimawandel zu tun, da Flüsse bereits 1852 über die Ufer traten. Das deutsche Onlineportal für investigativen Journalismus «Correctiv» griff die Debatte auf und unterzog die kursierende Behauptung einem Faktencheck.
Das Bild aus Olten zeigt exemplarisch, wie sich falsche Informationen im Netz verbreiten können. Angefangen damit, dass das Oltner Foto auf die Flutkatastrophe in Deutschland vom Juli bezogen irrelevant ist. Der Kontext fehlt gänzlich, was problematisch ist und zu falscher Interpretation verleitet. Offen blieb auch die Quellenfrage. Wie Correctiv über die Google-Bilderrückwärtssuche recherchierte, stammt der Bildausschnitt vermutlich von einer Aufnahme des OT-Fotografen Bruno Kissling.
Kein Zufall, sondern fremdbestimmt
Aber zur inhaltlichen Frage: Inwiefern hängt der hohe Aareabfluss der letzten Wochen, verursacht durch die diesjährigen Starkniederschläge, mit dem Klimawandel zusammen? Wir öffnen den Blick. Andere Medien haben diese Frage in den letzten Tagen im globalen Kontext beleuchtet. Im Fokus stand eine neue Studie, die einmal mehr belegt: Extremereignisse werden mit dem Klimawandel wahrscheinlicher.
Die Naturgewalt traf die Menschen auf verschiedene Weise. In Kanada und den USA erlebten die Bewohner der Pazifikküste eine Hitzewelle. In Nordrhein-Westfahlen und Rheinland-Pfalz schwemmte eine ungeheure Flut ganze Dörfer weg. Bezogen auf die beiden Beispiele sprach der ETH-Forscher Erich Fischer im Tagesanzeiger von «pulverisierten Rekorden». Die oben erwähnte Studie befasst sich mit der Frage, wie stark sich die Rekorde mit zunehmender Temperatur entwickeln. Der ETH-Forscher bilanziert: «Die Modelle zeigen uns, dass das gleiche Wetter in einer wärmeren Welt zu extremen Ereignissen führen kann.»
Von Extremereignissen in diesem Ausmass blieb das Mittelland in diesem Jahr bisher verschont. Lokal – wie etwa letzte Woche in Stüsslingen und Lostorf – sorgten Starkniederschläge jedoch für übertretende Bäche und verursachten erhebliche Schäden. Die Aare blieb aber mehrheitlich unter Kontrolle. Wie der Kanton auf Anfrage mitteilt, bewegte sich der Aareabfluss in diesem Jahr grösstenteils im üblichen Rahmen. Die Abflüsse der letzten vier bis fünf Wochen sind jedoch aussergewöhnlich, wie der langjährige Vergleich an der Messstelle in Murgenthal zeigt. Trotzdem stand uns das Wasser sinnbildlich gesprochen nur bis zum Hals. Ohnehin gilt: Was in Olten die Aare abfliesst, ist nicht bloss den zufälligen Extremereignissen geschuldet, sondern gebändigte Naturgewalt.
Der Dorfbach in Stüsslingen trat über die Ufer und verwandelte die Hauptstrasse in einen reissenden Fluss. Quelle: zVg
Die unten vertrauen denen oben am Flusslauf
Dafür sorgt die Murgenthaler Bedingung. Mit dieser Vereinbarung aus den frühen 1980er-Jahren einigten sich die Kantone, wie sie die Gebiete unterhalb des Bielersees vor Hochwasser schützen können. Denn mit den drei Jurarandseen (Bielersee, Neuenburgersee und Murtensee) verfügt das Mittelland über drei Speicherbecken, die über Schleusen reguliert sind. Als Folge des regenreichen Sommers in diesem Jahr halten die zuständigen Stellen den Abflusspegel der Aare seit mehreren Wochen künstlich hoch, um die Speicherkapazität der Seen wiederherzustellen. Dass der Mensch den Aareabfluss kontrollieren kann, machten die beiden Juragewässerkorrekturen überhaupt erst möglich. Von 1962 bis 1973 wurde der Flusslauf zwischen Biel bis hinunter nach Solothurn verbreitert und vertieft. Knapp 100 Jahre zuvor war die Aare in den Bielersee umgeleitet worden, womit dieser als Speichersee funktionierte.
Wer also heute an der Tafel mit den Wasserständen am Tor zur Oltner Altstadt vorbeiläuft und sich denkt: «Was muss dies damals für ein Hochwasser gewesen sein, im Jahr 1852?» muss wissen: Obwohl der Vergleich naheliegend sein mag, hält dieser nicht stand. Das sei wie Birnen mit Äpfeln vergleichen, sagt mir Philipp Staufer, stellvertretender Chef vom Amt für Umwelt vom Kanton Solothurn am Telefon. «Seit dem 19. Jahrhundert haben sich die Wasserwirtschaft und die Landnutzung erheblich verändert.» Die Stauseen in den Bergen und die Juragewässerkorrekturen wirken sich bis auf die Wasserführung im Rhein aus.
Die Emme als Spielverderberin
Heute gilt: Solange die Seen nicht voll sind, haben die Behörden weitestgehend die Kontrolle über den Aarepegel. Einer der grössten Unsicherheitsfaktoren ist die Emme. Sie mündet zwischen Zuchwil und Luterbach in die Aare. Wie alle Bäche in diesem Gebiet ist sie nicht reguliert. Fällt in den Emmentaler Alpen viel Niederschlag, kann die Emme auf ihrem Weg ins Mittelland stark ansteigen und zum reissenden Fluss heranwachsen. Dies geschah im August 2007 und führte zu Überschwemmungen flussabwärts. Was folgte, waren Schuldzuweisungen. Die Aargauer Behörden warfen Bern vor, den Abfluss am Bielersee aus Angst vor Hochwasserschäden nicht gedrosselt zu haben.
Mit einer groben Faustregel lässt sich in Olten an der Aare ablesen, woher das Wasser kommt. Ein Indiz dafür, dass die Aare viel Wasser aus der Emme führt, ist die braune Färbung. Kommt die Aare blaugrün daher, bringt sie mehrheitlich Wasser aus dem Bielersee. In diesem Jahr blieben die Abflussmengen der Emme und auch jene der Dünnern in Olten in einem Rahmen, der statistisch fast jedes Jahr erwartet werden kann, wie das Amt für Umwelt mitteilt. Hätten die beiden Nebenflüsse mehr Wasser gebracht, wäre vermutlich die Hochwassersituation in Solothurn und Aargau kritisch geworden. Denn die Speicherkapazität der Jurarandseen war ausgeschöpft.
Die trügerische Interpretation
Zurück zum Jahr 1852 auf der Oltner Tafel, als die Aare offenbar einen Rekord-Höchststand erreicht hatte. Der Wert blieb daraufhin unerreicht. Aber an diesem Einzelereignis lässt sich der Klimawandel nicht widerlegen. Die langfristige Entwicklung zählt in der Wissenschaft. Deshalb sind Forscherinnen vorsichtig, wenn sie die gehäuften Ereignisse der letzten Jahrzehnte bewerten. Die Hauswand in der Oltner Altstadt liefert nicht die einfache Antwort auf die Klimafrage. Zumal eine wesentliche Frage nicht öffentlich bekannt war: Wer erfasst überhaupt die Daten und aktualisiert die Tafel?
Darüber rätselte auch Franco Giori, nachdem das Oltner Bild in Deutschland viral gegangen war. Der Stabschef des regionalen Führungsstabs, der bei Notsituationen eingesetzt wird, fand die Antwort in der eigenen Verwaltung. Der Oltner Tiefbau unterhält die Tafel. «Ich bin der Meinung, dass die Stadt regulieren müsste, nach welchen Kriterien sie die Wasserstände festhält oder nicht», sagt Franco Giori am Telefon. Bisher habe der Tiefbau dies nach «eigenem Empfinden» getan. Beispielsweise der hohe Wasserpegel aus dem Jahr 2013 ist auf der Tafel nicht festgehalten.
Offene Fragen und ihre Antworten
Wie ist der aussergewöhnlich hohe Wasserpegel in den Monaten Juni und Juli einzuordnen? Wie könnte die Zunahme der Hochwasserereignisse in diesem Jahrhundert mit dem Klimawandel zusammenhängen?
Gegenüber «Correctiv» ordnet Michèle Oberhänsli, Hydrologin beim Bundesamt für Umwelt, die Ereignisse im zeitlichen Kontext wie folgt ein:
«In den letzten Jahrzehnten wurde in der Schweiz und in vielen anderen Regionen Europas eine Häufung von großräumigen Hochwassern beobachtet. Betrachtet man die letzten 500 Jahre, so waren die letzten 30 Jahre die hochwasserreichsten von Europa.»
Und das kantonale Amt für Umwelt schreibt zu diesen Fragen:
«Es kann nicht oft genug betont werden, dass der Klimawandel sich auf die Häufigkeitsverteilung der Extreme auswirkt. Das heisst, dass Extreme, die normalerweise nur einmal pro Menschenleben eintreten, durchaus zukünftig mehrmals erlebt werden können.»
Und es führt weiter aus:
«Darum: Abflüsse in dieser Höhe sind in der Aare bereits früher aufgetreten. Eine Folge des Klimawandels kann aber nun sein, dass dies häufiger passiert, als frühere Statistiken erwarten lassen. Zudem könnten die Spitzenabflüsse grösser werden – je nachdem wie stark sich das Klima in den nächsten Jahrzehnten erwärmt. Dies hängt bekanntlich wesentlich von unserem künftigen diesbezüglichen Tun ab.»
Der verklausulierte letzte Satz zielt auf die Klimaschutzmassnahmen und die Dekarbonisierung ab.
Was nun?
Nach den extremen Hochwassern in den Nullerjahren reagierten die Kantone schweizweit mit grossen Hochwasserschutzprojekten und investierten insgesamt 4,5 Milliarden Franken. Im damals stark betroffenen Niederamt realisierte der Kanton innerhalb von zehn Jahren Dämme, Mauern und Seitengerinne. Durch die Massnahmen kann die Region einen Aareabfluss von 1’400 Kubikmetern pro Sekunde verarbeiten. Beim diesjährigen Hochwasser erreichte die Aare zur Spitzenzeit rund 1’000 Kubikmeter pro Sekunde, wie der Kanton mitteilt. Das Amt für Umwelt bilanziert:
«Bezüglich Aare und Emme haben sich die realisierten Hochwasserschutzmassnahmen bewährt. Massnahmen an der Dünnern sind in Planung und sind aus Sicht des Kantons zwingend umzusetzen.»
Das Hochwasserschutzprojekt in Herbetswil steht kurz vor dem Baustart. Wesentlich grösser ist das Projekt, die Dünnern zwischen Oensingen und Olten zu revitalisieren und für Hochwasser fit zu machen. Viel Arbeit bleibe auch an den kleineren Gewässern, um die vorhandenen Hochwasserschutzdefizite zu eliminieren, so der Kanton. «Diese können bereits bei sehr lokalen Gewitterereignissen stark anschwellen und Schäden verursachen.»
Wie hoch die Aare in Olten und weiter flussabwärts kommt, entscheidet sich anderswo. Der Kleinstadt bleibt nur das Vertrauen in die Behörden. Franco Giori würde aber gerne wieder eine Messstation in der Stadt haben. «Wir orientieren uns immer am Murgenthaler Pegel und schauen mit Augenmass, wie hoch das Wasser steht», sagt er. Auch der Transparenz wegen und um Fake News entgegenzuwirken, möchte er die Stadt dazu bringen, am Ländiweg eine öffentliche Messstation zu installieren.
Manchmal sind es die kleinen Dinge, die eine Stadt lebenswerter machen. Die kleinen Dinge, mit welchen Politiker etwas bewegen können. Aber oft scheitert die Politik an eben diesen kleinen Dingen. Oder viel Zeit verstreicht, bis sie endlich umgesetzt werden.
Ja, vielleicht ist die Geschichte über die Basketballkörbe eine, in der sich Alex Capus’ Metapher spiegelt. Kürzlich sprach der Oltner Schriftsteller im Interview mit dem Oltner Tagblatt vom «System Olten», auf das Menschen träfen, die in der Kleinstadt Initiative zeigen würden. Dieses System gebe zunächst weich nach wie ein feuchtes, altes Weissbrot. «Aber man darf sich nicht täuschen lassen: Dieses Weissbrot wartet nur ab, bis die Jungen ermüden und mit dem Druck nachlassen – und kehrt wieder in die alte Form zurück, als sei nichts geschehen.»
Basketball in der Agglomeration von Aarau.
Der vereinsamte Korb
Nun denn: Schon vor zwanzig Jahren wollte das Jugendparlament Region Olten mehr Basketballkörbe in der Stadt installieren. Auf dem Vorplatz der Oltner Schützi war damals ein Basketballkorb montiert. Doch anstatt dass ein zweiter Korb und ein Feld hinzukamen, schlug das Pendel in die andere Richtung um. Die Stadt entfernte den einen Korb im Laufe der Zeit. Ob aus Platzgründen oder wegen Lärmklagen ist offiziell nicht bekannt.
Wer dem Basketballsport nachgehen wollte, fand sein Glück fortan nur noch auf den roten Plätzen der Kantonsschule am Rand zum Hardwald. Als die Kanti zur Grossbaustelle wurde, wichen auch diese. Zumindest temporär bis voraussichtlich 2022. Ironischerweise steht heute der einzig verbliebene Basketballkorb auf der verlorenen Oltner Badiwiese. Jenem grünen Flecken, über den sich schon einige Schnitzelbänke schrieben liessen. Die Wiese ist ein Politikum, seit Parlamentarier verschiedentlich forderten, die Stadtregierung solle sie freigeben. Der Stadtrat kam diesem Wunsch im Wahljahr nach und öffnete die Wiese übers Winterhalbjahr, was einer kleinen Farce gleichkam. Im Sommer nun beansprucht das Schwimmbad die eingezäunte Wiese. Durch die Pandemie bedingt, erweiterte die Badi ihre Liegewiese. So weit die Geschichte zum letzten verbliebenen Korb auf dem Badiareal.
Ein Basketballkorb inmitten der Hochhäuser einer Grossstadt in Nordamerika.
Ein Polit-Marathon
Weil also nur noch dieser blieb, wollte der SP-Parlamentarier Luc Nünlist schon 2017 das entstandene Vakuum füllen. In einer Motion forderte er Basketballkörbe am früheren Standort in der Schützi zurück. Die Vorlage verkam im Parlament zum Prellball der Links-rechts-Blockade. Die Bürgerlichen brachten die Forderung zu Fall. Es sei nicht bekannt, was zwei Basketballkörbe kosten würden, argumentierten sie.
Zwei Jahre später insistierte Luc Nünlist und wählte eine Abkürzung: Er brachte die Basketballkörbe in der Budgetdebatte von neuem ins Spiel. An diesem Abend im Dezember 2019 war das Parlament spendierfreudig und sprach 12’000 Franken für Basketballkörbe und Tischtennistische.
Das Warten auf die Körbe zieht sich aber auch eineinhalb Jahre danach hin. «So einfach ist das mit den Basketballkörben nicht», sagt die Grüne Iris Schelbert am Telefon. Die abtretende Direktorin für Bildung und Sport hätte gerne auf den Schulplätzen in den Quartieren die Basketballkörbe zurückgebracht. «Das ist nun leider etwas, was ich nicht mehr in meiner Amtszeit geschafft habe», sagt sie. Wegen Lärmklagen verschwanden die Körbe auf den roten Plätzen über die Jahre allmählich. Etwa beim Froheimschulhaus besteht bis heute ein richterliches Verbot, das ein betagter Mann über ein Gerichtsurteil erwirkt hatte. «Ich würde mir wünschen, dass wir dieses Verbot aufheben können», sagt Schelbert. Der Rechtskonsulent der Stadt prüfe dies nun.
Immerhin: Im Stadthaus tut sich was bezüglich Basketballkörben in der Schützi, wie wir bei Oltens Verwaltung erfahren. Wir fragen bei Thomas Marbet, dem Stadtpräsidenten in spe, nach, der die Baudirektion diesen Sommer an Marion Rauber übergibt. «Wir haben die Direktion für Bildung und Sport gemeinsam mit der Baudirektion beauftragt, in Absprache mit der Schützi einen konkreten Standort festzulegen», sagt Thomas Marbet. Geplant sind zwei Basketballkörbe und ein einfaches Nutzungsreglement, wie der Baudirektor sagt. Er wolle dies gleich nächste Woche, wenn die neue Legislatur losgeht, nochmal mit seiner Nachfolgerin Marion Rauber besprechen. «Wenn wir Menschen eine Freude machen können mit einem Basketballkorb, müssen wir dies machen», sagt Marbet. Warum hat’s die Politik denn nicht schon vor zwanzig Jahren gerichtet? Wir sind gewarnt, wenn wir an Capus’ Weissbrot-Metapher denken.
Wer ein einschneidendes Erlebnis hinter sich hat und durch jemanden geschädigt wurde, kriegt in der Schweiz Hilfe. Dies ist seit 1997 so, als das Opferhilfegesetz geschaffen wurde. Mit dieser Grundlage verpflichtete der Bund alle Kantone, eine Opferhilfestelle anzubieten. Kleinere Kantone taten dies in Kooperation mit anderen. Auch der Kanton Solothurn war über zwanzig Jahre lang an die Aargauer Opferhilfestelle angebunden. Wer also beispielsweise durch ein Tötungsdelikt im nahen Umfeld traumatisiert war, bekam Unterstützung in Aarau.
Nun geht Solothurn einen eigenen Weg. Im Juli eröffnete der Kanton in der Oltner Industrie im Gerolag Center eine eigene Hilfestelle. Leiterin der neuen Beratungsstelle ist Agota Lavoyer. «Uns war sehr wichtig, dass die Anonymität gegeben ist, aber eben auch die Vertraulichkeit», sagt sie in einem der hellen Sitzungszimmer mit den hohen Fenstern. «Hier haben wir einen guten Mix und dank Fitnesszentrum und anderen Nutzungen auch eine gewisse Frequenz.» Denn verstecken will sich die Opferhilfestelle nicht. Im Gegenteil. Agota Lavoyer hat hohe Erwartungen an sich selbst und ihr Team. «Mein Ziel wäre erreicht, wenn die Menschen im Kanton Solothurn – egal ob jemand einen Unfall mit Drittverschulden oder Gewalt erfährt – als erstes an die Opferberatungsstelle denken würden.»
Solothurn wählt eigenen Weg
Lavoyers Ansprüche erklären auch, weshalb der Kanton nach der über zwei Jahrzehnte währenden Kooperation mit dem Kanton Aargau einen eigenen Weg wählte. Ziel ist es, das Angebot niederschwelliger zu machen – auch wenn dies aufgrund der geographischen Struktur des Kantons nicht ganz einfach ist. «Wir wollen uns im Kanton besser vernetzen», sagt Agota Lavoyer. Künftig werde sich zeigen, ob zusätzliche Ableger im Kanton notwendig seien. Die neue Beratungsstelle wird ohnehin schrittweise aufgebaut. Unter der Leitung der Bernerin begann im Juli ein dreiköpfiges Team in Olten. In einem Jahr sollten auf der Opferhilfe rund acht Angestelltebeschäftigt sein, hofft Lavoyer.
Menschen, die Leid erfahren haben, sind bei der Opferhilfe aufgehoben. Sie unterstützt Opfer, die sexuelle oder häusliche Gewalt erlitten haben, genötigt wurden, Angehörige durch Tötung verloren haben, Menschen, die von Stalking oder Zwangsheirat betroffen sind. Aber auch Menschen, die schwere Unfälle zum Beispiel im Verkehr oder am Arbeitsplatz erlitten haben. Wie die Statistik der Opferhilfe Aargau, unter welche auch der Kanton Solothurn fiel, zeigt: Gut die Hälfte der betreuten Menschen meldete sich wegen häuslicher Gewalt bei der Anlaufstelle. Doch Lavoyer sagt, es gäbe aufgrund dessen keine Gewichtung bei der neuen Solothurner Fachstelle. Alle Betroffenen sollen gut aufgehoben sein.
Die Bandbreite ist enorm. Und in dieser Form auch für Agota Lavoyer neu. Fünf Jahre lang war sie Beraterin und später stellvertretende Leiterin der Fachstelle Lantana in Bern, die ausschliesslich Opfer von Sexualdelikten betreute. Mit ihrer Arbeit und ihrer Präsenz in den Medien machte sie sich in der Deutschschweiz einen Namen als Expertin in diesem Bereich. Dennoch wechselte sie nach Olten, als der Kanton Solothurn rief. «Sexualdelikte werden noch immer einen wesentlichen Teil ausmachen, aber ich freue mich sehr, einen Gesamtblick zu kriegen», sagt Lavoyer.
«Opferhilfe» ist ein schwer fassbarer Begriff. Wie läuft eine Betreuung durch Ihre Fachstelle typischerweise ab?
Beispielsweise bei häuslicher Gewalt kommt es oft vor, dass eine Nachbarin oder eine Freundin für die betroffene Person anruft. Wir müssen generell abklären, ob im konkreten Fall dem Betroffenen Opferhilfe zusteht. Wir führen gerne persönliche Beratungsgespräche. Sobald Schamgefühle da sind, ist es einfacher, sich persönlich zu sehen. Aber wir bieten auch telefonische Beratung an. Es kann sogar per Mail sein. Viele wollen erzählen, was ihnen widerfahren ist. Aber niemand muss dies tun. Wenn uns jemand von einer Vergewaltigung erzählt, brauchen wir keine Details. Wir sind nicht die Polizei. Für uns steht die Frage im Zentrum: «Was braucht die betroffene Person?». Manche haben eine konkrete Vorstellung und wünschen eine Anzeigeberatung, ein Gespräch bei einer Anwältin oder eine Therapie. Wir raten weder dazu noch davon ab, Anzeige zu erstatten. Wir können höchstens aufzeigen, was auf sie zukommt, wenn sie zur Polizei gehen.
Weshalb bewahren Sie hier eine neutrale Position?
Wir haben ganz klar die Haltung, dass die Anzeige eine persönliche Entscheidung ist, die nicht zu unterschätzen ist. Bei einem Verkehrsunfall oder einem Raubüberfall ist es vielfach einfacher, weil man die Person, die den Unfall verursachte oder den Raub beging, nicht kennt. Im Bereich der sexuellen oder häuslichen Gewalt und auch beim Stalking geht die Gewalt oft von dem Opfer bekannten Personen aus. Da muss der Betroffene wissen, was er sich mit der Anzeige antut. Dabei muss sich die Person Fragen wie diese überlegen: Ertrage ich psychisch eine siebenstündige Einvernahme oder ein Strafverfahren, das drei Jahre dauern kann? Was macht es mit mir, wenn das Verfahren eingestellt wird? Was, wenn der Täter freigesprochen wird?
Die Hemmschwelle zur Anzeige ist also gross. Finden Sie es ein Problem, dass die Hürde so hoch ist?
Rein von meinem Gerechtigkeitsempfinden her würde ich mir mehr Anzeigen wünschen. Wenn ich die Kriminalstatistik anschaue, dann steht die Zahl der Verfahren in einem krassen Missverhältnis zur Realität. Das ist auch bei den Zahlen zur sexuellen Gewalt zu sehen. Die Dunkelziffer ist riesig. Ich finde es verheerend, dass so viele Taten ungestraft bleiben. Aber ein Strafverfahren ist nicht ohne. Ich habe schon von Anwältinnen gehört, sie wären nicht sicher, ob sie ihrer Tochter empfehlen würden, eine Anzeige zu machen.
Mit der Opferhilfe füllen Sie ein Stück weit diese Lücke.
Genau. Wir betreuen die Menschen unabhängig davon, ob sie Anzeige erstatten oder nicht. Viele wissen nicht, dass wir eine erhöhte Schweigepflicht haben. Wenn sie uns erzählen, vergewaltigt oder fast umgebracht worden zu sein, sie aber nicht rechtliche Schritte machen, dann melden auch wir nichts. Im Gegensatz zu anderen Stellen sind wir nicht dazu verpflichtet.
Ist es für Sie schwierig, die neutrale Haltung zu behalten? Sie beziehen, etwa wenn es um sexuelle Gewalt geht, klar Position und wollen die Dunkelziffer senken, die Thematik enttabuisieren. Wie gehen Sie mit dieser Rolle um?
Wir sind nicht neutral. Wir als Opferhilfe sind ganz klar der parteilichen Hilfe verpflichtet, das steht auch im Opferhilfegesetz. Das heisst in erster Linie, dass wir uns auf die Seite der Opfer stellen, ihnen glauben, ihr Verhalten vor, während und nach der Tat nicht in Frage stellen und sie in ihrem Empfinden ernst nehmen. Gerade bei häuslicher und sexualisierter Gewalt sind Opfer oft unsicher, ob sie eine Mitschuld trifft. Ziel unserer Parteilichkeit ist, jeglicher Verantwortlichkeitsverschiebung entgegenzuwirken. Für Opfer ist das enorm wichtig.
Sie haben auf Twitter geschrieben, einer der meistgehörten Sätze sei für Sie «Ich habe versucht, es zu vergessen, aber es geht nicht». Da können auch Sie nicht helfen.
Doch, da sehe ich klar den Opferhilfeauftrag. Klar, wir können ein Ereignis nicht ungeschehen und auch nicht vergessen machen. Wir können aber helfen, dass das Erfahrene zu einem weniger schmerzhaften Teil des Lebens wird. Eine betroffene Person soll beispielsweise nach fünf Jahren sagen können: «Es war schlimm, aber es haut mich nicht mehr aus dem Leben, wenn ich dran denke.» Bei diesem Verarbeitungsprozess setzen wir an. Klar ist, dass es immer ein Vorher und ein Danach gibt. Und Eltern, die ihr Kind durch Drittverschulden bei einem Verkehrsunfall verloren haben, hadern womöglich ein Leben lang.
Welche Möglichkeiten haben Sie, um den Menschen zu helfen?
Neben der Beratung können wir auch finanzielle Leistungen sprechen. Auch für Menschen, die keine Beratung wollen, sondern in eine Therapie möchten. Das ist völlig legitim. Die Opferhilfe kann Soforthilfeleisten. Beispielsweise zehn Stunden Therapie oder fünf Stunden Beratung beieiner Anwältin. Oder auch ein neues Schloss oder ein Handy, für eine Person, die gestalkt wird. Für die Soforthilfe braucht es einen engen Zusammenhang zur Straftat, aber wir können sie unbürokratisch vergeben. Wenn die Soforthilfe aufgebraucht ist, können die Betroffenen ein Gesuch an den Kanton stellen, um längerfristige Unterstützung zu kriegen. Ein politisches Thema ist derzeit, dass aber beispielsweise Menschen, die auf der Flucht Gewalt erfahren haben, keine Opferhilfe beanspruchen dürfen, weil nur die Menschen Opferhilfe zugute haben, die zur Tatzeit Wohnsitz in der Schweiz hatten.
Die Opferhilfe ist gemäss Statistik schweizweit zunehmend gefragt. Glauben Sie, dass es mehr Delikte gibt, oder trauen sich mehr Menschen, die Hilfe anzunehmen?
Ich habe das Gefühl, es ist eher die Enttabuisierung. Auch bei Sexualdelikten gehen die Zahlen nach oben und ich glaube nicht, dass es heute mehr Vergewaltigungen gibt als vor zehn Jahren. Hoffentlich sogar eher weniger. Die Gesellschaft spricht viel mehr darüber und das wiederum bekräftigt Betroffene, sich Hilfe zu suchen.
Besonders schwierig dürfte es sein, die Jungen zur Opferhilfe zu bringen. Wie schaffen Sie dies hier in Solothurn?
Indem wir gezielt auch dort unser Angebot vorstellen, wo sich die jungen Menschen aufhalten. In Lehrbetrieben, Schulen, Institutionen und so weiter. Wir versuchen, möglichst viele zu erreichen. Somit hoffen wir zu bewirken, dass eine betroffene Person, die uns nicht kennt, durch ihr Umfeld auf die Opferhilfe hingewiesen wird. Künftig würden wir zudem gerne eine anonyme Onlineberatung anbieten. Und wir haben eine Whatsapp-Nummer. So versuchen wir, die Hürden zu senken. Vieles ist auch Aufklärungsarbeit. Betroffene müssen erst erkennen, dass sie «Opfer» sind, das heisst, wir müssen junge Menschen darüber aufklären, was Gewalt genau ist. Dass es zum Beispiel nicht Liebe ist, wenn eine Frau ihrem Freund droht, ihn zu verlassen, wenn er nicht eine Ortungsapp auf dem Handy installiert. Das ist nicht Liebe, sondern eine Form von psychischer Gewalt. Viele haben auch ein stereotypes Bild von Vergewaltigungen, die nicht der Realität dieser Delikte entsprechen.
Sie haben die Vergewaltigung angesprochen. Um hier Klarheit zu schaffen, forderten Teile der Politik eine Zustimmungslösung.
Im Gesetz ist die Haltung einer Gesellschaft sichtbar. Wir Opferhilfestellen sind der Überzeugung, dass Sexualität auf Einvernehmlichkeit beruhen muss und die sexuelle Selbstbestimmung in den Vordergrund gerückt werden muss. Dafür ist es unumgänglich, dass wir die Zustimmungslösung einführen.
Kamen in Ihrer Laufbahn auch schon Täter zu Ihnen und wollten sich offenbaren?
Sie dürfen nicht kommen. Wenn eine straffällige Personanruft, verweisen wir sie an die Beratungsstelle Gewalt. Bei häuslicher Gewalt kriegen wir manchmal gleichzeitig eine Opfermeldung von der Polizei. Dann beraten wir beide Parteien separat. Es gibt durchaus Fälle, in welchen beide Opfer und Täterin oder Täter sind.
Sie forderten in den sozialen Medien mehr Zivilcourage. Mehr Intervention, wenn Männer übergriffig werden. Wie stellen Sie sich dies konkret vor?
Bei diesem Beispiel ging es um sexualisierte Gewalt. Hier fängt der Übergriff beim Sexismus an. Und Sexismus beginnt da, wo man über einen sexistischen Witz mitlacht. Statt sich unbeliebt zu machen und in einer Männerrunde zu sagen: «Hey, das ist nicht okay.» Oder wenn einer Jugendlichen auf der Strasse nachgepfiffen wird. Da würde ich mir wünschen, dass sonst jemand, der es mitkriegt hat, was sagt. Oder im Ausgang. Wir bekommen so viele Belästigungen mit, aber kaum jemand reagiert. Dort würde es anfangen. Dass alle sich selbst hinterfragen: «Wie reagiere ich, wenn Menschen sexistisch sind?»
Dieser Diskurs ist teilweise am Laufen. Spüren Sie bei der Opferhilfe, dass die Sensibilisierung der Gesellschaft voranschreitet?
Wie gesagt steigen die Opferhilfezahlen, das ist ein «gutes» Zeichen. Trotzdem sind wir noch nicht dort, wo wir sein sollten. Ich habe in fünf Jahren rund fünfhundert Betroffene von Sexualdelikten beraten. Jene, die kamen und sagten: «Als ich meinen Freunden und meiner Familie erzählte, was mir widerfuhr, haben sie unterstützend reagiert.» Ich könnte sie an zwei Händen abzählen. Darum finde ich: Nein, wir sind noch überhaupt nicht weit. Bei der häuslichen Gewalt verhält es sich ähnlich. Eine Nachbarin, die anruft und sagt: «Ich habe ein ungutes Gefühl, bei mir unten tönt es nach Gewalt. Aber ich habe mit meinem Mann geredet und er meint: ‹Ach, misch dich nicht ein, das ist ihr Leben.›» Aber dann gibt es auch den guten Freund, der sich an uns wendet, weil er um eine Freundin, die Gewalt erfährt, besorgt ist. Wir sind vielleicht auf einem guten Weg, aber noch lange nicht am Ziel.
Sie arbeiten privat gerade an einem Buch, das sich mit sexueller Gewalt an Kindern befasst. Was kann die Opferhilfe hier leisten?
Wichtig ist, dass wir in diesem Bereich schon bei Verdachtsfällen beraten. Wenn jemand den Verdacht hat, dass das Nachbarskind, der Enkel oder auch die Schülerin daheim sexuell ausgebeutet werden könnte, kann man sich bei uns beraten lassen. Die Leute müssen nicht sicher sein, dass eine Straftat vorliegt. Wir können eine externe Einordnung machen und mögliche Handlungsschritte vorschlagen. Fachpersonen, nahestehende Personen, Eltern oder aber auch Kinder können sich von uns beraten lassen. Nicht wenige der Menschen, die als Kind sexuelle Gewalt erlitten haben, sind jedoch längst erwachsen, wenn sie zu uns kommen. Im letzten Jahr meldeten sich gut 5000 Personen, die als Kind ausgebeutet wurden. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Wichtig ist, Kinder über sexuelle Gewalt aufzuklären. Reden ist Prävention. Dort setzt mein Buch an.
In Solothurn müssen Sie nun anders als in Bern die gesamte Bandbreite an Opfern beraten. Droht nicht ein fehlendes Bewusstsein für Bereiche, die in der Gesellschaft weniger Aufmerksamkeit geniessen?
Ich glaube nicht. Wir müssen und wollen in allen Bereichen Fachleute sein. Egal ob es sich um Zwangsheirat, Stalking oder einen schweren Verkehrsunfall handelt. Das ist für uns als Team eine spannende Herausforderung. Etwas ist allen Menschen, die zu uns kommen, gemeinsam: Sie haben etwas Traumatisierendes erlebt und brauchen Unterstützung.
Agota Lavoyer
Die 40-jährige Bernerin ist Mutter von vier Kindern. Sie studierte Soziale Arbeit und wirkte danach fast zehn Jahre lang als Schulsozialarbeiterin, bevor sie zur Opferhilfe im Kanton Bern wechselte. Auf der Fachstelle Lantana wirkte Agota Lavoyer während fünf Jahren.
Wer sucht, der findet. Dies gilt für Oltner Parkplätze eigentlich seit längerer Zeit. Suchen sollen die Automobilistinnen nun nicht mehr. Nur noch finden. Dank dem Parkleitsystem. Wegen der Beschriftung fürchteten einzelne Oltner aber, die Parkplatzfindung würde doch noch immer zur grossen Suche werden. Denn wo ist «Olten Ost» und welche Parkplätze fallen unter den Term «Zentrum»? Nun denn, so schwer kanns nicht sein. Der abtretende Stapi Martin Wey deutschte es im OT nochmal für alle aus, die es mit den Himmelsrichtungen nicht so haben. Mit Olten Ost ist die rechte Aareseite gemeint. Im Norden geht’s gen Jura und Nachbardorf Trimbach zu, im Süden liegt Aarburg.
Mit einem kleinen Fest weihte der vollzählig anwesende Stadtrat das Parkleitsystem ein. Es war das letzte Mal in dieser Konstellation. «Mal schauen, was das Hochwasser noch bringt», meinte Martin Wey auf die Frage, ob es bereits sowas wie die letzte Amtshandlung sei. Er und die langjährige Stadtratskollegin Iris Schelbert treten ab.
Quelle: Stadtkanzlei Olten
Ein dickes «Danke Martin & Iris» leuchtete für die beiden von der Parkleittafel. Für die Grüne Schelbert schloss sich ein Kreis: 2008 hatte sie in einem ersten Vorstoss als Parlamentarierin ein Parkleitsystem gefordert. Die politischen Mühlen mahlten langsam – dreizehn Jahre später ist das Parkleitsystem doch noch Realität geworden. Die Stadt erhofft sich weniger Verkehr und für das Gewerbe im Idealfall mehr Kundschaft, weil Olten wieder angenehmer erreichbar wird. Das Leitsystem kostet 1,4 Millionen Franken. Finanziert werden sie über einen Fonds aus Parkplatzgebühren, womit die Stadtkasse unbelastet bleibt.
Die kleine, vertraute Welt
Vom Parkleitsystem abgesehen, setzte der Stadtrat eine weitere Leitplanke bei einer seiner letzten Sitzungen. Er bestimmte den neuen Verwaltungsrat der städtischen Betriebe Olten (sbo), der Energie- und Wasserversorgerin der Stadt. Konkret ging’s darum, zwei neue Stellen zu besetzen. Die neuen Exponenten sollen den städtischen Betrieben mehr Kompetenz in Fragen zu erneuerbaren Energien und im Bereich der Kommunikation bringen. Auf die Ausschreibung hin waren Bewerbungen aus der ganzen Schweiz und dem nahen Ausland zusammengekommen.
Sowohl die Grünen wie auch SVP und FDP forderten in den letzten Jahren stets vehement mehr Transparenz und weniger mutmassliche Vetternwirtschaft. Am Ende ist die Welt eben doch klein, oder der Stadtrat hat sie klein gemacht. Dies zumindest wirft ihm die SVP vor. Wohl nicht ganz zu Unrecht: Mit Christina Meier wählte der Stadtrat eine bestens vernetzte ehemalige FDP-Kantonsrätin. Martin Mühlebach ist in einer Zürcher Beratungsfirma für Energiefragen einer der Chefs des künftigen Stadtrats Raphael Schär-Sommer.
Der Stadt gilt es zugutezuhalten, dass sie dies transparent machte. Sie schrieb, dieser Fakt sei nach «eingehenden Abklärungen» in den Hintergrund gestellt worden. Die städtische SVP kommentierte entsprechend: «Somit sind Corporate Governance Konflikte programmiert. Man kennt sich und es fragt sich, ob man sich eine europaweite Ausschreibung hätte sparen können. Nichts Neues in Olten …» Nun denn: Lassen wir den neuen Verwaltungsrat, der im Übrigen neu durch den FDP-Kantonsrat Daniel Probst geführt wird, erst wirken. Wegen der neuen Bestimmungen ist der Verwaltungsrat nur noch für ein Jahr gewählt.
Quelle: Facebook
Inwiefern der neue Verwaltungsrat auf den Kurs Richtung erneuerbare Energie zusteuert, wird sich weisen. Alles wird nicht auf den Kopf gestellt: Fünf bisherige Verwaltungsräte bleiben wie bis anhin. Die Stadtregierung ist neu nur noch mit einem Vertreter (Benvenuto Savoldelli) dabei. Einen kompromisslosen Kurs zu den erneuerbaren Energien sah der Stadtrat als Gefahr, wie er an der Junisitzung dem Parlament offenbarte. Er zog die Notbremse und nahm die Statutenrevision kurzerhand von der Traktandenliste. Wie Tobias Oetiker von Olten jetzt! im Parteiblog beschreibt, wollte die Geschäftsprüfungskommission den städtischen Betrieben in einem Zweckartikel straffe Nachhaltigkeitsziele (Netto-Null-CO2-Ziel bis 2030 und Ausstieg aus dem Handel mit nichterneuerbaren Energieträgern) auferlegen. Martin Wey wählte drastische Worte und warnte, der Antrag «hat das Potenzial, das Überleben der sbo zu gefährden».
Das Ende der Geheimnisse?
An anderer Front machte die Stadt endlich reinen Tisch: Sie legte erstmals auch die Verwaltungshonorare der Aare Energie AG offen. Seit Jahren schon war dies ein Politikum. Denn die Führung der Tochtergesellschaft war bisher identisch wie jene der städtischen Betriebe. Wieso kassieren die Verwaltungsräte doppelt und wie viel kassieren sie? Letztere Frage ist beantwortet: Der Verwaltungsratspräsident erhält über die sbo 24’800 Franken und über die Aare Energie AG 28’600 Franken. Die Vizepräsidentin wird mit 18’000 beziehungsweise 19’600 Franken entschädigt. Die übrigen Mitglieder erhalten jährlich 16’800 respektive 17’600 Franken. Das Honorar des sbo-Präsidenten wurde nahezu halbiert (bisher 48’000 Franken). Die Stadt begründete dies in ihrer Mitteilung mit der abgeschlossenen Entflechtung des vormaligen Unternehmens, der Alpiq Versorgungs AG.
Die neue Transparenz wird wohl dennoch nicht alle Fragen auflösen. Denn nun steht schwarz auf weiss: Im Vergleich zu anderen städtischen Betrieben verdienen Verwaltungsräte in Olten besonders gut, wie das OT vor zwei Jahren bereits vermutete. Warum es überhaupt zwei Verwaltungsräte benötigt, wo doch die städtischen Betriebe keine Angestellten haben, dürfte auch weiter im Raum bleiben.
Kritik an der Kritik
Bevor die Legislatur endgültig endete und die Politik in den Sommerschlaf ging, gab’s in Olten nochmal einen letzten Aufreger. Mit salbenden Worten hatte Parlamentspräsident Philippe Ruf Ende Juni das Parlament verdankt und die vielen abtretenden Milizpolitikerinnen mit Lobeshymnen bedeckt. Nur eine Woche darauf wählte der SVP-Präsident der Ortspartei in einer Kolumne der Neuen Oltner Zeitung wieder härtere Worte. Er strich darin vier Oltner Bürger heraus, die Olten besonders voranbringen würden. Und schoss in einem Nebensatz gegen den aktuellen Stadtrat. Fürs Oltner Tagblatt war dies Anlass genug, eine klassische Reaktionen-Geschichte auf einer Zweidrittelseite aufzublasen.
Und, wen wundert’s: «das politische Olten» hatte keine Freude am Seitenhieb des scheidenden Parlamentspräsidenten. Selbst den NOZ-Redaktionsleiter befragte das OT, warum denn die Kolumne so abgedruckt worden sei. Dabei müsste die Lokalzeitung wissen: Kolumnen sind Meinungsbeiträge. Und diffamierend waren die Worte Rufs keineswegs. So bleibt der Verdacht: War der Beitrag gegen Ruf eine Retourkutsche? Parlamentspräsident Ruf hatte nämlich in der laufenden Sitzung gesagt, die Oltner Facebookgruppe sei die Primärquelle des Oltner Tagblatts. Zugegeben: keineswegs die feine Art von Ruf in dieser Position. Aber letztlich nur sowas wie eine Dorfposse. Eine solche schrieb auch die Gemeinde Winznau:
Der Bauernaufstand
Steil führt die Lostorferstrasse hinauf durchs Winznauer Dorf, bevor links das Schulhaus steht, rechts die letzten Siedlungen und die Mehrzweckhalle. Dann öffnet sich das grüne Feld. Die Wiese, über die das Dorf debattiert: der Büelacker. Um ihn ist ein kleiner Bauernaufstand ausgebrochen.
Am Büelacker (gelb) scheiden sich in Winznau die Meinungen. (Quelle: Google Maps)
In einem langen Prozess hatte das Oltner Nachbardorf mit seinen Einwohnerinnen ein räumliches Leitbild entworfen. Vom Kanton kriegte Winznau Blumen für seine Arbeit und die Resonanz im Dorf war weitgehend positiv. Doch dann marschierten die Landwirte zur Gemeindeversammlung und kippten das Papier. Das Oltner Tagblatt rapportierte, wie Bauer Patrick Grob an der Gemeindeversammlung erfolgreich beantragte, das Leitbild zurückzuweisen. Der Grund: Er und eine Mehrheit der Anwesenden wollen partout nicht, dass auf dem Büelacker dereinst eine Überbauung entstehen könnte. Dies gefährde die landwirtschaftliche Existenz, habe er argumentiert, schrieb das OT. Zwei Tage später korrigierte Grob in einem Leserbrief im Lokalblatt gleich selbst: Von existenziellen Ängsten sei sein Antrag nicht getrieben gewesen und er schlug versöhnliche Töne an.
Von Eigeninteressen getrieben
Warum also lehnt sich der Bauer und mit ihm ein Teil der Bevölkerung gegen eine Überbauung auf dem Büelacker? Der Gemeindepräsident Daniel Gubler kennt das Innenleben des Dorfes und weiss; drei Interessensgruppen möchten den Büelacker nicht überbaut sehen. Einige Eltern fürchten sich vor dem Mehrverkehr, wenn dreissig Wohnungen neben der Schule entstehen. Der Schulweg würde unsicher für die Kinder, argumentierten sie. Dann sind da die Nachbarn, die keine neuen Nachbarn wollen. «Das ist zwar verständlich, aber kein Grund», sagt Gubler.
Und eben, die Landwirte.
Momentan ist der Büelacker noch landwirtschaftlich genutzt. Die Bauern hätten gern, dass die Gemeinde das Land kauft und für öffentliche Bauten behält. Dies gaben sie neulich zu dritt gegenüber dem Oltner Tagblatt kund. Ob dafür Bedarf besteht, hatte der Gemeinderat geprüft und dabei kam er zum Schluss: Wenn das Schulhaus erweitert würde, dann oberhalb vom heutigen Schulhaus am Platz des heutigen Parkplatzes. «Wir möchten das Schulhaus nicht auf zwei Strassenseiten aufteilen», sagt der Gemeindepräsident. Zudem müsste die Gemeinde tief in die Tasche greifen: «Ein Kauf würde für die Gemeinde Kosten von rund zwei Millionen verursachen.»
Die Landwirte sähen so eine andere Lösung: Dann könne das Land eben ausgezont und über den Mehrwertabgabefonds entschädigt werden, lässt sich PatrickGrob im OT zitieren. Die Leserin wird hellhörig. Der Winznauer Bauer hatte neulich an der Gemeindeversammlung die Mehrwertabgabe streichen wollen. Denn zont eine Gemeinde Landwirtschaftsland zu Bauland um, kann sie über den Planungsausgleich bis zu 20 Prozent des aufgewerteten Landpreises einfordern (20 Prozent gehen fix an den Kanton). Dass die Landwirtinnen die Abgabe nicht so toll finden, erklärt sich von allein: Würden sie ihr Bauland veräussern, müssten sie 40 Prozent abgeben und würden nicht so viel Geld einstreichen. So ganz uneigennützig sind die Bauern also wohl nicht unterwegs. Wäre doch schön, würde irgendwann mal auf ihrem Land gebaut. Aber bitte nicht auf dem Büelacker.
Wie 1889 oder doch 2007?
Was der 15. Juli 2021 mit 1889 zu tun hat? Damals war die Aare auf einem ähnlichen Höchststand wie in diesem Sommer. Dies verrät die Tafel am Eingang zur Oltner Altstadt. Das übertretende Wasser der Aare und Dünnern sorgt für eine Bilderflut auf den sozialen Medien. Auf der Holzbrücke und am «Schützisee» blieben die Passantinnen zu Dutzenden stehen, um das Naturschauspiel zu bestaunen. Die rauschende Aare dürfte noch über Wochen zum Oltner Stadtbild gehören. Denn die Seen sind alle bis zum Rand oder leicht darüber hinaus gefüllt.
«Seither ist viel Wasser die Aare heruntergeflossen», sagen die Oltnerinnen im Volksmund gerne, wenn etwas weit zurückliegt. In diesem Sommer ist der Fluss durch die unablässigen Niederschläge besonders stark strapaziert. Am letzten Junimittag führt die Aare schiere Mengen an Wasser durchs Städtchen, das beim hohen Wasserstand kleiner scheint. Hinter seinem Latte macchiato auf der Baditerrasse sitzt Arnold Uebelhart. Auch ihn dürfte die Naturgewalt beeindrucken. Doch was während unseres Gesprächs neben uns durchfliesst, ist nichts verglichen mit den Wassermengen, welche die Aare durch Olten trug, derweil Arnold Uebelhart im Gemeindeparlament sass.
28 Jahre
Gemessen an einem Gestein würden 28 Jahre einer Sekunde entsprechen. In der Politik ist ein ausdauerndes Engagement wie jenes von Arnold Uebelhart epochal. Der Hausarzt bevorzugte die kleine Politbühne und blieb immer in der Rolle des einfachen Volksvertreters. Für den Kantonsrat, geschweige denn für den Nationalrat hegte er keine Ambitionen. «Ich wollte nirgendwo sonst hin», sagt er. Neben dem Amt im Parlament wirkte Uebelhart zudem 16 Jahre lang am Amtsgericht als Laienrichter.
Die Rolle des Richters nahm er auch im Parlament ein. Mit einer unverbrauchten Art hinterfragte er gerne die starren Haltungen der Parteien. Seine direkten Worte kamen gut an. Er machte sich mit seiner Wesensart bei allen beliebt. Er habe mal ausgerechnet, was von seiner Lebenszeit auf die Politik ging, erzählt Uebelhart. 28 Jahre lang mit zehn Parlamentssitzungen, ebenso vielen Fraktionssitzungen jährlich und zusätzlich die Vorbereitung der Dossiers. «Das wären weit über 80 Stunden pro Jahr und bestimmt 3000 Arbeitsstunden über die drei Jahrzehnte verteilt. Das ist ein gutes Arbeitsjahr», sagt Uebelhart und lacht dabei sein helles, unverkennbares Lachen. Kein Stolz schwingt in der Stimme mit. «Noldi», wie ihn alle nennen, war immer der unaufgeregte Parlamentarier, der still die Dossiers studierte und dann hin und wieder durch seine Voten auffiel.
Damals, als nur wenige herrschten
Er wolle keine Huldigung zu seiner Person lesen, keinen Lobgesang auf ihn als Milizpolitiker, sagte er, als ich ihn für ein Gespräch anfragte. Wie das Aarewasser vorbeizieht, beginnt er zu erzählen. «Als ich anfing, war das Parlament ein autoritär geführter Betrieb. Wir haben ein paar Jahre lang geschwiegen. Die Chefs sagten, wo es langging. Ich spürte damals noch keine Konfliktlinien im Parlament.» Die Kultur des Abnickens wandelte sich zusehends und das Parlament wurde diverser, hartnäckiger – und kritischer.
Damals, als er nach Olten gekommen war, um in die Gemeinschaftspraxis im Hammer einzuziehen, hatte der spätere Regierungsrat Peter Gomm ihn auf die Wahlliste geholt. Auf Anhieb schaffte Arnold Uebelhart 1993 den Einzug in die Oltner Legislative. Und da sollte er bleiben. Von Haus aus sei er schon Sozialdemokrat gewesen, erzählt er. Die SP war Familientradition. Arnold Uebelhart gehörte in seinen Jugendjahren in Aarau der Juso an. «Mir ist es wichtig, zu einer Partei zu gehören, die auch schweizweit und europaweit vernetzt ist und Gewicht hat», sagt Uebelhart.
Wäre es nach ihm gegangen, hätte er die drei Jahrzehnte im Parlament überdauert. Doch im Frühling kam die Abwahl. Die SP setzte voll auf die Frauen und führte sie doppelt auf der Liste, während die Männer einfach drauf waren. Eine Hypothek, die selbst der 68-Jährige, der bei den letzten Wahlen stets einer der Bestgewählten gewesen war, nicht wettmachen konnte.
Sie brachen im Parlament oft mit festgefahrenen Mustern, wenn Sie Ihren Senf dazugaben. Wie kam es dazu?
Manchmal empfand ich die Debatten als festgefahren und stur. Ich störte mich daran, wie der Stadtrat in gewissen Geschäften von Beginn weg verrissen wurde. Viele klammern sich an ihren Notizen fest. Ich rief immer dazu auf, sie sollten doch spontan sprechen. Ich hatte selten ein Blatt vor mir. Was viele machten, ist wie am Spielfeldrand ein Match zu kommentieren. «Geht doch aufeinander ein», forderte ich immer wieder. Mein Ziel war eben, dass wir Mitspieler sind und die Konfrontation überwinden. Erst später habe ich gemerkt, dass ich diese Rolle innehatte.
Sie nahmen also Ihr Wesen als Sozialdemokrat beim Wort und trugen den Gerechtigkeitsgedanken auch ins Parlament.
Nun will ich doch noch die Philosophin und Polittheoretikerin Hannah Arendt zitieren. Sie sagte: «In der Politik geht es nicht um Wahrheit, sondern darum, in einer Gemeinschaft ein Urteil zu fällen.» Darin steckt für mich alles drin. Es gibt nicht ein wahres Urteil. Wenn wir zum Beispiel darüber debattieren, wie wir den Ländiweg umsetzen möchten, geht es nicht um wahr oder falsch. Alle tragen ihren Kompass im Hintergrund mit. Jene, die eine andere Meinung vertreten, bereiten sich ebenfalls auf die Themen vor. Das gilt es zu respektieren, denn auch wir als Parlament bilden eine Gemeinschaft.
Was bewirkt der harte Diskurs im Parlament?
Er bindet viel Energie und bringt der Stadt nicht viel. Viele sind frustriert. In diesen 28 Jahren habe ich extrem viele junge Menschen kennengelernt, die kamen und wieder gingen. Auch weil sie frustriert waren.
Die SP wählte dieses Jahr eine mutige Wahlstrategie und förderte die Frauen konsequent. Innerhalb der Partei sorgte dies für Wirbel. Gerade die älteren Männer fürchteten eine Abwahl, die dann Tatsache wurde. Auch für Sie.
Im Gegensatz zu anderen erfahrenen Parlamentskollegen war ich dafür, die Frauen doppelt auf die Listen zu schreiben. Jetzt kommen die jungen Frauen, geben wir ihnen eine Chance! An der Parteiversammlung sagten einige, die Partei müsse die Wahl nun offen aufarbeiten. Für mich gabs nichts aufzuarbeiten. Wir wollten ja, dass Frauen gewählt werden. Nun ist es an uns, der jungen Fraktion zu helfen, dass es gut herauskommt. Wenn wir etwas in Olten erreichen wollen, müssen wir mehr zusammenarbeiten. Vielleicht gelingt dies ja den Jungen besser.
Wie werden Sie sich nun einbringen?
Ich werde sicher nicht hintendurch schlecht über das Parlament und die Stadtregierung sprechen. An den Parteiversammlungen möchte ich weiterhin teilnehmen.
Hat Sie die Abwahl geschmerzt?
Nein, ich hab grad verstanden, warum es nicht mehr reichte. Auf den sozialen Medien sind die Jungen schon gut. Ich dachte, vielleicht schaff ich es, den Rückstand der unveränderten Wahlzettel aufzuholen. Die Leute hätten mich trotz unserer Wahlstrategie demokratisch wählen können. Aber sie haben gesagt: «Jetzt hört der auf.»
Wie stehen Sie nach 28 Jahren Gemeindeparlament zur Milizpolitik?
Einer meiner wenigen Vorstösse war ja, das System des Gemeinderats ins Solothurner Modell zu ändern. (In Solothurn bildet ein 30-köpfiger Gemeinderat die Exekutive, also die ausführende Gewalt, welcher das Stadtpräsidium vorsteht. Die gesetzgebende Behörde ist die Gemeindeversammlung. Sie findet zwei bis vier Mal jährlich statt / Anm. d. Red.) Ich fände dies nach wie vor interessant. Im Gemeinderat fiel ich mit dieser Idee knapp durch. Gerade meine Leute waren nicht dafür. Ich finde, dass ein Parlament für ein Städtlein wie Olten fast übertrieben ist.
Ausgerechnet Sie zweifeln am System, an welchem Sie fast drei Jahrzehnte teilnahmen?
In einem Milizparlament zu sein, ist auch eine Ehre. Ich hab es auch einfach gemacht, aus Faszination. Vielleicht bin ich darum so lange geblieben. Als Parlamentarier bist du näher am Stadtgeschehen dran. Ich befinde mich aber nicht in einem Klüngel wie andere. Zumindest nicht, dass ich wüsste. (lacht) Mein Arbeitskollege bekam einmal im Wahlkampf den Zuspruch vom Gewerbeverband. Da habe ich angefragt, ob sie mich auch unterstützen würden. Darauf sagte mir der Verband, ich sei in der falschen Partei. Ich nahm es nicht persönlich und wurde schliesslich auch immer gut gewählt. (lacht)
Haben Sie sich im Kleinstädtischen manchmal gefangen gefühlt?
Das Gemeindeparlament ist wie ein Dorfplatz. Ein Ort, an dem debattiert wird. Auch mit Klüngel-Menschen. Aber ich sehe dies auch positiv. Dass es den Klüngel gibt, hat mich fasziniert. Ich staunte, als Stadtpräsident Martin Wey dem Parlamentarier Matthias Borner an der Sitzung sagte, er sei ja in der gleichen Zunft. Das Kleinstädtische nimmt der persönlichen Konfrontation ein Stück weit die Schärfe. Die kleinen Verhältnisse haben ihre Vorteile. Alle wissen, wovon wir sprechen, und die Menschen haben sich auch gern.
Lokalpatriotismus scheint aber nicht Ihr Ding zu sein.
Nabelschau ist mir fremd. Olten «runterzumachen» ebenso. Wir haben ja hier viele Möglichkeiten. Mit dem EHCO bin ich mässig verbunden. Seit meiner Jugendzeit bin ich hingegen FC-Aarau-Fan geblieben. Vielleicht sollten Oltner Fussball auch in Aarau schauen und die Aarauer Spitzenhockey in Olten.
Arnold Uebelhart klaubt in seinem weinroten Retro-Rucksack und zieht drei Bücher hervor. «Ursprünglich war ich von diesen Büchern geprägt», sagt er. «Rot und realistisch» ist der Titel des Buchs des Austro-Marxisten Günther Nenning. «Er sagte, die Politik müsse Bedingungen schaffen, dass die Leute leben können. Das ist ja eigentlich sehr liberal», sagt Uebelhart.
Dann erwähnt er den Club of Rome, der schon früh die Endlichkeit der Ressourcen erkannte. «Öko zu sein, bedeutet doch eigentlich, weniger zu verbrauchen. Die elektrische Mobilität benötigt nicht weniger Ressourcen», sagt Arnold Uebelhart, der nie ein Auto besass. Ein anderes Buch, das er mitgebracht hat, trägt den Titel «Vor uns die Sintflut». «Was die da schrieben um 1970 herum, ist nun wahr geworden.» Das Buch thematisiert die Energiekrise. Auch er sei im Leben neun Mal geflogen. Einmal reiste er für vier Monate nach Indien. Die grossen Städte mit wirrem Verkehr haben ihn beeindruckt. «Und wir reden hier von Verkehrsproblemen», sagt er, lacht und hintersinnt sich selbst:
«Vielleicht war ich ein schlechter Politiker, weil ich mich zu wenig über die Zustände bei uns aufgeregt habe. Wir können nicht mal etwas grad stehen lassen, wollen immer alles optimieren im Leben.»
“Où sont les neiges d’antan, Charles? Où sont les nei — “
“I heard you, Boxer. I don’t know. Where are the snows of yesteryear?”
“My, my. You seem to be in a touchy mood today, my friend.”
“I have a toothache. Have YOU ever had a toothache? Then you know how I feel. Boxer? I’m sorry. But I have a toothache.”
“Only one? Out of how many? Thirty-two? That is not bad. But Charles, you must get it seen to. You have a tooth doctor, surely.”
“Oh yes. He’s my cousin. His son is a dentist, too.”
“There you are. Make an appointment.”
“It can wait. It’s distracted me from my back pain. I’ve been gardening.”
“Of course. As your neighbour, I know everything you have been up to recently. You broke a wheel on your green bin, too. Yes?”
“Uh, yes. The green goes out only on Monday, but I can manage. Except, I’m not sure what to do with a piece of, uh, rock I found whilst digging.”
“A piece of, uh, rock? You make it sound like a mystery. Charles? Are you going to tell me, or will I have to extract it from you like a rotten tooth?”
“Ow! No, of course I’ll tell you. You know that street, well, a path, behind us up the hill – Mammutweg? It’s called that because someone found an old mammoth or mastodon tusk or bone or something up there.”
“Yes. Go on.”
“Well, I think I found a piece of something from a mammoth.”
“May I see it?”
“No. It’s hidden.”
“Hidden? Why?”
“It might be, uh, stolen. Or ivory. Yes. Stolen ivory.”
“So, you should turn it over to the police.”
“I – I want to keep it.”
“I see, Charles. You are a collector of found objects, as evidenced by your cellars and the shelves in — “
“All right, Boxer. I know. It’s a habit I got into when I lived by the sea. Some of the strangest things used to wash up, you wouldn’t believe.”
“No – I mean, yes. I would indeed believe. But this rock? May I see it, Charles? Please?”
“Well, all right. Wait a minute. I’ll be right back.”
Boxer had apparently been re-arranging one of my bookshelves during my absence, for upon my return, I found him juggling three books with a look of indecision on his face.
“Charles! I was just trying to recall if Huxley wrote ‘Chrome Yellow’ before or after ‘Point Counter Point’.”
“Hm. I never thought to arrange books chronologically. It’s a great idea!”
“Of course it is. One might say they are arranged historically, as well.”
“Here’s the rock, if you’re still interested.”
“Good heavens! That is a heavy stone. Not a gram under two kilos, I would say. Looks just like a brick.”
“So what is it, do you think?”
“A fossil, no question about it. A trilobite, yes. Millions of years old. This is the exo-skeleton – like a huge beetle. And these root-like things must be the legs. You see how they would dig in.”
“These were sea creatures?”
“Oh yes. This whole area was under the sea. That is why there are so many salt mines around here. This is a marvellous find. Fossils are superb souvenirs of pre-historical time. Like your books, fossils too can be arranged chronologically. And whereas books are like leaves on a family tree of ideas, fossils are the leaves on the tree of Life itself. We will be fossils ourselves one day, Charles.”
“So I needn’t hide this?”
“Of course not. Fossils are not considered treasure trove legally, I am sure. You may display it proudly. Or donate it to the museum.”
“I was thinking of using it as a doorstop.”
“Excellent idea. Just do not stub your toe on it. I say, it balances nicely in the hand, too. And these ridges are so smooth, nearly worn down. What did I say, Charles? Trilobite? Trilobite. Trilo-Bite? Yes. Well, enjoy it anyway.”
Boxer left me standing in my study. I heard him shut the front door, and I was reminded again of my toothache. It was beginning to throb, and so I decided to call my cousin. He made room for me later that same day. Martin is a keen gardener, and I took some photos of my fossil to show him.
“Charles, do you know what you’ve got here?”
“A fossil – a trilobite.”
“No, no. True, it looks very much like one, but no. You have an elephant tooth here.”
“Tooth? A piece of a tusk, you mean? Ivory?”
“Ivory of a sort, yes, but a tooth. A grinder. A molar. We studied them in comparative anatomy. An elephant has four of these – two up and two down – one on each side.”
“Good heavens, Martin! The thing’s huge!”
“Well, so is an elephant. You don’t show proper scale here, but I imagine yours is about the size of a loaf of bread, right?”
“Exactly. But a lot heavier.”
“Could I come by and look at it sometime? This weekend?”
“Of course. I can show you where I dug it up. There were other stones around it, like a landfill dump.”
“You mean, like someone filled in a cavity?”
“Yes. Maybe an old pond or something.”
“So – see you this weekend, then. And don’t forget to put an ice pack on your tooth.”
I was dying to tell Boxer that his verdict of fossil was wrong. Then I realised that it could still be a fossilised elephant tooth. Better keep my mouth shut for now. Put an ice pack on it.
Martin came over on Sunday afternoon, and I showed him the tooth.
“No, this is no fossil. It’s not that old. Elephants go through about six changes of teeth in an average lifetime. This looks to be only about, oh, one hundred years old or so. Hard to tell, since it’s been buried. But it’s no fossil, that’s for sure. Ah – you have a visitor, Charles.”
“I say, Charles, — oh, hello!”
That was, of course, Boxer. The conversation went quite as you’d expect until —
“I say, Charles. Did you have that tooth I see there extracted? Rather large molar, that is.”
“You said it was a fossil, Boxer.”
“Did I? No, no. Perhaps I was merely comparing it to a fossil, and you misunderstood.”
“You said it was a trilobite.”
“Hm. I recall saying that word, yes. But I was emphasising it – trilo-BITE. Of course, I was referring to it as a tooth, you see.”
“Ah, Boxer, old boy, you never give in, do you?”
“Nor do I give up. Shall I tell you about this elephant tooth? Yes? Well — her name was Rosa, the matriarch, the doyenne of circus elephants. Now, you recall the days of travelling circuses those many years ago?”
“Yes. Olten had its own permanent circus, as well. Boxer – have you been doing research again? I warned you about the dangers of that. Martin, you’ll have to excuse my friend’s enthusiasm for research.”
“Not at all. Study and learning never stop.”
“Well put, sir. Anyway, Circus Klops had settled in the old cement factory grounds out by the Born stone quarry. That was already many, many decades ago. Rosa came to them as an infant elephant, and she grew up and grew old with them. Actually, what with elephant rustling and insider trading and all, she was their only permanent elephant. As Rosa lost teeth, her keeper, a kindly war veteran named Thorsten, kept them in a large steamer trunk (no pun intended, of course). When Rosa died, old Thorsten pined away and soon afterward died too.”
“Boxer – is this going to have a happy ending?”
“No, Charles. Circus stories never do. All of Thorsten’s possessions were disposed of amongst his family and friends, but the so-called ‘rocks’ in the trunk were dumped into the quarry gravel pit. Rosa’s teeth ended up mixed with the other stones. And, finally, in your garden as land fill.”
“And how did you learn all this, Mr Boxer? I’m quite impressed, dentally speaking, that is.”
“Of course! You are used, as a tooth doctor, to seeing many teeth all in the same place. It is the same with trilobite fossils. They often are found, so I understand, in groups or swarms, as some archaeologists jokingly call them. Not always, though, but a single find aroused my suspicions. Statistically, this is referred to — “
“Boxer! Get to the point! Please.”
“All right. Our old friend Thorsten had a grandson who wrote a book of memoirs called ‘Circus Life’ in which he told the story of Rosa. I happened to run across the book quite by accident just yesterday, in fact.”
“I don’t believe you, Boxer. Not just part of it – none of it. You do enjoy a good hoax, don’t you?”
“I do, certainly. But was it just coincidence that the Oltner Neujahrsblätter of 2015 caught my eye in an antique bookshop, and that this issue contained an article about our friend the mammoth? This started me wondering. Now, add the cover photo of that publication – a modern shot of the old cement factory, and things start falling into place. You see, coincidences don’t really happen randomly. They wait, sometimes in swarms, to descend upon the needy.”
“And Thorsten’s grandson?”
“Merely a witness to history. An accessory to an elaboration.”
David Pearce ist ein Schweizer Schriftsteller, wohnt seit 2000 in Olten und hat amerikanische, englische und französische Wurzeln. Er schreibt auf Englisch Kurzgeschichten, Romane und Theaterstücke.
«Baumpflanzungen in der Fussgängerzone?» – Matthias Tschopp warf diese Frage per Input in den Kolt-Maschinenraum. Antworten kann der gelernte Forstwart, der sich mittlerweile unter anderem als Baumpfleger selbstständig gemacht hat, gleich selbst liefern.
Er gab diese am vierten Kolt-Treffen, das erstmals physisch in der «Schlosserei» stattfand. Matthias Tschopp brachte ein Bild aus den Ferien mit. Darauf abgebildet: eine 650 Jahre alte Linde, die mitten im Walliser Dorf Naters steht. «Das ist ein Bild voller Widersprüche», sagte Tschopp. Er führte als Baumkenner an die Thematik heran und räumte mit falschen Denkmustern auf. «Wir könnten meinen, Stadt und Natur seien Gegensätze. Aber das Gegenteil ist der Fall: In der Stadt ist die Biodiversität vielfach höher als auf dem Land», sagte Matthias Tschopp. Dies hänge vor allem mit der intensiven landwirtschaftlichen Nutzung der Natur zusammen. Die Stadt sei daher häufig ein idealer Rückzugsort für die Natur.
Der Baumpfleger erläuterte auch den Unterschied zwischen dem Mikro- und dem Makroklima. Der Baum als Klimaanlage entfaltet seine Wirkung durch den Schatten, den er spendet, und das Verdampfen der Feuchtigkeit, die er aufnimmt. «Aber einzelne Bäume haben keinen Einfluss auf das Weltklima», sagte Matthias. «Nur wenn sie als Wälder ein grosses System bilden und CO2 binden, wirkt sich dies auf das Makroklima aus.»
Matthias Tschopp sprach vom Zusammenspiel von Stadt und Natur.
Anhand der menschlichen Vorfahren erklärte er den Bezug zum Baum. Sie hätten das Land roden müssen, um eine urbane Fläche zu schaffen und Getreide anzubauen. «Es steckt also ein wenig in unseren Genen, Bäume zu fällen», sagte er. In unseren Breitengraden seien wir uns auch an eine regenerative Natur gewöhnt. Der Wald breitet sich aus, wenn wir ihm den Raum lassen.
Matthias Tschopp relativierte aber, dass die Stadt in ihrer gegenwärtigen Form kein baumfreundlicher Standort ist. «Ich kann nicht einfach ein Loch graben, einen Baum pflanzen und damit ist die Stadt begrünt», sagte er. «Ein Strassenbaum verlangt bedeutend mehr Unterhalt.» Bäume im städtischen Raum seien anfälliger auf Pilze und Schädlinge, was ihre Vitalität schwäche. Fehlt zudem ein funktionierendes Bodenleben, so zehrt dies an seiner Widerstandskraft. Die vielen versiegelten Böden im urbanen Raum führen dazu, dass der Baum weniger Wasser und Sauerstoff kriegt und sich damit schlecht entfalten kann. Durch den Klimawandel und zunehmende Hitzetage leiden einheimische Baumarten in den Städten zusehends. Gefragt sind darum hitzeresistente Arten wie etwa die Blumenesche oder der Amberbaum, welche die Stadt an der neu gestalteten Baslerstrasse und der Mühlegasse gepflanzt hat.
Möglichkeiten, um den Bäumen im urbanen Gebiet gute Standortbedingungen zu bieten, gibt es mittlerweile. Nur sind sie oftmals sehr kostspielig. Matthias Tschopp stellte ein Beispiel vor, bei welchem der Boden durch Säulen gestützt wird, um einen Hohlraum darunter zu erhalten. Die Bäume brauchen verdichtungsresistente Flächen, um darunter ihr Wurzelwerk bilden zu können. «Auch der Tiefbau einer Stadt muss überzeugt sein, damit Stadtbäume gute Bedingungen erhalten», sagte Tschopp.
Doch das Beispiel aus Naters lehrt: Bäume sind ausdauernd, auch wenn die Bedingungen nicht immer die besten sind. Mit einem Gedankenspiel regte Matthias Tschopp an: Wenn die Linde aus Naters heute gepflanzt würde, überdauerte sie einen für uns kaum vorstellbaren Zeitraum – im Kalender stünde das Jahr 2671. «Das klingt für uns nach Fiktion», sagte Matthias Tschopp.
Die «graue» Kirchgasse
In der Stadt Olten nahm in den letzten Jahren der Ruf nach Massnahmen gegen Hitzeinseln zu. Über politische Vorstösse forderten zuletzt die SP-Parlamentarier Luc Nünlist und Florian Eberhard, dass die Stadt die vor rund acht Jahren eingeweihte Fussgängerzone auf der Kirchgasse und die Tannwaldstrasse begrünt. Auch wenn der Stadtrat diese Forderung ablehnte, sagte Lorenz Schmid: «Wir haben auf der Stadtverwaltung mehr Mut gefasst, Grünräume zu planen, auch wenn es mit Kosten verbunden ist.» Der Stadtplaner war beim Kolt-Treffen zu Besuch, um einen Einblick in die Arbeit der Stadt zu geben. Er verwies auf die Mühlegasse, die Baslerstrasse und die Hübelistrasse, wo die Stadt zuletzt bei Umgestaltungen Bäume pflanzte.
Massnahmen gegen die Folgen des Klimawandels zu ergreifen, sei anspruchsvoll, sagte Schmid. Er nannte als Beispiel die Kaltluftströme von den Jurahügeln. Um diese nicht durch Häuserzeilen abzuriegeln, brauche es eine langfristige Stadtplanung. In anderen Bereichen seien der Stadtverwaltung die Hände gebunden. In Olten fehlen derzeit etwa gesetzliche Grundlagen, um Flachdachbegrünungen vorzuschreiben. Fortschrittlich sei dagegen die Vorgabe der Grünflächenziffer bei Vorgärten.
Stadtplaner Lorenz Schmid im Gespräch.
«Das neue räumliche Leitbild wird eine deutliche Sprache sprechen», sagte Schmid. Ab Ende August kann sich die Bevölkerung bei einer Online-Mitwirkung zur neuen Ortsplanung einbringen und Wünsche äussern. Im Zuge dieser wird die Stadt auch ein Klimakonzept erarbeiten, das auf einer kantonalen Klimaanalyse basiert. Zusätzlich gefordert sei die Stadt durch die steigenden Ansprüche des Langsamverkehrs. Dieser verlange ebenfalls zusätzlichen Platz. «Wir haben diesen nicht – und an die Bäume haben wir dann noch immer nicht gedacht», sagte Schmid.
Als Zukunftsbeispiele für begrünte Räume nannte der Stadtplaner den Munzingerplatz und den Ländiweg. Der Stadtrat sei bereit, den zentralen Platz vom Verkehr zu befreien, wenn denn für die bestehenden Parkplätze Alternativen bestünden. Am Ländiweg setzt die Stadt derzeit eine doppelte Allee um, indem sie oben an der Hauptstrasse wie auch im Fussgängerbereich unten Bäume pflanzen lässt. «Ausgerechnet die Grünen wollten uns die Bäume madig machen, weil sie eine Busspur forderten», kritisierte Schmid, «wir halten aber an unserer Planung fest.»
Aus dem Publikum kam der Vorwurf, bei der Stadt fehle der Wille, beispielsweise die Kirchgasse zu begrünen. «Wenn wir die Fussgängerzone heute planen würden, würden wir wohl andere Optionen prüfen», gab Schmid zu. Vor zehn Jahren seien Hitzeinseln noch kein Thema gewesen. Aktuell gäbe es in der Stadt Olten «sehr, sehr viele Aufgaben und Pendenzen». Schmid appellierte: «Wir können nicht immer in Frage stellen, was gemacht wurde. Damit ist Energie in den Sand gesetzt.»
Basel, das Baumparadies
Die drittgrösste Schweizer Stadt gilt als beispielhaft, wenn es um die Begrünung von urbanem Raum geht. «Die Situation in Basel ist nicht mit vielen Städten vergleichbar», sagte Yvonne Aellen. Dies lässt sich allein schon an der Grösse der Stadtgärtnerei ablesen. Seit dreizehn Jahren leitet Aellen die Abteilung für den Grünflächenunterhalt der Stadt Basel. In dieser Funktion zählt sie alleine in ihrer Abteilung 150 Angestellte unter sich. «Basel hatte schon früh Spezialisten engagiert, die es verstanden, das Baumwachstum beizeiten zu steuern», sagte Aellen. Auch blieb in Basel – anders als in anderen Städten – die eigene Baumschule erhalten. «Da waren immer schon Leute engagiert, die ein grosses Herz für Bäume hatten.»
Die Bäume hätten in den letzten Jahren verstärkt auf den Klimawandel reagiert, berichtete Aellen. Sei es durch neue Schädlinge, die ankommen, oder durch die trockenen Frühlings- und Sommermonate. «In der Stadt spürten wir, wie Hainbuchen und Linden komisch reagierten. Sie vertrocknen nicht einfach so, es sind vor allem die Krankheiten, die sich stärker auswirken.»
Yvonne Aellen leitet seit dreizehn Jahren den Grünflächenunterhalt bei der Stadt Basel und war zuvor viele Jahre bei der Grünstadt Zürich tätig.
Um dem Klimawandel zu begegnen, passt sich die Grünstadt Basel laufend an. «Wir haben Baumalleen aus Baumhasel oder Ginko. Die Baumschule hat Verschiedenstes ausprobiert und eine Vielfalt geschaffen, die uns hilft, die Risiken des Klimawandels zu verteilen», sagte Aellen. Heute verfügt Basel in all seinen Parks, Alleen und Plätzen über 500 Baumarten. Die Baumschule suche nun vermehrt im Mittelmeerraum nach Baumarten, die Hitze und Trockenheit, aber zugleich auch Frost ertragen. Es sei spürbar, dass die Bäume sehr vom bislang niederschlagsreichen Frühling und Sommer profitierten. «Wir hoffen, die nassen Bedingungen wirken sich über mehrere Jahre positiv aus, so wie sich vorhin die andauernde Trockenheit bemerkbar machte», sagte Aellen.
Um die Hitzeinseln im städtischen Raum zu bekämpfen, verfolgt Basel zudem das Stadtplanungskonzept der Schwammstadt. «Wir versuchen, das Regenwasser möglichst gut aufzusaugen und damit haushälterisch umzugehen», erklärte die Biologin. Dies gelingt beispielsweise über Sickerflächen im Strassenraum und in Parkanlagen, über welche das Regenwasser nur langsam wieder verdunstet. Als weitere Massnahme fördert die Stadt die Fassaden- und Dachbegrünungen. Über die Vegetation lässt sich das Wasser besser speichern. Etwa in Kleinbasel stellte die Stadt an der Feldbergstrasse vor mehreren Jahren den öffentlichen Grund auf den Trottoirs den privaten Hausbesitzerinnen zur Verfügung. Sie konnten so Glyzinien pflanzen, welche die Fassaden hochkletterten. Im Frühling verwandeln sie die Strasse in eine farbenfrohe Allee. Weil der Unterhalt aufwendig ist, beteiligt sich Basel bis heute finanziell an den Kosten.
Ein grosses Thema sei auch die Bewässerung. Diametral entgegengesetzte Positionen seien jeweils vorprogrammiert: Je trockener, desto mehr Anrufe gäbe es bei der Stadt. «Wann kommt ihr endlich Wasser giessen?», fragen die einen empört. «Geht’s noch, so viel Trinkwasser zu vergeuden», beschweren sich die anderen. Die Stadt versuche, möglichst gezielt zu wässern, so Aellen. Priorität würden Jungbäume und Rasenflächen in Parks geniessen. Weil Basel aufbereitetes Rheinwasser als Trinkwasser nutzt, besteht in Basel nie Wasserknappheit. «Durch das Bewässern geben wir das Wasser nochmals in den Kreislauf», sagt Aellen und streicht den positiven Aspekt der Bewässerung hervor.
Landhockey ist, wenn Rotweiss Wettingen gewinnt. Das galt während eines Jahrzehnts ausnahmslos. Es ist ein Sommertag Mitte Juni, als die NLA-Frauen des HC Olten dieses Gesetz brechen. Der Kunstrasen am Finalturnier in Genf glänzt im Sonnenschein. Die Nummer 15 im blauen HCO-Dress steht über den Ball gebückt am Penaltypunkt. Flurina Conz läuft zum 14. Penalty an. Mit einer Drehung um die eigene Achse verlädt sie die Torhüterin. Dann drischt sie den Ball mit der Rückhand ins verwaiste Tor. Die Oltnerinnen sind im Glück. Rotweiss Wettingen ist bezwungen.
«Wir rechneten dieses Jahr noch nicht mit dem Meistertitel», sagt René Buri. Und doch: Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit, ehe die Oltnerinnen zum grossen Triumph ansetzen würden. Denn die Basis für den NLA-Titel legte der Oltner Verein vor über einem Jahrzehnt. «Wir wollten das Mädchenhockey fördern, denn eigentlich hat Landhockey als Frauensport eine lange Tradition», sagt Buri. Heute ist er Medienchef im Verein. Die Geschichte des HC Olten ist auch ein Stück weit seine Lebensgeschichte. In den 90er-Jahren feierte er als Spitzenspieler Erfolge mit den Landhockeyanern. Nach seiner Aktivkarriere gehört er zu den Meistermachern. Nicht nur, weil diese Saison seine beiden Töchter Anja (15) und Nina (17) zum NLA-Meisterteam gehörten. Während sechzehn Jahren wirkte Buri als Juniorinnentrainer im Verein. Zusammen mit seinem damaligen Mitspieler Hebi Grütter, einem ursprünglichen Kleinhölzler, baute er in den letzten sieben Jahren den starken Mädchen-Hockeynachwuchs auf. Die Frauenteams geniessen bis heute eine hohe Priorität im Verein.
8 Spielerinnen, …
… die zum Meisterteam gehören, waren vor zwei Jahren in einem denkwürdigen Spiel dabei: Es war ein Junitag 2019, als sich die beiden Mädchenteams vom HC Olten im Final um den U15-Titel duellierten. Allein die Tatsache, dass der Oltner Verein gleich zwei Mannschaften stellte und sich diese im Final begegneten, stand sinnbildlich für den Aufschwung der Oltner Landhockeyanerinnen im Nachwuchs.
«Wir hätten ein Team stellen können, das konkurrenzlos gewesen wäre», sagt René Buri. Stattdessen stellte der Verein zwei in etwa gleich starke Mannschaften zusammen, er formte eine etwas ältere und eine jüngere, nicht minder talentierte Auswahl. Die jüngere Mannschaft setzte sich damals durch. «Ich habe im Nachhinein das Gefühl, dass dies das Erfolgsrezept war», sagt Buri. Denn dies habe zu einem Kitt innerhalb des Vereins geführt, von welchem nun auch das NLA-Team profitierte. «Seit sie acht Jahre alt sind, spielen sie gemeinsam Hockey. Sie verstehen sich nahezu blind», sagt Buri.
Die U15-Mädchen vor zwei Jahren nach dem Finalduell
11 Jahre …
… liegt der letzte Meistertitel der HCO-Frauen zurück. In dieser Zeitspanne dominierte Rotweiss Wettingen die Meisterschaft. «Keine andere Mannschaft hatte den Hauch einer Chance», sagt Buri.
18,3 Jahre
… ist das Durchschnittsalter des aktuellen Meisterteams. Gleich mehrere Spielerinnen feiern dieses Jahr erst ihren 16. Geburtstag, die Teamseniorin ist 31 Jahre alt. Das Potenzial der Oltnerinnen scheint immens. Ist das der Anfang einer grossen Dominanz des HC Olten im Schweizer Landhockeysport der Frauen? «Wenn sie zusammenbleiben, könnten sie zu Serienmeisterinnen werden», sagt Buri, der selbst lange die Elite U15 trainierte. Der Erfolg hatte sich im Nachwuchs abgezeichnet: In den letzten fünf Jahren gewannen die Nachwuchsfrauen des HC Olten rund 80 Prozent der Titel.
Das junge Team fand zusammen, weil wegen der unsicheren Lage durch die Pandemie gleich mehrere etablierte NLA-Spielerinnen dieses Jahr auf eine Teilnahme an der Meisterschaft verzichteten. Die Lücke füllten junge Talente aus dem eigenen Nachwuchs. In der nächsten Saison wird Trainer Marcus Ventar nach der Rückkehr der gestandenen Stammspielerinnen über ein breites Kader von über zwanzig Spielerinnen verfügen. Auch bei Rotweiss Wettingen verzichteten mehrere Stammspielerinnen. «Die Qualität unserer Juniorinnen war ein bisschen besser», analysiert Buri den kleinen Unterschied, der dem HCO zum Titel verhalf.
Für Nora Wintenberger war der Meistertitel besonders speziell. Als Teamseniorin gehört sie zum Grundgerüst der Mannschaft, die lange auf den grossen Erfolg wartete. «Wir mussten oftmals für Roweiss Wettingen klatschen, darum war dieser Moment, als wir den Pokal stemmen durften, für mich so unglaublich», sagt sie. Ein paar Wochen nach dem Finalsieg zehrt sie noch immer von den starken Gefühlen. «Die Jungen brachten eine gewisse Lockerheit rein. Vorher waren wir ein wenig verbissen und setzten uns gegen die grossen Konkurrentinnen unter Druck. Jetzt spielten wir einfach Hockey.»
Quelle: Alfred Wälti / zVg
22 Meter
Das Penaltyschiessen im Landhockey ist ähnlich wie in anderen Hockeysportarten. Der entscheidende Unterschied: Die Spielerinnen haben 8 Sekunden Zeit, um vom 22 Meter vom Tor entfernten Penaltypunkt loszuziehen und das Tor zu erzielen.
Die 50er- und 60er-Jahre …
… waren die erste Blüte des Landhockeysports in Olten. Damals spielte der Verein noch auf dem Rasen der Badiwiese. Mit bisweilen über tausend Zuschauern feierte der HCO mehrere Meistertitel. «Zuerst gingen die Leute in die Kirche, danach an den Hockeymatch», erzählt Buri, was ältere Klubmitglieder zuweilen überliefern. Der HC Olten war 1923 als Sektion des Fussballklubs gegründet worden und hatte sich ab 1930 als eigenständiger Verein positioniert. Anfangs der 80er-Jahre zog der Klub ins Kleinholz und 1989 baute die Stadt einen der ersten Kunstrasen der Schweiz.
Quelle: Alfred Wälti / zVg
91,4 x 55 Meter
Dies sind die Masse des Spielfeldes. Der Sport wird längst standardmässig auf Kunstrasen gespielt. Nur in der Schweiz heisst er Landhockey – wo der Sport einen höheren Stellenwert hat, spricht man üblicherweise vom Feldhockey (engl.: field hockey). In der Schweiz weichen die Landhockeyaner in den Wintermonaten auf die Halle aus und spielen auf dem Handballfeld. Während draussen wie beim Fussball elf Spielerinnen gegeneinander antreten, sind es in der Halle bloss deren sechs.
92 bis 95 Zentimeter …
… lang ist der Landhockeystock, der im Vergleich zu anderen Hockeystöcken seiner kurzen, rund gebogenen Keule wegen einzigartig ist. Heute sind die Schläger aus Karbon und somit leichter als früher. Eine weitere Eigenheit der Landhockeystöcke ist, dass alle auf die gleiche Seite gebogen sind und es nur Rechtsausleger gibt.
«Früher war die Rückhand verpönt», weiss Buri. Heute ist die sogenannte «argentinische Rückhand» ein probates Mittel, um Tore zu erzielen, weil der Schuss für den Goalie verdeckt kommt. Dabei darf der Ball jedoch nie mit der Rückseite des Stocks geschlagen werden. Mit dem Spiel auf Kunstrasen wurde der Sport viel schneller und auch technischer. «Vorher war das Spiel auf Naturrasen viel mehr von Zufallsbällen geprägt», sagt Buri.
Quelle: Alfred Wälti / zVg
Rund 100 Juniorinnen …
… spielen beim HC Olten in den Nachwuchsmannschaften bei den «Hockey-Kids» der unter 8-Jährigen (U8) und unter 12-Jährigen (U12) sowie bei den Junioren U15 und U18. In allen Kids- und Junioren-Ligen spielen die Geschlechter gemischt. Für die Förderung des Mädchenhockeys führte der Verband ab 2014 zusätzlich reine Mädchen-Meisterschaften durch. Beim HCO sind die Mädchen auf allen Stufen in der Mehrheit. «Die Frauen sind mit fünfzehn Jahren oft weiter als die Jungs», sagt Buri. Erst nach diesem Alter mache sich ein physischer Unterschied bemerkbar. Die Alterskategorien umfassen anders als in anderen Sportarten drei Jahre. Vor allem, weil in der Randsportart Landhockey vielen Klubs die Breite fehlen würde, um Mannschaften zu bilden.
250 Mitglieder …
… zählt der HC Olten heute. Damit gehört er nicht nur zu den grössten Sportvereinen in der Stadt, sondern auch zu den grossen Landhockeyklubs der Schweiz. Das Kleinholz bildet einen Schmelztiegel für den Hockeyklub: Allein aus den Quartieren rund um die Sportstätten zählt der Klub ungefähr 50 Mitglieder.
«Die Hockeywelt ist eine kleine Welt», erzählt Buri. Im Familiensport Landhockey kennt man sich schweizweit. Auf die 16 Schweizer Klubs verteilen sich insgesamt rund 1700 aktive Spielerinnen. Der Spitzensportgedanke stehe nicht an erster Stelle, sagt Buri. «Bei uns gibt’s für jede und jeden ein Plätzchen.»
René Buri und Hebi Grütter im Gespräch
1997 und 1999 …
… feierte die NLA-Männermannschaft des HC Olten die letzten beiden Meistertitel. René Buri war damals als Feldspieler mit dabei. 2006 holten die Männer noch den Cupsieg – ein Wettbewerb, den der Verband mittlerweile wegen der vielen Termine aus dem Kalender strich. 2001 feierte der HCO europäisch den grössten Erfolg, als er den Europacup auf dem fünften Platz beendete. Nach ihrem Meistertitel werden nächstes Jahr die HCO-Frauen am Europacup teilnehmen dürfen.
Die Region Olten ist traditionell ein Epizentrum fürs Landhockey: Bis in die Nullerjahre gab es mit Blauweiss Olten gar ein Stadtderby und in Schönenwerd war eine weitere NLA-Mannschaft. «Wir hatten damals einen grossen Hype», erinnert sich Buri. Danach habe die Sportart stagniert.
Rund 10’000 …
… Landhockeyspieler in rund 40 Hockeyclubs gibt’s alleine in Berlin, das als eine der grössten Hockeystädte gilt. Gegenwärtig spielen auch sechs Mannschaften aus Deutschlands Hauptstadt in der 1. Bundesliga. Zahlen, die aufzeigen, dass die Schweiz im internationalen Vergleich eine kleine Nummer ist. Immerhin: Neulich durfte der HC Olten im Berliner Hockeyradio von der kleinen Landhockeyszene in der Schweiz erzählen. Der Oltner Klub erhofft sich durch die Präsenz in Deutschland zusätzlichen Schub bei der Trainersuche für die NLA-Männermannschaft.
Der Hahn kräht unter dem blühenden Holunderbaum, als würde er vor dem nahenden Sommergewitter warnen wollen. Aus der Ferne dröhnt ein konstantes Donnergrollen herbei. Im Garten hinter dem Bauernhaus schiessen die Kräuter und Blumen in üppiger Vielfalt aus dem Boden. Die Kirschbäume halten ihre von der Last der Früchte nach unten gebeugten Äste im aufkommenden Wind. «Mein Herz brennt für die Natur», sagt Anna-Lena Holm, behütet von den Kirschbäumen ins Rund. Wo, wenn nicht hier, könnte sie ihr inneres Feuer für die Natur weitergeben, fragt man sich.
Anna-Lena Holm
Gut dreissig Menschen haben sich auf dem Bauernhof «Im Holz», dieser kleinen Oase oberhalb von Winznau, eingefunden. «Wir würden gern mit dem Besen heimfliegen», sagt eine Besucherin bei der Vorstellungsrunde und sorgt für Lacher. Zu Kräuterhexen werden die Anwesenden an diesem Nachmittag nicht werden. Aber sie wissen am Abend mehr über das Johanniskraut, die Schafgarbe und den Beifuss. Oder auch, dass sie sich hier auf einer Gletschermoräne befinden.
Es ist der vorletzte Sonntag im Juni und die Sonne steht kurz davor, den nördlichsten Punkt zu erreichen. Für diesen besonderen Moment gibt es viele Namen: Johannistag, Sommersonnenwende oder Midsommar, wie ihn die Schweden feiern. Litha nannten die Kelten das Jahreskreisfest, das sie bis zu zwölf Tage lang feierten. Sie taten dies mit Kräuterschmuck, einem selbstgebrauten Starkbier und ein anderer Brauch war es, sich Kräuter unters Kissen zu legen, wie Anna-Lena erzählt. Die Sommersonnenwende war in der keltischen Kultur bloss eines der acht Jahreskreisfeste. «An ihnen lässt sich gut der Naturrhythmus beobachten», sagt Anna-Lena. Darum wählte der neu geschaffene Verein «Kraut & Wiese» die Sommersonnenwendfeier als seine Geburtsstunde.
Celina Schärli
Die Oltner Fotografin Anna-Lena Holm fand durch die Fotografie einen eigenen Zugang zur Natur. Gemeinsam mit ihrer Freundin Celina Schärli begann sie, Waldspaziergänge zu unternehmen und im letzten Jahr feierten sie zu zweit die Jahresreisfeste. Anna-Lena liess sich zur Wildkräuterpädagogin, Celina zur Wildnispädagogin ausbilden. Daraus entstand die Idee, einen Verein zu gründen. Er soll eine Plattform für Naturinteressierte sein, die ihr Wissen an andere Menschen – auch «Naturneulinge» – weitergeben.
Die Augen der Initiantinnen leuchten, ein Lächeln erhellt ihre Gesichter. Es ist, als würde der Ort oberhalb von Winznau und die Verbundenheit zur Natur eine besondere Kraft ausüben. Die Besucherinnen erhalten zur Sonnenwendfeier ein Amuse-Bouche in Form von mehreren kleinen Workshops vorgesetzt. Über die Gruppenzuteilung entscheidet ein Pflanzenlos: Ringelblume, Baldrian, Johanniskraut oder Rotklee?
Anna-Lena nimmt ihr Grüppchen auf einen kurzen Kräuterspaziergang mit. Sie hält eine langstielige Pflanze mit rötlichem Stängel und spitzen, fiederteiligen Blättern in den Händen. Das sei eines ihrer Lieblingskraut, erklärt sie. Ein Bündel Beifuss baumelt zudem als Kräuterschmuck an ihrem Gürtel. «Der Beifuss heisst womöglich auch deshalb so, weil er unter anderem am Wegesrand wächst», sagt sie. Die Blätter haben einen bitteren Geschmack. «Das Heilkraut soll bei innerer Unruhe helfen», erzählt Anna-Lena. Als Nächstes zeigt sie die Schafgarbe, die sich mit ihren feinen weissen, gebündelten Blüten in die Höhe streckt und kaum Blätter hat. «Sie hat eine blutstillende Wirkung und war darum auch als Soldatenkraut bekannt», weiss Anna-Lena zu berichten.
Celina Schärli hat einen kleinen Kräutertempel vorbereitet. Ein Kerzchen erhitzt die zubereiteten Kräuter. «Die Kräfte der Pflanzen lassen sich bewahren», sagt sie und zeigt der Gruppe, wie sie das Räucherbündel binden muss. Eine grosse Auswahl an angetrockneten Kräutern liegt auf dem Tisch. Im Winter werden die brennenden Bündel ihr Aroma entfalten.
Wie das Mikroskop Geheimnisse der Pflanzen aufdecken lässt, die wir mit blossem Auge nicht erkennen können, zeigt Patricia Holm, auch im Vorstand von «Kraut & Wiese» und ausserdem Professorin für Ökologie an der Universität Basel. Das zarte Johanniskraut mit den feinen gelben Blüten steht in Gläsern eingestellt neben den Mikroskopen. Hypericum perforatum ist der lateinische Name. Warum der Name den Term «perforiert» beinhaltet, zeigt sich unter dem Mikroskop: Die kleinen Blätter weisen kleine Löcher auf. «Darin bildet sich eine helle Substanz, das Hyperforin, welches eine antidepressive Wirkung hat.» Patricia Holm verrät ein weiteres Geheimnis der Pflanze: Wer die gelben Blütenknospen zerreibt, kriegt blutrotgefärbte Finger. «Das Johanniskraut ist eines der am besten untersuchten Kräuter», sagt Patricia Holm.
Hinter dem Haus hält Jürgen Holm eine geologische Karte in die Höhe, während die ersten dicken Regentropfen nur Vorboten des Gewitters sind. «Wir befinden uns hier auf einer 150’000 Jahre alten Moräne aus der vorletzten Eiszeit», sagt er. Der alte Boden bestehe aus Braunerde und sei eine gute Grundlage für Getreide. Der passionierte Hobbygeologe hat eine Auswahl an Versteinerungen auf dem Tisch liegen. Sie erzählen von einer Jahrtausende zurückliegenden Geschichte, als der Jura noch nicht gefaltet war und sich im Mittelland ein Meer erstreckte.
Jürgen Holm
«Schaut mal, wie schön das eigentlich ist», sagt Joscha Boner und zeigt in die mit Obstbäumen bestückte Wiesenebene. Zusammen mit Benjamin Egli gibt er eine kurze Einführung in die Permakultur. Eine Anbauweise, die auf die Natur Rücksicht nimmt. «Wir alle sind Teil eines grossen Ökosystems», sagt Benjamin.
Das Gewitter ist vorbeigezogen und hat der Natur nach trockenen Tagen wieder Wasser gebracht. Der Verein «Kraut & Wiese» serviert zum Schluss noch ein Amuse-Bouche für den Magen: Ein Wildkräuter-Apéro, das die Besucherinnen auch noch kulinarisch inspirieren wird.
«Heute Kultur, morgen Kater.» Der goldfarbene Bilderrahmen mit den weissen Lettern prangte am letzten Abend nicht mehr an der Stirn der Bar. Ein schwarzer Fleck blieb als Lücke inmitten des weissen Buchstabenwaldes, der den «Suffering Bastard» und all die Drinks anpries, die hinter dem schwarzen Tresen gemischt wurden. «Ich habe den Bilderrahmen in Sicherheit gebracht», sagte Daniel Kissling und lachte, als er vorbeihuschte. Kissis Befürchtung: Jemand könnte im Trunk kleptomanisch werden und das Prunkstück des Coq-d’Or-Inventars kurzerhand entwenden. Über eine Dekade lang hielt die Bar, was sie schon an Tag eins versprochen hatte und bot: «Kultur und Kater». Mit ihrer Handschrift gab die Oltner Illustratorin Petra Bürgisser dem Lokal ein Stück Identität und sie half mit, dem Coq d’Or Kultstatus zu verleihen.
Ein volles Haus zum Abschluss. Moment, Pandemie! – Nun denn: Eine regelrechte Strassenparade erwies dem Oltner Kulturschuppen in der letzten aller letzten Nächte die Ehre. Drinnen wollte bei der Gluthitze ohnehin niemand für längere Zeit sein. Draussen reichten die Tische auf der Terrasse bei weitem nicht, um allen Coq-Schwärmerinnen und -Nostalgikern einen Platz zu bieten.
Unverwechselbar speziell. Mit diesem Anspruch hatte Nathalie Papatzikakis in den Januartagen 2010 das Coq d’Or eröffnet. Ein Schmelztiegel für Kultur sollte in der Kleinstadt entstehen. Ein Ort, der die Nachtmenschen davon abhält, in den nächstbesten Zug zu steigen. In Olten sollten sie bleiben. Und bestenfalls von überallher hierhin fahren. Um das Jetzt und den Exzess zu leben.
«Das Letzte, was wir wollten, ist eine Stammkneipenbar werden», sagt Kissi. «Wir wollten eine Bar sein, in welche jeder kommen kann, wie er ist.» Die Junisonne hat den Asphalt hinter dem Bahnhof aufgeheizt. Es ist für den Geschäftsführer der vorletzte Abend einer langen Reise. Damals vor gut elf Jahren stand er am allerersten Abend hinter der Bar. Im Coq d’Or dröhnte das erste Rockkonzert der Oltner Band Abermensch. Die vitale Oltner Musikszene und viele Subkulturen fanden im Coq d’Or ein Zuhause. «Vorher hatten wir keinen Ort», sagt Kissi, der über die Schnarchstadt Olten, wie er sie als Teenager und Metalhead erlebt hatte, im Magazin Vice einmal einen Beitrag schrieb.
Plötzlich war das Coq d’Or. Und füllte eine grosse Lücke im Oltner Nachtleben. Bis zu 140 Anlässe pro Jahr spielten sich im Coq d’Or ab. An den langen schwarzen Holztischen fanden die unterschiedlichsten Menschen zusammen. Mal war das Coq Kantitreff, mal Kunstgalerie. Mal Lesebühne, mal Politforum. Mal Wartesaal für Gestrandete. Mal Bühne für schweren Metalsound, mal für eine Hardcore-Matinée. Mal Ort einer Reggae-Plattentaufe. Auch das Gros der Schweizer Musikszene machte einmal Halt im Coq d’Or. Im Keller unten – dem «Coq Noir» – war die Welt über Boden weit weg. In schweissgebadeten Nächten liessen sich die T-Shirts auswinden.
«Wir stehen für eine Lebensidee, die nicht alle gut finden», sagt Kissi. «Aber ich glaube, die Leute hatten vom Coq ein wilderes Image, als wir tatsächlich lebten.» Die wilden Abende gabs. Aber das Coq d’Or bot auch viele nüchterne Momente. In der Stadt kämpfte das Kulturlokal trotzdem stets um Anerkennung – und in den letzten Jahren um städtische Beiträge, geknüpft an eine Leistungsvereinbarung. Diese kam aber nie zustande. Als das Coq d’Or begann, für seine Art von Kulturförderung Geld zu fordern, wurde das Lokal zum Politikum. Und die kritischen Stimmen wurden lauter, seit das Coq d’Or vor rund vier Jahren zur Basis der neugegründeten Politbewegung Olten jetzt! wurde. Von aussen musste sich Kissi den Filzvorwurf anhören. Heute sagt er: «Die ganze Geschichte mit den Unterstützungsgeldern wäre nicht überbordet, wenn ich nicht in der Politik gewesen wäre.»
Von der Stadt erhielt das Kulturlokal letztes Jahr 8000 Franken überwiesen. Der Stadtrat kürzte den Beitrag von ursprünglich 20’000 Franken, da der Pandemie wegen keine kulturellen Anlässe stattfinden konnten.
In der Öffentlichkeit herrschte teilweise die Meinung vor, der goldene Hahn sei wirtschaftlich ein Goldesel. «Wir waren schon immer finanziell knapp dran», sagt Kissi. Mit den wirtschaftlichen Prinzipien nahm er, der das Lokal ab 2013 führte, es nicht so genau. Der ideelle Gedanke stand an erster Stelle. Die Maxime: Möglichst vieles sollte im Coq ermöglicht werden. Die kulturellen Anlässe musste das Lokal in den meisten Fällen aber über die Bareinnahmen decken. Er sei für gewisse Nutzungen zu gutherzig gewesen, gesteht er sich heute selbst ein. Für externe Anlässe etwa hätte er mehr Miete verlangen können.
Kissi ist bis heute überzeugt, dass ein Kulturlokal wie das Coq d’Or durch die öffentliche Hand gestützt werden sollte. «Vielen ist nicht bewusst, welchen Stellenwert das Coq national und teilweise auch international in der Musikszene hatte», sagt Kissi. Olten geniesse überhaupt in der Kulturszene den Ruf als beliebte Gastgeberin. Das habe auch mit der Arbeit der Kabaretttage, dem Stadttheater und der Schützi zu tun, meint er.
Der stete Überlebenskampf am Limit hat viel Kraft gekostet. Für Kissi ist’s vielleicht auch darum gut so, wie es ist. «Wir sagten immer, zehn Jahre müssen wir machen. Jetzt haben wir noch die Pandemie angehängt.» Ein Abschied in Raten war’s. Denn vor gut einem Jahr erfuhr das Coq d’Or, dass es den Keller aus Sicherheitsgründen nicht mehr wird nutzen dürfen. Das Ende vom «Coq Noir» war für die Institution, wie wenn eine der beiden Herzkammern abgestorben wäre. Dort hatte die Coq-Idee mehr als sonst wo pulsiert.
«Vielleicht wird’s jetzt eine Weile hart für Olten», sagt Kissi. «Vielleicht kommen ein paar junge Menschen mit einer neuen Idee, ohne zu wissen, was alles schieflaufen kann», sagt er, zieht an seiner selbstgebauten Zigarette und lächelt. Der Kulturverein Coq d’Or bleibt bestehen und will auch künftig mithelfen, das Oltner Nachtleben vibrieren zu lassen. Ob er aber ein neues Kulturlokal initiiert, ist noch offen. «Es braucht solche Orte, wo die Jungen ihren Scheiss machen können. Aber nicht unbedingt mit mir», sagt Kissi.
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«Was bleibt als Destillat übrig aus der ganzen Coq-d’Or-Zeit?», frage ich ihn. «Ein Suffering Bastard?»
Er lacht. «Wir hatten verdammt gute Nächte hier», sagt er und überlegt. «Viel Liebe bleibt. Das tönt zwar verdammt hippiemässig.» Die letzten Tage waren emotional. Als der goldene Güggel hinauskrähte, dass die letzte Nacht naht, kamen alle nochmal, um Hallo zu sagen. «Alle wurden sentimental. Viele sagten mir, sie seien wegen dem Coq in der Stadt geblieben. Andere zogen wegen dem Coq nach Olten.»
Wer einmal einen Besen in der Hand hielt, blieb danach oft eine Zeit als Barkeeper in der Bar. Die Gesichter hinter dem Tresen änderten fortlaufend. Nur wenige blieben über die Jahre. «Die steten Wechsel wirkten wie ein Akzelerator», sagt Kissi. Während andere ins «echte Leben» zurückkehrten, bewahrte das Coq d’Or seinen Geist.
Die letzte Nacht, die letzte Runde. Fast alle sind nochmal gekommen. Vor gut elf Jahren waren Daniel Kissling und Luc Fröhlicher am allerersten Abend gemeinsam hinter der Bar gestanden. Zwischen den beiden wuchs eine Freundschaft. Und es muss in einer der langen Nächte gewesen sein, in der im Coq d’Or die Kulturfigur L.P. Dark entstand, die der ehemalige Barkeeper Luc Fröhlicher verkörpert. Ein letztes Mal steht er im Coq auf der Bühne und singt seine Geschichten aus der dunklen Nacht. Kissi kommt zu L.P. Dark auf die Bühne und haucht zu nostalgischen Klängen ins Mikrofon. Es ist die letzte Ode an sein Coq d’Or:
«Es paar göi die Nacht id Stadt und näme es Bier und no es Bier und no es Bier. Scho guet, chasch de Räscht bhaute, säge si a dr Bar und dräie e Zigarette im Fumoir und none Zigarette und none Zigarette und none Zigarette oder e gchoufti Zigarette, wöu si ned dräie chöi. Und sie bliebe und wei ned, dass es morn wird. Morn eschs nie besser als hüt, het mou öpper gseit. Mir rauche im Fumoir witer, bis dSonne schiint. Denn göi si go schlofe, und wil dNacht wieder chonnt, hei si weder witergmacht.»
Freitagabend vor dem Abstimmungswochenende. Sommer da, Schweiz grillt. Und Nachbar giftelt. Mit ein paar Freunden sitzen wir in einem Garten in Dulliken beim Bier. Nebenan bespritzt Nachbar Ruedi – nennen wir ihn mal so – mit einer Engelsmiene minutiös jeden Ast des kleinen Kirschbaums. Wenig später ist der Rasen dran. Wie ein stramm gegliedertes Heer ragen die dicken Grashalme aus dem Boden. Jetzt weiss ich, was Bauer Christoph Hümbelin damit meint, wenn er sagt, er störe sich besonders daran, dass Private in ihrem Garten Pestizide spritzen dürfen, wie ihnen behagt, aber die Bauern wegen der Umweltverschmutzung am Pranger stehen.
Nun denn, seit gestern wissen wir: Ruedi wird auch künftig spritzen dürfen – was auch immer er da in seinem Garten austrägt. Weder die Trinkwasserinitiative noch die Pestizidinitiative fanden eine Mehrheit an der Urne. Unser Kolumnist Kilian Ziegler kommentierte die Abstimmung auf Twitter so:
Und die Medien analysierten und rätselten über die Stadt-Land-Kluft. Doch hört sich dies nicht nach einem grossen Paradox an: Wie kann ausgerechnet die Landbevölkerung die drei Umweltvorlagen bachab schicken? Der Term «Land» mag implizieren, dass die Menschen da draussen in den Dörfern noch mit dem Boden und der Natur verbunden sind. Warum also wollen etwa viele Gäuer und Thaler die Umwelt nicht schützen? Sind die Landschweizer verbundener mit der Natur als Städter? Fragen über Fragen.
Aber lassen wir das Gedankenspiel. Fakt ist: Die städtische Bevölkerung stimmte wuchtig für das CO2-Gesetz. In den Grossstädten erhielt die Vorlage bis zu drei Viertel Zustimmung. Solothurn und Olten passten mit je rund 66 Prozent Ja-Stimmen in dieses Schema. Aber Grenchen – die Uhrenstadt hatte eben noch bei den Wahlen einen Rechtsrutsch erfahren – bildete eine Ausnahme.
Triumphieren durfte die SVP – und mit ihr einer der führenden Köpfe der Gegenkampagne: Christian Imark. Der Solothurner SVP-Nationalrat hatte am Sonntag gut lachen. Da interessierte es auch niemanden mehr, dass er es mit den Argumenten nicht immer so genau genommen hatte. In der SRF-Arena hatte der Schwarzbube eine Grafik gezückt, welche daraufhin der ETH-Professor Remo Knutti zerpflückte. Imark bezeichnete den Wissenschaftler daraufhin als Aktivisten.
1/ In der @SRF#ARENA argumentiert @ChristianImark mit einer mehrfach falschen Grafik, dass die Schweiz ihre pro Kopf Emissionen massiv reduziert habe und ein #CO2Gesetz unnötig sei.
«Ist die grüne Welle gebrochen?», fragte die SRF-Hintergrundsendung «Echo der Zeit». Womöglich ja, bilanzierten die Zeitungen der CH Media und NZZ. Nicht einmal zwei Jahre nach der grossen Klimademonstration in Bern machten sie das Nein zum CO2-Gesetz als eine potenzielle Umkehr des politischen Klimas fest. Im «Echo der Zeit» ordnete die Umweltpolitik-Wissenschaftlerin Karin Ingold das Nein als antizyklisch ein. Aber sie hielt fest, dass seit längerem eine «grosse Diskrepanz» bestehe zwischen dem, was wir zu Hause tun, und dem Bild, das wir international abgeben. «Die nationale Klimapolitik ist schon lange nicht mehr ambitioniert», sagte sie. Ingold spricht denn auch nicht vom Stadt-Land-Graben, sondern von einer Kluft zwischen pro Ökologie und pro Ökonomie.
Das Benzin wäre pro Liter 12 Rappen teurer geworden. Zahlen wie diese standen als Beispiel der dominierenden Kostendebatte. Nach dem kühl-nassen Frühling zeigte sich einmal mehr das Kurzzeitgedächtnis der Menschen. Niemand stellte noch die Frage, was es uns kosten wird, wenn die Gletscher ganz wegschmelzen oder Murgänge Dörfer zuschütten.
Schulhaus und Stapi
Anders als auf nationaler Ebene blieben in Olten Überraschungen am Abstimmungswochenende aus. Das neue Schulhaus mit Dreifachturnhalle erhielt eine klare Zusage von über 70 Prozent. Nach dem grossen Lärm um die anhaltende Kostensteigerung hatten sich doch fast alle Parteien hinter das Projekt gestellt. Und die Bevölkerung wusste um die Dringlichkeit des Schulhausprojekts.
Noch weniger Nervenkitzel bot die Stadtpräsidiumswahl. Olten hat mit Thomas Marbet erstmals in der Geschichte einen Sozialdemokraten als Stadtpräsidenten. Die Wahl war fast nur Formsache, hatte er doch keine Konkurrenz um das Vollamt. Nur die Klippe des absoluten Mehrs musste er schaffen und das gelang mit einer Reserve von über 1000 Stimmen locker. Immerhin 25 Prozent legten einen leeren Wahlzettel ein. Ob es ein Misstrauensvotum gegenüber dem SP-Mann oder gegen das System war, bleibt das Geheimnis der Wählerin. «Ich als Stadtpräsident stehe aber eher in der Mitte, da ich die ganze Stadt repräsentiere», sagte ein erleichterter Marbet beim Bier nach der Wahl zum OT. Ob Marion Rauber (SP) oder Raphael Schär-Sommer (Grüne) ihn im Vizepräsidium assistieren, kommt erst beim zweiten Wahlgang im September aus.
Im Schilder-Dschungel
Für mehr Zündstoff sorgt da schon das Parkleitsystem, das die Stadt momentan für rund anderthalb Millionen Franken installieren lässt. Parkplätze und der Weg zu ihnen – mit dem Leitsystem soll dies nur noch Formsache sein. Und im Idealfall könnte dies mithelfen, den Verkehrsstau durch Olten ein wenig zu entflechten. Wenn denn die Tafeln auch am rechten Fleck stehen und verständlich sind. Der kritischen Beobachter gibt es in Olten genug. Da war die Posse um die falsch montierten Schilder, welche zu nah an einer Ampel standen und diese verdeckten. Eine Geschichte, die es zur Belustigung vieler bis ins Gratisblatt «20 Minuten» schaffte. Für Irritation sorgten auch die Beschriftungen «Olten Ost», «Zentrum Süd» und «Zentrum» am Ortseingang. Wie sich denn ein Auswärtiger und selbst Ortskundige so orientieren sollten, empörte sich jemand. In der Stadt wird das Parkleitsystem aber dann feingliedriger und die Tafeln sind nach Parkhäusern benamst. Und sonst gilt, seit die Römer untergingen, bekanntlich: «Alle Wege führen nach Olten».
«Ob dies mein grösster Sieg ist? Nein, der grösste Sieg ist jener gegen Roger. Den kann ich nicht schmälern, aber Federer ist Federer …», sagte Pablo Andújar, als er Ende Mai in Paris vor den Medien sass. Der charismatische Spanier hatte auf dem Sandplatz von Roland Garros Dominic Thiem besiegt. Und somit erstmals in seiner Karriere einen der in den Top 5 klassierten Tennisspieler bezwungen.
Den noch grösseren Glücksmoment erlebte er aber eine Woche zuvor, als er in Genf Roger Federer die Rückkehr auf die Tour vermieste. In Trimbach jubelte der Tennisclub Froburg über Andújars Höhenflug. Denn letzten Sommer hatte er noch den Dress des NLA-Tennisklubs am Fuss des Hauensteins getragen. Seit mehreren Jahren schon holen die Trimbacher jedes Jahr einen Hauch Tennisglamour zu sich. Mit der Verpflichtung von Andújar gelang dem TC Froburg letztes Jahr – auch durch die Pandemie begünstigt – ein grosser Coup. Die Geschichte des Spaniers zeigt, wie rasch der Lift für viele Spieler im internationalen Tenniszirkus nach oben, aber auch wieder nach unten fahren kann. Die Schweizer NLA-Meisterschaft ist in diesem grossen System nur ein kleines Rad, das wenig mediale Aufmerksamkeit kriegt, aber ein Sprungbrett für Schweizer Spieler sein soll, wie Marco Meyer, Präsident vom TC Froburg erklärt. Im Gespräch gibt er Einblick in die Tenniswelt und welche Rolle der kleine Trimbacher Verein darin einnimmt.
Tag 1
«Noch keiner war so gut wie er», sagt Marco Meyer. Seit der TC Froburg in der NLA spielt, rüstete er sich jeweils im Sommer mit zwei ausländischen Verstärkungsspielern für die Meisterschaft. Pablo Andújar hinterliess schon bei der Ankunft in Trimbach einen bleibenden Eindruck bei den Verantwortlichen des Tennisklubs. «Er ist ein absolutes Vorbild, angenehm im Umgang und von Anfang an konnte er die gesamte Mannschaft mitreissen», erinnert sich Meyer. Der Spanier brachte gleich seine gesamte Entourage mit Physio, Fitnesscoach sowie Trainingspartner und Mitspieler Pedro Martinez an den Hauenstein. Dass der in Valencia wohnhafte Andújar überhaupt in die Schweiz kam, war durch die Pandemie begünstigt. Viele Turniere waren abgesagt und die Spieler waren zu günstigeren Konditionen verfügbar. «Unser Coach Bartolome Szklarecki blieb so lange an ihm dran, bis er endlich bestätigte», sagt Meyer. Die Erwartungen an den Turniersieger der Swiss Open 2014 in Gstaad waren hoch.
Trimbach suchte Verstärkungsspieler, nachdem die Konkurrenz den Schweizer Topspieler Sandro Ehrat mit einem besseren Angebot abgeworben hatte. Ihn zu ersetzen, war keine einfache Aufgabe. Denn die besten Schweizer Tennisspieler sind begehrt bei den Teams der Interclub NLA. Deshalb nutzte der TC Froburg die Situation mit dem arg reduzierten ATP-Kalender und suchte im Ausland nach Topspielern, um das erklärte Ziel – den Ligaerhalt – zu schaffen. «Auch unser Teamchef und Sponsor Peter Gubler forcierte die Verpflichtung von Andújar. Er sprach im Vorfeld immer wieder von einem Glücksfall», sagt Meyer.
2 Wochen
Auf Stufe der Nationalliga A wird die Interclub-Meisterschaft jeweils im Sommer innerhalb von zwei Wochen gespielt. So können die Schweizer Tennisvereine für ihre Mannschaften Verstärkungen aus dem internationalen Tenniszirkus holen. «Für die ausländischen Topspieler der Tour ist die Interclub-Meisterschaft bloss ein Sahnehäubchen», sagt Meyer. Primär gehe es um die besten Schweizer Tennisspieler. Denn auch sie reisen über das ganze Jahr hinweg von Turnier zu Turnier und versuchen dabei, in der Hierarchie aufzusteigen und sich als Profitennisspieler durchzusetzen. Roger Federer und Stan Wawrinka sind momentan die einzigen Schweizer Topspieler, die auf die Interclub-Saison verzichten.
5,9 Millionen Franken …
… verdiente der 35-jährige Pablo Andújar in seiner Karriere durch Preisgelder auf der ATP-Tour. Seit 2003 reist der Spanier als Profi von Turnier zu Turnier rund um den Globus.
6 Spieler
Gemeinsam mit Trainer Bartolome Szklarecki stellt Teamcaptain und Sponsor Peter Gubler jedes Jahr eine kompetitive Mannschaft zusammen. Die NLA-Mannschaft besteht aus sechs Spielern und jedes Teamdarf zwei ausländische Verstärkungsspieler umfassen. Die sieben NLA-Mannschaften duellieren sich jeweils in Einzel- und Doppelmatchs (analog zum internationalen Nationenwettbewerb Daviscup).
8 Saisons
Seit bald acht Jahren spielt der TC Froburg in der höchsten Schweizer Tennismeisterschaft mit. Nach dem Aufstieg 2014 gelang ein Jahr später der grosse Coup mit dem Schweizer Meistertitel. Momentan kommen vier der sieben NLA-Klubs aus dem Ballungsraum Zürich. Mit Neuenburg und Genf sind auch die Romands vertreten. «Es ist schon beachtlich, dass wir seit acht Jahren im Konzert der Grossen dabei sind. Ähnlich wie Ambri im Eishockey», sagt Marco Meyer.
8 Kaderspieler
Mit Marco Chiudinelli hat Trimbach einen im Tenniszirkus bestens bekannten Trainer für die Nachwuchshoffnungen gewinnen können. Der gute Freund und ehemalige Trainingspartner von Roger Federer trainiert zurzeit in Trimbach acht Talente, die zwischen 12 und 14 Jahre alt sind. Darunter seien, so Meyer, vier Supertalente. Der Präsident vom TC Froburg fordert für die Talente eine Sportklasse. In Olten fehlt ein solches Angebot. Der Tennisclub arbeitet derzeit deshalb mit der Schule in Langenthal zusammen. «Wir haben immer wieder Probleme, für unsere besten Spieler Lösungen zu finden, welche Trainings, Matchs und Ausbildung unter einen Hut bringen. Fehlt in der Region Olten das Verständnis für Leistungssport im Nachwuchsbereich?», fragt Präsident Meyer rhetorisch.
10 N1-Spieler, …
… 30 N2-Spieler und weiter runter ist die Schweizer Tennishierarchie gegliedert. Mit den Termen N1, N2 und so weiter wird die Schweizer Tennisrangliste in Blöcke klassiert. Darüber hinaus ist das Schweizer Ranking mit jenem des internationalen Tennisverbands (ATP) zu vergleichen. Die Plätze 1 und 2 sind auf der Schweizer Rangliste schon seit Jahren vergeben: Roger Federer und Stan Wawrinka belegen sie. Dahinter kommen weniger bekannte Namen wie Marc-Andrea Hüsler. Aktuell ist er die Nummer drei im Schweizer Tennis. Den grössten Aufstieg hat in diesem Jahr der junge Dominic Stricker vollbracht. Auf der ATP-Rangliste stösst er unter die ersten 300 vor.
Die Nummer 21 …
… der nationalen Rangliste ist momentan Mischa Lanz. Der Hägendörfer ist mit seinen 21 Jahren das regionale Aushängeschild des TC Froburg, konnte aber im Profitennis noch nicht richtig Fuss fassen. «Er spielt ein attraktives offensives Tennis. Wir hoffen, dass er dieses Jahr bei uns noch mehr Verantwortung übernehmen kann», sagt Marco Meyer über den Hoffnungsträger. Er wird im August bei der Interclub-NLA-Meisterschaft der einzige Spieler aus der Region sein. «Meine Vision wäre, dass wir mit Nachwuchsspielern aus der Region Olten in der NLA antreten. Aber das ist bis heute nur teilweise gelungen», so Präsident Meyer.
Rang 32 …
… war die beste Klassierung, die Pablo Andújar auf der ATP-Tour erreichte. Das war im Jahr 2014, als er in Gstaad das Turnier gewann. Mit der Schweiz verbindet der Spanier darum ohnehin gute Erinnerungen. Danach folgte für ihn eine lange Durststrecke: Zwischen 2015 und 2019 gewann er keinen Match mehr an einem Grand-Slam-Turnier. In dieser Zeit hatte ihn eine Ellenbogenverletzung zurückgeworfen und er musste sich drei Operationen unterziehen. Er fiel in der Weltrangliste auf Rang 1764 zurück. «Ich dachte, ich wäre raus aus dem Tennis», sagte er retrospektiv, als er an den US Open in die Achtelfinals vorstiess. Mit 35 Jahren zählt Andújar wieder zu den 100 besten Tennisspielern der Welt – aktuell ist er die Nummer 68.
300 bis 500 …
… Zuschauerinnen besuchten in den letzten Jahren jeweils die NLA-Heimspiele des TC Froburg in Trimbach. «In Genf spielten wir dagegen manchmal fast vor null Zuschauern», erzählt Meyer. Die Schweizer Meisterschaft geniesst in der Schweiz sehr wenig Aufmerksamkeit. Für den Präsident des TC Froburg ist klar: «Das liegt vor allem daran, dass das Produkt zu wenig gut vermarktet wird.»
2016
In diesem Jahr figurierte ein gewisser Daniil Medwedew auf der Kaderliste der Trimbacher und trainierte auf der Anlage. Zum Einsatz kam er jedoch nicht. Er war in der Weltrangliste bloss die Nummer 300 und der TC Froburg setzte deshalb auf andere Spieler. Marco Meyer trauert heute der verpassten Chance nach: Denn seither ging es in Medwedews Karriere kometenhaft empor. Aktuell ist er die Weltnummer 2.
2021
Kehrt Andújar in diesem Jahr nach Trimbach zurück oder nicht? Dies ist für den TC Froburg die grosse Frage, vor der Interclub-Meisterschaft im August. Marco Meyer macht kein Geheimnis daraus, dass Coach Bartolome Szklarecki ihn gerne wieder verpflichten möchte. Kurz nach der Interclub-Saison finden aber die US Open statt. Bis Mitte Juli müssen die Trimbacher ihr Kader melden.
Knapp 53’000 …
… lizenzierte Tennisspieler sind in der Schweiz aktiv. «Davon versuchen etwa dreihundert, ihr Geld mit dem Tennissport zu verdienen und sich als Profis durchzusetzen», sagt Meyer.
80’000 bis 150’000 Franken
In diesem Bereich liegen gemäss Meyer die Budgets der Interclub-NLA-Mannschaften. Der TC Froburg verfüge über eines der tiefsten Budgets, sagt der Präsident. 2015 sei es gar gelungen, mit einem aussergewöhnlich tiefen Budget den Meistertitel zu gewinnen. Mit der Oltner Tennisgrösse Peter Gubler verfügt der Klub über einen Defizitgaranten, der dem TC Froburg die NLA-Mannschaft ermöglicht. Sein Vater war es, der vor rund vierzig Jahren das Tenniscenter in Trimbach mitgründete.
We were standing at our back-to-back letterboxes, retrieving the morning’s Oltner Tagblatt.
“Cat? Oh – you mean Mr Munzinger. No, I’m just watching him for a friend for a few days. How did you know I had a cat, Boxer?”
“We share a front balcony.” He pointed dramatically back to our houses and up to the first floor. “I suggest you leave the door closed during the cat’s stay.”
“Why? Where was he?”
“At my breakfast. Poached eggs on a crumpet.”
“Oh dear! With a cheese sauce?”
“Yes.”
“Don’t worry. I’ll keep him on my side.”
“Thank you, Charles.”
Later that day, I heard Boxer running up his stairs just next to mine (the shared walls are not as thick as the outside walls). Then he ran down again. I went to the room with the balcony to check on things. Mr Munzinger was looking out the window.
“No workmen out there today? That scaffolding should be coming down soon, eh, Mr M?”
I heard a banging on the wall next to me. Boxer. I opened the balcony door, holding Mr Munzinger in my arms. Boxer emerged.
“There he is! The scoundrel was in my house again, running up and down.”
“Oh! I thought that was YOU running up and down. No – he’s been here all afternoon, haven’t you, Mr M?”
“Charles! Do NOT carry on a conversation with me and a cat as well, I beg you. He was in here, I tell you! Next time, I shall take a photograph.”
Two days later, Boxer messaged me a photo of a cat sitting on his kitchen table. I hardly knew what to do. I sent a return photo of the cat on MY kitchen table. Boxer responded with a selfie of the most threatening expression, the devilish twinkle gone from his eyes.
The cat in Boxer’s photo was definitely Mr Munzinger. But how could he have got into Boxer’s house? Was there a secret passageway or a tunnel? A catflap! No, certainly not. Was the cat a hallucination taunting Boxer, manifesting itself after Boxer’s first, real experience of seeing it? Did the cat have a twin? I Googled the silliest idea I could – “How can a cat be in two places at once?”
Of course, Schrödinger came up, as well as quantum cats, and even quantum Schrödinger cats. Reader – there are roads I prefer not to travel. The mind boggles enough just to live in Olten, with its Air Filtration Fog Eliminator (AFFE) and its ingenious PArk-Leit-System (PALS). If only it could do something about its Cerebrally Centred Congestion Charge (CCCC – better known as Foresee) which is a tax on residents who ‘think too much’.
I went out to the street that evening to put out cardboard boxes for the monthly collection. I saw Boxer standing sentry at the balcony window – so I waved, bravely. Not to put too fine a point on it, he waved back. He held up his hand mid-wave to signal me to wait.
A few minutes later, he came out with a huge empty carton, big enough for a bicycle or a flat-screen television (Is there any other kind these days?). It nearly tripped him up as he gingerly walked down the granite steps.
“I am so glad I saw you, Charles. I had forgotten it was collection day.”
“That’s a big boxer, Box!”
“Ha ha! Charles! You have managed to tell a joke! A play on words! Not very original, but most impressive, nonetheless, coming from you. I must be having a positive influence on your cerebral centre.”
“Indeed. Now – what was in this box?”
“A mirror, Charles. I am not vain, but I do need to check my appearance occasionally. I bought it last month and have hung it in the hallway. Full-length.”
“Just like mine, I imagine.”
“Yes.”
“Probably the mirror image, eh, Boxer?”
“Charles, one play on words per day is enough for a beginner of your limited experience. But, yes. Our two mirrors are back-to-back, just as are our letterboxes.”
“May I see it, Boxer? Your mirror? Please?”
We went up the granite steps conjoined with mine and entered his house, which, as I have said before, is the exact mirror-image twin of my own, two of six in an unbroken row on our pleasant street.
Readers must appreciate the feeling of entering such mirror houses. All is the same, but reversed, left and right. A mirror shows a reverse image, it is true. When you look at yourself in a mirror and raise your right hand, the mirror image raises its left hand. Now put a glove on that hand. The mirror image will raise the gloved hand – not the left hand or the right hand – the gloved hand. But – please do not ask why left and right are reversed, but not up and down or top and bottom.
In Boxer’s hallway hung a long mirror, exactly in position with the mirror I had hanging in my hallway. I saw a tempest of crystal-red rain swirl before my eyes. I felt the panic of drowning..
“Boxer! Boxer! It’s the SAME WALL!!”
“I shall get you a stiff drink, Charles, my friend with the cat. Meanwhile, do you have your handy with you? Good. Find that photo of the cat I sent you the other day. It has only just occurred to me what the solution is.”
He went into the dining room and returned with two glasses of whisky, no ice, no water. I calmed down a bit, as I looked for the photo on my photo app. There it was. Boxer looked at it quickly, then opened his phone to my photo of the cat taken just minutes after his, which I had sent him in response.
“What do you see, Charles?”
“What do YOU see?”
“I see a black cat with one white paw. And you?”
“I see the same.”
“Look carefully, Charles.”
“Yes. The cat seems to be twisted around differently here. The white paw is — ! Goodness gracious! It’s on the wrong foot!”
“It is on the right foot, but, then, I mean, Charles, it is on the left foot, is it not?”
“What the devil are you thinking? A twin cat got into your house? A Doppelgänger?”
“Ah, Charles, the Doppelgänger! Hesse had a great time in Steppenwolf with that theme. The Jekyll and Hyde variety, to be sure, but the good cat/bad cat analogy fits here, as well. Where is Mr Mustermann, anyway?”
“Why, uh, I left him in the sitting room. He was reading Proust, I think, not Hesse.”
“That joke will cost you, Charles. It will cost you. Proust, indeed. Finish your drink. Then we shall, with your invitation, pay a call on Mr Marbles.”
So, we went over to my house and found Mr Munzinger in the sitting room, licking his paw – the one with the white patch.
“Carry him down to the hallway, Charles, and put him in front of your mirror. Let us see what happens. Keep an eye on that white paw.”
In the hall, Mr Munzinger stood at the mirror, then sat down. His reflection did the same. Then, a strange thing happened. The cat stood up and touched the mirror with its white paw. Immediately, the air crackled with electricity, sparks flying out of the mirror. The cat jumped at the mirror and, without disappearing from my hallway, appeared to have entered Boxer’s hallway on the other side of the wall.
“Charles, it was not Proust he was reading – it was Bulgakov!”
“Bulgakov?”
“Mikhail Bulgakov. The Master and Margarita. It seems we have been written into the Master’s story. Your Mr Magician is in truth Behemoth!”
“This little cat?”
“Do you not smell the brimstone, Charles? We were nearly dragged into the bowels of Hell by that infernal feline. Quickly! We must turn both mirrors to the wall at the same time to trap the devil in its own world between the mirrors. I will go home at once to do so!”
“What will I tell the cat’s owners when they come for him?”
“Just say, ‘Mr Mephistopheles regrets to inform you of his sudden departure.'”
* * * *
Now, dear readers, you may not be satisfied with this explanation of Mr Munzinger’s behaviour. How DID the cat get from one house into the other without any apparent means of entrance and exit, once the balcony door was shut? How DID he appear in two places at the same time? Can a spirit be trapped between two inwardly facing mirrors? What this indeed a cat from Hell? If you have not read Bulgakov’s The Master and Margarita, I suggest you do so at the first opportunity. You needn’t know Soviet nomenklatura to enjoy it, and the story-in-a-story is breathtakingly beautiful. If you can suggest any better theory or solution to the problem, then please send them in. We welcome your ideas and comments.
David Pearce ist ein Schweizer Schriftsteller, wohnt seit 2000 in Olten und hat amerikanische, englische und französische Wurzeln. Er schreibt auf Englisch Kurzgeschichten, Romane und Theaterstücke.
Früher teilten wir fast alles, Christoph und ich. Unsere Familien wohnten im selben Bauernhaus. Sobald wir uns auf den Beinen halten konnten, kletterten wir unermüdlich die steil abfallenden Jurahänge hoch, die uns im Winter die besten Schlittelpisten boten. Wir hingen in den Kirschbäumen und schlugen uns den Bauch voll.
Im Jura-Trichter rund um das winzige Solothurner Dorf Rohr lag unsere Lebenswelt. Alles, was sich darüber hinaus befand, kannten wir nur vom Hörensagen unserer Eltern oder von unseren seltenen Expeditionen in die nahen Städte. Wir teilten auch den Idealismus, wenn wir in stundenlangen Gesprächen uns ausmalten, wie es in Amerika oder sonst wo auf der Erde so vor sich gehen mochte. Denn wir wussten: Nicht überall ist das Leben so schwerelos wie das unsere. Wir glaubten daran, die Welt verbessern zu können.
Und dann kam dieser Lastwagen, der die Hebebühne bis ans Fenster meines Kinderzimmers im ersten Stock hochfahren konnte und in den all unsere Sachen locker reinpassten. Der Umzug in die Stadt fühlte sich für mich wie eine harte Landung auf einem neuen Planeten an. Zurück blieb die kleine Welt im Jura. Zurück blieb der Bauernhof. Zurück blieb mein Freund Christoph. Aber unsere Freundschaft überdauerte all die Jahre. Auch unseren Idealismus bewahrten wir. Christoph übernahm letztes Jahr den Bauernhof seiner Eltern, ich wurde Journalist.
Christoph ist ein politischer Mensch, aber das Rampenlicht war nie seine Sache. Fast schüchtern schon ist er, als wir auf dem Bauernhof ankommen. Wie bereits seine Eltern führt er den Betrieb in der Abgeschiedenheit und zieht sein Ding durch. Ohne sich jedoch äusseren Einflüssen zu verschliessen, im Gegenteil. Was die Eltern aufbauten, führt er fort. Die Hümbelins waren keine klassische Bauernfamilie, sondern eher sowas wie späte 68er-Aussteiger. Beide hatten sie Biologie studiert, doch früh liessen sie die akademische Karriere hinter sich. Ihre Lebensaufgabe fanden sie auf dem Gitziberghof im Jura. Seit gut vier Jahrzehnten ist die Familie Hümbelin mit naturverbundener Demeter-Landwirtschaft erfolgreich.
Was sie taten, war eine stille Rebellion gegen die Entwicklungen da draussen, wo die Landwirtschaft immer intensiver wird, immer mehr kleine Betriebe aufgeben müssen. Und zunehmend die Produktionsmaximierung im Vordergrund steht.
Auf dem Gitziberg glaubten sie an die Landwirtschaft, die der Natur viel Gewalt lässt. Christoph wuchs als ältester Sohn mit dieser Überzeugung auf. Er zeigt mit einer Handbewegung hinter sich, wo eine Blumenwiese wie eine Wand hochragt und in einem abrupten Horizont zum Himmel endet. Als Trockenwiese von nationaler Bedeutung zählt sie zum Bundesinventar. «Diese Flächen machst du fast nur für Direktzahlungen und aus Freude. Ich finde es spannend, so etwas zur Artenvielfalt beizutragen. Dann bist du eben auch Landschaftspfleger», sagt er.
Als Bauer, der nur Grünland bewirtschaftet und dabei nicht einmal Bio-Pestizide einsetzt, ist Christoph von den Agrarinitiativen kaum betroffen. «Musst du dir manchmal anhören, du lebtest in einer heilen Welt?», frage ich ihn. Der Taleinschnitt gibt die Sicht auf das Dreigestirn Eiger-Mönch-Jungfrau frei.
Mit Bauern habe er nicht gross darüber gesprochen, sagt Christoph, gibt aber zu: «Gewisse Dinge sind hier oben einfacher. Für einen Acker- oder Obstbaubetrieb ist es viel anspruchsvoller als für einen Viehbetrieb, auf Pestizide zu verzichten.»
Christoph stört sich an der heftigen Debatte zu den Agrarinitiativen, die kaum Nuancen kennt. «Es wird auf beiden Seiten so viel Mist erzählt», sagte er mir, als ich am Telefon anfragte, ob wir auf dem Bauernhof vorbeischauen dürften. Eben habe er auf seinem Land ein Plakat für die Pestizidinitiative aufgehängt, erzählt er mir. Er steht voll hinter ihr, weil sie für ihn wesentlich differenzierter ist und spezifisch synthetische Pestizide verbieten will. Er gibt aber zu bedenken: «Für einen Obstbaubetrieb ist’s schon einschneidend. Ein Weinbauer, der seine Rebstöcke für vierzig Jahre hat, hätte bloss eine Übergangszeit von zehn Jahren. Und somit wenig Zeit, seine Sorten umzustellen.»
Die liberale Trinkwasserinitiative, die auf Anreize setzt, lehnt Christoph ab, weil sie zu viele Türen offenlässt. «Die Anliegen unterstütze ich zwar alle, aber sie ist nicht ausgereift», sagt er. Für ihn sind es der Widersprüche viele: Die Initiative will sauberes Trinkwasser fördern, indem nur jene Bäuerinnen noch Direktzahlungen kriegen, die ohne Pestizide auskommen. Für den Import macht sie aber anders als die Pestizidinitiative keine Vorschriften. Er sagt: «Das entspricht der Mentalität: ‹Mir ist egal, wenn gegiftelt wird, solange es nicht in meiner Umgebung geschieht.›» Besonders stört ihn auch, dass die Trinkwasserinitiative keine Einschränkungen für Private macht.
Zudem sei in dieser Initiative nicht klar definiert, welche Pestizide noch erlaubt wären. «Im biologischen Obst-, Gemüse- und Rebbau wird noch viel gespritzt, was nicht synthetisch ist», sagt er. Weiter findet er die Vorgabe, wonach der Futterzukauf verboten sein soll, zu undifferenziert. Es sei ohnehin sein Ziel, den Zukauf zu vermeiden, sagt er. «Aber die letzten Jahre haben wir uns wegen der Trockenheit verschätzt.»
Mit seiner gespaltenen Haltung fürchtet er, in einen Topf geworfen zu werden. Für viele Bauern zählt nämlich nur das doppelte Nein zu den Agrarinitiativen. Über das grosse Missverständnis zwischen Stadt und Land ist in den letzten Wochen viel geschrieben worden. Hier die Städterinnen, die sich darüber enervieren, dass die Bauern sich nicht den Umweltkrisen stellen wollen, obwohl sie durch sie gebeutelt sind. Dort die Landwirte, die sich als Abwehrreaktion gegen die Vorschriften der urbanen Gründenker stellen. «Ich glaube, die Bauern sehen die Arbeit, die hinter den politischen Forderungen steckt, und sie haben Angst, dass diese nicht abgegolten wird», sagt Christoph.
Auch er verstehe viele Bauern nicht. Doch die Öffentlichkeit stehe auch in der Verantwortung, die Landwirte zu sensibilisieren, findet er. Wie die SRF-Rundschau 2019 aufzeigte, werden angehende Landwirtinnen in der Ausbildung mangelhaft über den Klimawandel, die Umweltproblematiken und Pflanzenschutzmittel aufgeklärt. «Dann finde ich es gar einfach, mit dem Finger auf die Bauern zu zeigen», sagt Christoph.
Er selbst ging einen unkonventionellen Weg. Nach der Maurerlehre holte er die Berufsmatura nach und studierte danach Teilzeit Umweltingenieurwesen an der Fachhochschule in Wädenswil. Einige Jahre hatte er die Frage, ob er den Hof übernehmen solle, vor sich hergetragen. Mit 30 entschied er sich dafür. Heute kann er weiterführen, was seine Eltern aufbauten, während er und seine zwei Geschwister heranwuchsen. Von klein auf bekamen sie den Klimawandel zu spüren. Heute kriegen sie auf 750 Meter über Meer anders als früher nur noch selten mal einen halben Meter Schnee. Die Hitzesommer kann Christoph alle mit Jahrzahl benennen. «Darum ist mir das CO2-Gesetz noch viel wichtiger», sagt er. Da sei er gerne bereit, jährlich ein paar Hundert Franken mehr Abgaben zu bezahlen.
Ohne Mechanisierung und ganz ohne Wachstum gings auch oben im Jura nicht. Zwar steht heute wie schon vor drei Jahrzehnten knapp ein Dutzend Kühe auf der Weide. «Hast du keinen Hunger mehr, Nuria», rate ich ihren Namen und lache. «Nina», korrigiert mich Christoph sogleich und liebkost sie. Wie viele Bauern geben die Hümbelins den Kälbern einen Vornamen mit dem gleichen Anfangsbuchstaben wie jener der Mutterkuh. In Form und Grösse – aber auch durch ihre stolzen Hörner – lassen sich die Tiere der Schweizer Braunvieh-Rasse gut unterscheiden. Nina sticht durch ihre stattliche Grösse und die eleganten Hörner wie eine Königin aus der Herde heraus.
Die Kühe sind eine der wenigen Konstanten auf dem Gitziberg. Damals, als ich als kleiner Bub in den 90er-Jahren jeweils frühmorgens im Stall mithalf, die Kühe anzumelken, da war gleich nebenan eine kleine, schummrige Milchkammer. Früh lernten wir, dass wir die Tür der vielen Fliegen wegen immer sofort schliessen mussten. Denn Christophs Eltern veredelten die Rohmilch in der kleinen Milchkammer, indem sie begannen, Joghurt zu kultivieren und Quark herzustellen, den sie bei Reformläden bis nach Basel verkauften.
Die Milchverarbeitung wuchs auf dem Gitziberghof über die Jahre rasch zum dominierenden Zweig und macht heute drei Viertel des Umsatzes aus. Den Rest verdient der Familienbetrieb durch die Landwirtschaft, wobei über die Hälfte dieser Erträge wiederum von den Direktzahlungen durch Bund und Kanton stammen. «Wir machten uns mit der Milchverarbeitung unabhängig von der Urproduktion», sagt Christoph. Von der Landwirtschaft allein könnten sie bei dieser Grösse nicht leben. Vielen geht es so im Dorf und deshalb arbeitet in Rohr die Mehrzahl der Bäuerinnen nebenbei auswärts oder hat einen Betriebszweig, der nicht auf die Produktion ausgelegt ist.
Die schummrige Milchkammer ersetzten die Hümbelins vor einem Jahrzehnt durch einen Molkerei-Neubau, der so gross ist wie ein Einfamilienhaus. Vor Corona verarbeitete der Familienbetrieb jährlich rund 150’000 Liter Milch zu Joghurt, Quark, Glace und Käse. Mit der Pandemie eröffneten sich neue Absatzmärkte und das Volumen stieg gegen 180’000 Liter an.
Während die Verarbeitung stetig wuchs und die Hümbelins ausbauen mussten, setzten sie mit der neuen Molkerei auf ein innovatives Energiesystem. Dabei wird die Abwärme von der Kühlung zu Heizzwecken und zum Vorwärmen des Brauchwassers verwendet. Auch das Wohnhaus kann zeitweise noch mit Abwärme aus der Molkerei beheizt werden.
Für die Stromversorgung installierten sie eine Photovoltaikanlage, mit welcher der Gitziberghof aufs Jahr hinaus knapp die Hälfte des Eigenverbrauchs deckt. «Wegen der vielen Kühlungen brauchen wir im Sommer mehr Strom», erklärt Christoph. Darum passe das Stromangebot von Photovoltaik gut zum Hofbedarf, was die Anlage rentabler macht. In rund fünfzehn bis zwanzig Jahren soll sie amortisiert sein. Er blickt auf den Zähler und stellt zufrieden fest: «Vierzehn Kilowatt». Ob das viel sei, will ich wissen. «Damit kannst du sieben grosse Staubsauger laufen lassen», sagt er. An der Hofauffahrt zum Gitziberg stehen weder ein Allrad-Mitsubishi noch ein Volvo, sondern zwei Renault-Elektrowagen, die an der Steckdose angeschlossen sind. Auch sie werden direkt mit Sonnenstrom gespiesen.
Wie wir so über den Hof streifen, kommt es mir vor wie damals, als wir auf eine herumstehende Radachse unseren eigenen Mini-Holzwohnwagen bauten. Ich war der Handlanger, der dauernd Fragen stellte, während er am Bau tüftelte. Nie wählte er die fertige Lösung. Daran hat sich mit dem Erwachsenwerden nichts geändert.
Das neuste Beispiel ist die unübersehbare Kläranlage vor dem Haus. Weil die Molkerei dermassen gewachsen ist, wurde sie notwendig. Die menschgemachte Abwassermenge darf nämlich nur einen bestimmten Teil der Viehgülle ausmachen, die später auf das Feld ausgetragen wird. Auf dem Gitziberghof war dieses Verhältnis um ein Vielfaches überschritten, weshalb der Kanton eine Kläranlage vorschrieb. Christoph entschied sich, eine natürliche Kleinkläranalage mit Schilfbewuchs zu bauen. Weil diese aber in der Grundwasserschutzzone der Quellfassung des Dorfes liegt, verlangte der Kanton ein dickes Betonbecken. Nachdem das Abwasser durch einen Absetzschacht geschleust wurde, wird es ins Schilfbecken gepumpt. Von hier sickert das Abwasser achtzig Zentimeter durch die Sandschicht ab und wird geklärt in den Dorfbach geführt. Einen Teil will er in einem Teich zurückhalten, um das gereinigte Wasser etwa für die WC-Spülung zu recyclen.
Ein neues Projekt verfolgt Christoph auch in der Stallbewirtschaftung. Seit nunmehr fünf Jahren streut er jeden Tag Pflanzenkohle im Stall. Über die Gülle und den Mist der Kühe wird sie später auf die Felder getragen und soll dort auf Jahre hinaus die Wasserkapazität in den Böden verbessern. Als positiver Nebeneffekt sei durch die Pflanzenkohle die Unterlage im Stall nicht mehr so rutschig, erzählt er. Ein vierhundert Kilogramm schwerer Sack steht vor der Futterkrippe. «Da ist eine Tonne CO2 drin», sagt Christoph.
Die Pflanzenkohle bezieht er von einer Firma in Zug, welche diese in einem aufwendigen Verfahren herstellt. Die Nachfrage sei derart angestiegen, dass sie einen Teil der Pflanzenkohle aus Deutschland zukaufen müsse. Das Angebot in der Schweiz soll aber in den nächsten Jahren wachsen. Beispielsweise die Industriellen Werke Basel (IWB) planen den Bau einer Pflanzenkohle-Anlage. Das Herstellungsverfahren ist attraktiv, weil es energiepositiv ist und Energieerzeuger so ihr Fernwärmenetz alimentieren können. Erst seit den Nullerjahren ist die Wissenschaft auf die Pflanzenkohle gekommen. Im Amazonas streuten die Indigenen aber offenbar schon seit Jahrtausenden Pflanzenkohle. «Auf dem Feld könnte die erhöhte Nährstoffkapazität die Humusbildung anregen, wodurch neuer Kohlenstoff gebunden werden könnte», sagt Christoph.
Wenn wir damals phantasierten, wie sich die grossen Probleme unseres Planeten lösen liessen, dann glaube ich heute: Mein Freund Christoph tut dies im Kleinen, indem er im hügligen Jura nachhaltig bauert. Von der Polemik da draussen lässt er sich nicht beirren.
In Thessaloniki wurden mein Laptop, mein Portemonnaie mit Kredit- und anderen Karten und die Kameraausrüstung meines Freundes gestohlen. Da Ersatzkarten nur in die Schweiz geliefert werden und elektronische Geräte hier teurer sind als in der Schweiz (ja, wirklich), bat ich meine Mutter, mir ein Paket zu senden. Inhalt: Kreditkarten, Führerausweis, ein ausrangierter, aber noch brauchbarer Laptop, einige Kamera-Ersatzteile, Schokolade.
Ich war mittlerweile aber nicht mehr in Thessaloniki, sondern im südlicheren Dorf Leonidio. Natürlich ohne Wohnadresse, da im Auto lebend. Macht nichts, wurde mir auf der örtlichen Poststelle versichert. Das Paket könne postlagernd hierhin gesendet werden. Jana Schmid, poste restante, 22300 Leonidio. Völlig problemlos.
Meine Mutter war derweilen bereits zum dritten Mal an einem Oltner Postschalter vorsprachig. Sie wollte wirklich sichergehen, dass das gut kam, liess sich beraten bezüglich möglicher Sendeoptionen und entschied sich nach Abwägung aller Vor- und Nachteile für die Option Priority, die zweitschnellste. Die zuständige Mitarbeiterin der Schweizer Post wies sie mehrmals darauf hin, auf dem beiliegenden Frachtbrief alle Inhalte des Pakets genau aufzuführen. Das sei wichtig, da es ansonsten Probleme am Zoll geben könne. Ausserdem sei das Paket in Höhe des auf dem Frachtbrief angegebenen Wertes gegen Verlust oder Beschädigung versichert. Das nahm meine Mutter beim Wort und rundete die Warenwerte auf dem Frachtbrief gewissenhaft auf, um im schlimmsten Fall auch wirklich versichert zu sein. So, unter Einhaltung aller Vorschriften, könne eigentlich nichts mehr schief gehen, waren sich meine Mutter und die Mitarbeiterin einig und gaben das Paket endlich auf. In drei bis sieben Tagen müsse die Sendung in Leonidio eintreffen, verfolgbar per Tracking.
Ich wartete und trackte. Bald war das Paket in Athen. Dann zeigte das Tracking folgenden Status an: HIGH VALUE GOODS – COSTUMS DECLARATION REQUIRED. Der veränderte sich dann nicht mehr. Nach einem Monat und mehreren Besuchen auf der Dorf-Poststelle («There is nothing, come again tomorrow») rief ich den Kundendienst der griechischen Post an.
Telefonieren
Es folgte ein längeres Prozedere mit verschiedenen Hürden. Die erste: Grundsätzlich nahm niemand ab. Ich versuchte also mehrere Tage hintereinander zu verschiedenen Tageszeiten, bis endlich ein «Para kalo?» (Griechisch für «Bitte?») ertönte. Hoffnungsvoll begann ich, auf Englisch mein Problem zu schildern. Dann kam die zweite Hürde: «For english, call other number», wurde ich unterbrochen. Mir wurde eine neue Nummer diktiert. Die rief ich dann wieder an verschiedenen Tagen zu verschiedenen Zeiten an, bis ich schliesslich mein Anliegen auf Englisch zu Ende schildern konnte. Die dritte Hürde: Das sei ein Problem beim Zoll, dafür sei die Post nicht zuständig. «For costums, call other number». Also zurück zu Hürde eins.
Nicht normal für ein Paket
Irgendwann, viel, viel später, erreichte ich einen englischsprechenden griechischen Zollbeamten. Als ich ihm die ersten drei Ziffern meiner Tracking-Nummer vorgelesen hatte, wusste er bereits, wovon ich sprach. Ja klar, er kenne dieses Paket. Was ich damit wolle. «Wie bitte?» – «Was wollen Sie mit diesem Paket?» – «Zum Beispiel, dass es ankommt?» Ich wurde darüber aufgeklärt, dass der Warenwert des Pakets dermassen hoch sei, dass der oberste Zollbeamte entschieden habe, es nicht weiterzuversenden. Über 1000 Euro sei nicht normal für ein Paket.
Ich wollte den obersten Zollbeamten sprechen. Das ging leider nicht, aber der Mann am Telefon versprach, mit ihm zu sprechen. Eine Stunde später teilte er mir mit, dass der oberste Zollbeamte sich entschieden habe, das Paket gegen eine Zollgebühr von 150 Euro doch nach Leonidio zu senden.
Wertlose Kleider
Eine weitere Woche später stand ich erneut am Postschalter von Leonidio. Auf einem staubigen Regal hinter einem Mitarbeiter mit freundlich gelangweiltem Gesicht sah ich das Paket liegen. Verpackungsmaterial der Schweizer Post. Meine Nackenmuskulatur entspannte sich vor Erleichterung.
Das mache dann 156 Euro, meinte der Mitarbeiter. Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich diesen Preis nicht nachvollziehen könne. Dass meine Mutter ja bereits 80 CHF Versandkosten bezahlt habe und dass die Geräte in diesem Paket alle gebraucht seien und nicht etwa neu gekauft. Der Mitarbeiter deutete auf den Frachtbrief, der einen Warenwert von 1000 Euro anzeigte. Ein weiterer Mitarbeiter schaute ihm über die Schulter, beide jetzt mit weniger gelangweiltem Gesicht. Sie lachten. Ob ich denn nicht wisse, dass ich niemals den wirklichen Wert der Dinge in einem Paket angeben dürfe. Dass darauf hätte geschrieben werden sollen, es seien wertlose Kleider drin. So könnten sie leider nichts tun. Das sei Sache des Zolls. Aber fürs nächste Mal müsse ich einfach daran denken: Bei wertvollen Sachen niemals den wahren Preis angeben. Ich könne höchstens anrufen, meinten die beiden und deuteten auf die Nummer der Hotline der griechischen Post. Müsse ich aber selbst machen, sie seien hier wirklich nicht zuständig. Ich lehnte dankend ab und bezahlte.
AGB 4.4.6
Wenigstens habe ich jetzt meine Sachen, dachte ich und startete vorfreudig den Laptop. Es blinkten sofort verschiedene Farben auf und interessante Muster. Ein Netz aus feinsten Splitterlinien überzog das gesamte Display. Das Gerät hatte die Reise nicht überstanden. Unbrauchbar lag es auf meinem Bett.
Ich atmete einige Male tief durch und überlegte mir, wie ich das meiner Mutter (die sich seit einem Monat fast täglich erkundigte, ob das Paket jetzt endlich da sei) nervenschonend beibringen könnte. Ihre Empörung war gross. Die einzige Hoffnung, und deshalb war ja dieser Warenwert von 1000 Euro überhaupt zustande gekommen, war diese Versicherung. Die war ja genau für diesen Fall gedacht. Die Schweizer Post muss für diesen Schaden aufkommen. Dafür würde sie sorgen, aber ganz sicher, meinte meine Mutter. Sie schrieb sogleich eine E-Mail und erklärte den Sachverhalt. Die Antwort der Schweizer Post kam umgehend: «Danke für Ihre E-Mail. Wir bedauern, dass Ihre Sendung beschädigt angekommen ist. Für einen Laptop besteht jedoch laut AGB 4.4.6 seitens der Post keine Haftung.»
Die Geschichte beginnt da, wo die Segelflieger abheben. Da, wo sich viele Menschen vom Arbeitsalltag erholen und mit Hunden spazieren, sich sportlich betätigen. Und da, wo die Sonne an Sommerabenden von Westen her die Stadt Olten in ein aussergewöhnliches Licht hüllt. Das Gheid ist Oltens überhöhte Ebene, welche das natürliche Wasservorkommen der Kleinstadt hütet. Kaum jemand denkt an diesen Ort, wenn er daheim den Wasserhahn aufdreht und einen kräftigen Schluck nimmt. Alles, was Olten trinkt, kommt von ein und demselben Grundwasserträger. Wer vom Wasserschloss Schweiz spricht, denkt an die Alpen und die vielen Quellen. Sieht den Rhein, die Aare, die Rhone, den Inn und die zahllosen Seen vor sich.
Aber der Wasserreichtum der Schweiz liegt auch in der Tiefe. Zum Beispiel im Gheid. Da fliesst das Grundwasser, das von versickertem Niederschlag, dem Karstwasser aus dem Jura und infiltriertem Dünnernwasser gespiesen wird.
Der Pionier
Erst seit etwas mehr als einem Jahrhundert bildet das Grundwasser unsere Lebensgrundlage. In Olten war Louis Giroud jener Pionier, der 1902 das 15 Meter unter dem Gheid lagernde Dünnerngrundwasser mit dem ersten Pumpwerk erschloss. Noch heute zeugt der stattliche Bau von den Anfängen der Grundwasser-Entnahme. Mit hohen Fenstern und roten Fensterläden erinnert der Bau an ein Feuerwehrmagazin, das gar verloren in der Landschaft steht. Heute wirkt der Bau wie ein Prestigeobjekt aus der damaligen Zeit. Als habe die Stadt das moderne Werk manifestieren wollen.
Denn das Grundwasser-Pumpwerk löste die Quellwasserleitung vom Allerheiligenberg ab, welche die Stadt Olten Ende des 19. und anfänglich des 20. Jahrhunderts für kurze Zeit mit Wasser versorgt hatte. Wäre es nach dem Oltner Ehrenbürger Louis Giroud gegangen, hätte die Kleinstadt wohl schon früher aufs Grundwasser gesetzt. Bereits 1866 hatte Giroud eine mechanische Werkstätte in Olten gegründet, die unter anderem Pumpen und Wassermotoren produzierte. Später gehörte er zu den Mitbegründern des Elektrizitätswerks Olten-Aarburg, der nachmaligen Atel und heutigen Alpiq.
Giroud fehlte als Verfechter des Grundwassers lange der Rückhalt. Und dies, obwohl in trockenen Jahren in Olten Wasserknappheit normal war. Bei einem Bahnhofsbrand im Jahr 1896 musste die Feuerwehr tatenlos zusehen, weil das Löschwasser knapp war. Dieses historische Ereignis gab den Plänen des ETH-Ingenieurs in der politischen Debatte entscheidenden Schub.
Über ein Jahrhundert später haben wir uns bereits so sehr an das qualitativ hochstehende Wasser gewöhnt. Die Wasserversorgung ist im Zuge unseres Fortschritts selbstverständlich geworden. Sie steht sinnbildlich für unseren Wohlstand, der uns von den weniger entwickelten und wasserärmeren Weltregionen unterscheidet. Rund ein Viertel der Weltbevölkerung hat keinen regelmässigen Zugang zu sauberem Trinkwasser. 785 Millionen Menschen haben noch nicht mal eine Grundversorgung mit Trinkwasser.
Beat Erne am Cartier-Brunnen im Gheid.
Derweil sind Brunnen für uns heute mehr Zierobjekt als Nutzquelle. Das frisch gepumpte Grundwasser sprudelt bei den Hangars der Segelflieger im Gheid aus dem Cartier-Brunnen, der an den gleichnamigen Flugpionier erinnert. Wir treffen hier Beat Erne. Als wir telefonisch einen Termin vereinbarten, fragte ich ihn, wo sich die Grundwasser-Pumpwerke am besten sehen lassen. Ich wisse gar nicht, wo genau das Oltner Wasser entnommen werde. Das sei bewusst so, erklärte er mir. Da gäbe es oberirdisch gar nicht so viel zu sehen.
Die wohlbehütete Ebene
Als Geschäftsführer der Aare Energie AG (a.en), welche die Städtischen Betriebe Olten (sbo) operativ führt und somit die Stadt und mittlerweile auch weitere Teile der Region mit Energie und Wasser versorgt, verwaltet Erne gewissermassen das Erbe von Louis Giroud. Die a.en nimmt die Aufgabe als Hüterin unseres Wassers ernst, wie ich bald spüre. Mit misstrauischem Blick beobachtet Beat Erne, wie eine Frau mit ihrem Hund übers Gheidfeld zieht. «Wir möchten keine Kolibakterien im Grundwasser», sagt er.
Mit den Segelfliegern hat die Wasserversorgerin eine langjährige Vereinbarung abgeschlossen. Andere Nutzungen versuchen die städtischen Betriebe bestmöglich zu unterbinden. Sie würden nicht zulassen, dass die Gheidebene zur Picknickwiese würde. Die Tennisplätze im Gheid müssen in den nächsten Jahren ebenfalls ausweichen, weil sie in der 1998 definierten Schutzzone liegen. Der Tennisclub prüft derzeit – auch im Gheid ausserhalb der Schutzzone – Alternativen. Spätestens wenn der Baurechtsvertrag 2031 ausläuft, muss er eine Lösung gefunden und die bestehende Anlage verschoben oder zurückgebaut haben.
Die Ansprüche an den Grundwasserschutz haben über das letzte Jahrhundert hinweg zugenommen. Im Gheid lässt sich diese Entwicklung an den Pumpwerk-Bauten ablesen. Deren vier sind heute im Gheid in Betrieb. Auf den auffälligen Bau von Louis Giroud folgten 1946 zwei weitere Pumpwerke. Die Aare Energie AG sanierte sie eben erst komplett und stattete sie mit einer Photovoltaikanlage aus. Wie gut getarnte Einfamilienhäuser stehen sie von Hecken umgeben und sicher umzäunt mitten in der Gheidebene. Von den beiden neusten Pumpwerken aus den 90er-Jahren ist aus der Ferne kaum was zu sehen. Ein begrünter Schutzwall verdeckt die Betonbauten, deren Architektur an den Kalten Krieg erinnert.
Erst Nitrat, dann Chlorothalonil …
Es ist wie bei einem Eisberg. An der Oberfläche sehen wir nur einen kleinen Teil des Systems. Aber wir verstehen es immer besser, die Geheimnisse unseres in den Tiefen lagernden Wassers zu entschlüsseln. Parallel zum technischen Fortschritt wuchs seit Giroud der Druck auf die Natur. Nicht nur durch die Landwirtschaft. Die Siedlungen wuchsen ins Grün hinaus und bedingten Abwasserleitungen, Strassen und andere Infrastrukturen. All dies gefährdet das Grundwasser und führte zu Schutzzonen um die Wasserfassungen.
Gleichzeitig sind die strengen Schutzauflagen dadurch getrieben, dass wir immer genauer messen können, was in unserem Wasser drin ist. Und auch besser wissen, wie sich die Grundwasserströme verhalten. «Wie wir anhand der Nitratwerte sehen konnten, ist das Wasser sehr langsam unterwegs. Es dauert lange, bis es vom Gäu nach Olten kommt», sagt Beat Erne. Das vom Menschen als Dünger ausgetragene Nitrat verursacht erhöhte Werte im Trinkwasser. Wie Forscher nachweisen konnten, führt das Nitrat zu einem erhöhten Risiko für Darmkrebs, wenn es im menschlichen Körper verstoffwechselt wird.
Seit den 80er-Jahren ist die erhöhte Nitratkonzentration bekannt. Trotz Massnahmen sind die Werte im Mittelland aber vielerorts noch immer überhöht. In Olten liegt er nach langjährigen Bemühungen der Nitratkommission Gäu-Olten nahe am Zielwert und deutlich unter dem Toleranzwert. «Nitrat ist auch ein Indikator, wie stark das Trinkwasser durch die Landwirtschaft beeinflusst wird», erklärt Erne. «Auch deshalb wird das Trinkwasser engmaschig auf Nitrateinträge kontrolliert.»
Vor zwei Jahren gelangte ein neuer Stoff in den Fokus: das Pflanzenschutzmittel mit dem komplizierten Namen Chlorothalonil. Das Mittel schützt Gemüse vor Pilzbefall und wurde in der Landwirtschaft seit den 1970ern eingesetzt. Erst 50 Jahre später wissen wir, dass der Abbaustoff «wahrscheinlich krebserregend» sein soll, wie der Bund 2019 kommuniziert hatte. Seit vergangenem Jahr ist das Pestizid verboten. Im Schweizer Lebensmittelrecht ist ein Höchstwert für die «relevanten» Abbaustoffe von 0,1 Mikrogramm pro Liter festgehalten.
Diese Menge entsprach zunächst dem tiefst messbaren Wert. Heute können die Labors bereits tiefere Gehalte nachweisen. Die Metaboliten dürften aber erst ab einer deutlich höheren Konzentration gesundheitsgefährdend sein. Vom Chlorothalonil-Produzenten, dem Agrochemiekonzern Syngenta, kam nach dem Verbot Widerstand: Er legte gegen das Verbot des Fungizids Beschwerde ein. Solange das Verfahren hängig ist, dürfen die Metaboliten derzeit nicht als toxikologisch relevant bezeichnet werden, wie das Bundesgericht im Februar verfügte.
Einmal da, kaum wegzukriegen
Auch oder gerade weil die schädlichen Stoffe nicht sichtbar sind, vertrauen viele nicht mehr bedingungslos auf unser Grundwasser. Die Bevölkerung ist sensibilisiert. Eine breite Debatte zur Frage, wie sauberes Wasser und Pflanzenschutz sich vereinen lassen, entbrannt. Forderungen nach Pestizidverboten wurden lauter und kommen im Juni mit den sogenannten Agrarinitiativen gleich doppelt an die Urne. Die eine will synthetische Pestizide verbieten. Die andere will, dass nur noch jene Landwirte staatliche Direktzahlungen erhalten, die ohne Pestizide produzieren, Antibiotika nicht präventiv einsetzen und ihre Tiere mit auf dem eigenen Hof produziertem Futter ernähren.
«Es wird Jahre dauern, bis die Pestizidverbote eine Wirkung haben», sagt Beat Erne im Gheid. Er spricht aus Erfahrung mit den Nitratwerten und dem Wissen über die langsamen Grundwasserströme. Die Aare wirkt dabei wie eine Staumauer auf das Grundwasserbecken Richtung Gäu. «Bei Niedrigwasser in der Aare ist es wie eine Schleuse, die sich öffnet, und bedeutend mehr Grundwasser geht in die Aare», erklärt Erne.
Die Reserven des Dünnerngrundwassers sind immens. Und wo die Dünnern in die Aare übergeht, da beginnt im Untergrund auch das Aaregrundwasser, welches noch mächtiger ist und sich durchs Niederamt bis nach Aarau erstreckt. Zusammengefasst zählen die Grundwasservorkommen in der Region Olten zu den grössten des Mittellands. Nur rund zehn Prozent der Wasserreserven, die im Gheid lagern, pumpt die a.en ab. Eine komfortable Situation. «Das Gheid-Grundwasser ist ein blauer Schatz, zu dem es Sorge zu tragen gilt», sagt Erne.
Quelle: Kanton Solothurn
Trotzdem ist die Versorgungssituation aus Sicht des Kantons nicht optimal. Denn Olten und die Nachbargemeinden hängen zu sehr vom Dünnerngrundwasser im Gheid ab. Im Bedarfsfall könnten die städtischen Betriebe zwar das stillgelegte Pumpwerk Dellen in Trimbach reaktivieren. Dieses liegt mitten im Siedlungsgebiet und nicht mehr in einer Grundwasserschutzzone. Da das Wasser im Aaregrundwasser gefasst wird, würde das Pumpwerk eine Ausweichmöglichkeit bieten, sollte das Gheidgrundwasser verunreinigt sein.
Wie fragil das Wassersystem ist und wie sehr der Kanton Vorsicht walten lässt, zeigte sich 2012, als der Kanton die Dünnern zwischen Wangen und Olten auf einem Abschnitt revitalisierte. Der Kanton kompensierte mit dem naturnah gestalteten Flusslauf die neu erbaute Entlastungsstrasse Region Olten (ERO). Nach erfolgtem Baustart und einem Dünnernhochwasser befürchteten die Behörden, Dünnernwasser könnte das Grundwasser im Gheid beeinträchtigt haben. Obwohl sich dies durch umfangreiche Untersuchungen und einen vorübergehenden Baustopp widerlegen liess, verschob der Kanton die zweite Etappe der Dünnern-Revitalisierung auf den übriggebliebenen 300 Metern Richtung Wangen. Erst wenn Olten nicht mehr vom Grundwasser im Gheid abhängig ist, wolle man den zweiten Teil revitalisieren, verkündete der Kanton daraufhin.
Wie diese Abhängigkeit brechen? 2016 stellte der Kanton den regionalen Wasserversorgungsplan für die Region Olten-Gösgen vor. Das Schlüsselwort des Papiers: Versorgungssicherheit. Sicherstellen will der Kanton diese mit einer Transportleitung, die von Aarau bis ins Gheid reicht. Dadurch hätte die Region Aarau flexiblen Zugang zum Dünnerngrundwasser – und die Region Olten im Gegenzug zum Aaregrundwasser.
Jedem Dorf sein eigener Wasserhahn
Der Kanton ist jedoch primär für Kontrolle und Strategie zuständig – die Versorgung ist seit dem frühen 20. Jahrhundert Sache der Gemeinden. Der Kanton beteiligt sich an regionalen Projekten finanziell mit bis zu 35 Prozent. «Wir versuchen die Türen zu öffnen», sagt Rainer Hug vom Amt für Umwelt. In seiner Position ist Diplomatie gefragt. Fördern statt fordern sei sein Credo. Denn die Wasserversorgung ist eine politisch emotionale Sache. Gerade im Niederamt haben viele lokale Trägerschaften – zum Teil auch Bürgergemeinden – die Wasserversorgung in den Händen. Den Dörfern ist die Autonomie wichtig. Für eine Transportleitung, wie sie der Kanton vorsieht, ist Einigkeit gefragt.
«Wir möchten bewusst nicht den Lead übernehmen, weil ein gutes Einvernehmen besteht und wir gegenüber den kleineren Wasserversorgern nicht dominant auftreten möchten», sagt Beat Erne auf unserem Spaziergang durchs Gheid. Dass eine Vernetzung sinnvoll ist, steht für ihn ausser Frage. Obwohl sich zeigte, dass beispielsweise das Chlorothalonil-Problem durch den Verbund alleine nicht gelöst würde. Die Abbaustoffe sind im Aaregrundwasser nur unwesentlich weniger ausgeprägt vorhanden als im Gheid. «Wir können uns momentan überlegen, wo auf Oltner Boden es möglich wäre, unseren Teil der Leitung zu legen», sagt Erne.
Beat Erne vor den neusten zwei Pumpwerken im Gheid, die von einem Sicherheitszaun geschützt sind.Bruno Eng vor dem Pumpwerk, das im idyllischen Schachen fast ein wenig an eine Kapelle erinnert.
Von der Transportleitung abgesehen, beinhaltet die regionale Wasserplanung des Kantons zwei neue Grundwasserpumpwerke. Eines haben die Gemeinden Schönenwerd und Gretzenbach im Aarefeld bereits realisiert. Das andere ist im Obergösger Schachen vorgesehen. Wir treffen Brunnenmeister Bruno Eng in der Obergösger Industriezone gleich neben der alten Aare, wo er die eigene Maschinenbaufirma führt. In Sichtdistanz ist quer übers Feld neben dem Aarekanal das idyllisch im Wald eingebettete Pumpwerk zu sehen. Seit bald dreissig Jahren schon betreut Eng die Anlage im Dienst der Bürgergemeinde.
In wenigen Jahren läuft die Konzession für das Pumpwerk aus und der Kanton wird sie nicht verlängern. Das Pumpwerk erfüllt die nach neustem Stand geltende Schutzzone nicht mehr, die Siedlung ist zu nah. Sie liegt im Grundwasserstrom, der vom Jura her kommt, wie Eng uns anhand der Karte beim Pumpwerk erklärt. Die neue Grundwasserfassung ist rund 300 Meter weiter südlich geplant, mitten auf dem Feld. Das sei der letzte freie Fleck, auf dem sich eine Schutzzone nach heutigen Massstäben einhalten liesse.
«Wir haben sehr mineralhaltiges Wasser, da sind bestimmt nicht weniger Mineralien drin als im Lostorfer Quellwasser», sagt er nicht ohne Stolz. Auch am hohen Kalkgehalt im Wasser lässt sich die Nähe zum Jura ablesen – die Pumpen sind von den weissen Rückständen gezeichnet. Bruno Eng öffnet den Schacht und leuchtet in die Tiefe hinunter. Ob denkbar wäre, dass Obergösgen auf ein neues Pumpwerk verzichtet und sich dem Aarefeld anschliesst, frage ich. «Halt, wir wollen eine eigene Wasserversorgung haben», sagt er sogleich. Sich zu vernetzen, erachtet aber auch er als sinnvoll. So bedient Obergösgen etwa auch Lostorf mit Wasser.
Bezüglich der Transportleitung nach Olten vertritt er eine klare Haltung: «Es kann nicht sein, dass wir Wasserversorger diese Leitung bauen müssen. Sie müsste über die Wasserbezüger finanziert werden», spricht er im Namen der Bürgergemeinde. Er fordert denn auch eine eigene Netz AG. Und hat noch eine kühne Idee. Weshalb die Leitung nicht einfach in den Kanal oder gar in die Aare legen? Somit müsste nicht aufwendig der Boden aufgerissen werden und die Kosten fielen wesentlich tiefer aus.
Alles hängt zusammen
Fünf Jahre sind ins Land gezogen, seitdem der Kanton die regionale Wasserplanung präsentierte. «Sie gilt noch immer als Leitlinie», sagt Rainer Hug vom Amt für Umwelt. Durch die Chlorothalonil-Problematik hätten sich die Prioritäten bei den Wasserversorgungen kurzfristig verschoben. Aber für Hug ist klar: «Die Transportleitung ist unumgänglich, um künftig bei ähnlichen Herausforderungen besser gewappnet zu sein.» Bis die Verbindung realisiert wird, dürften aber noch einige Jahre verstreichen.
Parallel plant der Kanton derzeit das Projekt «Lebensraum Dünnern Oensingen bis Olten, Hochwassserschutz und Aufwertung». Die ausbleibenden 300 Meter gegen Wangen hin seien darin enthalten, erklärt Projektleiter Roger Dürrenmatt am Telefon. Frühestens 2030 könnten die Bauarbeiten an der Dünnern beginnen. «Primär ist es ein Hochwasserschutzprojekt», betont Dürrenmatt. Im Zuge dessen wird die Dünnern zugleich auf den 19 Kilometern etappenweise naturnah aufgewertet. Unabhängig davon, welche der beiden Hochwasserschutz-Varianten umgesetzt würde. Das eine Konzept sähe eine grosse Hochwasser-Rückhaltegrube südlich von Oensingen vor – das andere bauliche Anpassungen am Dünnerngerinne, die ein «Durchleiten» eines Jahrhunderthochwassers bis nach Olten in die Aare erlauben.
Kaum noch Lebensraum: Die kanalisierte Dünnern in Olten, kurz bevor sie in die Aare mündet.
Herausforderung Klimawandel
Am Ende brauche es eine «politisch austarierte Lösung», sagt Dürrenmatt. Auch hier ist vom Kanton Diplomatie gefragt. Denn die Ansprüche sind ungemein vielfältig. Die Landwirtinnen befürchten durch den naturnahen Ausbau des Flussbetts grössere Landverluste. Umweltverbände fordern einen grosszügigen Ausbau im Sinne der Biodiversität. Und zugleich gilt es, für das Projekt den Spagat des Klimawandels zwischen den Extremereignissen zu bewältigen.
«Jene Tage, an welchen die Dünnern wenig Wasser hat, machen viel mehr aus als die Hochwasser-Ereignisse», sagt Dürrenmatt. Darum brauche es auch eine Niederwasserrinne, um einen konzentrierten Abfluss bei geringer Wassermenge sicherzustellen. Seit der Melioration – also der Kanalisierung der Dünnern – in den 40er-Jahren gab es keine grösseren Hochwasser mehr im Gäu. Und doch plant der Kanton ein derart umfangreiches Hochwasserschutzprojekt? Roger Dürrenmatt erklärt die Wahrscheinlichkeit für ein Jahrhunderthochwasser mit einem Bild. «Es ist wie Würfeln mit hundert Seiten. Du kannst achtzig Jahre daran vorbeiwürfeln, aber irgendeinmal kommt das Hochwasser. Und dann müssen wir unsere Hausaufgaben erledigt haben.»
Dem gegenüber stehen lange Trockenphasen, wie die Klimamodelle sie prognostizieren. Ab 2060 muss der Kanton im Gäu mit einer negativen Wasserbilanz rechnen. Könnte die Landwirtschaft, wenn dieser Fall eintritt, womöglich auf die reichen Grundwasserreserven zurückgreifen? «Momentan ist dies noch keine Option», sagt Rainer Hug vom Amt für Umwelt. Die Trinkwassernutzung hat Priorität. Zudem will der Kanton zunächst untersuchen, wie sich die Grundwassermengen künftig entwickeln könnten und wie gross der Wasserbedarf der Landwirtschaft sein könnte. «Es sollten nicht mehr als zwischen zwanzig und dreissig Prozent des Grundwassers entnommen werden, um die Reserven langfristig nicht zu übernutzen», sagt Hug. Noch sind unsere natürlichen Reservoirs weit mehr als halbvoll.
Sie sind farbig, kommen in Gruppen und machen einen Höllenlärm: Brüssels Papageien. Ja genau, Papageien. Tausende davon gibt es in der belgischen Hauptstadt. Ihre korrekte Bezeichnung lautet «Psittacula krameri» oder zu Deutsch «Halsbandsittich». Eigentlich leben die giftgrünen Vögel mit dem roten Schnabel in Subsahara-Afrika oder in Indien. Aber auch im Innenhof, auf den ich von meiner Terrasse blicke, gefällt es ihnen vorzüglich. Im Winter bauen sie grosse Nester in die Bäume. Und jetzt, wo es wieder wärmer wird, schiessen sie wie Pfeile durch die Luft.
Aber wie geht das, dass in Brüssel eine Papageienkolonie entstehen konnte? Die Antwort kommt in Form einer Geschichte, an der man so einiges ablesen kann über das Land Belgien, die Lebensart seiner Bewohner oder eben die sogenannte «Belgitude».
In den 70er-Jahren fand der junge Direktor eines Brüsseler Zoos, die Stadt könne einen etwas bunteren Anstrich vertragen. Inspiriert durch das Lied «La Cage aux Oiseaux» («Der Vogelkäfig») des französischen Sängers Pierre Perret («Ouvrez, ouvrez la cage aux oiseaux, regardez-les s’envoler c’est beau»), entschied er sich, gegen vierzig Papageien die Freiheit zu schenken. Am Anfang versuchte man noch, sie an den Zoo zu binden. Man stutze ihnen die Flügel oder schmierte sie mit Schwarzseife ein. Doch schon bald zeigte sich, dass sich die freien Vögel nicht mehr halten liessen. Sie schwärmten aus in die Stadt und kamen nie mehr zum Zoo zurück.
Anders als angenommen fanden sich die Papageien mit dem belgischen Klima gut zurecht. Ungefähr 9000 leben heute in der Stadt. Das wirft natürlich Fragen der Biodiversität auf: Verdrängen die bunten Einwanderer die angestammten Populationen? Nehmen sie den heimischen Vögeln das Fressen und die Nistplätze weg? Nein, meint entschieden die lokale Tier- und Naturschutzorganisation Natagora. Die Halsbandsittiche würden sehr gut mit den belgischen Vogelarten koexistieren. Die Frage komme bloss immer wieder auf, weil die Papageien mit ihrem grünen Gefieder so auffallen. Insofern trage die Debatte Züge der «Bio-Xenophobie».
Wie dem auch sei: Die Brüsseler Papageien haben längst auch ihr literarisches Denkmal erhalten. In «Les Perroquets de la Place d’Arezzo» («Die Liebenden der Place d’Arezzo») erzählt der französische Schriftsteller Eric-Emmanuel Schmitt die vielfältigen Liebesgeschichten und Affären der Anwohnerinnen rund um einen Platz im Brüsseler Nobelviertel Uccle, der auch von Papageien bevölkert wird. Ich habe das Buch nicht gelesen. Auf unsere Papageien übertragen aber könnte die Botschaft lauten: Ob grün oder gelb oder was auch immer – in Brüssel sind sie alle willkommen.
*Remo Hess (35) lebt und arbeitet seit 2016 als Journalist in Brüssel.
Boxer was waiting for me at my front gate. His turban had turned from white to a pale blue in the evening twilight.
“Charles, I have been with the police commissioner all afternoon. I have permission to tell you what we have discussed.”
“Must I promise to tell no one, living or dead? Just give me a quick summary, if it will keep you from bursting.”
“This is serious, Charles. That is why I have been consulted. Obviously, a woman has been murdered. We know only certain characteristics about the killer, which I am NOT allowed to disclose. The rest of the story I may divulge, however. The building doors were not locked that afternoon, and there was no doorman, no patrol before the curfew hour. The guard who checked later said that the outer doors were locked. The victim had a key.”
“What about the hotel staff? No one wondered where she was?”
“There is a night entrance which she had used each night before. She did not appear for breakfast, obviously, and her bed had not been slept in. The police do not think she returned to the hotel before she was killed.”
“That’s enough for now, Boxer. I need a clear head for tomorrow.”
“Oh? Why? If I might ask.”
“I’ve got a Zoom meeting with colleagues from work, and I must look sharp – and be sharp.”
“And I must look for something sharp – I am ready to scalp this awful hair off my head.”
The Zoom meeting went well, and I was set to head over to Boxer’s house, when I saw him waving at me from the old woman’s window across the street. Both had facemasks on, but Boxer was not turbanned as usual. The woman’s husband was the third in the trio of wavers. Boxer signalled for me to wait, and I soon heard the doorbell.
“Charles! Look at my beautiful haircut! Is it not a marvel of shapeliness? But – I must ring the police as soon as I tell you – I have solved the murder! And all thanks to the hairdressing skills of the old couple across the way. But I think you would enjoy coming along, being in on the kill. Be ready!”
Boxer had telephoned the police, who had notified the KOLT staff to return to work the next day. I had heard only whispers as I tried to listen in. Three police cars pulled up to our houses that next afternoon, and we all headed to Postgasse, where the KOLT entrance was.
The staff were all there, the police commissioner taking charge of the meeting. We were all excitedly nervous, but only Boxer and I knew that one of the staff was the killer.
“I have here the murder weapon – this quite magnificent pair of paper shears. I have also a sheet of magic paper, which will reveal the murderer – or murderess.”
Paul, the editor-in-chief, laughed nervously. “Magic paper, eh? Perhaps we should print KOLT on it in future.”
“We shall see, sir. Now, if you would like to go first – just cut a thin strip off the sheet of paper with these scissors. That’s right. Good. Now, you next. Good. And now you. Fine. And you, Miss?”
Maggie dropped the paper and looked ready to faint. Adrian picked the sheet up and handed it to her. She cut the next strip of paper off. The sheet was getting smaller at each cut. Then only Adrian had still to cut the paper.
But something was wrong. He couldn’t do it. The scissors didn’t cut. Instead they merely folded the paper.
The commissioner spoke up. “Oh, I’m sorry! My fault. We’ve been using the wrong scissors. These here are the murder weapon.” And he pulled out an identical pair (well, nearly identical) and told Adrian, “Here, you try these, Mr Portmann.” Two policemen appeared at the door. Adrian hesitated, sweat beading his brow. Finally, he took the second pair of scissors and cut a strip from the sheet quite easily.
Adrian still held the weapon in his hand. His eyes widened as he calculated the risks he could take. Then he dropped the scissors to the floor with an exhausted sigh. Maggie moved over to Paul and put her hand in his, whispering, “I thought you had done it.”
* * * *
“Now, where was I?” Boxer had broken off his monologue to refill my glass.
“Getting your hair cut.”
“Oh, yes. Did you know that both Herr and Frau Etz from across are retired hairdressers?”
“How did you find that out?”
“I saw him outside with a new haircut, and I asked where he had it done. He said his wife cuts his hair and he cuts hers. Needless to say, I booked an appointment on the spot. They were ever so friendly. And, do you know what?”
“What?”
“Charles, do you remember when Frau Etz waved back at you last month? What hand was she using?”
“I don’t remember that much detail.”
“Well, it was her left hand. She is left-handed. You see, she had put down her scissors when doing my hair, and her husband wanted to take a snip, but he couldn’t use her scissors. She has left-handed scissors, and he’s right-handed.”
“I think I see. Go on.”
“That one clue the police had to go on in the murder was that the stab wound to the neck was inflicted by a left-handed action, given the angle, the position, and so on. So, I had the police check the weapon, and they were indeed left-handed scissors.”
“So, the murderer was Frau Etz in disguise?”
“Charles! I think your brain needs a trim. Do be serious. Oh dear. Now I cannot get that image of Frau Etz out of my head.”
“I’m sorry, Boxer. Shall I try to figure out the rest? Left-handed fatal stab, by left-handed killer, with left-handed scissors. And all the police needed, in order to extract a confession, was to expose a left-handed KOLT staffer.”
“Excellent, Charles! And Adrian was obviously left-handed. Think of some of the victim’s complaints about his office – lamp on the wrong side, pencil sharpener, as well. Books arranged oddly, things turned around. None of these details is conclusive alone, but added together, they pointed to sinistrality.”
“But what was the motive?”
“Irma Schuh, alias Carolina de’Longhi, had been blackmailing Adrian for years over an earlier matter of bigamy. He had been trying to get her to stop and took every chance he could to be near her. Evidently, this time she taunted him to breaking point.”
“But that makes no sense, Boxer.”
“A mind full of revenge and lust for control is not always a sensible mind. He had returned to the office thinking only to convince her to stop the blackmail. Instead, she laughed in his face and left the office. He went into a rage and picked up the scissors and stabbed her from behind.”
“But what about fingerprints?”
“Adrian was smart enough not to wipe them off. Of course his fingerprints were on the scissors – they were his. Not premeditated murder, no, but meditated, nonetheless – contemplated, shall we say.”
“A cowardly thing to do!” “Perhaps, but we all have a breaking point, Charles. Now, shall I trim your hair for you?”
David Pearce ist ein Schweizer Schriftsteller, wohnt seit 2000 in Olten und hat amerikanische, englische und französische Wurzeln. Er schreibt auf Englisch Kurzgeschichten, Romane und Theaterstücke.
Er schrieb und sang «Lieder für Kinder und solche, die es werden wollen». Christian Schenkers Texte erzählten unmittelbar aus der Lebenswelt der Kinder. Von Hexen, der Eisenbahn, Zappelfischen, dem Holzwurm und dem Bücherwurm. Aber auch von den Lebensphasen: «Du muesch & i wott», «Das bruuch i no!». Kleine Episoden, die viele Menschen berührten und an die eigenen unbeschwerten Kindertage erinnerten.
Seine ersten Kinderlieder schrieb Christian Schenker 1992 während seiner Ausbildung zum Kindergärtner. Mit seiner immensen Schaffenskraft schuf er während seiner Laufbahn elf Alben, trat auf unzähligen Bühnen auf. In dem Dorf, in dem er jeweils spiele, werde er quasi über Nacht berühmt – während man zehn Kilometer weiter noch nie etwas von ihm gehört habe, erzählte Christian Schenker, als das Kolt ihn 2014 porträtierte.
Er war Antirockstar. Fasnächtler. Familienmensch. Und vielen in der Region ein guter Freund. Isabelle Bitterli* und Ruedi Studer** waren zwei seiner Wegbegleiter. Sie haben zum Gespräch zusammengefunden und sich an die gemeinsamen Momente erinnert.
Isabelle Bitterli: Wenn ich an Christian denke, kommen mir spontan seine Kreativität und Ehrlichkeit in den Sinn. Als ich ihn zum ersten Mal im Schulzimmer sah, fiel er mir durch seine Haarpracht, die grossen Augen und den blauen Pulli mit Snoopy-Motiv auf. Immer trug er einen Snoopy-Pulli. Kommt der Name Snupi eigentlich davon?
Ruedi Studer: Ich habe ihn einfach als Snupi kennengelernt. Den Spitznamen hatte er schon an der Bez in Hägendorf bekommen.
Er hatte ja viele verschiedene Namen. Er war der Chregu, Chregi, Christian und für die alten Freunde der Snupi. Die vielen Namen spiegeln eigentlich auch seine Vielseitigkeit. Fast jede Gruppe gab ihm einen anderen Namen. Nicht?
Ja, und als er ein Jahr lang mit der internationalen Musical-Truppe von Up with people rumtourte, war er der Chris. Im Musical spielte er übrigens einen Bösewicht – das Gegenteil davon, was er im echten Leben war. Da war er einfach ein toller und geselliger Typ, der gerne Menschen um sich hatte. Und viele waren gern um ihn.
Tatsächlich, hatte ich fast vergessen! Als ich damals die Show sah, war ich schockiert, fast enttäuscht von ihm. Das Bild von diesem Fiesling, das er dort auf der Bühne spielte, passte so nicht zu seiner Art, dass ich es fast nicht akzeptieren konnte. Aber gerade das passte eben wieder zu seiner Professionalität auf der Bühne. Die Reise mit Up with people hat ihm auch sehr gefallen, weil er sehr viele Menschen und Kulturen kennenlernen konnte. Das hat ihn immer sehr interessiert. Du bist oft mit ihm gereist, oder?
Ja, vor allem in den 1990er Jahren waren wir in ganz Europa unterwegs – oft mit Interrail. Und wo lernt man Menschen und Kulturen kennen? In Bars und Beizen! Da musste ich jeweils ein bisschen gegensteuern, weil ich mir auch Sehenswürdigkeiten angucken wollte. So haben wir uns ergänzt, er als Partymacher und ich als Reiseführer. Er hatte immer die Gitarre mit dabei und ich den Fotoapparat. Und mit Strassenmusik haben wir uns die Unterkunft verdient. Womit wir bei seiner Musik wären …
Musik war immer im Mittelpunkt. Was mich als Teenager schwer beeindruckt hatte, war seine gigantische Sammlung an Kassetten und Schallplatten. Die Kassetten standen fast meterlang in einer Reihe, zweistöckig! Er kannte jede Band, jedes Lied. Und er konnte das meiste auch nachspielen und nachsingen. Seine Gitarre war natürlich immer dabei. Ging man an die alte Aare, packte er die Gitarre aus, noch bevor Holz für das Feuer gesammelt war. Geselligkeit, gemütliches Beisammensein, das war ihm wahnsinnig wichtig. Zeit mit Freunden verbringen. Zelten gehen, Party, Openairs. Schlafen war Nebensache.
Also früher konnte er überall schlafen – in Genf sogar mal in einer Telefonkabine. Schlaflos war er aber an der Fasnacht! Da feierte er glaub einfach eine Woche durch. Ich bin nicht so der Fasnächtler, deshalb kann ich da nicht so viel erzählen. Ich weiss nur, mit Gitarre und Gesang hat er rund um die Uhr für Stimmung gesorgt. Nach der Fasnacht konnte er kaum mehr reden. Er war auch ein super Verslibrünzler – bei den Schnitzelbänken oder ganz spontan. Auch auf jeder Ferien-Postkarte hat er in Versform von seinen Erlebnissen erzählt. Für die Höckeler-Zunft war er der logische Obernarr – und es tut weh, dass er diesen Job nicht mehr übernehmen kann.
Ja, das ist wirklich enorm schade. Nicht nur für die Oltner Fasnacht, sondern auch für ihn. Er hat sich wahnsinnig darauf gefreut. Wer kann schon einfach so aus dem Stegreif singend Verse dichten! Die Fasnacht hat vieles vereint, was ihm wichtig war. Freundschaft, Musik, Kreativität und Geselligkeit. Er war auch oft kaum zu stoppen vor Enthusiasmus. Als die Höckeler einmal im Salmen waren, fühlte er sich von der Stimmung so angetan, dass er musizierend über einen langen Tisch laufen wollte. Ich konnte ihn gerade noch rechtzeitig davon abhalten. Ihn zu stoppen, war immer schwierig, auch auf der Bühne. Er hatte unglaublich Spass daran, die Leute zu unterhalten. Er war auch wirklich mitreissend.
Das können Zehntausende Kinder, Eltern, Göttis und Gotten hierzulande bezeugen. In der breiten Öffentlichkeit ist er ja als Kinderliedermacher bekannt. Ich finde einfach toll, dass für ihn die Kindermusik nicht einfach ein bisschen Trallala war, sondern dass er den Kindern coole Musik mit den verschiedensten Stilen und mit Supermusikern geboten hat. An seinem letzten Weihnachtskonzert war auch mein über 80-jähriger Nachbar mit dabei. Der war völlig begeistert.
Die Weihnachtskonzerte waren legendär. Rockig und manchmal mystisch zugleich. Meine Kinder singen manchmal noch mit ihren 20 beziehungsweise 17 Jahren einfach plötzlich seine Kinderlieder und wundern sich über die musikalische und pädagogische Qualität seiner Ohrwürmer.
Er hat ja auch immer zuerst den Text geschrieben und erst danach die Melodie. Der Inhalt war ihm enorm wichtig und doch war es niemals lehrmeisterhaft.
Einmal kam er am Tag nach einer CD-Taufe vorbei und wollte mir unbedingt etwas ab Band vorspielen. Er hatte während des Konzerts ein Mikrofon von der Decke hängen, dabei konnte man die Stimme einer Mutter hören, die mit ihrem Kind sprach, das offenbar müde war und heim wollte. Man hörte sie sagen: «Oh, du bist müde? Möchtest heimgehen? Dem Mami gefällt es aber gerade so gut, wir bleiben jetzt noch ein wenig, gell.» Wir waren zu Tränen gerührt, das war ein unheimliches Kompliment.
Er hat seine Musik wirklich gelebt und sehr professionell betrieben. Nahm sich endlos Zeit für die Verhandlungen mit Plattenfirmen, er wollte sich niemandem verkaufen und sich nicht einschränken lassen. Das war nicht immer einfach, aber hat sich für ihn ausgezahlt, er hat lieber auf Versprechungen verzichtet, um sich treu zu bleiben.
Genau. Er hatte bei dem, was ihm wichtig war, eine bewundernswerte Ernsthaftigkeit und Ruhe – eine Seite, die viele von ihm wahrscheinlich gar nicht so kennen.
So auch im Familienleben. Er war ein unglaublicher Familienmensch. Seine Frau Béatrice und seine zwei Töchter Malou und Yaël waren sein Zentrum. Er war so ein stolzer Papi. Und wie stark der Familienzusammenhalt im Schenker-Bonjour-Clan ist, hat sich während seiner Krankheit gezeigt. Das lässt sich gar nicht in Worte fassen. Oder kannst du es?
Als überwältigend habe ich den Zusammenhalt und die gegenseitige Fürsorge empfunden. Er war ein so liebevoller und engagierter Familienvater wie treuer Freund fürs Leben, all diese Hände haben ihn getragen und sind auch jetzt noch füreinander da, das ist schon wahnsinnig schön. Denn begreifen kann man es irgendwie noch immer nicht. Denn egal wo man war, er ging immer als Letzter. Ausser im richtigen Leben, hier war er von uns allen einer der Ersten. Das passt einfach nicht.
Auf jeden Fall kann man sagen, dass er sein Leben intensiv und tatsächlich nach seinen Wünschen gelebt hat. Kaum einer lebte so im Hier und Jetzt wie er.
Nebst den schönen Erinnerungen und der Musik ist das etwas, was wir von ihm mit in unser Leben nehmen sollten. Jeden Tag auskosten, unseren Traum leben und geniessen. Wer weiss, wann es der letzte ist.
* Isabelle Bitterli wurde in Olten als Gastronomin im eigenen Restaurant Salmen bekannt. 2020 verliess sie die Gastronomie, um in ihre alte Berufswelt (Werbung/PR) zurückzukehren.
** Ruedi Studer arbeitet als Bundeshausredaktor für die Blick-Gruppe und wohnt in Olten.
An einem Mittwochabend kurz vor den Wahlen wars ein kräftiger Westwind, der die Unterführungsstrasse hochblies. Trotzdem waren die bunten Stühle auf dem Trottoir vor dem Galicia fast alle besetzt. Bei einem Glas Bier dies und jenes zu besprechen, hatten viele vermisst.
Im leichten Rausch liessen sich die giftigen April-Böen ein bisschen besser ertragen. Noch besser gings jenen, die – wie wir – einen windgeschützten Platz ergattert hatten. Zwei Unbekannte gesellten sich an unseren Tisch. Bald waren wir bei der Lokalpolitik angelangt. Sie würden beide nicht wählen gehen, erklärten sie. «Ich lebe erst seit gut zwei Jahren in Olten, ich kenne die Menschen nicht», sagte sie. Er pflichtete ihr bei. Wir beliessen es für den Moment dabei und versuchten nicht, sie zu überzeugen, ihr demokratisches Recht wahrzunehmen. Und prosteten einander zu.
Wählen tut, wer die Menschen kennt
Als am Sonntag darauf die Wahlresultate vorlagen, erinnerte ich mich an die beiden Nichtwählerinnen an unserem Tisch. Denn da war wieder diese Zahl, an die wir uns längst gewöhnt haben. Die aber aufzeigt, dass ich mich in einem nicht repräsentativen Umfeld bewege. Und die eben auch viele Fragen aufwirft: Nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung nimmt auf kommunaler Ebene ihr Wahlrecht wahr. Dabei lag die Stimmbeteiligung dieses Jahr mit 43 Prozent so hoch wie lange nicht mehr. Trotzdem müssten wir uns als Stadt die Frage stellen: Wie können wir die Menschen abholen, die sich nicht beteiligen? Ja, wir sind nicht die ersten, die diese Frage aufwerfen. Aber auf kommunaler Ebene liessen sich Lösungen ausarbeiten.
Nach der Wahl ist vor der Wahl. Ist der Stadtrat bestimmt, geht’s in Olten noch ums Stadtpräsidium. Aus fünf mach eins, heisst es dann. Aus dem Kreis der gewählten Stadträtinnen muss der Stapi kommen. So will es die Gemeindeordnung. Ein lukratives Vollamt (bei ca. 240’000 Franken Jahreslohn) – für das die Person, die gewählt wird, ihren bisherigen Job aufgeben muss. Und für die Stadt ist es eine entscheidende Position: Denn der Stapi – bisher war es in einer über 200-jährigen Geschichte tatsächlich immer ein Mann – repräsentiert die Stadt und hält im Stadthaus viele Fäden zusammen.
Aber wenn der Frühling endlich da ist und wir schon zwei Wahlen hinter uns haben, dann interessiert sich die Öffentlichkeit kaum noch für die dritte Wahl. Die Luft ist draussen. So sehr, dass die Bürgerlichen das Stadtpräsidium den Sozialdemokraten stillschweigend überlassen. (Wobei der einzig verbliebene bürgerliche Stadtrat Benvenuto Savoldelli schon früh signalisiert hatte, nicht fürs Stadtpräsidium kandidieren zu wollen.)
Null Dramatik
Kurz hat das OT das Kandidaten-Karussell drehen lassen. Aber die Geschichte war rasch erzählt: Die Lokalzeitung skizzierte einen möglichen Zweikampf zwischen den beiden SP-Stadträten. Einige Bürgerliche schrien in den sozialen Medien auf: Trotz historischer Wahlniederlage erhebt die SP den vollen Machtanspruch! Damit war der dramaturgische Höhepunkt erreicht.
Denn die Ironie der Geschichte ist: Abgesehen von den SP-Exponenten wollte sich dieses Jahr niemand für das Amt bewerben. Und die Sozialdemokraten hatten nach der konsequenten Frauenförderung bei den Parlamentswahlen genug vom parteiinternen Zündstoff. Also nominierten sie brav Thomas Marbet fürs Stadtpräsidium. Denn so hatten Marion Rauber und Thomas Marbet es schon lange vor den Stadtratswahlen ausgemacht. Der ausbleibende Wahlkampfkrimi trägt das Seine dazu bei, dass das Interesse an der Stapi-Wahl lau ist. Immerhin: Fürs Vizepräsidium hat die Wählerin die Wahl zwischen Grün oder Rot. Raphael Schär-Sommer wird gegen Marion Rauber antreten.
Zwei Barrieren haben die kleine Oltner Welt auf den Kopf gestellt. Dies musste zumindest glauben, wer sich auf den sozialen Medien – konkret in der Oltner Facebookgruppe – aufhält. Wenn es eine Rangliste der meistkommentierten Beiträge gäbe, die Säli-Barrieren hätten in jenen Apriltagen im schweizweiten Vergleich wohl hoch oben rangiert. Vor den Barrieren am Quartiereingang staute sich der Verkehr und bei vielen Automobilisten wohl auch der innerliche Groll. Und dieser entlud sich im Netz und an den Barrieren, die kurzzeitig beide zerstört wurden. Es schien, als wäre ein Jahrhundert-Orkan über die Stadt gezogen.
Draussen das Verkehrschaos, drinnen wars plötzlich windstill. Nur gingen jene Stimmen, welche die neue Ruhe lobten, im Ärger-Konzert fast unter. Der Säli-Knatsch manifestierte eindrücklich, was sonst bei Abstimmungen zur Mobilitätsthematik zum Ausdruck kommt: Das Automobil ist für viele das höchste Symbol an Freiheit – und wehe, wenn sie dem Menschen genommen wird. Aber es zeigt auch, dass wir ein Gewohnheitstier sind. Nur weil viele immer durchs Säliquartier fuhren, heisst das noch lange nicht, dass sie dies auch durften (Zubringerdienst).
Oltens Mediator, wenn man Christian Ginsig so nennen darf, schrieb einen viel beachteten Beitrag, der die Oltner Verkehrsproblematik ganzheitlich aufrollt. Ja, die Entlastung der Region Olten (ERO) ist wahrlich nicht vollendet. Ein Tunnel nach Dulliken, wie einst entworfen, als Lösung? Der Lösungsvorschlag hat eine interessante Debatte ausgelöst, die du hier nachlesen kannst.
Der Orkan über dem Säli scheint sich aufgelöst zu haben. Vereinzelte Sturmböen ziehen noch durchs Netz. Der Stadtrat hatte in einem Aufruf um Geduld gebeten. Die Verkehrssituation auf den Hauptstrassen, welche zum Schleichverkehr im Säli führten, bleibt aber angespannt. Denn mit dem Verkehr ist es wohl so, wie Winznaus Gemeindepräsident Daniel Gubler sagte: «Wenn wir an einem Ort schrübelen, verschlechtert sich die Situation an einem anderen.»
Die Balkone spriessen
In Olten Südwest regt sich derweil etwas: Es sind nicht die Stangen, die das Profil des neuen Gestaltungsplans anzeigen, nein. An der Überbauung, die wie ein gestrandetes Ufo in der Landschaft steht, sind Gerüste angebracht. Mit Balkonen, die nachträglich gebaut werden, will der Bauherr den Leerwohnungsbestand offenbar senken. Versuchsweise werden gemäss Baubewilligung zunächst 16 Wohnungen mit Balkonen ausgestattet.
Bild: Christian Grund / Archiv
Das Olten-jetzt!-Phänomen in Madrid
Spaniens Hauptstadt hat eine wüste Wahlkampf-Schlacht hinter sich. Sie war von der politischen Polarisierung geprägt, die inhaltliche Debatte fand kaum Platz. Die NZZ schrieb von einer «Trumpisierung» der spanischen Politik. «Freiheit oder Kommunismus» war das provokative Wahlmotto des konservativen «Partido Popular». Mit ihrem konfrontativen Stil überrollte Isabel Díaz Ayuso die linken Parteien. Letztere fanden keine Antwort, welche die Massen gleichermassen bewegt hätte. Die Rhetorik der amtierenden Regionalpräsidentin war unschlagbar, weil sie eng an die Identität Spaniens gekoppelt war: die Beizenkultur mit Tapas und Cañas. Denn Freiheit stiftete Ayuso vor allem durch ihre Coronapolitik: Seit dem ersten Lockdown, der Madrid enorm hart getroffen hatte, blieben die Kneipen stets offen. In der Haupstadt ist die Gastronomie mit den rund 30’000 Bars und Restaurants ein grosser Wirtschaftszweig. Erlauben konnte sich die Regionalpräsidentin die Öffnungs-Politik auch wegen des guten Gesundheitssystems in Madrid.
Was das alles mit Olten zu tun hat? Nicht allzu viel. Aber im Schatten des Partido Popular war Más Madrid die grösste Gewinnerin. Die linke Jungpartei überholte gar die Sozialisten (PSOE), die historisch ebenbürtige Gegenspielerin der Konservativen. Más Madrid spaltete sich auf kommunaler Ebene von der ebenfalls noch jungen linken Partei Podemos ab. In der Hauptstadt hat sie sich nun mit ihrer unverbrauchten Agenda als beliebte Alternative für die linke Wählerschaft hervorgetan. Das Modell erinnert deshalb ein wenig an Olten jetzt!
Zwei «Oltner» Weltmeister
Zurück in die Dreitannenstadt. Oder besser gesagt nach Texas: Da gewannen die beiden Kanadier, die dieses Jahr mit dem EHC Olten gross aufspielten, den U18-Weltmeistertitel. Brennan Othmann und Mason McTavish hatten grossen Anteil am Finalsieg gegen Russland. Wer weiss, vielleicht hätten die unbekümmerten Zukunftshoffnungen die Oltner in den Playoffs zum Halbfinalsieg gegen Kloten und somit in noch höhere Sphären befördert. Doch das sind Traumfänger-Gedankenspiele.
Mason McTavish und Brennan Othmann kurz vor ihrer Abreise aus Olten.
Der EHCO sorgte diese Woche gleich mehrfach für Schlagzeilen und der Sport erwies sich wieder einmal als schnelllebiges Geschäft: Der Schwede Fredrik Söderström wird nicht mehr als Cheftrainer zurückkehren – Olten vertraut künftig auf den Schweizer Trainer Lars Leuenberger. Im Kleinholz spricht man wieder Schweizerdeutsch. Söderström wäre gern geblieben. Im Winter hatte er uns Einblick in seine Welt gegeben.
Viele sagen Adieu
Und zum Schluss noch was aus dem Journalismus-Universum. Immer wieder bin ich überrascht, wie mein Beruf beim Gegenüber Respekt auslöst. «Ich bin Journalist» – ein Satz, der etwa meinem Experten bei der Fahrprüfung zu imponieren schien. Dies, obwohl der Beruf nicht mehr die einstige Anziehungskraft hat. Die Branche ist gewaltig unter Druck – die Zahl der Stellen nimmt mit der Medienkonzentration auf grosse Verlage ab. Jede Woche verlässt eine Journalistin den Beruf, wie die Republik neulich aufzeigte. Aber keine Sorge: Kolt bleibt dran.
Als ob ein Metronom den Takt vorgeben würde, setzt das dunkle Pferd im Aprilwind seine Hufe in den Sand. Geleitet durch die Zügel seiner Reiterin Carla Aeberhard. Für den Laien sind die Bewegungen nicht zu unterscheiden, welche die Oltner Dressurreiterin machen muss, um ihren Partner anzuweisen, in welchem Schritt er gehen soll. Delioh von Buchmatt aber hat über die Jahre gelernt, was von ihm erwartet wird.
Seit bald 13 Jahren ist er der treue Begleiter von Carla Aeberhard. Die gemeinsame Reise hat das Duo im letzten Jahr nach Kölliken gebracht, wo Delioh im Stall zu Falkenberg daheim ist. Entfernt ist das Rauschen der Autobahn zu hören, während eines der besten Schweizer Dressurpferde elegant über die Trainingsanlage gleitet.
In der Oltner Familie Aeberhard geben die Pferde und der Reitsport den Lebensrhythmus vor. «Das Reiten ist unser Ding», sagt Carla Aeberhard. Gemeinsam begannen die Schwestern Simona und Carla mit dem Reitsport. Heute gehören beide zur Schweizer Elite im Dressurreiten. Für die Wettkämpfe reisen sie durch ganz Europa. Im April kehrte die ältere Schwester Carla mit zwei Grand-Prix-Siegen aus dem italienischen Montefalco zurück.
«Du musst ein wenig Geduld haben, Büblein, das ist nicht so deine Stärke», sagt Aeberhard zu ihrem Pferd Delioh, als sie wieder festen Boden unter ihren Füssen hat. Der Wallach mag nach vollbrachtem Training nicht wirklich still stehen. Die saftig grüne Weide wartet.
1,5 Kilogramm …
… Mischfutter und ein halbes Kilogramm Hafer kriegt Delioh dreimal täglich zu fressen, nebst Heu und Stroh. Zusätzlich erhält er Vitamine und Mineralstoffe. Diese würden seine Leistung unterstützen – wie bei menschlichen Sportlern, erklärt Carla Aeberhard. Bei guter Witterung dürfen die Pferde im Sommerhalbjahr auf die Weide. «Bei Regen ist die Verletzungsgefahr zu gross, wenn sie dumm tüe», sagt Aeberhard, während sie den Wallach in der Stallbox striegelt. Das Nachbarspferd Zensation streckt seinen Kopf durchs Gitter und bittet um eine Streicheleinheit.
3 Grundgangarten …
… beherrschen die ausgebildeten Dressurpferde: Schritt, Trab und Galopp. Bei den internationalen Grand-Prix-Wettkämpfen unterscheidet man zwischen dem versammelten und dem starken Schritt respektive Trab und Galopp. Im Grand-Prix kommen zusätzlich noch die Piaffe und Passage, als Lektionen in der höchsten Versammlung, hinzu. Bei der Piaffe müssen die Pferde auf der Stelle treten. «Das ist für Delioh das schwierigste Element», sagt Aeberhard. An der Dressurprüfung absolviert die Reiterin ein vorgeschriebenes Programm auf ihrem Pferd. Bei der Kür hingegen ist sie völlig frei und kann zu einer ausgewählten Musik ein selbst definiertes Programm reiten, bei welchem vorgegebene Elemente vorkommen müssen. In der Schweiz hat das Springreiten eine grössere Bedeutung als das Dressurreiten. «Für die Zuschauer ist das Springreiten spannender, weil du siehst, ob die Stange runterfällt oder nicht. Im Dressurreiten entscheiden Feinheiten, die der Laie nicht erkennt», erklärt Aeberhard.
6 Monate …
… alt war Delioh von Buchmatt, als die Familie Aeberhard ihn als Fohlen an einer Auktion in Ruswil ersteigerte. Carla Aeberhards Vater wollte bereits nicht mehr weiterbieten. Die Mutter aber sagte: «Schau mal wie er glänzt am Füdli», und hielt nochmals die Hand hoch. Die Aeberhards erhielten den Zuschlag für den jungen Hengst der Rasse Schweizer Warmblut, der im Entlebuch von Thomas Lustenberger gezüchtet worden war.
«Er war ein Sechser im Lotto», sagt Carla Aeberhard heute. Denn nicht jedes Pferd lernt alle Lektionen bis auf die höchste Stufe. Die Abstammung oder auch der Körperbau des Fohlens sind wichtige Indikatoren – Gewissheit gibt es aber nicht. «Man kauft Glück und Hoffnung», sagt Aeberhard. Ein Fohlen kostet in der Regel zwischen 3000 und 30’000 Franken. Die Familie Aeberhard gab Delioh zur Dressurreiterin Melanie Hofmann in die Grundausbildung, bis er sechs Jahre alt war.
Das jüngste Pferd der Oltner Familie ist Zaja von Buchmatt und sie absolviert momentan im Jura die Grundausbildung. Die Stute könnte dereinst Carla Aeberhards neues Wettkampf-Pferd werden, wenn Delioh in den Ruhestand kommt. Dazu müsste Zaja aber wie Delioh alle Lektionen erlernen.
6 Tage die Woche …
… steht Carla Aeberhard frühmorgens auf, um von ihrem Wohnort Sursee (und bald einmal von Rickenbach) nach Kölliken zu fahren und ihren Wallach zu pflegen und zu reiten. An einem Tag reitet die 32-Jährige mit Delioh aus. An den restlichen fünf Tagen trainiert sie mit ihrem Wallach auf den wettkampfgetreuen Anlagen des Stalls Falkenberg.
Rund drei Stunden pro Tag benötigt Carla Aeberhard, um das Pferd zu pflegen, zu reiten und den Stall aufzuräumen. Um Delioh leistungsfähig zu wahren und Verletzungen vorzubeugen, scheut sie keinen Aufwand. Bevor sie ihn auf die Weide lässt, schützt sie ihr Pferd mit Gamaschen und Glocken an Fesseln und Hufkrone. «Er war noch nie verletzt – Holz anfassen», sagt Aeberhard. «Wir geben sehr Acht, dass das so bleibt.»
Alle zwei bis vier Wochen kommt die Physiotherapeutin, halbjährlich der Osteopath. Alle sechs Wochen steht ein Besuch beim Hufschmied an, damit Delioh einen optimalen Beschlag hat. Und nach dem Training streift Aeberhard Delioh manchmal eine Elektromagnetdecken über, damit die Muskeln besser regenerieren.
7 Elite-Kadermitglieder …
… hat die Schweiz momentan nominiert. Carla Aeberhard ist die einzige Hobby-Reiterin unter ihnen. Ihre Schwester Simona gehört noch dem Perspektiv-Kader an, was aber damit zusammenhängt, dass ihr Pferd Fadora noch sehr jung und deshalb noch nicht voll ausgebildet ist. «Meine Schwester möchte dieses Jahr erstmals auf höchster Stufe reiten», sagt Aeberhard. Sie lächelt: «Wir versuchen mit den Berufsreitern mitzuhalten.»
9 Jahre …
… alt ist Fadora, Simona Aeberhards Stute. In Fadoras Alter lernen Dressurpferde die schwierigsten Lektionen. Die Dressur verlangt jahrelange Geduld: «Man muss Sorge tragen und die Pferde korrekt ausbilden, denn sie vergessen nichts.»
Fadora tobt sich auf der Weide gerne aus und wälzt sich im frischen Gras.
10 Jahre …
… alt war Carla Aeberhard, als sie in Gretzenbach gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester das Reiten erlernte. Gut zwei Jahrzehnte später sind beide im Spitzensport angelangt. Mit dem eigenen Lastwagen fährt die Familie an die Wettkämpfe. Auf dem 40-Tönner erinnert eine Silhouette von Donna Diandra, einem ihrer ersten Grand-Prix-Pferde, daran, wie alles begann. Um sich abwechseln zu können, haben alle in der Familie den LkW-Führerschein. «Ausser Simona, sie lässt sich gerne chauffieren. Mein Partner hat nächste Woche die Prüfung», sagt Carla Aeberhard und lacht.
15 Millionen Franken
Für diese enorme Summe wurde das bisher teuerste Dressurpferd in Deutschland gehandelt. Der lackschwarze Hengst trug den Namen Totilas und verstarb letztes Jahr. «Wenn ein Pferd alle Lektionen gelernt, einen schönen Gang und Körperbau hat, steigt der Preis», erklärt Carla Aeberhard. Zwischen dem teuersten Pferd und einem normalen Dressurpferd ist die Spannweite gross. «Ein voll ausgebildetes und erfolgreiches Dressurpferd hat ungefähr den Wert eines Einfamilienhauses», sagt Aeberhard.
13 Jahre
Am 13. Mai wird Delioh 13 Jahre alt. Damit ist er im besten Alter. «Er ist in Topform», sagt seine Meisterin. Dressurpferde können Wettkämpfe bestreiten, bis sie ungefähr 16 Jahre alt sind. «Danach darf er bis ans Lebensende bei uns blieben und auf einer Altersweide sein», sagt Aeberhard. Pferde werden bis zu 30 Jahre alt.
17 Grand-Prix-Siege …
… feierte Carla Aeberhard bisher in ihrer Karriere.
32 Pferde, …
… zwei Fohlen und zwei alte Pferde sind im Stall zu Falkenberg zu Hause. Die grosszügige Anlage gehört dem Gretzenbacher Bruno Kammermann. «Er liebt die Tiere und verwöhnt sie. Sie kriegen tonnenweise Rüebli», erzählt Carla Aeberhard. Mehrere Angestellte sorgen täglich dafür, dass die Pferde rundum versorgt sind. Betriebsleiterin ist Elena Fernandez, die wie die Aeberhards zur Elite der Schweizer Dressurreiterinnen gehört. Gleich gegenüber von Delioh befindet sich die Box ihres Wallaches Sueno.
Fernandez ist zugleich auch Trainerin der beiden Aeberhard-Schwestern. In Kölliken verfügen sie über ein 20 mal 60 Meter grosses Viereck, auf welchem sie die Lektionen wettkampfgetreu üben können. Bei schlechtem Wetter trainieren die Reiterinnen in der Halle. «Solche Voraussetzungen sind selten», sagt Aeberhard.
70 Prozent
«Es war mein Traum, einmal international über 70 Prozent zu reiten», sagt Carla Aeberhard. In Montefalco hat sich dieser erfüllt – im Grand-Prix Spezial erreichte sie über 72 Prozent. Sie setzen sich wie folgt zusammen: Eine Jury bewertet die einzelnen Lektionen mit einer Note von 1 bis 10. Die Noten werden summiert und gemittelt. 70 Prozent entsprechen einer durchschnittlichen 7. «Es ist ein subjektiv bewerteter Sport», sagt Aeberhard. Die international besten Dressurreiter erreichen Spitzenwerte von über 80 Prozent. In der Kür kommen sie auf bis zu 96 Prozent, weil die Artistik miteinbezogen wird.
100 Prozent
Beide Aeberhard-Schwestern sind neben ihrem grossen Hobby voll berufstätig. Carla arbeitet in der familieneigenen Apotheke in Olten und Simona ist als Anwältin bei der Finanzmarktaufsicht (Finma) tätig. «Wir finanzieren den Sport durch unseren Beruf und unsere Eltern», sagt Carla Aeberhard. Mit den Preisgeldern der Turniere lassen sich die Ausgaben bei weitem nicht decken. Erstere belaufen sich auf ein paar hundert Franken. Berufsreiterinnen sind darum auf Sponsoren oder Mäzene angewiesen. Sie reiten jeweils 6 bis 7 Pferde und bestreiten Wettkämpfe meist mit einem gesponserten Pferd, das nicht ihr eigenes ist.
Bei den Aeberhards ist das Dressurreiten hingegen eine Familiensache. Die Eltern reisen immer mit an die Turniere und unterstützen ihre Töchter. «Alle haben ihre Aufgabe. Meine Mutter poliert beispielsweise meine Stiefel, damit sie schön glänzen», erzählt Aeberhard.
168 Zentimeter …
… gross ist Delioh von Buchmatt. Das Stockmass wird beim Widerrist an der höchsten Stelle des Rückens gemessen. Delioh zählt unter den Dressurpferden zu den kleineren. Carla Aeberhard schwingt sich mit ihren 1,60 Metern dank der Aufstiegshilfe elegant aufs Pferd.
500 Kilogramm …
… wiegt Delioh. Damit zählt er auch gewichtsmässig zu den eher feineren Pferden, die mit 4 Jahren ausgewachsen sind.
2024 …
… finden die Olympischen Sommerspiele in Paris statt. Ein Fernziel? «Vielleicht», sagt Carla Aeberhard. Delioh wird dann wohl an seinem Zenit angelangt sein. Aeberhards Fokus gilt aber der nahen Zukunft. Die Europameisterschaften im deutschen Hagen sind ihr grosses Ziel dieses Jahr. Und Tokio? «Beides ist mit dem gleichen Pferd nicht möglich, weil es zeitlich zu nah beieinander ist», sagt Aeberhard. Sie befindet sich zwar auf der Longlist und könnte sich nach wie vor für die Sommerspiele in Japan qualifizieren. Delioh würde durch die lange Reise und das Klima strapaziert – der Wallach der Familie Aeberhard ist noch nie geflogen. Darum setzt Carla Aeberhard zunächst auf das realistischere Ziel, die Europameisterschaften.
“Boxer! Boxer!” I shouted as I knocked on his balcony window next to mine, with a hockey stick I keep nearby for just such purposes. “Box-ER!”
As I delivered one final blow to the glass, my neighbour opened the door and caught the full force of my swing on his forehead.
“Charles! Attempted murder will not look good on your record, although some future employer might be willing to overlook it.”
“Boxer! Whatever happened to your head?” He was wearing the sort of turban a mystic soothsayer swami magician might sport at the Variété.
“I was suddenly struck on the head. And lucky for you, too, I dressed appropriately. Your blow landed right here.” He pointed dramatically to a spot covered with the cloth.
“So, what’s with the headgear?”
“Lockdown has got to me, Charles. I have not had a haircut in so long, I look like, well, here, see for yourself.” He took off the turban, revealing – Boxer with slightly longer hair.
“No wonder you’ve been hiding. You’d be enough to frighten the children off the street. I see what happened. You were out earlier, weren’t you?”
“Yes. And? Go on, Charles.”
“I was banging on your window because I just had a telephone call from the old woman at number 21. She was all alarmed. She had seen a strange man entering your house and wondered if she should call the police. That was you, obviously. I told her I’d check. She’s looking out her window now, actually.”
“Let us wave to her, Charles. Not that way! Use all your fingers. That’s better. You see, she is waving back – the usual way.”
Another week into the lockdown, and one could sense tensions mounting. There seemed to be more shouting in the streets, especially at night. But, as one of the editors at KOLT told me, better to have shouting than shooting.
The magazine was planning a special edition for the lockdown and had invited a celebrity guest to edit that issue.
“Who is it, Adrian?”
“Carolina de’Longhi!”
“Oh? And who is she when she’s at home?”
“You don’t know who she is? Really?”
“Really. Is she famous?”
“Carolina de’Longhi is the biggest fashion model and photographer in Europe – maybe even the world!”
“And she’s going to be the guest editor at KOLT?”
“We were lucky to get her, Charles. All of us on the staff can hardly wait. She’ll be staying at the Hotel Schweizerhof, and I’ve arranged for a car to drive her to the office.”
“Adrian, that’s practically next door to the hotel. And – there’s no lift in your building. Is someone going to carry her up the steps?”
“Oh! Yeah, you’re right. What should we do?”
“We?”
“Well, KOLT. Maggie is a bit put out about all the attention Carolina is getting already.”
“Maggie? Upset? She’s the coolest, calmest woman I’ve ever met.”
“Well, you know how women get jealous of each other.”
“Men get jealous of each other, too, Adrian. I’m jealous of your beard, for example. I never could grow one out full enough to trim it short.”
“You’d look good in a beard.”
“Thank you, Adrian. Glad you’re not jealous. Oh, by the way, is there going to be something in your lockdown issue about haircuts and beauty salons still being closed? Boxer has disguised himself until he can get a proper haircut.”
“I’ll mention that to Carolina.”
[The following scenes have been reconstructed from police reports, eye-witness accounts, and testimony given at the trial.]
Three days of Carolina de’Longhi at the KOLT offices were enough to drive everyone mad. She refused to wear a facemask indoors and did not respect social distancing. She demanded special Mongolian tea, was allergic to the sub-editor’s aftershave, and was either too warm or too cold, depending on whether the windows were open or shut. AND she complained that the office boy ‘loitered’ too long outside her office. At least Carolina wasn’t one of those ‘touchy-feely’ people, so much in love with themselves. She was too cool and calculating for that.
Since each editor had a separate office, the KOLT team managed to continue operations during lockdown. Adrian had moved into the supply room to give Carolina his own office, but she complained that she had had to re-arrange all his things. The lamp was on the wrong side of the desk; even the pencil sharpener was positioned the wrong way (as if Carolina de’Longhi would ever sharpen her own pencils). Reference books were not shelved properly. Everything was turned around, she claimed. Of course, she always chose Maggie to complain to, and it was Maggie whose efforts to smooth over each day’s rough spots led to even more complaints the next day.
Adrian was worried that the special issue would not appear on schedule, and he had to keep pushing Carolina as far as possible without either of them reaching breaking point. Something had to give. All the other editors found inventive, even extraordinary, ways to avoid the tension.
As the deadline approached, Adrian praised Carolina once too often when she completed a quite simple task. She had responded, “Of course! I’m the one doing most of the work around here anyway. And don’t forget that, Adi-boy.”
As Adrian retired to the supply room to seethe, Maggie came in, as full of rage as Adrian himself.
“Every little thing just sets her off. She’s lighting her own fuse, that bitch. Anyway, now there’s a real storm brewing. Look out the — oh, I forgot, you don’t have a window in here. The sky is as dark as night and there’s thunder rumbling all around the mountains. They’ve even evacuated the maintenance crew at the air-filtration skywalk. It’s going to blow, Carolina or no Carolina.”
With that encouraging news, Adrian suggested to Paul, the editor-in-chief, that everyone be sent home. Unusually, Carolina said she’d stay on to work a bit longer. Adrian and Maggie were the last to leave. They walked together as far as the Aarhof, where Maggie turned to go down Amthausquai to her flat overlooking the Aare, whilst Adrian continued on up Frohburgstrasse to his flat at City Kreuzung. Both were seen entering their respective buildings.
Adrian was first in the office just after eight o’clock the next morning, where he found the body of Carolina de’Longhi (real name Irma Schuh) outside his (her) office door. He rang the police, who sent a team of investigators immediately to the scene from their headquarters on Jurastrasse.
The victim had been dead approximately eight to ten hours, stabbed from behind in the left side of her neck with a pair of long paper scissors, of a variety issued to each editor or supplied by them from a previous job. The police gave out no more details.
Staff were kept away from their offices until all had been questioned. They were then given ten minutes to collect anything they needed from their desks (except scissors, which had all been confiscated) and told not to return to the office until notified. Adrian was furious that the lockdown special issue would be delayed indefinitely.
* * * *
“Where were you last evening? I rang but you didn’t answer.”
“I must have been out for a walk.”
“In that storm that passed over Olten?”
“We were lucky again. Bit of wind, but no rain.”
“Nothing was open last night.”
“I was just walking – and thinking.”
“About us?”
“No. That’s over.”
“I see.”
“Do you? Have you ever seen it clearly?”
“One of us must leave KOLT. Quit.”
“Shall we toss for it?”
“Perhaps the police will decide all that for us.”
“I won’t say anything about us if you don’t – agreed?”
“All right. So – did you kill her? Why?”
“I thought you had done it.”
“No. Not me. Or you. So — “
[To be continued … ]
David Pearce ist ein Schweizer Schriftsteller, wohnt seit 2000 in Olten und hat amerikanische, englische und französische Wurzeln. Er schreibt auf Englisch Kurzgeschichten, Romane und Theaterstücke.
Bunt und voller Menschen war die Stadt am Wahlsonntag. Bunt sind auch die politischen Kräfteverhältnisse in Olten. Nachdem die Parteien im Wahlkampf die Ellenbogen ausgefahren hatten, trafen sie sich in der Stadt zum Bier. So wie die Aare und der Bahnhof die Kleinstadt in zwei Teile trennen, bleibt auch das Parlament gespalten. Olten ist weiterhin eine Stadt der Meinungsvielfalt.
Die höchste Partizipation seit …?
Die Zahl mag auf den ersten Blick tief erscheinen: 43,5 Prozent Stimmbeteiligung – also nicht mal jede zweite Person, die in Olten das Recht hat mitzubestimmen, tat dies auch. In absoluten Zahlen ausgedrückt: Gut 5’200 Personen warfen ihr Wahlcouvert ein – von den über 18’000 Einwohnerinnen hätten 11’100 wählen dürfen. Wie ist dies im langjährigen Vergleich einzuordnen? Bis ins Jahr 2005 lassen sich die Abstimmungen auf der städtischen Webseite zurückverfolgen. Und bei den fünf Parlamentswahlen in diesem Zeitraum war die Stimmbeteiligung nie so hoch wie in diesem Jahr. Den Tiefpunkt erreichte die Stimmbeteiligung 2013, als nur 35,7 Prozent ihr Wahlrecht wahrnahmen.
Bunt wie die Blumen im Stadtpark ist das Parteigefüge in Olten.
Je höher die Ebene, desto linker?
In den letzten Jahren war ein Trend auszumachen: Bei nationalen Abstimmungen ist das politische Gesicht der Stadt progressiver. Dann reiht sie sich in das Schema ein, das Politologen mehrfach beschrieben haben: Urbane Zentren und auch Kleinstädte wie Olten sind bei diesen Abstimmungen in den vergangenen Jahren nach links gerutscht. Als Beispiel dient die Konzernverantwortungsinitiative, die Olten mit 60 Prozent annahm. Oder das Verhüllungsverbot, das die Kleinstadt erst im März mit knapp 65 Prozent ablehnte.
Wenn man die Wahlen der letzten Jahre als Massstab nimmt, ist in Olten aber kein Linksrutsch auszumachen – sondern nur eine grüne Welle und zugleich herbe Verluste bei den Sozialdemokraten. Auf diese kommen wir später zu sprechen. Rot-grün machte – als Einheit gerechnet – in der Kleinstadt bei den letzten Wahlen auf nationaler (2019) und kantonaler (2017/2021) Ebene jeweils konstant zwischen 44 und 46 Prozent der Stimmen. Darauf hatten die nationalen Vorlagen keinen Einfluss, auch wenn die Stimmbeteiligung hoch war und Abstimmungen anstanden, die eine progressivere Wählerschaft mobilisierten.
Die obige Hypothese ist also falsch. Im Gegenteil: Die Oltner Parlamentswahlen haben bestätigt, was wir schon in unserer Wahlanalyse zu den März-Wahlen schrieben. Der Erfolg der Linken bei den Stadtratswahlen im März ist auf die grüne Welle und den Olten-jetzt!-Effekt zurückzuführen. Auch wenn nicht von einer klassischen Linken gesprochen werden kann, hat Rot-grün-violett als Einheit zu einem Linksrutsch auf städtischer Ebene geführt. Darüber hinaus profitierten die rot-grünen Stadträte Thomas Marbet, Marion Rauber und Raphael Schär-Sommer von der missglückten Wahltaktik der Bürgerlichen und den wilden Kandidaturen.
Die FDP-Hochburg wankte, fiel aber nicht
Die neue Linke ist aber nur die Hälfte der Geschichte. Denn das bürgerliche Olten erweist sich als standhafter, als manche annehmen mochten. Die politische Waage bleibt im Lot. Und Olten bleibt, wie durch die lange Tradition vorgespurt, eine freisinnige Stadt. Im März hatte die FDP den Wahlkampf komplett verschlafen. Bei den Kantonsratswahlen erreichte sie in Olten fast schon historisch tiefe 17,7 Prozent und war gleichauf mit den Grünen.
Die Reaktion nach der Schlappe fiel heftig aus, die liberale Partei dominierte in der Stadt und an den Strassen in diesem Frühling mit einer wahren Plakatflut. Der sonst eher zurückhaltende Stadtrat Benvenuto Savoldelli zeigte sich bei Wind und Wetter am Wochenmarkt. Dass sich Wahlkampf lohnt, beweist das Resultat: Die FDP kam fast schon standesgemäss wieder auf nahezu 21 Prozent (gegenüber 22 Prozent vor vier Jahren) und verteidigte im Parlament ihre neun Sitze.
Das Olten-jetzt!-Phänomen
Absturz oder anhaltender kometenhafter Aufstieg? Wohin die Reise von Olten jetzt! gehen würde, war die grosse Unbekannte. Denn die neue Partei politisiert ausschliesslich auf Gemeindeebene und zwischen ihrer Geburtsstunde vor vier Jahren und den diesjährigen Wahlen gab es keine Referenzwerte, nur den Stimmungsbarometer aus den Stadtgesprächen. Wer sich als frische Kraft verkauft und mit seinen Ideen Hoffnungen auslöst, kann fast nur verlieren. Die neue Partei brauchte dann auch Anlaufzeit. Zwei Jahre nach dem fulminanten Start erntete Olten jetzt! im Stadtdiskurs zunehmend Kritik: Wo blieb der versprochene Vorwärtsdrang?
Mit geschickter Kommunikation gelang es der Partei in den letzten zwei Jahren, das Ruder rumzureissen. Die fundierte Aufklärungsarbeit und die klaren Positionen kamen gut an. Olten jetzt! nahm den neu gewonnenen Schwung mit in den Wahlkampf. «Es ist uns gelungen, die Aufbruchsstimmung von neuem zu erzeugen», sagt Nils Loeffel. «Wir haben mehr Freiheiten im Wahlkampf, da wir kein Rucksäcklein einer etablierten Partei mittragen.» Als Stadtratskandidat wandelte der Parteipräsident sich vom Kopf zum Gesicht der Partei und schaffte sensationell die Wahl in die Stadtregierung. Wenig fehlte ihm im ersten Wahlgang – im zweiten profitierte er davon, dass die Linken bereits alle gewählt waren.
Im rot-grünen Teich gefischt, aber nicht nur…
Beflügelt durch die Stadtratskandidatur legt Olten jetzt! im Parlament mächtig zu, steigt zur drittstärksten Partei auf und kommt neu auf sechs Sitze. Nach der zweiten Wahl lässt sich klarer verorten, wo Olten jetzt! seine Stimmen holt: Die Partei spricht vorwiegend die rot-grüne Wählerschaft an. Dies erklärt, warum SP und Grüne gegenüber den Kantonsratswahlen im März deutlich tiefere Stimmanteile erzielen.
Jedoch mobilisiert Olten jetzt! vermutlich auch eine neue urbane Wählerschaft. Dies lässt sich daraus schliessen, dass Olten jetzt! gemeinsam mit Rot-grün auf knapp 50 Prozent der Stimmen kommt. Bei den Kantonsratswahlen kam Rot-grün auf rund 44.5 Prozent der Stimmen. Die Resultate zeigen: Aus dem bürgerlich-liberalen Lager holte die neue Partei nur wenig Stimmen. Und zwar nur etwas weniger als noch vor vier Jahren, obwohl Olten jetzt! sich damals als unabhängige Partei anpries.
Salome Kisker ist eines der neuen Gesichter von Olten jetzt! im Parlament. Mit einer Wahl rechnete sie nicht. Familiär ist Kisker zwar mit Olten verbunden, da sie aber noch nicht lange hier wohnt, verfügt sie nicht wie viele Kandidaten über ein etabliertes Netzwerk. Vor vier Jahren zog sie aus Zürich mit ihrer Familie nach Olten und war vom dynamischen Auftritt der Neu-Partei angetan. «Was ich lässig fand, ist, dass sie nicht an ein Parteiprogramm gekoppelt ist und weniger verstaubt wirkt», sagt Kisker. Olten sei ein wenig wie Biel. Sehr bunt und mit verschiedensten Menschen. Nach einem Probejahr entschied sich die Ärztin hierzubleiben: «Kleinstädte sind nicht so überrollt und haben noch mehr Freiraum.»
Das bittersüsse SP-Experiment
Die Kampagne der SP dürfte in der Wahlgeschichte einzigartig gewesen sein. Kompromisslose Frauenförderung strebte sie an. Dafür setzten die Sozialdemokraten alle Frauen doppelt und die Männer einfach auf ihre Liste. Der Effekt schlug voll durch: Von den Männern schaffte einzig Florian Eberhard die Wiederwahl. Die Partei verliert gleich mehrere ausgewiesene Kräfte – unter ihnen auch Co-Präsident Ruedi Moor. Eine unerfahrene Fraktion mit sechs Frauen wird in die neue Legislatur starten. Die Sozialdemokraten tragen wesentlich dazu bei, dass im 40-köpfigen Parlament nun mit 18 Frauen nahezu die Parität hergestellt ist.
Die kompromisslose Strategie hat aber zu Rissen innerhalb der Partei geführt. Die gebrochene Harmonie dürfte die ohnehin erwarteten Wahlverluste verstärkt haben. Mutterpartei und Junge SP erlitten gemeinsam ein Minus von knapp 6,5 Prozentpunkten, womit sich der Abwärtsstrudel der letzten Jahre fortsetzte. Bei nationalen und kantonalen Wahlen verlor die Partei ihre Wählerinnen an die Grünen. Bei den Stadtparlamentswahlen gingen die Stimmen mehrheitlich an Olten jetzt! über. Die Panaschierstatistik zeigt: Vor vier Jahren hatte die SP noch enorm viele Stimmen durch eigene Wahllisten gemacht, die zwar verändert eingeworfen wurden, aber dennoch schwergewichtig der eigenen Partei zugutekamen. In diesem Jahr nahm die Zahl dieser Listen massiv ab.
SVP ist die Königin der unveränderten Listen
Listen, die ohne jegliche Änderungen ins Wahlcouvert gesteckt werden, sind ein Indikator für eine stabile Stammwählerschaft und sichern der gewählten Partei jeweils die vollen 40 Stimmen. Die Bürgerlichen verzeichnen in dieser Statistik jeweils höhere Werte als die Linke. Die SVP etwa macht das Gros ihrer Stimmen durch die 369 unveränderten Listen. Zuverlässig wie eine Schweizer Uhr kommt die SVP schon seit mehreren Jahren in der Stadt Olten auf ihren Wähleranteil, der mal leichtüber, mal leichtunter 12 Prozent ausmacht. Mit ihrem hartnäckigen Politstil und den zahlreichen Referenden fühlt sich die SVP in ihrer Rolle offensichtlich wohl. Eine konstante Stammwählerschaft ist ihr sicher.
Grüne Welle: leicht ausgebremst
Zu den Aufsteigerinnen der letzten Jahre zählen – ganz dem nationalen Trend entsprechend – die Grünen. Auf kommunaler Ebene wäre der Höhenflug der Umweltpartei noch viel heftiger ausgefallen, wenn sie sich die Stimmen nicht mit Olten jetzt! teilen müsste. Darauf lassen die knapp 18 Prozent Stimmenanteil bei den Kantonsratswahlen schliessen, zu welchen nun bei den städtischen Wahlen 4,5 Prozentpunkte fehlten. Trotzdem legten die Grünen gegenüber vor vier Jahren zu und gewannen einen Sitz. Ihren bisherigen Höhepunkt hatte die Partei in Olten bei den Nationalratswahlen 2019 erlebt, als sie auf 20 Prozent Stimmenanteil kam und Felix Wettstein die Wahl schaffte. Wie die SVP bestechen die Grünen in Olten durch ihre Hartnäckigkeit und unaufgeregte Politik, womit sie eine Vertrauensbasis zu ihren Wählerinnen geschaffen haben.
Ein halbvolles CVP-Glas
Nicht nur der Namenswechsel zu «Die Mitte» steht bei den Oltner Christdemokraten symptomatisch für den Umbruch. Weil mit Stadtpräsident Martin Wey die grosse Identifikationsfigur der letzten zwei Jahrzehnte abtrat, drohte bei der CVP ein Vakuum. Doch die Verluste hätten grösser ausfallen können. Bloss mit sechs Kandidierenden trat die Partei an. Trotzdem büsst sie nur einen Sitz ein, der an die Grünliberalen geht. Wie sich diese Verschiebung auswirkt, wird interessant zu beobachten sein. Die EVP behält dank der Listenverbindung ihren Sitz. Die Fraktion in der Mitte dürfte weiterhin aus den drei kleinen Parteien bestehen, die momentan im Schatten der grossen stehen. Als Konglomerat haben sie aber ein wichtiges Wort im Patt-Parlament. CVP-Stadtratskandidat Beat Felber hätte die Wahl ohne wilde bürgerliche Kandidaturen womöglich gar schaffen können.
Das Dilemma der Geschwister
Für eine Fraktion brauchts drei Parlamentarier, die zusammenspannen. Die Familie Schöni wäre nah dran gewesen, wenn sie denn gedurft hätte. Mit Laura und Rahel Schöni wären gleich beide Schwestern auf der Liste von Olten jetzt! gewählt gewesen. Aber die Regel schreibt vor: Pro Familie darf nur jemand im Parlament vertreten sein. Trotzdem waren gleich mehrere Geschwisterpaare auf den Parteilisten zu finden. Dass aber jemand verzichten muss wie im Fall der Schönis, ist doch aussergewöhnlich.
Blick nach Westen
Gleicher Kanton und doch ein ziemlich anderes politisches Gefüge: Dies gilt gleichermassen für Solothurn und Grenchen, die beide ihren Einwohnerrat neu wählten. In der Kantonshauptstadt waren die Grünliberalen die grossen Gewinnerinnen. Sie sind nun das Zünglein an der Waage in einem Einwohnerrat, der von den drei Parteien FDP, SP und Grüne dominiert ist. Allerdings verfügt Solothurn über eine stärkere klassische Mitte. Viel stärker bürgerlich geprägt ist die Uhrenstadt Grenchen. Die SVP stieg im Sog von Regierungsratskandidat Richard Aschberger zur stärksten Partei auf, während die SP als bislang grösste Fraktion herbe Verluste einsteckte. Weil auch FDP und CVP in Grenchen stark aufgestellt sind, haben die Bürgerlichen klar das Zepter in den Händen.
Hier wohnen die Volksvertreter
Wie sind die Oltner Quartiere im Parlament vertreten? Als Kleinstadt kennt Olten nicht wie Zürich einzelne Wahlkreise. Trotzdem sollten alle Wohnquartiere in der Politik repräsentiert sein. Wir haben die Daten ausgewertet.
Quelle: Stadtkanzlei / Grafik: Roger Lehner
Die Karte verrät auf den ersten Blick: Die Parlamentarier wohnen breit über die Stadt zerstreut und kommen aus den verschiedensten Ecken. Es gibt ein paar Auffälligkeiten:
Das SP-Quartier: Nicht zu übersehen ist die Konzentration an Sozialdemokratinnen im Hardegg-Hardfeld-Quartier. Zufall? Eher nicht, denn auch viele nicht gewählte Kandidaten wohnen hier.
Relativ gleichmässig über die Stadt verteilt sind die Vertreter der Grünen und SVP.
Olten jetzt! wohnt generalisiert betrachtet sehr zentrumsnah.
Die FDP ist hauptsächlich auf der linken Aareseite zuhause.
Viele Parlamentarierinnen leben in den wohlhabenderen, naturnahen Quartieren der Mittelschicht im Bornfeld/Kleinholz, Schöngrund, Fustlig und Hardegg.
Nicht oder kaum vertreten sind im Parlament derzeit die Quartiere Olten Südwest, Wilerfeld und Säli.
Auch wenn Olten überschaubar ist, stellt sich die Frage, wie die Politik besser die Interessen in den Quartieren – gerade auch der Bevölkerung ohne Mitbestimmungsrechte – einbeziehen könnte. Der Barrierenstreit im Säli-Quartier ist ein Beispiel hierfür.
Geblieben ist das Café Chärne. In normalen Zeiten der letzte Treffpunkt im Dorf, wo die ältere Generation gerne mal einen Jass klopft. An diesem milden Apriltag rührt sich nichts. Nur auf der Hauptstrasse nebenan rollt der Verkehr ununterbrochen durchs Dorf und sorgt für ohrenbetäubenden Lärm. Wir treffen Daniel Gubler in seinem Büro in der Gemeindeverwaltung im Obergeschoss des Cafés. Der Gemeindepräsident ist Winznauer durch und durch. Seit fünf Generationen schon leben die Gublers in diesem Ort. Ein grosses, auf Holz gemaltes Wappen mit dem Weinrebenzweig prangt an der Wand.
Wappen von Winznau: «Das Geschenk eines Asylbewerbers», erzählt Daniel Gubler.
Wer glaubt, Winznau sei ein Dorf, das seine Identität aufgibt und sich künftig an der nahen Stadt ausrichtet, irrt. In einem zweijährigen Prozess hat die Gemeinde definiert, wie sie sich in den nächsten zwanzig Jahren entwickeln will. Rund 200 Personen wirkten mit. Bei knapp 2000 Einwohnerinnen eine beachtliche Quote. Eine Mehrheit möchte, dass Winznau ein Dorf und in vielen Fragen eigenständig bleibt. Gubler teilt diesen Wunsch. Als Ur-Winznauer ist er tief verbunden mit diesem Flecken Erde zwischen Jurahügeln und Aare. «Jene, die hier wohnen, sollen über die Zukunft des Orts bestimmen können», sagt Gubler.
Selbst ist das Dorf
Wenn sich der Kanton gerade im Niederamt mehr Gemeindefusionen wünschen würde, erteilt der Gemeindepräsident diesen Hoffnungen eine Absage. «Winznau 2040 bleibt eigenständig», steht im neu entworfenen räumlichen Leitbild. «Auch bei den Nachbargemeinden ist die Fusion wohl kein Thema», sagt Gubler. Die Zusammenarbeit innerhalb der Region sei dafür intakt: Mit der Kreisschule betreiben die Niederämter eine gemeinsame Oberstufe. Fürs Soziale ist Winznau an die Sozialregion Olten angeschlossen. Das Verhältnis mit umliegenden Stadt- und Landgemeinden sei gut, versichert Gubler.
Aber Winznau will Winznau bleiben. Auch wenn sich das Dorfleben in wenigen Jahrzehnten komplett verändert hat. Die Hauptverantwortung daran trägt das Auto, das die Menschen mobil gemacht hat. Ablesen lässt sich dies direkt vor der Gemeindeverwaltung. Als Daniel Gubler hinaustritt, dringt der Lärm einer der stärkstbefahrenen Strassen im Kanton zu ihm. «Das Dorfzentrum ist gar nicht mehr nutzbar», sagt er. «Der Lärm ärgert viele, aber alle nutzen ihr Auto.»
War der Raum um die Hauptstrasse früher noch ein Platz der Begegnung, teilt sie heute den Ort in ein Ober- und ein Unterdorf. Der Ur-Winznauer erinnert sich, wie es einmal war. Zwei Metzgereien, drei Lebensmittelläden, eine Bäckerei und die Dorfbeizen Frohsinn, Tannenbaum und Traube hat er noch erlebt. Wo man einst in der Traube einkehrte, ist heute nur noch ein liebloser Kiesplatz mit leeren Sitzbänken. Auf der anderen Strassenseite steht der stattliche Bauernhof der Familie Grob. Doch bald ist er nur noch Kulisse. Die Bauern sind mit ihren Tieren bereits an den Fuss des Jurahügels etwas weiter nördlich ausgesiedelt.
Daniel Gubler erinnert sich an andere Zeiten, als die Hauptstrasse während der Fasnacht der grosse Treffpunkt war und die Kinder beim «Beck» um die Ecke gratis Schenkeli und Berliner erhielten. Sie spannten Fasnachtsbändeli über die Strasse, welche von den vorbeifahrenden Autos mitgerissen wurden. «Damals hofften wir, dass endlich ein Auto kommt», sagt Gubler und strapaziert dabei seine Stimmbänder, um gegen den Verkehrslärm anzukommen.
Mehr Grün gegen den Lärm
Die Strasse durchs Dorf ist ein zentrales Element im räumlichen Leitbild. Der Wunsch der Bevölkerung nach weniger Lärm und sicheren Übergängen war einhellig. Nur ist die Gemeinde dabei auf den Kanton als Eigentümerin der Strasse angewiesen. Und der Handlungsspielraum ist beschränkt. «Wenn wir an einem Ort schrübelen, verschlechtert sich die Situation an einem anderen», sagt Gubler. Als Beispiel nennt er die diskutierte Temporeduktion durchs Dorf. Eine solche Auflage würde auch den öffentlichen Verkehr ausbremsen und die guten Anschlüsse in Olten gefährden. Winznau will deshalb einen anderen Weg gehen und die Strassenränder begrünen. In einer Testphase wird die Hauptstrasse am Dorfausgang in Richtung Obergösgen als Allee aufgewertet. «Damit soll die Fahrbahn optisch eingeengt wirken, wodurch sich das Fahrtempo reduzieren soll», erklärt Gubler.
Keine hundert Schritte dorfabwärts ist der Strassenlärm kaum noch wahrnehmbar. Winznau zeigt sein freundliches Gesicht als ländliche Wohngemeinde. Viel Grün. Ein paar Schafe. Grössere Siedlungen, aber auch Einfamilienhäuser. Und schon sind wir beim Aarekanal angelangt, gesäumt von hohen Pappeln, einem beliebten Fotosujet in der Region. Der Blick zurück gibt die Sicht frei auf das Dorf, das sich am Jurafuss erstreckt. Was für ihn im Austausch mit der Bevölkerung die wichtigste Erkenntnis gewesen sei, frage ich den Gemeindepräsidenten. «Dass wir so bleiben wollen, wie wir sind, und das Ländliche und Ruhige bewahren möchten», sagt Gubler. «Den Leuten gefällts.»
Aus der Ferne sind die Bagger zu sehen, wie sie am Aarekanal das Fundament für den Huttler-Park graben. Die gut fünfzig Wohnungen seien schon fast alle vergriffen, erzählt Gubler. Wohnen am Wasser lockt die Menschen hierhin. Es dürfte zumindest für die nächsten Dekaden eine der letzten grünen Wiesen sein, die einer Siedlung weicht. Die Gemeinde will sich künftig vor allem innerhalb des bestehenden Siedlungsraums entwickeln und verdichten und nur noch langsam wachsen. «Qualitatives Wachstum» ist auch in Winznau das neue Zauberwort. Beim Huttler-Projekt habe die Gemeinde entscheidend Einfluss genommen, so Gubler.
Vor ein paar Jahren kam mit der «Landi» zwar eine grosse Ladenkette ins Dorf. Weil das dorfeigene Gewerbe aber über die Jahre verloren ging, findet das Dorfleben primär in den Vereinen und an Dorfanlässen bei der Primarschule statt. Grosses Gewicht hat etwa der Fussballklub, der beim räumlichen Leitbild mitreden durfte. In den Quartieren würden sich die Menschen kennen, meint Gubler auf die Frage, ob auch viele Menschen hier die Anonymität suchen würden. Er führt uns in das Quartier Moosacker, das uferabwärts gegen Obergösgen hin entstanden ist. Es ist ein direktes Ergebnis der letzten Ortsplanungsrevision vor gut zwanzig Jahren. Grosse Vorgärten und Häuser säumen das Aareufer und zeugen von wohlhabenden Einwohnerinnen. Im Quartier spielen ein paar Kinder auf den kaum befahrenen Strassen. Frühlingsferien daheim eben.
Auch Daniel Gubler selbst profitierte vor zwanzig Jahren von der Ortsplanungsrevision. Vergebens hatte er lange nach Land gesucht, um seinen Wunsch nach einem Eigenheim zu verwirklichen. Im Jahr 2000 konnte er doch noch eine Parzelle im Oberdorf ergattern, wie er erzählt. Es bedeutete ihm viel, in die Heimatgemeinde zurückkehren zu können, nachdem er zwischenzeitlich nach Obergösgen umgezogen war.
Identitätsstiftender Ortskern gesucht
Viele, die sich im Dorf aktiv einbringen, haben einen grossen Wunsch: Ein Dorfzentrum. Ein Phänomen, das sich in vielen Agglomerationsgemeinden beobachten lässt. Die Mobilität und der Individualismus haben die Gemeinden zu Schlaforten gemacht. Aber bei vielen ist das Bedürfnis geblieben, den Menschen auf dem Dorfplatz zu begegnen. Nur funktionieren die konstruierten Dorfzentren oft nicht, weil die Menschen doch den Weg in die Stadt oder ins Einkaufszentrum wählen.
Gemeindepräsident Daniel Gubler ist darum skeptisch. «Wird ein Dorfzentrum denn auch gelebt?», fragt er rhetorisch. «Wenn ich keinen Grund habe für den täglichen Einkauf oder um in die Beiz zu gehen.» Womit er beim zweiten, immer wieder genannten Wunsch angelangt ist: Einen Dorfladen würden sich viele zurückwünschen. Die Gemeinde habe alles versucht, sagt Gubler. Die Detailhandelsriesen rechneten, ob ein Laden in Winznau rentieren würde, kamen aber zum Fazit, dass die Einwohnerzahl auf mindestens 3000 anwachsen müsste.
Von den fürs räumliche Leitbild vorgebrachten Ideen, auf der grünen Wiese ein Dorfzentrum zu schaffen, hält er darum wenig. Was die Menschen da einen würde, bleibt offen. Oft genannt wird ein Spielplatz. Wenn, dann müsse es aber ein Ort mit geschichtlicher Bedeutung sein, findet Gubler.
Die Schule sorgt für Farbe im Dorf
Wir sind oben beim Schulhaus angelangt, das 180 Schülerinnen zählt und in diesen Jahren an seine Kapazitätsgrenzen stösst. Künftig soll sich die Lage gemäss Prognose wieder entspannen. Ein Schulhausprojekt steht trotzdem im Raum. Das über 100-jährige Schulhaus ist zwar saniert, aber der zweite Bau aus den späten 50ern ist in die Jahre gekommen. Vor zwei Jahren lehnte die Bevölkerung einen Kredit über 3,7 Millionen Franken ab. Für die einen war dies zu viel Steuergeld – die anderen wollten gleich einen Neubau, was in der Summe zum Nein führte.
Im Oberdorf macht sich das karstige Juragestein bemerkbar. Im hügeligen Gelände ist auch das Haus eingebettet, in welchem Gubler sein weit über die Region hinaus bekanntes Tischtennisgeschäft betreibt. In der Ferne ist das Dach des ausgesiedelten Bauernhofs der Familie Grob zu sehen. Ein paar Schritte weiter unten befindet sich einer dieser Plätze, an denen sich der Gemeindepräsident eine Art Dorfplatz vorstellen könnte. Jedes Jahr organisiert die Jungwacht Blauring hier ein Auffahrtsfest, zu welchem das Dorfleben aufblühe, wie Gubler schwärmt.
Das Brummen der Hauptstrasse wird wieder lauter. Wir erreichen einen kleinen Platz. «Hier stand die erste Turnhalle des Kantons», sagt Gubler nicht ohne Stolz in der Stimme. Die Gemeinde hatte einst die alte Dorfkirche zur Turnhalle umgenutzt. Die alten Gebäude, welche das Dorf charakterisierten, vermisst Gubler heute. «Aber es ist noch immer mein Dorf.»
Ich habe da etwas entdeckt in Thessaloniki. Ein Muster. Ich weiss nicht, wie okay es ist, das laut auszusprechen. Es geht um ältere Frauen. Sagen wir, Frauen in ihren Sechzigern und frühen Siebzigern. Ihre Haare sind auffällig oft rot bis violett gefärbt, und, als korreliere das mit ihrer Haarfarbe, sie sind auffällig oft nicht allzu freundlich. Ich will jetzt nicht sagen, je röter das Haarfärbemittel, umso unfreundlicher deren Käuferin. Nein, das ginge zu weit. Und doch kann ich nicht leugnen, dass da was ist. Ich schreibe diesen Text aber eigentlich nur, um mir selber wieder einmal vor Augen zu führen, dass Generalisierungen nie funktionieren. Dazu weiter unten. Zuerst schulde ich eine Erklärung.
Selten wurden mir – und ich weiss, wie privilegiert ich damit bin als weisse, westeuropäisch aussehende Frau – von fremden Menschen solch misstrauische Blicke zugeworfen wie von eben erwähnten griechischen Frauen. Auf der Strasse, von Balkonen herab, aus Autos: Immer wieder blicke ich in Augenpaare, zentral platziert zwischen rotgefärbter Haarpracht und Maske, die mir, so interpretiere ich, nicht gut gesinnt sind. Freundliches Grüssen hat bisher nicht geholfen – es wird meistens nicht erwidert. Viel mehr als eine Zurechtweisung von einem Balkon herab, ich solle bitte den Dreck aufnehmen, den mein Hund da gerade hinterlassen hat (was ich ohnehin tun wollte), habe ich an Gesprächen nicht erlebt.
Warum bloss?
Ich kann nur spekulieren. Die älteren Frauen, die vielleicht zur Risikogruppe gehören, könnten sich fragen, was ich zu Corona-Zeiten in dieser Stadt zu suchen habe. Könnte ich verstehen. Vielleicht macht die Pandemie die Menschen auch generell misstrauischer. Daneben – unabhängig vom Virus – spüre ich in Thessaloniki einen Generationenkonflikt, mit dem sich meine Beobachtung möglicherweise auch deuten liesse: Eine konservativ-christliche ältere Einwohnerschaft lebt hier Tür an Tür mit jungen Hausbesetzerinnen und Anarchisten. Sich aber als Anarchistin zu bezeichnen, auf der Strasse zu demonstrieren, als Frau die Haare an den Beinen wachsen zu lassen, offen bi- oder homosexuell zu sein oder, vielleicht noch schlimmer, einen Arabisch sprechenden Liebespartner zu haben, scheint hier oftmals wirklich Rebellion gegen die Eltern- und Grosselterngeneration zu bedeuten.
Das wird nicht hingenommen, sondern von konservativen Eltern mit aller Kraft zu verhindern versucht – offenbar nicht allzu erfolgreich, denn die linke Szene ist relativ gross, aktiv und jung. Es mag sein, dass mein Alter und mein Aussehen in diese Szene passen würden, und sich so die misstrauischen Blicke erklären lassen. Schliesslich kann es aber genauso gut sein, dass ich einfach die Wege einiger rothaariger Damen gekreuzt habe, die gerade nicht ihren besten Tag hatten.
Eigentlich auch egal
Denn jetzt kommt endlich das Beispiel, an welchem meine krude Theorie zerschlägt: meine Nachbarin Hellene. Sie ist etwa siebzig Jahre alt, trägt den vielleicht griechischsten aller Vornamen und eine dunkelviolette Dauerwelle. Sie bewohnt zusammen mit ihrem Ehemann seit 1981 ein kleines weisses Haus in Ano Poli, dem ältesten Stadtteil Thessalonikis. Ihr trautes Heim liegt direkt gegenüber dem Haus, das in den letzten Monaten meine WG war: Eine stattliche alte Villa, die seit einiger Zeit von jungen Menschen griechischer, italienischer, marokkanischer, deutscher, syrischer, spanischer und schweizerischer Herkunft besiedelt wird.
Nicht alle dieser jungen Menschen haben einen legalen Aufenthaltsstatus, und eine gewisse Affinität für exzessives Kiffen kann einigen nicht abgesprochen werden. Ich kann auch nicht behaupten, ich hätte während meiner Zeit in dieser Villa weder laute Stimmen noch laute Musik gehört. Hinzu kommt, dass ich selbst nicht im Haus übernachte, sondern mit meinem Freund zusammen in einem Lieferwagen, den wir vor dem Haus geparkt haben. Streng genommen stimmt das möglicherweise auch nicht ganz mit sämtlichen griechischen Gesetzen überein. Wie auch immer, ich will einfach sagen, es gäbe durchaus die eine oder andere Gegebenheit, die eine Nachbarin fortgeschrittenen Alters etwas irritieren könnte.
Nicht aber Hellene
Hellene strahlt mich an und grüsst mich laut, wo auch immer sie mir begegnet. Vom Balkon herab, aus der Haustüre heraus, mit dem Einkaufstrolleyvorbeispazierend. Hellene und ich führen auch Gespräche, obwohl wir keine gemeinsame Sprache sprechen. Dass ich kein Griechisch verstehe, hat sie noch nie davon abgehalten, mir Dinge zu erzählen. Ohne die geringste Ahnung, wovon sie spricht, antworte ich dann jeweils auf Schweizerdeutsch, bejahe das schöne Wetter und stimme ihr zu, dass der Frühling jetzt wohl langsam kommt. Sie lächelt dann immer und gibt hohe, gutheissende Töne von sich.
Dann kam der Tag, als in unseren Lieferwagen eingebrochen wurde. Das Fenster war eingeschlagen, unsere Wertsachen gestohlen, wir schlecht gelaunt, und Hellene stand mit finsterem Blick bei uns. Sie wandte sich an meine griechische Mitbewohnerin und sprach aufgebracht. Ich dachte mir: Jetzt kommt’s doch noch. Jetzt flucht sie über die Ausländer, die Roma, die besetzten Häuser im Quartier. Darüber, dass früher diese Stadt noch sicher war und dass heute alles anders ist. Aber okay, dachte ich, das ist eine Ausnahmesituation. Sie ist entschuldigt.
Hellene verstummte und ich bat meine Mitbewohnerin um eine Übersetzung. Ich erfuhr: Hellene hatte gesagt, sie hätte unseren syrischen Mitbewohner gesehen, wie er am Morgen nach dem Einbruch die Türe des Wagens geöffnet hatte, um uns beim Tragen zu helfen. Sie meinte, das könnte eventuell Probleme geben für ihn, wenn die Polizei seine Fingerabdrücke fände. Wir sollten aufpassen, sagte sie, vielleicht diese Klinke abwischen, bevor wir den Einbruch der Polizei meldeten.
Ich war etwas betreten. Innerlich entschuldigte ich mich bei der Nachbarin für meine falschen Vorurteile. Hellene, ich hätte Ihnen gerne gesagt, dass Sie mich mit dieser Aussage vom Hocker gehauen haben. Und für mich persönlich spätestens damit die Ehre aller etwas unfreundlichen älteren Damen wiederhergestellt haben.
Kebabbuden sind die neuen Dorfbeizen. Wo in der Provinz keine Läden mehr sind, da leuchtet durch ein Schaufenster meist irgendwo eine knallbunteMenükarte und hinter dem Tresendreht ein Fleischspiess. In den letzten zwei Dekaden wurden die Imbisslokale zum festen Bestandteil der Gastrobranche. Vor allem Migranten mit türkischen Wurzeln versuchen ihr Glück mit Fastfood. Die Buden stehen an Strassenecken, an Bahnhöfen oder an dicht befahrenen Hauptstrassen. Sie sind überall. In manchen Städten der Schweiz wuchern sie wie Unkraut. In Olten sind sie mittlerweile schon an bester Lage in der Innenstadt angekommen.
Nicht alle haben so viel Erfolg wie Süleyman Nagas. Ein kräftiger, kleingewachsener Mann mit herzhaftem Lachen. Er hat viel dazu beigetragen, dass Olten als Kebabhochburg gilt. Gegen die zwanzig Dönerbuden soll es in der Kleinstadt mit gut 18’000 Einwohnerinnen geben. Zwei davon führt Süleyman Nagas. Den Multipoint im Bifang und nun auch das Noon neben der Stadtkirche.
Das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber den Betreibern von Kebabbuden ist gross. Viele trauen ihnen nicht zu, dass sie sauber geschäften. Hinter vorgehaltener Hand wird Geldwäscherei, Schwarzgeld oder Steuerhinterziehung vermutet. Selbst Waffenhandel soll es in einem Oltner Lokal gegeben haben. Nur lassen sich solche Gerüchte kaum erhärten. Und am Ende essen doch alle Kebab und Pizza von der Bude um die Ecke. Vor allem die jungen Generationen zählen zu den Stammkundinnen. Sie sind nicht nur die Digital Natives, sie sind auch die Kebabkinder.
Die sanfte Ankunft der Drehspiesse
In Olten gab es die ersten Kebabs in den 90er-Jahren an einem Imbissstand vor dem Hammer, wie man sich in der Stadt erzählt. Auf der rechten Aareseite wuchs das Oltner Pizza Haus rasch zu einer Institution empor. Dann wechselte es die Strassenseite, in ein grösseres Lokal und ins Kebabgeschäft.
Ein Mal Kebab die Woche war für viele an der Kanti normal. Ein Schulfreund witzelte jeweils, er sei seines hohen Kebabkonsums wegen nicht mehr gewachsen. Damals in den Nullerjahren warteten die Schülerinnen auf der Treppe des Gymnasiums zu Dutzendschaften die Kebablieferung ab. Im Kleinwagen brausten die Kebabmänner heran und zogen die in Alu gehüllten Brote aus den Boxen. Für einen Fünfliber gabs das Taschenbrot mit Fleisch, Gemüse und Sauce, und dazu eine Dose.
Einer der Kuriere, die damals am Kanti-Hoger ihre Kebabs verteilten, war Süleyman Nagas, der mit dem Bifang-Imbiss seine erste eigene Bude führte. Alle nannten ihn Mikael. Warum, weiss er selbst nicht genau. Bis heute ist es sein Spitzname geblieben. Er selbst bezeichnet sich heute immer wieder als «Professor Doktor Kebabmann» und zeigt dabei sein breites Lachen.
«Ich liebe Kebab – ich liebe», sagt er immer wieder, während er in seinem neu eröffneten Lokal an der Kirchgasse steht. Die Geräuschkulisse setzt sich aus penetranter TV-Musik und dem Klacken der Schneidebretter zusammen, auf denen die Angestellten frische Zutaten hacken.
Bald an jeder Ecke
1994 kam Süleyman Nagas als Asylbewerber in die Schweiz und strandete im tiefen Wallis in Naters. Als Alevit gehörte er in der Türkei zu einer unterdrückten Minderheit. «Wenn du an einenguten Ort kommst, ist es schwer, sich durchzusetzen», sagt Nagas und erinnert sich an seine Anfänge in der Schweiz. Damals war man hierzulande noch nicht auf den Geschmack von Kebab gekommen.
Wo die Ursprünge des Döner Kebab liegen, ist nicht vollends geklärt. Der Drehspiess soll jedoch in Anatolien eine lange Tradition haben. Wie das Fladenbrot dazu kam, ist ein kleines Mysterium. Berlin Tourismus verkauft den Döner Kebab jedenfalls gerne als eine Erfindung aus der deutschen Hauptstadt. Ein türkischer Migrant namens Kadir Nurman soll dort 1972 als erster das Fleisch in einen Fladen gesteckt haben. Später kam das Gemüse dazu. In der Schweiz dauerte es bis in die Nullerjahre, ehe der Kebab in der Schweiz endgültig ankam. Dann aber explodierten Angebot und Nachfrage richtig.
Süleyman Nagas stieg Ende der 90er-Jahre ins Fastfood-Geschäft ein, als er nach Olten kam. Erst arbeitete er im Ring- und später im Hammer-Imbiss, bevor er 2004 seinen ersten eigenen Laden im Bifang aufmachte.
Zwist in der Dönerszene
Offizielle Zahlen, wie viele Kebabbuden in der Schweiz existieren, gibt es nicht. Auch weil die Branche kaum organisiert ist. Zwar gründeten ein Dutzend Geschäftsleute aus der Kebabwelt 2016 den «Döner Kebab Gewerbe Verband» der Schweiz. Sein Einfluss blieb jedoch bescheiden. Heute ist der Dönerverband nicht mehr aktiv, er hatte in der Branche keinen Rückhalt gefunden – vermutlich, weil gewichtige Vertreter der Branche ihre Vormachtstellung auf dem Markt bedroht sahen, wie der Landbote 2016 berichtete. Der Firmeninhaber von Royal Döner, der in der Produktion der Dönerspiesse als Marktführer gilt und 2017 die nach eigenen Angaben modernste Dönerfabrik der Welt eröffnete, wollte nichts mit dem Verein zu tun haben. Die Eigeninteressen der Leute im Verband stünden im Vordergrund, begründete er.
Das führte dazu, dass die Dönerbranche bis heute wenig transparent ist. Über Zahlen sprechen dieDönerproduzenten ungern, wie ein Insider sagt, der nicht genannt sein will. Geschäftsgeheimnisse werden gewahrt, auch weil Neid und Eifersucht unter der Konkurrenz offenbar nicht selten sind. Für die Schweiz gibt es grobe Schätzungen: Der Dönerverband sprach vor fünf Jahren von rund 3000 Dönerbuden und für das Jahr 2015 von einem Dönerfleisch-Konsum von 24’000 Tonnen. Binnen zehn Jahren hatte sich das Volumen verzehnfacht. Aktuelle Zahlen lassen sich nicht finden.
Auch im beschaulichen Olten existiert der Konkurrenzkampf. Gerade durch Corona haben viele Kebabbuden arg gelitten. Wegen Fernunterricht und Homeoffice blieben bei vielen die Stammkunden weg, wie ein Mitarbeiter einer Bude auf der rechten Stadtseite berichtet. Und gleichzeitig drängen noch immer neue Lokale auf den Markt, was die Situation zusätzlich anspannt.
Einer dieser Neuankömmlinge ist Süleyman Nagas’ Projekt Noon. Während der schwierigen Zeit verharrte das fertig ausgebaute Lokal im Stillstand. Die Eröffnung schob sich hinaus. Eine sechsstellige Summe habe er an Miete bezahlen müssen, bevor er überhaupt öffnen konnte, erzählt Nagas. Im März dann war es endlich so weit: Lange Schlangen bildeten sich bis zur Stadtkirche hin. Nagas weiss, wie er die Kundinnen anlockt. Mit einer Fünfliber-Aktion, wie damals an der Kanti.
Nagas ruft einen jungen Mann herbei, der gerade einen Kebab bestellt, und bittet ihn um eine Referenz. «Er ist die Legende von Olten», sagt dieser und zählt all die Imbissbuden auf, in welchen Nagas schon gewirkt hat. Dann entfernt er sich wieder. Ein Stammkunde? «Alle sind Stammkunden», antwortet Nagas. Der grösste Trubel ist kurz nach der Mittagszeit vorüber, als die Kantonspolizei vorbeischaut und Süleyman Nagas kurz zur Seite nimmt. Sie weist ihn an, die grossen Kundenströme besser zu lenken und auf die Coronamassnahmen aufmerksam zu machen. Und dann bestellt das Polizei-Duo Kebab. «Die Leute haben Kebab gerne, weisst du. Einmal essen – bis gestorben nicht vergessen», sagt Nagas und lacht herzhaft.
Der Stammgast, der zum Fussballstar heranwuchs
Überliefert ist auch die Geschichte eines anderen Stammkunden. Der Tagesanzeiger schrieb vor einem guten Jahrzehnt über Nagas’ aussergewöhnliche Beziehung zum Oltner Fussballer Gökhan Inler. Lange bevor er in den grossen Ligen dieser Welt und der Nationalmannschaft zum Fussballstar heranreifte, war Klein-Gökhan einer seiner Gäste. «Er muss der Beste sein. Er isst meinen Kebab», sagte Nagas stolz zum Tagesanzeiger, als dieser ihn im Multipoint im Bifang besuchte. Das signierte Leibchen von Udinese gehörte zur Innendekoration des Ladens. 2007 war Nagas noch mit dem Auto von Olten nach Lugano gefahren, um die gesamte Nationalmannschaft mit Kebab zu beliefern.
Seither hat Inler auf dem Fussballplatz an Glanz eingebüsst. Er spielt heute beim türkischen Klub Adana Demirspor. Er ist nicht mehr der Bub ohne Geld im Hosensack, dem Nagas einen Kebab spendieren muss. «Wenn Menschen reich werden, vergessen sie die armen Menschen», sagt Nagas. «Ich liebe ihn noch immer. Nur ist er jetzt ein reicher Mann.»
Nagas fühlt sich im kleinen Olten wohl und ist hier seinen Weg gegangen. Mit dem Multipoint ist er erfolgreich, er führt das Geschäft heute noch neben dem Noon. Im Bifang gehen pro Monat über zwei Tonnen Dönerfleisch über die Theke – jeden Tag verkauft Nagas über 200 Kebabs. «Ich habe genug Erfahrung, genug Geduld», sagt er.
Erst der Anfang?
Vom Lokal an der Kirchgasse träumte Nagas schon in den 90er-Jahren. Mit seinem Geschäftspartner Bülent Saridas – dem Inhaber der in Rothrist angesiedelten Produktionsfirma Oliva Döner AG – hat er gut zwanzig Jahre später seinen Wunsch erfüllt. Es ist nicht ihre einzige Vision. Gemeinsam mit einem weiteren Kebabgastronomen aus der Region Luzern wollen sie eine Restaurantkette aufbauen. Wegen der Coronakrise haben sie das Projekt vorübergehend auf Eis gelegt.
Mit seinen ambitionierten Plänen stösst der 49-Jährige in der Dönerszene nicht nur auf Gegenliebe. «Die Leute fürchten mich. Ich mache meinen Job gut, sehr gut sogar», sagt Nagas. Konkurrenzkampf gehöre aber zum Geschäft, erklärt er und erwähnt Lidl und Aldi, Coop und Migros, die immer Tür an Tür stünden und die gleichen Produkte anböten. «Ich liebe jeden Menschen und es ist besser, wenn jedes Geschäft läuft», sagt Nagas. Man glaubt, den Aleviten in ihm herauszuhören, der sich um ein friedliches Miteinander im Diesseits bemüht. Im alevitischen Glauben gibt es kein Jenseits und keine Auferstehung.
Schon in seiner Heimatstadt Gaziantep, in Anatolien nahe der syrischen Grenze, sei er Geschäftsmann gewesen, erzählt Nagas. Vor seiner Flucht war er ein «Kleidermann», wie er sagt. Das Geschäften habe er vom Vater gelernt, der fünfzig Jahre lang «Business» gemacht habe. Als er vor sechs Monaten wie so oft mit seinem Vater telefonierte, sei der gut beisammen gewesen und habe gearbeitet. Tags darauf war der 86-Jährige tot. «In meiner Familie sind wir krank für die Arbeit», sagt er. «Bis ich pensioniert bin, machen wir hier Kebab.»
Ein langfristiger Mietvertrag als Schlüssel
Nagas weiss um das Misstrauen seinem Berufsstand gegenüber. Die Frage, wie es möglich sei, ein Kebabgeschäft an Innenstadtlage rentabel zu betreiben, hat er erwartet. In der Stadt sprach sich rasch herum, dass die Besitzer gut 17’000 Franken Miete für das Lokal verlangen. «Die Menschen fragen sich, wie wir uns diesen Mietzins leisten können. Aber mit einem Mietvertrag über dreissig Jahre haben wir einen guten Preis herausgeholt.» Bis zu tausend Kebabs pro Tag möchte er an der Kirchgasse verkaufen, erzählt er. Sein Gesichtsausdruck verrät nicht, ob er die Zahl ernst meint. 21 Stunden am Stück, von sieben Uhr morgens bis vier Uhr in der Früh, plant er das Lokal zu öffnen, wenn die Pandemie vorüber ist. Damit will der Kebab-Geschäftsmann das Seine dazu beitragen, Olten wieder zu beleben. Das Lädelisterben, die leeren Gassen sind auch ihm nicht entgangen. «Wir müssen Bewegung bringen, Olten braucht vor allem mehr Nachtleben», sagt Nagas.
Der Döner Kebab gehört unweigerlich zum Stadtbild. An der Eingangstür zu seinem Lokal an der Kirchgasse hat Nagas sein Motto angebracht: «Ohne Kebab lebe nid!». Professor Doktor Kebabmann ist auf einer Mission. «Dafür gebe ich mein Herz.»
Die Kluft zwischen links und rechts reisse immer mehr auf, heisst es oft. Und man könnte meinen, die Polarisierung sei auch in Olten fortgeschritten. Vielleicht, weil die beiden Lager kräftemässig so nah beieinanderliegen und in der aktuellen Legislatur eine Pattsituation vorliegt. Vielleicht, weil in Olten wie in vielen Kleinstädten zusehends ein Linkstrend auszumachen ist. Damit könnte sich die Mehrheit in diesem Jahr endgültig verschieben. Und die Bürgerlichen wehren sich dagegen.
Der Wahlkampf ist heftig: Selbst das lokale Gewerbe bekennt deutlicher Farbe als auch schon. Wer etwa in der Traditionsbeiz «Chöbu» seinen Hamburger für daheim holt, erblickt statt der Gewehre an den Wänden grosse Wahlblachen. Und die städtische Brauerei Drei Tannen haut für ihr Team auf die Werbepauken. Irgendwie charmant. Olten bleibt eine Kleinstadt, die Wege sind nun mal kurz.
Wie das mit Rechts und Links in Olten so ausschaut? Durch Smartvote erhält das politische Gefüge ein Gesicht. In einem hübschen Schema, welches das OT abbildete, sind alle Kandidierenden mit einem Punkt im politischen Spektrum verordnet. Die städtische SVP posaunte: «Die Oltnerinnen und Oltner haben am 25. April die Wahl zwischen linkem Einheitsbrei oder bürgerlicher Ideen- und Meinungsvielfalt.» Nur ist das Schema bedingt aussagekräftig, da viele der 49 Fragen der Online-Wahlhilfe nicht spezifisch Oltner Sachthemen betreffen. Trotzdem kann die Wählerin über den Fragebogen herausfinden, wer ihrer eigenen Grundhaltung am nächsten steht.
Der Links-rechts-Wahlkampf mag auf die einen zermürbend wirken. Da tut ein Beitrag wie jener von Ursula Rüegg in der Neuen Oltner Zeitung auch mal gut: «Wir brauchen beide Seiten der Waage», schreibt sie. Ohnehin lässt sich – zum Glück im Sinne der Sache – nicht immer alles auf die beiden Pole reduzieren. Und doch wird die Waage auf eine Seite ausschlagen. Das SRF-Regionaljournal prophezeit zurückhaltend, dass die Linke im Parlament die Mehrheit erringen wird. Das OT wälzt die Argumente, wagt sich aber nicht auf die Äste hinaus und bilanziert: Alles ist offen.
Die Parteien kämpfen derweil weiter um die Gunst der Wählerinnen. Die Linke betreibe Klientelpolitik, ruft die Rechte. Die Bürgerlichen würden sich in Verhinderungspolitik üben, schreit die Linke. Und die Mitte? Manchmal scheint es sie fast nicht zu geben, weil sie sich im Wahlkampf aus unerfindlichen Gründen gerne an die Rechte schmiegt, statt sich klarer als Mitte zu profilieren. Immerhin gesellt sich CVP-Co-Präsident Darryl Fiechter im Wahlkampf zur rappenden Zunft. Und er wirft alle Hemmungen ab, wenn es darum geht, seinen Stadtratskandidaten Beat Felber anzupreisen.
Mittelmass, Medienschwindel, Zukunftsmusik
Wo wir schon bei der Mitte sind: Die NZZ erklärte neulich mal wieder, was Olten für sie sei. Mittelmass halt. Zumindest haben wir es so verstanden. In einem Leitartikel schrieb Inland-Leiterin Christina Neuhaus: «Wer heute im Zug von St. Gallen nach Bern fährt, muss damit rechnen, in Olten oder – noch schlimmer – in Oensingen zu landen.» Ui, ganz schlimm, dachten wir auch! Unser Beileid, liebe Frau Neuhaus, auch für den Umstand, dass es nur zum Griff in die Klischee-Wühlkiste gereicht hat. (Es ging in dem Text übrigens darum, wie die Schweiz die Coronakrise meistert: Mittelmässig eben. Das Onlineportal Infosperber schrieb in seiner Kritik zum Thema: «Im Meckern sind die Medien Spitze.»)
Und noch etwas zur Medienlandschaft und dem Zerfall im Lokaljournalismus. Bei den Grosskonzernen, denen immer mehr Medientitel gehören, nimmt der Abbau seinen Lauf, wie sich derzeit in Bern zeigt: Tamedia legt mit der «Berner Zeitung» und dem «Bund» zwei Traditionszeitungen zusammen und streicht zwanzig Arbeitsplätze. Die Titel bleiben bestehen, die Inhalte werden jedoch dieselben. Der Konzern kennt dieweil keine Skrupel. Er behauptet frisch-fröhlich, die Eigenständigkeit der Titel sei gewahrt. In Olten steht der Lokaljournalismus vergleichsweise noch gut da. Nicht zuletzt auch dank Kolt. (Ups, Eigenlob stinkt!)
Zum Schluss noch ein Lesetipp: Wie wir schon geschrieben haben, macht das Coq d’Or bald endgültig zu. Im Stadtanzeiger sprach Daniel Kissling seine Gedanken zur Zukunft des Kultlokals aus. «Es gibt momentan zwei Varianten. Die realistischere ist, dass wir nun erst mal durchschnaufen.»
Die Demokratie lebt in Olten. Eines ihrer Elixiere sind die parlamentarischen Vorstösse. Mit ihnen können die Volksvertreterinnen die Stadt vorwärtsbringen. Den Diskurs alimentieren. Aber auch Entscheide der Stadtregierung hinterfragen. Oder die Stadt damit beauftragen, eine neue Idee zu prüfen.
Die Parlamentarier wollen so allerhand Dinge verändern. Kurz vor den Wahlen von Ende April gingen bei der Stadtkanzlei die neusten Vorstösse ein. Sie wollen die Stadt dazu bringen, die Winkelunterführung zu kaufen. Neue Massnahmen gegen Littering zu ergreifen. Die Tannwaldstrasse und die Kirchgasse zu begrünen. Oder dass städtische Liegenschaften künftig nur noch mit Biogas beheizt werden.
Blindflug auf olten.ch
Mit ihren Forderungen bringen sich die Parteien als Macherinnen in Position. Das sei bloss Wahlkampf, mögen die einen monieren. Denn Wahltag ist Zahltag: Wenn die Bevölkerung die Qual der Wahl hat, müssen alle ihren Leistungsausweis vorlegen: «Wir haben dies und jenes verändert, bewirkt, geschaffen – aber auch verhindert», schreiben die Parteien dann auf ihren Wahlprospekt.
Überprüfen, wer nun was geleistet hat, kann die Wählerin nur schlecht. Auch für Journalisten ist es bisweilen schwer, den Überblick zu behalten. Und selbst Politiker sagen, manchmal würden sie ihre eigenen Vorstösse kaum noch finden. Schuld daran ist vor allem die ungenügende Online-Datenbank der Stadt. Hilfreich wäre beispielsweise, wenn die Vorstösse thematisch gebündelt würden und sich der aktuelle Stand der einzelnen Vorstösse einfacher zurückverfolgen liesse. Dadurch würden die politischen Prozesse auch über die vierjährige Legislaturperiode hinweg transparenter.
Eine gelinde gesagt wenig übersichtliche Excel-Liste zeichnet bildlich gesprochen den politischen Herzrhythmus des Parlaments auf: In diesem Dokument sind sämtliche politischen Vorstösse der Legislative dokumentiert. Sie sind ein Indikator, um zu analysieren, wie aktiv die Parteien sich an der Politik beteiligen.
Tatkräftig oder hyperaktiv?
Philippe Ruf präsidiert momentan als höchster Oltner das Parlament. Durch sein Amt erhielt er einen vertieften Einblick ins Innenleben der städtischen Polit-Mühlen, wie er erzählt. Ruf hat sich die Mühe gemacht und die Vorstösse der sich dem Ende zuneigenden Legislatur quantitativ ausgewertet. «Ich wollte aufzeigen, wer in diesem Parlament wirklich arbeitet», sagt der Präsident der städtischen SVP. Aber er betont sogleich: Die Zahl der Vorstösse sage nichts über deren Qualität – also letztlich deren Wirkung – aus.
Die passiveren Parteien mögen sich auf den Standpunkt stellen: Eine Flut an Vorstössen käme dem Wald gleich, der vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen sei. Ein Telefon auf die Stadtverwaltung hätte gereicht – der Vorstoss sei überflüssig gewesen, ist manchmal in den Parlamentssitzungen zu hören. Dass parlamentarische Vorstösse die Stadtverwaltung beschäftigen und somit indirekt auch Kosten verursachen, ist eine Tatsache. Doch ebendies ist die Aufgabe des Parlaments: Politische Forderungen auszuarbeiten und umzusetzen.
Die quantitative Analyse sagt eben doch etwas darüber aus, wie stark sich die Parteien engagieren. Und welche Parteien viele «Hinterbänkler» auf den Sitzen haben. Denn nicht wie im Lehrbuch festgehalten, beschränkt sich die Arbeit der Legislative in einer Kleinstadt nicht auf die Gesetzgebung. Das Parlament gestaltet viel mit, unterstützt die Regierung aktiv und kontrolliert diese auch. Nutzt eine Fraktion also die ihr zur Verfügung stehenden Instrumente nicht, liesse sich urteilen, sie erfülle den Auftrag der Wählerschaft nicht.
Für das Oltner Stadtparlament ergibt sich ein interessantes Bild. Wir haben die durch Philippe Ruf ausgewerteten Vorstösse ergänzt und vertieft analysiert:
Bis Ende März gingen in der gut dreieinhalb Jahre alten Legislatur auf der Stadtkanzlei insgesamt 132 Vorstösse ein. Die Grünen haben pro Fraktionsmitglied vor der SVP und der SP am meisten Vorstösse eingereicht. Jene Parteien, die kaum Vorstösse lancieren, könnten indes grün angehaucht argumentieren (– so von wegen Wald und Bäume –), sie verursachten keine Papierstapel im Stadthaus:
Dennoch müssen sich die Parteien am Schluss der Rangliste den Vorwurf gefallen lassen, selbst kaum Ideen oder Lösungsvorschläge eingebracht – oder auch die Vorgänge im Stadthaus hinterfragt zu haben. In absoluten Zahlen sieht das wie folgt aus:
Mit weniger als zehn Vorstössen bilden die FDP und die CVP/EVP/GLP-Fraktion das Schlusslicht, obwohl sie die zweit- und drittgrösste Fraktion stellen. Die SP als grösste Fraktion hat mit Abstand am meisten Vorstösse eingereicht, nämlich deren 45. Überparteiliche Vorstösse gab es rund 20, wobei diese selten die beiden politischen Pole überspannen. Für den Fortschritt der Stadt wäre zu hoffen, dass künftig mehr Konsens gefunden wird.
Aus zwei mach eins?
Im Diagramm oben sind die Vorstossarten graphisch aufgeschlüsselt. Am häufigsten greifen die Parlamentarier auf die Interpellation zurück: Ein Instrument, das von der Stadtregierung zu einer bestimmten Sache Auskunft verlangt. Dahinter folgen Postulat und Motion: Ersteres ist ein Prüfungsauftrag an den Stadtrat. Bei zweiterer hat der Stadtrat eine Vorlage auszuarbeiten und diese dem Parlament zu unterbreiten. Der grosse Knackpunkt ist dabei jeweils: Die Sache muss in der Entscheidungskompetenz des Parlaments liegen.
Künftig soll jedoch nicht mehr zwischen Motion und Postulat unterschieden werden. Die Stadt stimmt Ende Monat darüber ab, ob der Auftrag die beiden Vorstossarten ersetzen soll. Das Kantonsparlament arbeitet bereits mit diesem Instrument – in Olten gibt es den Auftrag seit Anfang Jahr (siehe Grafik). Nach aussen mag dies Klarheit schaffen. Intern werden zwischen Fraktionen und Regierung wohl weiterhin Debatten zur Gretchenfrage geführt: Motion oder Postulat?
Der Blick in die Glaskugel
Nach dieser quantitativen Analyse müssen wir eingestehen: Die Wirkung der parlamentarischen Vorstösse auszuwerten, wäre enorm aufwendig. Zudem ist eine Bewertung je nach Thematik auch subjektiv beeinflusst: Wertet die Linke die Aufhebung von Parkplätzen als Erfolg, kommt dies für die Rechte einem Rückschritt gleich. Zumindest sofern die gestrichenen Parkmöglichkeiten nicht durch eine Tiefgarage kompensiert werden.
Trotzdem wagen wir einen kurzen Blick auf die Vorstösse der vergangenen Legislatur: Zu den dominierenden Themen gehörten der Klimawandel und die Energiewende – was eng mit den vielen Vorstössen von Rot-Grün zusammenhängt. Sie erreichten beispielsweise, dass Olten bis 2024 das Label «Energiestadt Gold» anstrebt. Eine Mehrheit fand auch die überparteiliche Motion, die von der Stadtverwaltung fordert, bis 2030 das «Netto-Null»-CO2-Ziel umzusetzen.
Von links bis rechts standen in den letzten vier Jahren die Städtischen Betriebe Olten (sbo) im Fokus, was sich in der Zahl der diesbezüglichen Vorstösse niederschlägt: Der Wunsch nach mehr Transparenz bleibt zu mehreren Punkten bestehen. Parlamentarier stören sich etwa an den Verwaltungsratshonoraren oder der unklaren Strategie und der Rolle der Stadtregierung. Mehr Transparenz will die Linke zudem künftig bei der Parteienfinanzierung auf kommunaler Ebene. Die Motion dazu fand eine knappe Mehrheit im Parlament.
Stark gefordert ist durch die parlamentarischen Vorstösse derzeit das Baudepartement: Aus dem Parlament kamen zahlreiche Vorstösse zu den diversen anstehenden Grossprojekten. Etwa zum Schulhaus Kleinholz oder dem Kunstmuseum. Ein Dauerbrenner bleibt die Winkelunterführung. Aber auch die Belebung und Begrünung der öffentlichen Plätze Munzinger und Kirchgasse. Mehrere Vorstösse zum Veloverkehr sind zudem pendent. Die weitere Liste der Themen ist lang: Glasfaser, Krematorium, die neue Interventionsgruppe SIP, Tagesschulen und das Littering-Problem bilden weitere Schwerpunkte.
Halt, stopp!
Auch wenn das Links-rechts-Schema nicht immer gilt, ist offensichtlich: Die Linke setzt im Parlament das Gros der Themen. Doch Vorstösse sind nicht die einzige Währung in der Kommunalpolitik. Abseits des Gemeinderatsaals legten die Bürgerlichen mittels Referendum mehrfach ihr Veto ein. Und verbuchten dabei überraschende Erfolge: FDP und SVP verhinderten mit dem Budgetreferendum 2019 eine Steuererhöhung. Im selben Jahr versenkten die Stimmberechtigten auch das Parkierungsreglement.
Nicht nur der (kostenintensive) Fortschritt gehört zur Demokratie, sondern auch die Handbremse. Oder um es im positiven Sinn zu formulieren: Das Veto an der Urne ist eine gewollte Korrektur unserer Demokratie. Und es ist ein Indiz dafür, dass die Volksvertreterinnen in einer einzelnen Sache nicht die Mehrheit der Bevölkerung repräsentieren. Nur: Würden die passiveren Fraktionen stärker mitwirken, liesse sich womöglich in vielen Fällen ein Veto umgehen. Mit einem sachbezogenen Kompromiss.
Just aufs Osterfest hin flatterten die Wahlunterlagen ins Haus. Oder vielleicht sollte man es doch eher ein «Plumpsen» im Briefkasten nennen: Ein Umschlag dick wie ein Buch lag darin. Schuld an der sprichwörtlich dicken Post sind die Gemeinderatswahlen – Olten wählt Ende April sein 40-köpfiges Stadtparlament. Bei den Lokalparteien steigt die Nervosität.
Selbst die FDP ist aus dem Dornröschenschlaf erwacht und hat nach der Schlappe an den Wahlen im März alle Hebel gezogen. FDP-Stadtrat Benvenuto Savoldelli mischte sich am Osterwochenende am Wochenmarkt unter die Menschen. Im März hatte er gelinde gesagt noch einen dezenten Wahlkampf geführt. Auf die Wahlen wollen wir an dieser Stelle Ende dieser Woche vertieft eingehen.
Ist der Tod politisch rechts oder links? Was für eine absurde Frage. Aber wenn’s ums Sterben geht, steht die politische Welt schon mal Kopf. Festgefahrene Haltungen werden beiseitegeschoben, die Emotion obsiegt. Das zeigt sich derzeit auch in der Debatte um die Frage, ob Olten sein Krematorium schliessen soll oder nicht. Just auf die Feste Karfreitag und Ostern, an welchen die Christen der Leiden Jesu Christi am Kreuz und seiner Auferstehung am Ostersonntag gedenken, lancierten das SRF-Regionaljournal und das Oltner Tagblatt den Abstimmungskampf. Eine Auferstehung könnte nun auch das Krematorium erfahren. Möglich macht dies ein Referendum. Es will die vom Parlament gutgeheissene Schliessung rückgängig machen.
Die verkehrte Welt
Vater des Referendums ist – wieder einmal – Stadtratskandidat Rolf Sommer. Und um die Auferstehung zu strapazieren: Beflügelt durch die emotionale Debatte, erhofft sich der SVP-Kantonsrat für die Stadtratswahlen eine ebensolche. Im ersten Wahlgang war er chancenlos geblieben. Anders als bei seinen bisherigen Referenden, will Rolf Sommer in diesem Fall für einmal nicht die Stadtausgaben drosseln. Im Gegenteil, die Stadt soll Geld investieren (zwischen zwei bis drei Millionen Franken), um den Krematorium-Ofen zu erneuern.
Und für einmal sind der SVP auch die Gebühren recht. So sagt Sommer im Regionaljournal, die Anlage liesse sich sehr wohl «wirtschaftlich» betreiben. Dazu müsse die Stadt die Preise der Einäscherung entsprechend festlegen. Aarau und Langenthal lieferten den Beleg dafür. In Olten ist das Krematorium momentan nicht selbsttragend, wie das OT aufzeigt.
«Nur Wohnen und Schlafen in Olten reicht nicht. Wo sind die Kreativität und die Investitionen geblieben?», schreibt Rolf Sommer im OT. Man reibt sich die Augen. Im Stadtratswahlkampf sagte der selbsternannte «Realist» Sommer gegenüber Kolt: «Wenn wir bei 2000 Franken nicht sparen lernen, müssen wir aufhören.» Aber zwei bis drei Milliönchen für einen neuen Ofen und ein nicht kostendeckender Betrieb: Das passt schon.
Rationalität versus Emotion?
Ist in der Frage um’s Krematorium alles spiegelverkehrt? Man könnte es denken. Denn die Linke – und mit ihr die CVP und die GLP – sieht beim Krematorium für einmal Sparpotenzial. Die Linke und die Mitte sind zwar in zwei Lager gespalten. Jedoch haben die Befürworter der Stilllegung die Oberhand. GLP-Gemeinparlamentarier Christian Ginsig machte im letzten Herbst in seinem Blog transparent, welche Überlegungen ihn dazu bewogen, gegen das Krematorium zu stimmen: Es sei ein rationaler Entscheid.
Dass lokale Bestattungsunternehmen künftig vermehrt die Leichname in die Nachbarstädte fahren müssten, sticht bei der Linken nicht als Argument. Die ökologisch besseren, weil modernen Öfen in den umliegenden Städten schon eher. Und wohl erst recht, dass in Aarau und Langenthal noch grosse Kapazitäten bestehen. Sie könnten die rund 1000 Einäscherungen übernehmen, die Oltens Krematorium jährlich durchführt.
Aber eben, da ist unsere Emotion. Doch geht’s überhaupt um sie? «Die wenigsten wissen, wo der Papa kremiert wurde», sagt Baudirektor Thomas Marbet im Regionaljournal. Essentiell ist, dass es bei der Abstimmung nicht um das historische Gebäude auf dem Friedhof Meisenhard geht. Sondern «nur» um den Ofen, der darin ist. Die Abdankungshalle bleibt bestehen. Das Abschiednehmen in Olten wird ohne Ofen nicht weniger emotional.
Anwohnerinnen fordern auf Oltens Trottermatte ein Aufenthaltsverbot für die Nacht, wie das Oltner Tagblatt berichtet. Die Schussabgabe auf der Trottermatte hat offensichtlich das Sicherheitsgefühl mancher Menschen erschüttert. Das OT schreibt: «Der Ort verwandelt sich zunehmend in einen Drogenumschlagplatz. Im vergangenen Monat kam es im Gebiet gar zu einer Schussabgabe, bei der eine Person verletzt wurde.»
Das klingt mal wieder nach Wildwest in Olten. Oder hat das OT sich hier mit einer Prise Boulevardjournalismus übernommen? Die Fakten, warum die Trottermatte «zunehmend» zu einem Drogenumschlagplatz werde, fehlen nämlich gänzlich. Das OT suggeriert, die Schussabgabe und Littering seien ein Beleg dafür.
Der Rest des Artikels ist differenzierter: Der Stadtrat spricht sich gegen das Verbot aus. Und Stadtschreiber Markus Dietler wie auch die Polizei ordnen die Schussabgabe fernab der Polemik als «höchst seltenen» Vorfall ein.
Und zum Schluss noch dies
Wie würde es aussehen, wenn die Ever Given– das gigantische Frachtschiff, das den Suez-Kanal blockierte – auf der Oltner Aare feststecken würde? So!
Es ist Ende November 2020, als das Oltner Tagblatt schreibt: «EHC-Olten-Sportchef Marc Grieder greift in die Trickkiste und holt aus Nordamerika einen talentierten Junior, der das Ausländerkontingent nicht belastet.»
Brennan Othmann heisst der Bursche. 17 Jahre jung ist er damals noch. Mit Schlittschuhen an den Füssen und einem Stock in den Händen ist er aufgewachsen. Während viele in seinem Alter noch nicht wissen, was mal aus ihnen werden wird, dreht sich in seinem Leben alles um Eishockey. Seine Zukunft ist vorgezeichnet: Eishockeyprofi ist sein Ziel. In die National Hockey League (NHL), die beste Eishockeyliga der Welt, soll er es schaffen. In Toronto am Lake Ontario, wo er herkommt, ist der Sport auf Eis mit schwarzer Hartgummischeibe Religion. Die grössten Talente wie Brennan Othmann spielen in der Ontario Hockey League (OHL) – einer der wichtigsten Juniorenligen Nordamerikas. Doch wegen des Coronavirus findet keine Meisterschaft statt.
Als die Oltner Profimannschaft im Oktober wegen Covid-19-Fällen in Quarantäne weilt, ruft Sportchef Marc Grieder seinen schwedischen Cheftrainer Fredrik Söderström an. Was er davon halten würde, zwei Teenager aus Kanada im Team zu haben, fragt er ihn. Die Eishockeywelt ist klein; jeder kennt jemanden, der den anderen kennt. Söderström ruft den Sohn seiner Schwester an, der in derselben Liga wie Othmann und McTavish spielt, um mehr über die beiden Jungtalente zu erfahren. Der Schwede willigt in das Experiment ein.
Brennan Othmann jagt am Tag nach dem Playoff-Halbfinaleinzug dem Puck hinterher. Mason McTavish sieht zu.
Und so steht Brennan Othmann, der schmächtige Junge, der er neben dem Eis ist, im November in Vollmontur auf dem Eis im Oltner Kleinholz. Schon sein Onkel Robert drehte hier seine Runden auf Kufen. Und Papa Gery spielte bis 2001 in der Schweiz. Weil die Grossmutter Schweizerin ist, erhielt er den Schweizer Pass.
Eigentlich hätte mit Mason McTavish ein zweiter Teenager nach Olten kommen sollen. Weil er keinen Schweizer Pass hatte, durfte er aber nicht ausreisen, bevor er volljährig war. Also folgt er erst Anfang Februar dem Beispiel Othmanns. Die Vitae der beiden weisen viele Parallelen auf. Auch bei McTavish dreht sich alles um Eishockey. Sein Vater Dale McTavish verdiente viele Jahre in der höchsten Schweizer Liga sein Geld.
«Die Leidenschaft, die die beiden für diesen Sport zeigen, hat mir am meisten imponiert», sagt Cheftrainer Fredrik Söderström, nachdem Olten im Viertelfinal den HC Sierre in vier Spielen eliminiert hat. Er fügt an: «Mit ihrer Leidenschaft haben sie selbst die Erfahrensten unter uns inspiriert.»
Obwohl noch nicht lange in Olten, verlassen die beiden Kanadier die Dreitannenstadt bereits wieder. Wenn das Heimatland Kanada ruft, können die Eishockeyspieler nicht Nein sagen. Ende April nehmen sie mit Kanada an den U18-Weltmeisterschaften teil. Aus der Ferne werden die beiden mitverfolgen, wie sich Olten im Halbfinal gegen Kloten schlägt. Mason McTavish und Brennan Othmann haben im Kleinholz in kurzer Zeit ihre Spuren hinterlassen. Wie lange man sich in Olten noch an ihr Gastspiel erinnern wird, hängt auch davon ab, ob sie es in Nordamerika dereinst zu grossen Stars schaffen werden.
0 Playoff-Niederlagen
Für Mason McTavish und Brennan Othmann war in Olten vieles neu. Obschon sie ihre erste Saison in einer Profi-Eishockeymannschaft spielten, war von Verunsicherung nichts zu spüren. Vor allem in den Playoffs spielten die beiden auf, als hätten sie dies schon jahrelang getan. Die jugendliche Unbekümmertheit kam ihnen zugute. Und sicher auch ihr grosses Talent. Mit ihrem Spiel trugen die beiden kanadischen Teenager das Ihre dazu bei, dass der EHCO gegen den HC Sierre in vier Spielen und ohne Niederlage in den Halbfinal vorstiess.
1 Sekunde …
… oder gar noch weniger Zeit benötigt Mason McTavish, um aufs Eis zu springen, wenn der Trainer ruft. Das erzählt Oltens Cheftrainer Fredrik Söderström lachend. Die Arbeitseinstellung des kräftigen Stürmers beeindruckte den Schweden. Auf der Bank habe Mason McTavish stets die Nähe des Trainers gesucht und sei sozusagen zu seinen Füssen gesessen. «Ich musste nur Mas – also nicht einmal den vollen Namen – sagen, und schon sprang er aufs Eis», sagt Söderström.
4 Monate …
… verbrachte Brennan Othmann beim EHC Olten, und die kurze Zeit hat den Kanadier mit Schweizer Wurzeln geprägt. Mit einem breiten Lachen erscheint er am Tag nach dem Playoff-Halbfinaleinzug zum Interview. Der Abschied fällt ihm nicht leicht, wie er eingesteht. «Das ist jetzt wie meine zweite Familie», sagt Othmann. Und Trainer Söderström sagt: «Brennan ist ein emotionaler Typ.» Das brachte er nicht nur mit seiner warmen Ausstrahlung neben dem Eisfeld zum Ausdruck, auch im Spiel zeigte er seine Emotionen. Manchmal war es Frust nach missglückten Aktionen, manchmal bejubelte er ein Tor.
Mason McTavish und Brennan Othmann zum vorläufig letzten Mal in den Oltner Farben.
5 NHL-Teams …
… setzten ihre Talent-Späher auf die beiden Kanadier an, wie Fredrik Söderström erzählt. Für den Schweden bedeutete das grosse Interesse vor allem mehr Arbeit. «Mein Job wird durch ihren Abgang wieder einfacher», sagt er. Stundenlang – oft auch abends nach einem Spiel – sass er am Telefon mit den Scouts der nordamerikanischen Eishockeyklubs aus der besten Liga der Welt. Weil der Stellenwert dieses Sports dort immens ist, investieren die Klubs enorm viel in die Talentsuche und die Scouts erfragen jedes erdenkliche Detail über die Spieler. «Mir hat es wieder mal gezeigt, wie viele Menschen für ein NHL-Team arbeiten», sagt Söderström. Keine Frage ist den Spähern zu dumm: Söderström erzählt, wie ein Freund von ihm gefragt worden sei, ob ein Jungtalent auf dem Weg an ein Spiel im Mannschaftsbus Flipflops oder Schuhe trage.
8 Jahre …
… alt war Mason McTavish, als seine Familie nach Kanada zurückkehrte. Als kleiner Bub lernte er das Eishockeyspiel auf den Eisfeldern in Zug, Rapperswil und Zürich, wo sein Vater Dale McTavish spielte.
9 Monate …
… lang hatte Mason McTavish kein Meisterschaftsspiel mehr bestritten, als er im Februar nach Olten kam. Das Jungtalent fand den Tritt trotzdem sehr schnell, obwohl das Eisfeld grösser ist als in Nordamerika. «Die grössten Fortschritte habe ich beim Schlittschuhlaufen erzielt, ich bin schneller geworden», sagt Mason McTavish.
14 Tage …
… mussten die beiden Kanadier nach ihrer Heimkehr in ihrem Elternhaus in Ottawa (McTavish) und in Toronto (Othmann) in Quarantäne. Haben sie diese überstanden, beginnt das Abenteuer mit der U18-Nationalmannschaft und der WM Ende April.
18 Skorerpunkte
McTavish und Othmann schafften in ihrer ersten Profisaison beide je 18 Skorerpunkte. Beeindruckende Werte, die unterstreichen, dass sie das Potenzial für die grosse Eishockeybühne haben. Vor allem McTavishs Ausbeute von 11 Toren in 17 Spielen ist für die zweithöchste Schweizer Liga aussergewöhnlich. «Die Fortschritte von Mason waren eindrücklich», sagt Söderström. «Er ist innert Kürze zu einem Führungsspieler herangereift.» Brennan Othmann sei mental noch weniger reif, aber auch er habe – vor allem im Defensivspiel – grosse Fortschritte erzielt. Er selbst sagt, er habe hier viel Selbstvertrauen gewinnen können.
18 Jahre …
… alt sind beide im Januar geworden. In der physischen Entwicklung sind sie jedoch nicht gleich weit, wie Söderström beschreibt: «Mason sieht aus, als wäre er 32 Jahre alt, und er hat die Physis eines Schweizer Bauern. Brennan dagegen wirkt neben dem Eis wie ein 15-Jähriger.» Im Profi-Mannschaftssport sind grosse Altersunterschiede nichts Ungewöhnliches. Teamsenior Philipp Rytz ist doppelt so alt wie die beiden Kanadier.
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Das ist die Postleitzahl ihres temporären Wohnorts in Hägendorf. Erst hatte das Oltner Tagblatt geschrieben, sie seien bei einer «Gastfamilie in Hägendorf» untergebracht. Später wurde bekannt, dass Klubpräsident Marc Thommen höchstpersönlich ihr Gastgeber war. Wenn die Jungtalente dereinst zu grossen Stars heranreifen, wird Thommen erzählen können, das Müesli bei ihm am Zmorgentisch habe das Seine dazu beigetragen. «Die Thommens haben uns behandelt, als wären wir ihre Söhne», sagt Othmann vor dem letzten Training. Nicht alle Spieler sollen erfreut darüber gewesen sein, dass die beiden Kanadier präsidiale Würde und einen Sonderstatus erhielten. Würde Olten nun gegen Kloten den grossen Coup schaffen und ins Finale vorstossen, wäre die Episode wohl schnell vergessen. Und in ein paar Jahren können vielleicht auch besagte Spieler damit prahlen, mit McTavish und Othmann im Team gespielt zu haben.
Ein Montag Ende März. Der Frühling hat die Menschen rausgetrieben. Auch jene, welche die Gesellschaft gemeinhin als Randständige bezeichnet. Wegen ihrer Sucht sind sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Aber sie verstecken sich nicht, und einige verbringen den Tag bei der Stadtkirche in Olten. Das Bild, das sie dem Stadtzentrum verpassen: Bierdosen. Menschen in ihrem Rausch. Manchmal streiten sie untereinander. Manchmal betteln sie aufdringlich um Geld.
«Wir müssen für diese Leute eine Lösung finden, aber es kann und darf nicht sein, dass sie diesen zentralen und schönen Platz in Beschlag nehmen», sagt Philippe Ruf. Der örtliche SVP-Präsident reichte vor bald einem Jahr einen Vorstoss im Parlament ein. Darin schreibt er:
«Auf dem Sockel der Stadtkirche versammeln sich täglich Randständige, welche dort herumlungern, Drogen konsumieren, rauchen, Alkohol trinken und Passanten mit aufdringlichem Verhalten belästigen. Nicht selten kommt es bei den Randständigen – teils untereinander, aber auch gegen Aussenstehende – zu Streitereien und Pöbeleien. Ausserdem verdrecken die Randständigen den öffentlichen Raum rund um die Stadtkirche durch argloses Wegwerfen von Abfällen (‹Littering›).»
Die Stadt war sich der Problematik damals schon bewusst. Das Oltner Parlament sprach Ende Mai 450’000 Franken, um über drei Jahre eine Interventionsgruppe zu installieren. Viele Städte in der Schweiz vertrauen schon seit Jahren auf einen mobilen Ordnungs- und Sozialdienst, um in den Innenstädten das Miteinander zu fördern. Weil der Ruf nach Massnahmen im letzten Sommer grösser wurde, beauftragte die Stadt im August 2020 provisorisch eine Sicherheitsfirma.
Die SIP am Sockel der Stadtkirche, dem Brennpunkt der Innenstadt.
Den Auftrag für die bereits vorgängig geplante SIP vergab die Stadt an die Langenthaler Organisation Tokjo. Seit Mitte Januar ist sie in Oltens Strassen unterwegs. Nach einigen Vorfällen im Frühjahr steigt die Unruhe beim lokalen Gewerbe. Und auch Philippe Ruf pocht auf Massnahmen; sein Vorstoss sei trotz SIP noch immer relevant. «Wenn die SIP etwas erreichen könnte, wäre dies sensationell», sagt er, «aber momentan sehen wir keine Verbesserung der Situation.» Der SVP-Gemeinderat hat eigens Reaktionen vom Gewerbeverband und der Kirchgemeinde eingeholt, um Rückhalt für seine politische Forderung zu erhalten.
Er hat ihren Zuspruch bekommen. Auch für seinen konkreten Handlungsvorschlag: Die Stadt soll ein Alkoholverbot am Sockel der Stadtkirche prüfen. Wobei Ruf sich nicht auf diese Massnahme versteifen will. Er sagt: «Nur brachte niemand bisher einen besseren Lösungsvorschlag.»
Repression als einziger Ausweg? Ruf glaubt, dass die rechtliche Grundlage des Alkoholverbots nur dann ausschlaggebend sein werde, wenn Menschengruppen zu stören begännen. «Solange es friedlich ist, ruft niemand die Polizei.» Zwar gibt der SVP-Politiker zu, dass durch ein Verbot die Probleme der süchtigen Menschen nicht gelöst würden. «Aber wir können nicht tolerieren, dass ihre Bedürfnisse höher gewichtet werden als jene der restlichen Gesellschaft», sagt er. Seinen politischen Vorstoss sieht er als punktuelle Lösung «zum Wohl der Mehrheit». Er sei nicht ein Votum gegen die ganzheitliche Betrachtung der Stadt und der SIP, sondern könne deren Arbeit unterstützen, glaubt er.
Gelassenheit im Stadthaus
Sozialdirektorin Marion Rauber lässt sich durch die jüngsten Berichte über Pöbeleien und Lärmklagen nicht stressen. Mails von unzufriedenen Bürgerinnen gehörten zur Tagesordnung, sagt sie. «Ich kann nachempfinden, dass gewisse Personen sich gestört fühlen, wenn Menschen ein anderes Lebensmuster haben und laut werden», sagt die SP-Stadträtin. Dennoch lehnt sie, wie auch Stadtpräsident Martin Wey in seiner Antwort auf Rufs Vorstoss, ein Alkoholverbot vehement ab. Ein solches impliziere, dass die Stadt bestimme, wer sich wo aufhalten dürfe und wer nicht.
«Meine Hoffnung ist, dass wir aneinander vorbeikommen», sagt Rauber. Um dieses Ziel zu erreichen, hat die Stadt eine Begleitgruppe ins Leben gerufen. Diese sei fast schon beispiellos, was die direktionsübergreifende Zusammenarbeit betrifft, findet Rauber. Mit der SIP, der Kantonspolizei, der Suchthilfe Ost, der Abteilung für Ordnung und Sicherheit, dem Bauamt und dem Sozialamt sind die wichtigsten Parteien alle an einem Tisch vertreten. Die Begleitgruppe überprüft fortlaufend die Arbeit der SIP, die ihren Handlungsspielraum flexibel anpassen kann. «Frühestens im Herbst werden wir sehen, wie sich die Situation entwickelt hat», sagt Rauber.
Der Monatsmarkt und die Sonne haben an diesem Märzmontag viel Leben in die Stadt gebracht. Im Schatten der Stadtkirche ist ein gutes Dutzend Menschen versammelt. Die verschiedenen Gruppen kommen sich nicht in die Quere. Tage wie dieser zeigten beispielhaft, dass die Koexistenz funktioniere, sagt Rauber. «Wenn alle Menschen den Raum in Anspruch nehmen, beruhige sich die Situation.» Auch die Gewerbetreibenden müssten ihren Teil dazu beitragen, den Kirchensockel zu bespielen, findet sie.
Auch in Oltens schummrigen Unterführungen patrouilliert die SIP. Seit dem Start im Januar sei es in den Passagen aber sehr ruhig geblieben, sagt Jacqueline.
Wir treffen Jacqueline und Markus, die an diesem Tag gemeinsam für die neu installierte SIP unterwegs sind. Sie ist Sozialpädagogin und kennt die «Szene», wie sie sagt. Acht Jahre lang arbeitete sie für die Suchthilfe und kam dadurch mit vielen Menschen mit Suchtthematik in Kontakt. Er kennt den Drogenentzug aus eigener Erfahrung. Ab den 80er-Jahren war er über ein Jahrzehnt lang schwer süchtig, ehe er von den Drogen wegkam.
Die SIP setzt in Olten ein Team von elf Personen ein, das bewusst «multikulti» zusammengestellt ist, wie Projektleiter Joël Bur erklärt. Damit meint er die diversen Hintergründe, welche die Mitarbeiterinnen mitbringen. Die Zweierteams setzen sich jeweils aus Fachkräften mit verschiedensten Hintergründen aus dem sozialen Bereich zusammen. Einzelne bringen wie Markus selbst Suchterfahrungen mit. Viele von ihnen leisten ihre Dienste nebenamtlich und sind zwei- bis dreimal pro Woche in Olten unterwegs.
Bisher war die SIP von Montag bis Samstag auf Tour. Mit den wärmeren Temperaturen wird sie ihre Einsatzzeiten anpassen. Auch an den Abenden und am Sonntag will sie in der Sommerzeit präsent sein. Die Leistungsvereinbarung mit der Stadt würde es erlauben, dass die SIP täglich vier Stunden patrouilliert. Da sie an einzelnen Tagen nicht präsent ist, sind die Einsatzschichten an gewissen Tagen länger. «Auffallend war, dass es an jenen Tagen zu Unruhen kam, an denen wir nicht vor Ort waren», sagt Projektleiter Joël Bur.
Markus klopft an die Tür, bevor er die Toilette kontrolliert.
Abseits des Sockels der Stadtkirche, wo die Menschen mit Suchtthematiken sich treffen, stellen sich viele Herausforderungen. Dies zeigt sich an diesem Montagmittag Ende März. Wir brechen mit Jacqueline und Markus zu einem kleinen Rundgang auf. Nicht bloss der Situation um die Stadtkirche gilt derzeit ihr Augenmerk. Der Drogenkonsum auf den öffentlichen Toiletten hinterlässt oftmals unschöne Spuren. «Besonders die Toiletten am Klosterplatz bereiten uns momentan Probleme», sagt Jacqueline.
Wir beginnen am Munzingerplatz
«SIP Oute, WC-Kontrolle», sagt Markus und klopft an die metallene Tür, über der die Lettern «Öffentliche Aborte» angebracht sind. Keine fünf Meter nebenan spielt ein Dutzend Kinder. Die Toiletten sind bis auf ein Stück Alufolie sauber.
Langfristig sei es das Ziel der SIP, den Drogenkonsum auf den öffentlichen Toiletten möglichst zu verhindern, erklärt Joël Bur. Mit den WC-Kontrollen will die SIP den Menschen, die ihrer Sucht nachgehen, auch unbequem sein. Ihr Konsum soll sich in die Suchthilfe verlagern. An der Aarburgerstrasse können sie unter hygienischen Bedingungen ihre Sucht stillen und auch illegale Substanzen konsumieren. Nur ist es eine schwierige Aufgabe, die Menschen dorthin zu bringen.
«Einige wollen nicht in die Suchthilfe, weil sie anonym bleiben wollen und der Weg dorthin weiter ist», sagt Jacqueline, als wir bei den öffentlichen Toiletten am Klosterplatz angelangt sind. Auf dem Plattenboden ist ein Spritzenschutz zurückgeblieben, den Markus entfernt. Jemand hat sich hier – anstatt im Konsumationsraum der Suchthilfe – womöglich kurz zuvor einen Schuss gesetzt.
Spuren des Drogenkonsums auf dem Klosterplatz, wo derzeit der dringendste Handlungsbedarf besteht.
Bei der Suchthilfe Ost besteht eine Anmeldepflicht, die eine Hemmschwelle sein kann. Die Leistungsvereinbarung der ambulanten Suchthilfe mit dem Kanton regelt dies so, damit ausschliesslich Personen aus den finanzierenden Gemeinden das Angebot nutzen können. Zwischen 30 und 50 Personen suchen regelmässig die Stadtküche auf, erzählt Geschäftsführerin Ursula Hellmüller am Telefon.
Auf ungefähr 20 Personen schätzt sie die Zahl jener, die vor Ort auch illegale Substanzen konsumieren. Gemeinsam mit der SIP möchte sie mehr süchtige Menschen abholen – auch um die Situation in der Innenstadt zu entlasten. Aber auch Hellmüller weiss: «Es wird immer Menschen geben, die sagen, die Suchthilfe ist nicht mein Ding.» Sie erhofft sich durch die SIP mittelfristig eine Antwort auf die Frage, wie sich die Szene der Menschen mit Suchtabhängigkeit zusammensetzt. Da die Suchthilfe selbst keinen aufsuchenden Dienst leistet, fehlen ihr diese Erkenntnisse.
Ab dem 10. April baut die Suchthilfe ihr Angebot wesentlich aus. Schon im Sommer, als sie die Leitung übernahm, störte sich Hellmüller an den Öffnungszeiten. Sie beschränkten sich bisher auf die Werktage. Neu wird die Stadtküche auch an den Wochenenden offen sein. Zudem schenkt die Suchthilfe ein nach schwedischem Vorbild gebrautes Leichtbier (3,3 %) aus. Gebraut wird dieses von der lokalen Brauerei Dreitannenbier. «Wir sind in der Region verankert und wollen auch das lokale Gewerbe unterstützen», sagt Hellmüller. Um mit dem Billigbier der grossen Detailhändler zu konkurrieren, kostet die Stange in der Suchthilfe bloss 60 Rappen.
Jacqueline und Markus sind auf ihrem Rundgang in der City-Unterführung angekommen. Nur ein Coiffeurladen gibt der verwaisten Passage derzeit noch Leben. Corona hat mit der Latinobar jenen Ort stummgeschaltet, wo schon so manche Oltner Nachtschwärmer sich vor den ersten Sonnenstrahlen versteckten und eine lange Nacht hinauszögerten. Die SIP-Patrouille entsteigt der Parallelwelt über die seit Jahren lahmgelegte Rolltreppe.
Die SIP, dein Freund und …
Ihr Rundgang endet bei den Menschen am Kirchensockel. Die Stimmung rund um den Monatsmarkt ist friedlich. Sie hätten sich kaum losreissen können, erzählt uns Jacqueline, als wir uns wieder vor dem Stadthaus treffen. Im Moment sei die SIP bestrebt, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, sagt sie. Die Gespräche reichen vom Smalltalk, wie es dem Hund gehe, bis zu ergreifenden Schicksalsgeschichten, welche den SIP-Mitarbeiterinnen anvertraut werden.
SIP-Projektleiter Joël Bur erklärt die Philosophie, die auf dem Weg zum Miteinander im öffentlichen Raum zielführend sein soll: «Nur über Beziehungen kann man sensibilisieren.» Von repressiven Massnahmen wie einem Alkoholverbot hält er genauso wie der Stadtrat nichts. «Ein Verbot löst nicht die Thematik, sondern verlagert sie», sagt er. «Oder es führt sogar zu einer Trotzreaktion». Denn die betroffenen Menschen hätten nicht viel zu verlieren.
Die jetzigen Konfliktsituationen enstehen gemäss Joël Bur oftmals dann, wenn der Suchtdruck gross wird. «Wir versuchen den Menschen einen Perspektivenwechsel aufzuzeigen. Sie sollen begreifen, was ihr Verhalten bei den Passanten auslöst», sagt er. Der suchtfreie Raum bleibe bei diversen Nutzungsgruppen eine Utopie. «Darum streben wir ein friedliches Miteinander statt ein Gegeneinander an.»
Der Journalist fühlte sich an der Parlamentssitzung fast ein wenig in seine Schulzeit zurückversetzt. Damals, als es im Französischunterricht galt, die Lückentexte zu vervollständigen. Voilà.
In etwa so verhielt es sich beim lokalpolitischen Audio-Live-Erlebnis. Immer wieder sorgten kurze Tonausfälle dafür, dass die Zuhörerin sich ausmalen musste, wie das redende Gegenüber die Stille wohl gefüllt hatte. So viel zu den Tücken der Technik.
Obwohl es sich wie eine Diktatprüfung mit offengelassenen Lücken anfühlte: Oltens Lokalpolitik hat Unterhaltungswert. Um es in den Worten von Olten-jetzt!-Politiker Daniel Kissling zu sagen: «Es ist 1 Erlebnis!»
Aber bei aller Komik gings um eine ernste Sache. Um jenen Ort, an dem die Stadt ihre künftigen Generationen ausbildet. Fünfzig, vielleicht gar hundert Jahre soll das neue Schulhaus im Kleinholz sich halten. Der Bau hat seinen Preis: Rund 40 Millionen Franken teuer wird er inklusive Dreifachturnhalle sein. Das Siegerprojekt aus Zürich mahnt an eine grosse Windmühle und trägt daran angelehnt den Namen «windmolen».
Windmühlenartig haben die Bürgerlichen die «Kostenexplosion» angeprangert. Fast von Beginn weg war die Schulhausplanung von harschen Tönen begleitet. In der Kritik stand Iris Schelbert, die einst an einer Parlamentssitzung die Zahl von 6,5 Millionen Franken in den Mund nahm. Die Kosten mögen um ein Vielfaches höher ausfallen – in erster Linie verspielte die Stadtregierung ihr Vertrauen aber durch konsistent schlechte Kommunikation, wie wir aufzeigten.
Bildungsdirektorin Iris Schelbert zieht sich im Sommer aus der Politik zurück. Vor dem an den Bildschirmen versammelten Parlament gab die langjährige Grüne Stadträtin ihr «mea culpa». «Mit dem verqueren Anfang müssen wir leben, ich würde es rückblickend anders machen», sagte sie. Und SP-Stadtratskollege Thomas Marbet versprach im Hinblick auf die Realisierung: «Der Preis kann nur nach unten gehen.»
Streichen, kürzen, ein Kostendach
Den FDP-Mann Urs Knapp dürfte es geschaudert haben. Und er sagte wenig später auch, bei dieser Aussage habe er gleich Angst gekriegt. Die Stadtregierung hat die Finanzen nicht im Griff, so der Tenor. Und darum wollen die Bürgerlichen mal wieder nachjustieren. Pauschal die Investition kürzen, ein Kostendach festlegen. Der Stratege der Freisinnigen wartet denn auch mit dem gewohnt scharfen Kürzungsantrag auf: Er will den Baukredit um 15 Prozent auf 33,8 Millionen Franken drücken. Im Vorstoss schreibt er versehentlich von 35,8 Millionen. «Drei und fünf sind nah beieinander», entschuldigt Knapp den «Druckfehler». Wie war das noch mal mit den «Kostenexplosionen»?
Seis drum, die Bürgerlichen kennen kein Pardon, wenns um Finanzen geht. «So plant man nur, wenn es nicht das eigene Geld ist», sagte SVP-Vertreter Matthias Borner. «Wenn ich letztes Jahr im Witz sagte, jedes halbe Jahr könne man 5 Millionen draufpacken, so hat sich dies als Prognose herausgestellt.»
Borner und Thomas Kellerhals (CVP) monieren unisono die Wissensasymmetrie. Wissens… was?! Die ungleich verteilte Information. «Wir können schlecht sagen, ob die Kosten angemessen sind», sagte der Kanti-Wirtschaftslehrer Kellerhals (auch mir hat er mal beigebracht, was eine asymmetrische Informationslage ist). Setzen die Fachplaner auf eine Luxusvariante bei den Wasserhähnen? Brauchts eine Tunnel-Verbindung zur Stadthalle? Müssen im Zuge des Neubaus die Aussenräume aufgewertet werden? Fragen über Fragen. Die CVP stimmt in den Chor ein, welche die Kosten mal prophylaktisch kürzen will. Die Versuchung, den Rotstift hervorzunehmen und Bestandteile aus dem Projekt zu streichen, erreicht ihren Kulminationspunkt.
Holz oder Beton?
Urs Knapp schiebt derweil noch einen kühnen Vorschlag nach. Da die Stadt es nicht verstehe, eine Eventhalle zu vermarkten, könne man die Stadthalle gleich abreissen und Wohnungen an attraktiver Lage bauen. Und um die Kosten zu senken, schlägt er Zürcher Methoden vor: Dort würden künftig die Fensterflächen reduziert und mehr mit Holz gebaut. Das sei erst noch ökologischer. Für rund 2500 Franken pro Quadratmeter liesse sich so ein Schulhaus errichten, stützte Knapp sich auf eine Zahl von Lignum (Dachorganisation Schweizer Holzwirtschaft). In Olten kostet das Schulhaus voraussichtlich 4300 Franken pro Quadratmeter. Der Vergleich klingt plausibel.
Noch so gerne hätte er einen Holzbau, sagte der baldige Stadtrat Raphael Schär (Grüne). Nur habe die Stadt just aus Kostengründen darauf verzichtet, da ein Holzelementbau den Kostenrechnungen zufolge 5 Millionen Franken mehr verschluckt hätte.
Wie geht also diese Rechnung auf? Die einfache Antwort gibt es nicht. Aber Vergleiche lassen sich nicht immer so leicht anstellen. In diesem Fall hat die Stadt beim Quadratmeterpreis sämtliche Kosten eingerechnet (Grundstück, Infrastruktur und Bau). Das Beispiel von Lignum hingegen bezieht sich vermutlich bloss auf den Rohbau. Simone Sager von der FDP trifft den Nagel auf den Kopf: «Für die Frage, ob Beton oder Holz, ist es ohnehin zu spät.»
Dann legt sich die Linke für das vorliegende Projekt ins Zeug. «Es lohnt sich nicht zu schmürzeln, es wird ein Ausbildungszentrum für ein halbes Jahrhundert», sagte Luc Nünlist. Statt am Bau zu schrauben, sollten alle für ihn einstehen, appellierte Corina Bolliger. «Wir sollten das Projekt nicht kastrieren und kaputt machen, indem wir Elemente raushauen», meinte Tobias Oetiker.
Rückschlag im Leiterli-Spiel?
Zum Schluss darf Baumeister Kurt Schneider aufzeigen, was die Baukredit-Kürzung für Konsequenzen hätte. Und zwischen den Zeilen malt er das drohende Szenario: Nochmal würde die Planung irgendwo mittendrin beginnen. Nochmal ein Planungskredit. Irgendwo müsste die Stadt an den Bestandteilen schrauben und streichen, um die 6 Millionen rauszuholen. Das Schulhaus könnte nicht bereits 2024 eröffnet werden. «Wir können nicht plötzlich im Verfahren die Spielregeln ändern», mahnte Baudirektor Marbet zum Schluss.
Von den Drohgebärden lässt sich das Gros der Bürgerlichen nicht irritieren – sie stimmen für die 15-Prozent-Kürzung. Zwei jedoch (Anja Lanter, FDP / Ernst Eggmann, parteilos) gesellen sich zur Linken, womit das Schulhaus mit dem Baukredit von knapp 40 Millionen Franken einigermassen komfortabel durchkommt. Sagt die Stimmbevölkerung Ja zum Bau, wird es die Aufgabe der Stadt sein, ihr Wort zu halten. Baudirektor Marbet hat sich mit seinem Versprechen Druck auferlegt.
After I had got to know my new neighbour, Boxer, (he seemed already to know all about me without even asking), we became accustomed to dropping in on each other without prior notice. A customary time to sit and chat was just after the mail arrived. So it was no surprise to hear his distinctive tapping at my front door the other day. He had a letter in his hand, waving both in front of me like the traffic policeman on the old Trimbacherstrasse at what is now called City Kreuzung.
“Charles! Look at this!”
“Stop waving it about, will you?”
“Listen! It is from my brother in Delémont. He has just heard from a cousin in Paris who found out that we have another cousin – a cousine, you understand. And guess where she lives!”
“Oh, I don’t know. Rorschach?”
“Charles, of course not. Do not be silly. She moved from there. Here! She lives here! In Olten! What a wonderful world we inhabit!”
“What’s her address?”
“Here – you read it.”
“Fräulein Mina Studach, c/o Hermann Pâtisserie, Hauptgasse, Olten. That’s in the old part of town, by the old city walls and the gate, across from the Hotel Halbmond, just at Marktgasse. That’s the pastry shop. Next to it is the confectionary shop. You can’t have them right together, you know.”
“And why is that, Charles?”
“Can’t you figure it out, Boxer? The heat from the ovens at the pastry shop would melt the chocolate.”
“Ah! Clever! Are you feeling proud to have stumped me, eh?”
“Not at all. Say, it’s a fine morning. Shall we walk into town?”
So, Boxer and I strolled down to the Alte Aarauerstrasse, over the railway lines to the Winkel Quartier, and crossed the River Aare through the old wooden bridge.
As we ascended the slight hill into the fortified area of Olten, we marvelled at the well-preserved buildings and their brightly painted gables and overhanging roofs. One of the façades told the history of various wars and invasions. I mentioned to Boxer how Napoleon had burnt down the bridge we had just crossed.
“Charles, there is a lesson there somewhere. Tell me, which side of the bridge was Napoleon on when he burnt it down?”
“Oh! Uh – I don’t know! Now you’ve stumped me.”
As we approached the pastry shop, next door to it on the other side from the confectionary, a jewellery shop seemed to be undergoing some sort of transformation, even as we watched. At first, all was quiet, one customer entering as another left. Then, there was sudden turmoil, as a woman ran out shrieking, “Oh! Oh!” A half dozen passersby rushed toward her, surrounding her, some entering the jewellery shop, others pushing past her into the pastry shop. Another half dozen people emerged from the pastry shop and the confectionary. One was a pretty, aproned young woman. We went instinctively to her.
“Help me to close the shutters, please, gentlemen. We need to stop the people from going in.”
“And from coming out?” Boxer was always ready with a contradictory option.
The woman from the jeweller’s was shouting incoherently something about a robbery. Jewels were missing!
“I knew it! It happened last month, too,” said the young pâtissière. “The thieves were never caught and the jewels never found. We were overrun with customers then and lost some of our pastries as well. It was almost like a free-for-all.”
Boxer had been observing the young woman, but a movement in the still unshuttered shop window caught his attention. There were a few customers inside, and as one young man was leaving, Boxer stuck out his foot and tripped the youth flat onto his face.
“Get a policeman! Here’s your thief.”
The youth was squirming under Boxer’s heavy foot as two burly policemen approached.
“He tripped me! I didn’t steal no jewels! Search me if you want.”
“Jewels? I never mentioned jewels. Anyway, officers, they are not on him. But I know where they are.”
Boxer strode into the pastry shop, went to the window display, and came out again with a round cake with a knob of crust on top. He pulled off the top like a cork and broke open the pastry, revealing four bright, slightly greasy, large rubies.
“He or an accomplice would have been in later to buy one of these – brioches à tête, they are called, am I correct, miss? He would have chosen this particular one, of course. I watched him through the window as he — Look out! Stop him! He’s getting away!”
The youth had adroitly slipped the grasp of the officers and was scampering away, hopping and springing like a flea. He managed to jump over a wall and up onto the roof of the Alter Spittal at the end of Marktgasse and over the city wall by the Hexenturm. The policemen had to give up the chase.
“One of those travelling circus acrobats, I would say.” It was the young woman from Hermann’s Pâtisserie speaking. “We are grateful, nonetheless, gentlemen.”
“May I ask if you are Mina Studach? Yes? Aha! We are cousins – or cousins of cousins. Boxer is my name, and this is Charles Ross. We live on the other side of the river.”
“How do you do, gentlemen. Cousin. I live – ha ha – you see that attic window? I live up there, high above the shop.”
“May we invite you for tea?”
“Thank you kindly, cousin, but I am waiting for my boyfriend. It is my afternoon off. He should be finishing his rounds soon. He is a postman. Ah! Here he comes.”
And up the street walked – yes, our very own postman. What a coincidence! Or, as Boxer said, “What a wonderful world we inhabit!”
David Pearce ist ein Schweizer Schriftsteller, wohnt seit 2000 in Olten und hat amerikanische, englische, und französische Wurzeln. Er schreibt auf Englisch Kurzgeschichten, Romane und Theaterstücke.
Ein Querulant will er nicht sein. «‹Nicht sehr angepasst› stimmt hingegen», sagt Thomas Wehrli. Es ist ein bitterkalter Novemberabend. Jegliches Gefühl in den Fingerspitzen ist verloren gegangen, als die Sonne hinter der immensen Kiesgrube verschwindet. Thomas Wehrli stösst sein Velo über die Schutthalde im brachliegenden Areal Olten Südwest.
Nächtelang hat er sich im Jahr 2020 mit diesem Oltner Stadtteil und dessen Zukunft befasst. Diese 2,75 Hektaren grosse Fläche, auf der rund 39 Fussballfelder Platz fänden. Und die dereinst eines der bevölkerungsstärksten Quartiere der Stadt werden soll. Die Irrungen und Wendungen zum Areal Südwest sind lang. So lang, dass Oltnerinnen manchmal fast den Garaus haben und das Thema leid sind. Das geht selbst Thomas Wehrli so. Und auch ein wenig mir. Sonst hätte ich nicht gut vier Monate benötigt, um diese Zeilen zu verwirklichen.
Aber die Bedeutung des Areals ist viel zu gross, als dass die Diskussion vernachlässigt werden kann. Das denkt sich auch Thomas Wehrli.
«Ich will, dass die Stadt Politik macht, denn bisher überlässt sie das Schicksal von Olten Südwest einem Investor. Was sie macht, ist weder linke noch rechte Politik.»
Und darum hat er sich in die Materie reingebissen. Vor sechs Jahren begann er, sich richtig mit Olten auseinanderzusetzen. Über die Restessbar und den Verein «Olten im Wandel» sei er hier angekommen, erzählt Wehrli. Heute kennen viele sein Gesicht, weil er mit Velo und beladenem Anhänger nichtverkaufte Nahrungsmittel durch die Stadt fährt und zur Restessbar bringt. Lange rang er damit, ob er sich auch parteipolitisch einbringen solle. Einst noch Gründungsmitglied der Grünliberalen im Kanton Aargau, hatte er der institutionellen Politik den Rücken gekehrt. In Olten will er’s nun nochmal wissen. In letzter Minute liess er sich bei den Grünliberalen für die Parlamentswahlen aufstellen. Online nimmt er jetzt schon sehr aktiv an den Debatten teil. In der Oltner Facebook-Blase zählt der studierte Physiker zu den schärfsten Kommentatoren. Auch wenn über Olten Südwest debattiert wird.
Bild: Christian Grund
Bis heute ist Wehrli überzeugt, dass die Stadt in der Brache die falsche Strategie fährt und sich von der Investorenfamilie Bachmann hat übertölpeln lassen. Daran ändert auch der zweite Gestaltungsplan nichts, welcher der Stadt zwar Errungenschaften brachte. Aber eben auch Eingeständnisse an den Investor.
Mit dem im letzten Winter präsentierten Gestaltungsplan hat die Stadt wegweisend vordefiniert, wie sich das Areal künftig entwickeln soll. Und zwar wesentlich rigoroser als im ersten Gestaltungsplan, dessen Ergebnis jene «Plastikklötzlein mit Ölheizung» waren, wie Thomas Wehrli sagt. Wenn denn in Olten Südwest weitergebaut wird, so müssen die Gebäude beispielsweise zu mindestens 80 Prozent mit erneuerbaren Energien betrieben sein. Auch hat die Stadt grosse Grünflächen bestimmt, die der Natur weiterhin Raum lassen sollen. Mit den bis zu 43 Meter hohen Bauten gegen den Bahnhof Hammer hin würde das Quartier zudem nochmal markant verdichtet. Und die Stadt erhält 11’000 Quadratmeter Land im Herzen des Areals für öffentliche Bauten kostenlos zugesichert.
Auch wenn Thomas Wehrli den Pfeilern des neuen Gestaltungsplans nicht per se abgeneigt ist, will er ihn verhindern. Stören tut er sich an einem Punkt, den die Stadt unzertrennlich an den Gestaltungsplan gekoppelt hat:
Die Stadtteilverbindung Hammer
Sie alleine füllt ein dickes Kapitel zur Causa Olten Südwest. Wie schon an anderen Orten hat Olten als Verkehrsknotenpunkt auch hier mit der Frage zu kämpfen: Wie binden wir das neue Quartier an die Stadt an? Anders als im Fall der Trennung durch die Aare gibt’s eine an sich gute Lösung. Die Achse soll zuerst als Brücke direkt über die Entlastungsstrasse (ERO) und dann durch den Bahnhof Hammer hindurchführen.
Querschnitt der geplanten Stadtteilverbindung Hammer. Quelle: Stadt Olten
Auf rund 20 Millionen Franken beziffert die Stadt die Kosten für die neue Verbindungsachse. Zunächst sollte die Stadt einen Grossteil alleine stemmen. Der Besitzer von Olten Südwest sicherte einen Beitrag von 2,5 Millionen Franken zu. Doch im Parlament erlitt die Vorlage 2016 Schiffbruch. Eine bürgerliche Mehrheit fand, die Anbindung über den Rötzmatttunnel genüge – wichtigere Projekte stünden an. Die Besitzerfamilie Bachmann – bei der Vater Leopold die Geschicke längst Sohn Sigmund übergeben hat – beharrte aber auf der Personenunterführung. Die Stadt Olten sei in seinen Augen dazu verpflichtet, das Quartier anzubinden, sagte Sigmund Bachmann vor gut vier Jahren gegenüber dem Oltner Tagblatt.
Ende 2019 vermeldete die Stadt eine überraschende Wendung: Die Terrana AG Rüschlikon der Familie Bachmann würde die Hammer-Verbindung fast gänzlich übernehmen. 16 Millionen leisten die Investoren Bachmann – im Gegenzug zont die Stadt eine 9 Hektaren grosse Fläche (also rund ein Drittel des Areals) von Industrie- zu Bauland um. Das Land wird somit um 40 Millionen Franken aufgewertet und davon muss der Eigentümer gemäss neuem Gesetz 40 Prozent an die Stadt entrichten. Was eben diese 16 Millionen ausmacht. Gemeinsam mit den 3 Millionen Franken aus dem Agglomerationstopf müsste die Stadt somit für die geschätzten Projektkosten von 20 Millionen nur noch 1 Million leisten.
Ein geschickter Deal?
«Der Investor zahlt eine gesetzlich geschuldete Mehrwertabgabe und keinen Rappen mehr», sagt Thomas Wehrli, in Sichtweite zu jenem Ort, wo die Stadtteilverbindung irgendwann den Boden von Olten Südwest berühren soll. Ginge es nach ihm, müsste der Investor die Stadtteilverbindung per Gesetz finanzieren. Wehrli kramt eine alte Schokoladenverpackung aus Karton hervor, auf der er jeden freien Flecken mit seinen Notizen bekritzelt hat. Und er beginnt, die entsprechenden Gesetzesartikel vorzulesen.
Es geht vor allem um den Artikel 108 aus dem kantonalen Planungs- und Baugesetz. Darin steht: «Erwachsen Grundstücken durch die Erstellung öffentlicher Erschliessungsanlagen Mehrwerte oder Sondervorteile, haben die Gemeinden von den Grundeigentümern angemessene Beiträge zu verlangen.»
In der entsprechenden Verordnung werden die Ausführungen konkret ausgelegt:
«Die Gesamtheit der Grundeigentümer, deren Grundstücke durch den Neubau einer Strasse einen Mehrwert oder Sondervorteil erhalten, haben an die Erstellungskosten der Gemeinde folgende Beiträge zu bezahlen:a) für Erschliessungsstrassen und Fusswege 80 % der Kosten; […] Die Gemeinde kann diese Ansätze erhöhen.»
Wehrlis Einsprache gegen den Gestaltungsplan war für ihn in erster Linie eine Kampfansage an den Investor. Er bezeichnet ihn als «klugen Siech». Die Stadt jedoch habe es verpasst zu verhandeln.
Bild: Timo Orubolo
Mit seiner Einsprache blieb Thomas Wehrli beim Stadtrat erfolglos. Was die Finanzierung der Unterführung betrifft, schreibt die Stadt in ihrer Antwort: Die Stadtteilverbindung Hammer sei nicht nur wichtig, um die Bauten des Grundeigentümers zu erschliessen. Auch sie selbst profitiere durch die ihr zugesicherten Zone der öffentlichen Bauten und Anlagen. Gleiches gelte für die angrenzenden Siedlungsgebiete. Und: «Eine Erschliessung der eingezonten Siedlungsfläche ist eine kommunale Aufgabe und kann nicht einem Grundeigentümer übertragen werden.» Hinzu kommt, dass die Finanzierung der Hammer-Unterführung zwischen Stadt und Investor in einem separaten Vertrag geregelt ist – also nicht Teil des Gestaltungsplans ist.
Mit dem neuen Gestaltungsplan werde die politische Mitsprache verunmöglicht, glaubt Wehrli. Er hat nicht nachgegeben und seine Beschwerde an den Kanton weitergezogen. Drei weitere Beschwerden von anderen Parteien liegen beim Bau- und Justizdepartement. Dort sagt man auf Anfrage, noch liesse sich nicht abschätzen, wann der Fall bearbeitet sei.
Ein Beispiel aus Münchenstein gibt Thomas Wehrli recht. Der Bauherr einer urbanen Überbauung soll dort zwei Drittel der Kosten einer Stadtteilverbindung übernehmen. Der Fall scheint ähnlich gelagert, wenn auch die dortige Fussgängerbrücke weniger komplex ist als die geplante Verbindung im Hammer. Auch in Münchenstein profitieren nicht ausschliesslich die Quartierbewohnerinnen vom geplanten Gleisübergang.
Stillstand als Zwischenziel
Im Vordergrund steht für Thomas Wehrli nicht die Unterführung per se. Wichtig ist ihm das grössere Bild, wie er in unserem zweiten Gespräch betont. «Es ist nicht so, dass wir für Olten Südwest dringend einen neuen Gestaltungsplan benötigen», sagt Wehrli an einem grauen Märznachmittag am Telefon. Aus seiner Wohnung sieht er direkt auf das grosse Entwicklungsgebiet hinunter.
Ginge es nach Wehrli, müsste sich dort unten in den kommenden Jahren gar nichts entwickeln. «Wir haben da wunderschöne Natur. Was bringt es uns, wenn man ‹Klötzlein› baut, die zu einem Drittel leer sind?», fragt er rhetorisch.
Verhindern will Wehrli nicht die Stadtverbindung in den Hammer, sondern vielmehr die Umzonung. «Wir schaffen Bauland, für welches auf längere Sicht kein Bedarf besteht», sagt er und verweist auf die Leerwohnungsziffer von über 3 Prozent in der Stadt Olten. Er findet darum, die Stadt müsse erstmal in der angelaufenen Ortsplanungsrevision festlegen, wo und wie sich die Stadt entwickeln will. «Der Gestaltungsplan zu Südwest greift vor, was die neue Ortsplanung will», sagt Wehrli. Davon abgesehen begrüsst er vieles im neuen Gestaltungsplan. Er kann sich vorstellen, dass die darin definierten Richtlinien als Minimalstandards in der Ortsplanung festgelegt werden.
Bild: Christian Grund
Mit dem geschnürten Paket zu Olten Südwest mache die Stadt dem Investor ein «sinnloses Geschenk», sagt Wehrli. «Er kriegt die PU Hammer und die Umzonung geschenkt und kann das Bauland für einen guten Preis verkaufen. Obendrauf diversifiziert er mit dem neuen Gestaltungsplan sein Profil.»
Das sieht die Stadt anders. Auch sie habe sich Vorteile ausgehandelt, wie Stadtbaumeister Kurt Schneider im Gespräch mit Kolt betonte: Sigmund Bachmann müsste die 16 Millionen erst leisten, wenn er auf dem umgezonten Bauland effektiv baut. Er bezahlt aber bereits jetzt. Und der zweite Punkt: Die Stadt muss die Mehrwertabgabe ohnehin zweckgebunden einsetzen. Sei es wie in diesem Fall für Erschliessungsinfrastruktur oder als Reserve für Bauland-Rückzonungen, für welche die Gemeinde die Landbesitzerin entschädigen muss.
Landkauf als Lösung
Aus Thomas Wehrlis Sicht zieht die Stadt trotzdem den Kürzeren. «Wir ermorden den einen grossen Verhandlungstrumpf der Stadt, nämlich die Stadtteilverbindung Hammer, indem wir den anderen grossen Trumpf schlachten – die Umzonung.» Er hätte einen kühnen Vorschlag. «Die Stadt muss den Investor noch zehn Jahre aussitzen», sagt er. Was er darunter versteht? Die Umzonung zurückstellen. Die Finanzierung der Stadtteilverbindung neu verhandeln. Und Olten Südwest in seinem jetzigen Zustand belassen. Wehrli stellt eine Hypothese auf: «Ich bin mir sicher, dass er das Land oder zumindest einen Teil verkaufen wird.» Am liebsten möchte er die Stadt als Käuferin sehen.
Ein Verkauf in Zeiten, in welchen alle nach Möglichkeiten suchen, um ihr Geld anzulegen? Sigmund Bachmann persönlich sagte gegenüber dem Oltner Tagblatt schon vor vier Jahren, er werde nicht aus Olten Südwest aussteigen, und fragte rhetorisch: «Was will man sonst machen mit dem vielen Geld?» Er signalisierte aber, er könne sich vorstellen, einzelne Parzellen zu verkaufen.
Ja, der Investor habe überhaupt keine zeitliche Not, um zu verkaufen, gesteht Wehrli ein. Aber er glaubt nicht daran, dass die Terrana AG Rüschlikon die Hochhäuser beim Bahnhof Hammer selbst bauen werde. «Weil sie noch nie sowas gebaut hat», sagt Wehrli. Er macht keinen Hehl daraus, dass ihm die Bauweise der Olten-Südwest-Investorin nicht passt. «Plastikklötzlein mit Ölheizung», nennt er sie immer wieder.
Bild: Christian Grund
Auf der Webseite der Stiftung des Olten-Südwest-Landbesitzers Leopold Bachmann ist seine Tätigkeit als Bauherr in einer kurzen Vita auf den Punkt gebracht: «Effiziente Abläufe und standardisierte Bauweise positionierten seine Wohnbauten mit einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis in und um Zürich.» Der alte Patron lässt sich auf einem Spielplatz-Entchen ablichten, das in einer der Siedlungen steht, für die er bekannt ist.
Ist das Beispiel rund um die Stadtteilverbindung in den Hammer exemplarisch dafür, wie stark die Stadt von Privaten abhängig sein kann und wie die Machtverhältnisse liegen? Scheinbar kommt die Stadt nur zu Eingeständnissen, wenn sie Gegenleistungen zusichert. Wehrli will diese vermeintliche Abhängigkeit aufbrechen. «Die Verhandlungsmacht liegt hauptsächlich bei der Stadt», glaubt er. Dazu müsse sie nur die Gesetze mit Rückgrat ausspielen.
Er sagt: «Wohnen ist etwas, das so zentral ist, dass du es nicht schleifen lassen kannst.» Ein Markt existiere nicht, findet er. Der Konsument könne nicht sagen: «Ich will nicht wohnen.» Viele Menschen seien den Investoren ausgesetzt. Und ja, mit seinem Widerstand sei er im Moment ein «Olten-Südwest-Verhinderer». Er ist überzeugt, dass das, was er jetzt tut, irgendwann etwas Konstruktives in der alten Kiesgrube ermöglichen wird.
Weisse Rauchschwaden. Und das gleich zwei Mal innerhalb einer Woche. Am gleichen Ort. Ein Haus der alten Häuserzeile an der Ziegelfeldstrasse. Da, wo ein Aarauer Architekturbüro eine grosse Überbauung mit 60 Wohnungen plant. Wo Rauch ist, da ist Tele M1 nicht fern. «Brandstiftung?» In der Nachbarschaft brodelt die Gerüchteküche und das Regionalfernsehen gibt ihr nur zu gerne eine Stimme. Am Tag darauf springt auch das Oltner Tagblatt auf den Zug auf. «Brandstiftung oder nicht?», warf die Lokalzeitung jene Frage auf, die sich womöglich auch die Polizei gerade stellte. Spoiler: Nein, die Zeitung hatte die Antwort darauf nicht. Aber sie mutmasste, ob den Investoren durch den Brand ein Vorteil im hängigen Gestaltungsplan-Verfahren erwachse.
Tags darauf musste die Zeitung auf Druck der Eigentümerschaft der Häuserzeile eine «Präzisierung» publizieren. Wobei präzisieren tat sie auf den gedruckten Zeilen wenig. Über eine Anwaltskanzlei liessen die Investoren ausrichten, dass sie sich von den Gerüchten distanzieren. Und sie ziehen eine Strafanzeige gegen Unbekannt in Erwägung. Wer sich an solchen Beiträgen die Finger verbrennt, lehrt wohl seine Lektion. Na gut, Tele M1 wird sich treu bleiben. Das bringt ihnen nun mal hohe Einschaltquoten. Mit Boulevard haben sie Erfolg.
Erfolg?
Den hatte auch das Medienunternehmen CH Media, zu welchem das Oltner Tagblatt gehört (und im Übrigen auch Tele M1). Die düsteren Nachrichten zur Lage der Medienlandschaft dominieren – fast ein wenig analog zur alltäglichen Medienberichterstattung. Manchmal kriegt man das Gefühl, die Medienhäuser sagen nicht so gern, wenn es ihnen gut geht. Und wer schreibt darüber, wenn nicht sie? Darum tun wir’s: CH Media hat 2020 einen Gewinn von 22,8 Millionen Franken geschrieben. Da mögen sich einige etwas die Augen reiben (ich zum Beispiel). Vor allem wenn man bedenkt, dass der Konzern mit rund 2000 Angestellten in der Kurzarbeit war und seit neuestem wieder ist.
Aber den Term «Erfolg» gilt es zu relativieren. Der Umsatz ging um 7 Prozent zurück. Die Geschäftsleitung zeichnete letztes Jahr noch ein rabenschwarzes Bild. «Per Mitte des Jahres wird ein mittlerer zweistelliger Millionenbetrag in der Kasse fehlen», liess sich CEO Axel Wüstmann bei persoenlich.com zitieren. Obwohl uns Corona bis heute im Griff hat, kam es bei CH Media weniger schlimm als befürchtet. Der Fallschirm des Bundes wirkte: Ohne Kurzarbeit hätten im Medienkonzern Entlassungen gedroht. Was die Dividenden betrifft, geht CH Media als Beispiel voran und verzichtet für letztes und dieses Jahr auf eine Ausschüttung. Hoffentlich hilft der Gewinn mit, dass der Konzern auch weiterhin in den Journalismus investiert.
Wir haben die Wernli einfach gernli. Doch jetzt gehen sie endgültig von dannen und ziehen ins Luzernische, im Frühjahr 2022 wird der Umzug vollendet sein. Trimbach ohne Wernli – irgendwie unvorstellbar. Am Platz der Traditionsfirma entsteht – Überraschung! – eine grossangelegte Überbauung mit 153 Wohnungen.
Das neue Schulhaus im Kleinholz reift heran. Eigentlich wäre das eine erfreuliche Botschaft. Wenn denn die Stadt in diesem Prozess nicht andauernd neue Kommunikationspannen fabrizieren würde. Die neuste Medienmitteilung flatterte letzte Woche ins Postfach. Wie es die Kommunikationsabteilungen grosser Firmen zu tun pflegen, informiert die Stadt darin gar nebulös über den neusten Stand der Planung.
Statt zu schreiben, was Sache ist, und ehrlich hinzustehen, zieht der Stadtrat zum wiederholten Mal den Zorn auf sich. Denn zum mindestens vierten Mal in Folge steigen die geplanten Investitionen, bevor überhaupt das Fundament gelegt ist. Knapp 40 Millionen teuer soll das Schulhaus inklusive einer Dreifachturnhalle nun werden. Ursprünglich war im Zahlenwirrwarr noch von je 10 Millionen Franken die Rede gewesen.
Denn eigentlich hätte der Stadtrat wissen müssen, dass es teurer kommt: Schon in der ersten Studie, die dem Stadtrat als Grundlage diente, schrieb Kontextplan, die Stadt müsse mit Investitionen von bis zu 50 Millionen Franken rechnen. Auch in der neusten Medienmitteilung steht kein Wort, das eine Fehleinschätzung vonseiten der Stadtregierung eingestehen würde. Aus den Parlamentsunterlagen wird ersichtlich: Ein Schulhaus in der Grössenordnung, wie Olten es braucht, hat seinen Preis. In einer Liste vergleicht die Stadt den Quadratmeterpreis für das Kleinholz-Projekt mit Schulhäusern in anderen Gemeinden. Darunter findet sich auch dieses Beispiel aus Zürich (Kostenpunkt 42.5 Mio / 4813 Franken pro Quadratmeter).
Nach dem Kommunikationsfiasko gab der Stadtrat im Oltner Tagblatt an, er wolle die Kosten drücken. Darunter würde wohl wiederum die Qualität leiden, der Bau wäre weniger nachhaltig. Die Stadt müsste vielmehr aufzeigen, worauf die höheren Kosten zurückzuführen sind und weshalb sich die Investition langfristig lohnen kann. Der hohe energetische Ausbaustandard etwa wird die Betriebskosten senken. Und würde die Dreifachturnhalle angenommen, könnte die Stadt auf die Miete der Giroud-Olma-Hallen (266’000 Franken jährlich) verzichten. Würde dies gelingen, wäre das Projekt vermutlich bei vielen unbestritten. Ansonsten droht bei der Volksabstimmung der böse Kater danach.
Apropos Kater …
Das Coq d’Or hat über zehn Jahre lang vielen Menschen einen solchen beschert. Die wenigsten dürften den Kater bereut haben. Der Exzess war in der Kulturinstitution Programm. «Ich bin ein Fan davon, wenn es mal nur ums Jetzt geht», sagte Daniel Kissling, als ich vor gut drei Jahren ein Porträt über ihn schrieb.
Wie viele Menschen dieser Ort über eine Dekade hinweg geprägt hat, zeigte sich, als das Coq letzte Woche auf den sozialen Medien das baldige Ende verkündete. Der Hahn hat – zumindest am jetzigen Standort – im Juni ausgekräht.
Für die Oltner Kulturszene ein herber Verlust. War doch das Lokal ein Fenster in die Welt: Über 1000 Musikgruppen spielten im Coq d’Or und an seinen besten Abenden zog die Kulturbar Menschen von weit her nach Olten an. In den letzten Jahren kämpfte das Coq d’Or aber stets ums Überleben und selbst ein Crowdfunding verbesserte die Situation nur kurzzeitig. Die Not des Kulturlokals löste eine kontroverse Debatte zur Frage aus, ob die Stadt eine Institution dieser Art finanziell unterstützen soll. Mit dem Ende des Coqs bleibt die Frage vorübergehend im Raum stehen.
Und für jene, die um das Stück Oltner Kulturgut trauern: Offen bleibt, ob der Kulturverein an einem neuen Ort seine Reinkarnation erfährt.
«Warum in Olten?», würden ihn seine Zürcher Freunde fragen. «Warum in Zürich?», erwidert Marco Grob. «Kleinstädter sind verdrahtet wie alle anderen auch.»
Warum sollten wir in der Kleinstadt nicht David Lynch sehen? 75 Jahre alt ist er kürzlich geworden. Eine Filmikone zu Lebzeiten. Vor zwei Jahren erhielt er für sein Lebenswerk einen Oscar. In Coronazeiten macht Lynch den Wetterbericht auf Youtube und malt. Dicke Sonnenbrille, langsame Sprache.
Derweil baut in Olten ein kleines Team um den Oltner Starfotografen Marco Grob ein Museum auf, das sich der surrealen Fotografie von Lynch annimmt. Unendlich tief – «infinite deep» – dringt sie vor. Tief ins Unterbewusste. Tief ins Abstrakte, ins Detail. Tief in die Abgründe des Menschen. Lynch eben.
Ein Jahr lang weilte Marco Grob in der Schweiz und war an der Oltner Kirchgasse immer wieder zu sehen. Er packte mit an und verwandelte mit ein paar Kumpels das ehemalige Naturmuseum in ein Haus der Fotografie. Ein Museum, das so gar nicht nach einer Zwischennutzung ausschaut. Dann liess er seine Beziehungen spielen und holte die Werke von David Lynch nach Olten. «Wir haben uns vor zehn Jahren in Köln kennengelernt und ich war begeistert von seiner Arbeit», sagt Marco Grob, während er auf der Treppe des Museums kauert. Er arbeitete in der Folge mit dem US-amerikanischen Künstler zusammen. Geblieben ist ihm eine Begegnung in Los Angeles, im Studio von David Lynch.
«Er hat da einen Draht in einen Weinkorken gebogen. Dieser Draht sah genau aus wie seine Filme, seine Fotografien, und er widerspiegelte den Klang seiner Musik. Er kann anfassen, was er will, es trägt sofort seine Handschrift.»
Seine Handschrift liest in Olten Nathalie Herschdorfer. Grob reiste mit seinem Team nach Le Locle, um die bekannte Westschweizer Kuratorin für sein Projekt zu gewinnen. «Er ist jemand, der ein eigenes Universum aufbaut, mit allem, was er tut», sagt Nathalie Herschdorfer im Entrée zum Haus der Fotografie. Der Film, die Malerei, die Gravur, seine Musik – alles fliesse zusammen. «Die Idee ist es, seine Arbeit zu zeigen, die uns in eine bizarre Atmosphäre versetzt.»
Die 49-jährige Kunsthistorikerin kommt aus Lausanne und hat sich mit ihren Fotografie-Ausstellungen national einen Namen gemacht. Verhältnisse wie in Olten sind ihr vertraut. Seit 2014 leitet Herschdorfer das Musée des Beaux-Arts in Le Locle und sie verstand es, das Museum aus der geografischen Versenkung im tiefen Jura herauszuholen. Die Besuchszahlen verfünffachten sich unter ihrer Führung auf 10’000 Eintritte pro Jahr.
Und jetzt also Olten.
Die Ausgangslage ist Nathalie Herschdorfer vertraut: Letztes Jahr entwarf sie in ihrem Museum eine Ausstellung zu Stanley Kubrick (sie ist noch bis 14. März zu sehen). Die Parallelen sind offenkundig. Wie auch David Lynch ist Kubrick weltweit für sein Filmschaffen renommiert. Die Museen zeigen nun mit der Fotografie eine unbekannte Seite der beiden Kunstschaffenden. Die sich im Übrigen verbunden waren. Stanley Kubrick bezeichnete Lynchs Filmerstling «Eraserhead» einst als seinen Lieblingsfilm. In den Kritiken kam der junge Filmemacher damals schlecht weg – «Eraserhead» galt jedoch als Underground-Geheimtipp. Lynch liess sich nie von seinem Weg abbringen und würde vielleicht auch gerade deswegen später Kultstatus erlangen.
Nach seinem ersten Film begann er mit der Fotografie. Zunächst war sie für ihn, wie für viele Filmemacher, Mittel zum Zweck. Ende der 70er-Jahre erkundete Lynch Schauplätze mit der Kamera und begann sich für die Szenerie im Feld zu interessieren. Noch bevor er sich als Filmemacher versuchte, hatte Lynch Malerei studiert. Nathalie Herschdorfer sagt, dies sei in seinem gesamten Werk spürbar:
«Er ist Maler geblieben. Die Art und Weise, wie er ein Bild komponiert, entspricht nicht der fotografischen Realität, es ist eine Komposition.»
Eines seiner grossen Sujets sind die weiblichen Körper. In einer der gezeigten Fotoserien spielt Lynch mit den Bildeinstellungen und Schattierungen. In einer anderen griff er auf Aktfotografien aus den 1920ern und den 30er-Jahren zurück, die er bearbeitete und so zu surrealistischen Figuren manipulierte. Auch in der Fotografie zeigt Lynch mit diesen Arbeiten, warum er einstweilen auch als «Dalí der Grossleinwände» galt. «Es ist wie in seinen Filmen, wir verstehen seine Szenerien nie vollständig, er gibt uns nicht alle Schlüssel, um sie zu verstehen», sagt Herschdorfer.
Die andere grosse Obsession des Regisseurs sind verlassene Fabriken (the factories). Über 20 Jahre hinweg begab sich David Lynch immer wieder auf Reisen, unter anderem durch Polen, Deutschland und England, um zerfallene Industrieanlagen aufzusuchen, die auch in seinen Filmen vorkommen. Und auch hier: Die Fotografien der Fabriken haben keinen dokumentarischen Charakter, sondern orientieren sich an der Komposition. Lynch soll einmal gesagt haben:
«Dies sind die Kathedralen von heute. Ich verbringe meinen Tag lieber an einem verlassenen Ort, als dass ich eine schöne Landschaft besuche.»
Tief in Lynchs Welt blicken lässt eine Serie über Schneemänner, die in typisch amerikanischen Agglomerationssiedlungen entstand. Ein lustiges Sujet für Kinder? Nicht bei Lynch. Seine Schneemänner bringen eine bizarre Stimmung zum Ausdruck. Lassen die Betrachterin im Ungewissen. «Er versucht, uns Geschichten zu erzählen, lässt uns aber mit diesen Rätseln allein», sagt Herschdorfer.
David Lynch wuchs im landwirtschaftlich geprägten Montana im Nordwesten der USA auf. Seine Kindheit war wohlbehütet, wie er Journalisten immer wieder erzählte. Unter anderem in einem TV-Interview mit einem kanadischen Sender. «Danach habe ich einen grossen Teil meines Lebens damit verbracht, die andere Seite zu erforschen. Die seltsame Krankheit der Gesellschaft.» Lynch interessierte sich für das, was sich hinter den Schneemännern und den Fassaden der bürgerlichen Vorstadtsiedlungen abspielte und malte sein eigenes Bild, das bisweilen verstörend sein konnte. So geschehen in seinem vierten Film «Blue Velvet», der 1986 in die Kinos kam. Damals liefen die Menschen aus den Kinosälen und forderten ihr Geld zurück. Aber Lynch blieb sich in seinem künstlerischen Schaffen treu. Die Anerkennung erntete er erst viel später.
Die «Signature lynchienne», wie Nathalie Herschdorfer sagt, erlangte der Regisseur, indem er niemanden kopierte und seiner eigenen Kreativität alle Freiheiten liess. Damit seine Schaffenskraft im Oltner Haus der Fotografie voll zur Geltung kommt, hat die Lausannoise ein besonderes Zusatzelement eingebaut: Die gesamte Ausstellung wird von einer Musikkomposition von David Lynch himself untermalt.
Wie im Kino
«In der Ausstellung wird es sein, als ob die Besucherinnen in einem Film sind. Die Charaktere, die Musik und die visuellen Elemente werden einen eigenen Film bilden», sagt Herschdorfer.
Zurück zur Einstiegsfrage: Lynch und Olten, wie passt das zusammen? Zwar entspricht Olten keineswegs dem stereotypischen amerikanischen Vorort, aus dem Lynch stammt. Wohlbehütet sind wir schon eher. Und manchmal schmoren wir gerne in der Bedeutungslosigkeit, wenn wir auf den Bahnhof reduziert werden.
Marco Grob stört sich an diesen Denkmustern. «Wir sind keine Eisenbahnerstadt und keine Arbeiterstadt mehr. Das sind Mythen. Wir müssen nicht mehr jene sein, die wir waren», sagt er. Wenn der Fotograf aus den USA heimkehrt, lebt er die amerikanische Maxime, dass nichts zu gross ist. Auch für Olten nicht. «Mach’s so gut, wie du kannst, und hoffe, dass es gut genug ist», zitiert Grob ein Sprichwort, das amerikanisch klingt. Unter dem IPFO-Logo an der Eingangstür steht: «Love & Passion».
INFINITE DEEP
26. März 2021 – 27. Juni 2021. Mi–So 11.00 – 17.00 Uhr Eintritt: Erwachsene 20 Franken, Studenten und Rentner 15 Franken, Kinder und Jugendliche bis 16 Jahre gratis Das Haus der Fotografie bietet auch Führungen und Workshops an. Das Treppenhaus wird zum Auditorium der Ausstellung und bietet Raum für Kulturvermittlung und die Geschichte der Fotografie. Die Ausstellung «Infinite Deep» wird nach Olten auch in Kopenhagen zu sehen sein. ipfo.ch
Wäre nicht die Pandemie gewesen, hätten wir in der Montagszeitung nach der Wahl ratlose Gesichter gesehen. Allen voran jene der Freisinnigen. Und wir hätten lachende Gesichter gesehen. Die Sozialdemokraten und die Grünen hätten euphorisiert ihre Wahl gefeiert.
In diesem Jahr taten sie dies vielleicht zu einem Glas Sekt in der eigenen Stube oder im kleinen Kreis im Freien. Warum aber dieser Erdrutschsieg der Linken in der ehemaligen FDP-Hochburg Olten? So richtig konnten die Direktbetroffenen es sichselbst nicht erklären. Auch weil das Corona-Wahljahr anonymer war als üblich.
Mehrere Faktoren führten zum vermeintlich überraschenden Ergebnis. Allerdingswiderspiegelt die Stadtratswahl nach vertieftem Blick wohl schlicht die neuen Kräfteverhältnisse. Einen entscheidenden Einfluss auf die diesjährigen Stadtratswahlen hatte die vor vier Jahren aus der Taufe gehobene Partei «Olten jetzt!». Stundenlang wartete Stadtratskandidat Nils Loeffel am Sonntag auf dem Platz der Begegnung auf die Resultate. In den Händen trug er einen violetten Luftballon, als ob es sein Glücksbringer wäre.
Erst kurz nach sieben machte die Stadt die Resultate publik. Die Stimmen waren zwar schon rund eine Stunde zuvor ausgezählt gewesen. Jedoch muss das Wahlbüro der Hierarchie gemäss als Erstes die nationalen Abstimmungen bearbeiten, danach die kantonalen Wahlen abschliessen und erst zum Schluss dürfen die kommunalen Ergebnisse raus.
IT-Probleme hatten zunächst die Auszählung verzögert. Und: Die Wahlbeteiligung lag mit 47,1 Prozent bei den Stadtratswahlen überdurchschnittlich hoch (für den Kantonsrat sogar bei knapp 50 Prozent und die nationalen Vorlagen bei rund 57 Prozent). Statt wie erwartet um 16 Uhr wusste die Stadt erst drei Stunden später, wie die Wahlen ausgegangen waren.
Die hohe Wahlbeteiligung lässt aufhorchen. Ein Blick zurück zeigt, dass die Oltner Stadtratswahlen letztmals vor zwanzig Jahren mehr Menschen mobilisiert hatten als dieses Jahr. Der Corona-Effekt, durch den die Menschen wieder vermehrt im Hier leben und sich mit dem Ort auseinandersetzen? Das mag ein Teil der Antwort sein.
Die SP im Sog der Grünen?
Eine vertiefte Analyse der Resultate ist zwar nicht möglich, da die Majorzwahlen eine Blackbox sind. Wir wissen nicht, wer an die Urne ging, haben also keine Informationen zur demographischen Struktur. Und wir wissen beispielsweise auch nicht, wer am häufigsten mit wem auf einem Wahlzettel stand.
Trotzdem: Die Resultate, welche die Behörden am Ende des Wahlsonntags ausspuckten, lassen Erkenntnisse zu. Raphael Schär-Sommers Wahl in den Stadtrat eine Überraschung? Nicht, wenn wir genau hinschauen.
Ein Indikator sind die Kantonsratswahlen. An ihnen lässt sich die grüne Welle ablesen, die in der Stadt heftiger ausfiel als in den Agglomerationsgemeinden. Gegenüber 2017 holten die Grünen in absoluten Zahlen mehr als doppelt so viel Stimmen (+6,3 Prozentpunkte). Dies mag mit ein Grund sein für den Erfolg von Schär-Sommer. Der grüne Höhenflug allein kann aber die rot-grüne Dominanz nicht erklären. Denn die Sozialdemokraten konnten in der Stadt im Vergleich zu den letzten Wahlen kaum mehr Menschen mobilisieren und büssten im Verhältnis zu den anderen Parteien bei den Kantonsratswahlen an Terrain ein. Zu Gunsten der Grünen.
Die Linke als Einheit blieb prozentual in etwa gleich stark. Deshalb konnte ihr klarer Wahlsieg nicht erwartet werden. Ein weiterer Motor?
Eben: Olten jetzt!
Die jüngste Partei trat nicht zu den Kantonsratswahlen an und hatte diesen «Mobilisierungs-Bonus» nicht. Wobei: die Stadtratswahl ist eine Personenwahl. Nicht die Parteien stehen im Vordergrund, sondern die Gesichter. Trotzdem tappen wir ein wenig im Dunkeln, warum dem Olten-jetzt!-Kandidaten Nils Loeffel nur knapp 20 Stimmen zur Wahl fehlten. War er, der sich mit seinem Politkurs klar links einordnet, bloss Nutzniesser der rot-grünen Stärke?
Sicher auch, ja. Aber wahrscheinlich ist, dass Loeffel mit seinem frischen Wahlkampf – vor allem in den sozialen Medien – eine junge, urbane Wählerschaft mobilisierte. Diese neuen Wählerinnen katapultierten nicht nur ihn auf die vordersten Ränge, sondern verhalfen wohl auch Rot-Grün zur in Olten so nie dagewesenen Dominanz bei einer Exekutivwahl.
Und die Freisinnigen?
Die FDP hatte sich an ihre einstige Vormachtstellung zurückerinnert und wollte diese wieder erlangen. Sie beachtete dabei aber nicht den Lauf der Dinge. Seit 2001 haben die Freisinnigen nie mehr jene Stärke erreicht, die sie über ein Jahrhundert hinweg zur staatstragenden Partei gemacht hatte. Vor 20 Jahren waren drei FDP-Vertreter im ersten Wahlgang in den damals noch siebenköpfigen Stadtrat eingezogen – unter ihnen Stadtpräsident Ernst Zingg. Im Vergleich zu damals hat die FDP bei den Kantonsratswahlen gut 8 Prozentpunkte an Wähleranteilen verloren und ist in der Stadt nun auf gleicher Höhe wie die Grünen. Dass ihr Zweierticket dieses Jahr erfolglos blieb, kam nicht unerwartet.
Vor diesem Hintergrund erscheint das Zweierticket im Nachhinein eher wie ein Misstrauensvotum gegenüber dem bisherigen Stadtrat Benvenuto Savoldelli. Ihm, der etwa von Bürgergemeindepräsident Felix Frey diskreditiert wurde. Und der als Finanzdirektor eine Steuererhöhung als unausweichlich deklarierte.
Savoldellis Wahlergebnis ist in absoluten Zahlen nicht schlechter als bei den letzten zwei Wahlen, die er gewann. Obwohldamals die Wahlbeteiligung wesentlich tiefer war, zeigt sich, dass die Freisinnigen wohl kaum mehr an die alles überstrahlenden Resultate von damals herankommen.
Ist Olten also progressiver und linker geworden? Vermutlich ja. Dass die FDP ex aequo mit den Grünen nur noch die zweitstärkste Partei ist, dürfte der neuen Realität entsprechen. Zumindest wenn es der Linken, die durch Olten jetzt! gestärkt wurde, weiterhin gelingt, derart gut zu mobilisieren.
Im Schlepptau der FDP verzettelten sich die Bürgerlichen – halbwegs unfreiwillig – durch eine Fünferkandidatur. Beat Felber gesellte sich im Wahlkampf stark zum bürgerlichen Päckchen, anstatt sich als Mitte-Kraft zu positionieren. Dennoch zog er sich im ersten Wahlgang am besten aus der Affäre. Wenn es Ende April um die letzten zwei Plätze geht, wird es für den Neuling aber schwieriger, da die FDP voll auf Savoldelli setzt. Entscheidend wird sein, wer von den beiden mehr Stimmen von links erhält.
Zum Missfallen von FDP und CVP gesellten sich die beiden unabhängigen Thomas Rauch und Rolf Sommer zu den Bürgerlichen hinzu. Ersterer konnte die Zahl seiner Stimmen gegenüber 2017 verdoppeln und erzielte ein achtbares Ergebnis. Im zweiten Wahlgang dürften ihm die bürgerlichen Parteien die Unterstützung aber entziehen. Rauch versucht nun wahltaktisch, sich vom bürgerlichen Paket zu lösen und preist sich als Sachpolitiker an.
Rolf Sommer hat sich in den letzten Jahrzehnten zur Genüge als Oppositionspolitiker bewiesen, doch als Exekutivpolitiker bleibt er mit seinen Ambitionen chancenlos. Er hat in den letzten 20 Jahren seinen Rückhalt nicht vergrössern können, wie der Wahlsonntag zeigte. Sicher auch, weil es mit der lokalen SVP vor Jahren zum Zwist kam.
Wo blieben die Frauen?
Die bürgerlichen Parteien haben es verpasst, Stadtratskandidatinnen zu finden und aufzustellen. Mit einer Frau hätten CVP oder FDP mehr Profil erhalten und mit der Linken konkurrieren können. Niemand wollte 50 Jahre nach Einführung des Frauenstimmrechts so wirklich über die fehlenden Kandidatinnen sprechen. Dass gerade im städtischen Raum der Ruf nach femininen Stimmen gross ist, zeigt das Glanzresultat von Marion Rauber.
Das Coronavirus hat uns alle zu kleinen Epidemiologen gemacht. Oder zumindest glauben wir das manchmal. (Vor einem Jahr wusste ich nicht mal genau, was ein Epidemiologe ist.) Damals, als vor gut einem Jahr im Februar zu meinem runden Geburtstag jede Ecke meiner Wohnung mit Freunden vollgestopft war, da sprachen wir noch von dieser Lungenkrankheit, die womöglich gerade in Italien ausbrach. Wir sprachen vom Unterschied zwischen Viren und Bakterien. Und davon, ob dieses Virus wohl den Weg durch den Gotthard finden würde.
Gut zwei Wochen später gingen wir in den harten Lockdown. Das Wort Quarantäne hatte ich vorhin nur aus dem Orientierungslauf gekannt. Als jenen Ort, wo sich die Läuferinnen vor einem Wettkampf isolieren. Aus einer Epidemie wurde eine Pandemie. Wir lernten, was die Inkubationszeit ist, und bald danach sprach alle Welt von Aerosolen. Und wir lernten, welchen Effekt die gefühlt hundert verschiedenen Maskentypen haben. Dann begannen die Medien Ende Jahr mehrheitlich von den mutierten Viren zu schreiben. Die britische, die südafrikanische – wenig später die brasilianische Variante. Manchmal las sich dies wie eine Anschuldigung. Ach je, die Briten wieder! Sie haben’s verbockt und uns eine Variante eingeschleppt.
Spätestens seit dieser Woche wissen wir: Das mutierte Covid-19-Virus ist auch in Olten angekommen. Schlimmer noch: es ist «im Angriff», wie das Oltner Tagblatt schrieb. Dieses fiese Miststück greift also nun auch unsere Schulen an. Für die Liebhaber von Science-Fiction wird das unsichtbare Ding mit diesem Titel ein wenig greifbarer. (Ja, die Pandemie-Thriller sind zugegeben ein Stück weit real geworden.) Aber am Ende des Tages können wir uns glücklich schätzen, dass wir nicht wie die Menschen in der Ostukraine oder im Jemen militärischen Angriffen ausgesetzt sind. Verglichen dazu ist ein mutierter Virusangriff weniger existenzbedrohend.
Denn als mittlerweile gereifte Möchtegern-Epidemiologen haben wir gelernt: Dass Viren mutieren, ist natürlich und völlig normal. Warum wir uns also vor den mutierten Viren fürchten? Weil sie sich offenbar (im Fall der britischen Variante) wesentlich schneller ausbreiten. Wird also der Term «dritte Welle» zu unserem neuen Stammvokabular? Es gibt Hoffnung, dass dem nicht so ist. Wie der Bundesrat gestern ankündigte, werden wir ab Mitte März alle mit Covid-19-Tests eingedeckt. Wer fleissig die verschiedenen Testsorten auswendig lernen will, kann schon mal loslegen.
Was Olten die vergangenen Tage sonst noch bewegte:
Auf der rechten Aareseite gehören die vergilbten Fassaden mancherorts zum Ortsbild. Sie geben der Stadt charmant ausgedrückt jene Eigenheit, die Olten mitunter unvergleichbar macht. Doch nun kommt zusehends Bewegung ins Stadtbild. Neben den weit fortgeschrittenen Projekten am Bahnhof Nord, dem Turuvani-Areal und dem Sälipark erhielten diese Woche zwei weitere Projekte grünes Licht vom Stadtrat: ein Blockbau an der alten Aarauerstrasse und eine geplante Erweiterung des Arkadis-Gebäudes. Hoppla – die rechte Aareseite ist im Begriff, sich im Kleinen zu gentrifizieren. Was Gentrifikation bedeutet? Das ist auch immer eine Frage der Wortwahl: Sagen wir, sich selbst überlassene Stadtquartiere werden baulich aufgewertet, was zu steigenden Mietpreisen führt. Die wohlhabenderen Menschen verdrängen die ärmeren Leute. Wo Räume für alternative Subkulturen entstanden waren, bilden sich hippe Stadtteile.
Laden öffne dich: Das galt letzte Woche nach gut zwei Monaten Lockdown. Und da wollen wir doch mal das Positive hervorheben. Soll noch jemand behaupten, in Olten gäbe es nur das Lädelisterben. Dem ist nicht so: Gleich drei neue Geschäfte wagten sich in die Innenstadt und bringen (hoffentlich) neues Leben. Ein Wollladen (ja, auch ich habe im Lockdown das Stricken wieder neu erlernt), ein Computergeschäft und der Pop-up-Store mit Tee und Kunst. Schon im Oktober mischte sich ein Weinladen ins Oltner Gewerbe. Zudem belebt ein temporäres Outlet in einem der sonst leeren Lokale die Altstadt. Ein saftiges Lebenszeichen würd ich meinen. Wenn diese positive Energie mutiert, dann wird’s heiter im Städtchen. Also hopp, kauft fleissig im Städtchen ein.
Zum Schluss noch ein Hörtipp: Das Regionaljournal SRF war mit der neuen SIP in der Stadt unterwegs und gibt einen interessanten Einblick in deren Arbeit.
Ein Freund war – also ist immer noch – sehr, sehr broke. Er brauchte dringend eine Bleibe, um nicht auf der Strasse zu landen. Als er die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, kam die Nachricht von dieser Bekannten, die er 2016 irgendwo kennengelernt hatte: Ihr Haus stehe leer, sie sei gerade von Thessaloniki nach Athen gezogen für eine Weile. Bis sie wieder zurück sei, könne er dort einziehen. Sei eh gut, wenn jemand da ist, erwähnte sie nebenbei, weil dann der Hund nicht so alleine sei.
Weil das nur ein Nebensatz war und der Freund ihn mir noch viel nebensätzlicher mitteilte, dachte ich mir nicht viel dabei. Bis ich ein paar Tage später als Zügelhilfe hinter ihm in dieses Haus eintrat. Ein kleines Häuschen im ältesten Stadtteil Thessalonikis, charmant, wenn auch etwas heruntergekommen. Soweit alles nice, eigentlich. Als wir aber die knarzige Holztür einen Spalt weit öffneten, sprang uns dieses unglaublich aufgeregte Geschöpf entgegen. Winzig klein, mit samtig schwarz-weissem Fell, tapsigen Pfoten und tieftraurigen Augen wedelte sich der Hundewelpe direkt in mein Herz. Wie kann sie nur, diese «Scheisskerlin», dachte ich mir. Was muss das für ein Mensch sein? Ein Hündlein alleine in einer Wohnung lassen. Ein Baby. Allein. Ich war fassungslos.
Der Welpe konnte sich kaum beruhigen ob der menschlichen Aufmerksamkeit, und ich nahm ihn in die Arme. «Liebstes, alles ist gut, ich bin ja da.» Tränen der Wut und des überbordenden Mutterinstinkts stiegen mir in die Augen (okay, vielleicht ist das übertrieben, aber ich war sehr aufgewühlt).
Als der Hund und ich wieder normal atmen konnten, merkte der Freund an, dass eine Nachbarin ihn offenbar gefüttert habe und auch manchmal mit ihm spazieren gehe. Egal, dachte ich mir, diese Hundehalterin ist eine Teufelin, das macht man einfach nicht. Ich nahm mir vor, den Hund und den Freund täglich zu besuchen.
«Schätzeli, komm auf meinen Schoss, jetzt lässt dich niemand mehr alleine.»
Ich erzählte meiner Mama in einer bestürzten SMS davon und natürlich kam auch zur Sprache, ob ich den Hund adoptieren sollte. «Das ist nicht so einfach!», meinte sie. «Ja, ich weiss, ein Hund ist so aufwendig», antwortete ich. Sie darauf: «Nein, ich meine wegen der Papiere. Der braucht einen Impfausweis, einen Chip, muss in der Schweiz registriert werden, und wenn der einreist, muss er in Quarantäne!» Ich: «Also wegen Corona?» Sie: «Nein, Hunde müssen auch sonst in Quarantäne in der Schweiz. Wegen Hundekrankheiten. Ich hab das gegoogelt!»
Als ich zwei Tage danach den Hund besuchen ging, öffnete der Freund die Tür. Ich trat ein – Stille. Kein aufgeregtes Schnaufen, kein Schwanzwedeln, nichts. Ob ich Tee wolle, fragte der Freund. «Gerne.» Komisches Schweigen. Dann, nachdem er mir in aller Ruhe einen Tee eingeschenkt hatte, meinte er mit einem wirklich langen Joint im Mund: «Der Hund ist weg.» Er habe gestern Abend gemerkt, dass kein Futter mehr da war. «Und ich habe ja nicht mal Geld, um mir selber Essen zu kaufen.» Deshalb habe er ihn jemandem gegeben, der in der Nähe wohnt. Der habe ihn adoptiert. Ich war wieder bestürzt. Das schien mir alles furchtbar verantwortungslos.
Noch einmal ein paar Tage später traf ich den Hund wieder, zusammen mit seinem neuen Besitzer. Der stand auf einer Wiese, rauchte einen wirklich langen Joint und schwang mit einem Stock um sich. Um den Stock herum tollte das Hündlein zusammen mit einem riesigen Boxerhund.
Die drei gaben ein harmonisches Bild ab. Ich war verwirrt.
Nein, es ist nicht okay, kleine Hunde zu vernachlässigen. Es ist verantwortungslos, dabei bleibe ich. Und doch hat der Hund, um den es ja eigentlich geht, in dieser verantwortungslosen Umgebung am Ende vielleicht das bessere Leben, als wenn ich ihn aus Pflichtbewusstsein adoptiert hätte. Ich hätte ihm einen Platz in meinem durchgetakteten Leben freischaufeln müssen. Zwischen Terminen, Arbeit und Sport hätte ich ihn zur Tierärztin bringen müssen und hätte gestresst dafür gesorgt, dass er endlich alle Impfungen und Papiere erhält. Für entspannte Stockspiele in Pärken wäre vielleicht selten Zeit gewesen.
Auch ein zweiter Gedanke lässt mich nicht los: Könnte es sein, dass meine Bestürztheit derart gross war, weil in meiner Kultur dieser Hund in derselben Situation vielleicht tatsächlich viel schlimmer dran wäre? Weil in der durchorganisierten Schweiz keine Nachbarin einfach mal den Hund von nebenan füttert und schon gar niemand einen ungeimpften Streuner von heute auf morgen adoptiert? Weil dort die Grenze zwischen Mein und Dein wirklich ernst ist und es deshalb so wichtig ist, sich um seinen eigenen Shit zu kümmern? Während hier diese Grenze ein wenig verschwommener ist? Weil es am Ende schon halbwegs funktioniert und man informell so etwas wie füreinander sorgt? Ich weiss nicht genau. Aber ich bin ein winziges bisschen froh, mich jetzt nicht um einen kleinen Hund kümmern zu müssen.
Internetanschluss gehört für uns zum Selbstverständnis. Wie das Hahnenwasser, das Strassennetz oder der Strom aus der Steckdose. Dabei sind erst gut dreissig Jahre seit der Erfindung des World Wide Web am Cern nahe Genf vergangen. Durch diese Errungenschaft war das Internet erst massentauglich geworden.
Unsere Welt hat sich seither rapide digitalisiert. Die Datenmengen, welche über das Internet ausgetauscht werden, steigen bis heute massiv an. Zu Beginn surften wir noch hauptsächlich über das Kupferkabelnetz, das wir für die Telefonie installiert hatten. Bis eine Webseite abgerufen war, dauerte es Ende der 90er-Jahre gut und gerne mal ein paar Minuten. Im Vergleich zu heute gingen die Daten damals im Schneckentempo über die Leitung. Die Technologie entwickelte sich und unser Zugang in die digitale Welt verbesserte sich sukzessive. Bald einmal kommunizierten wir mehrheitlich übers Internet und auch das Fernsehen wurde digital. Das in die Jahre gekommene Kupfernetz stiess zusehends an seine Grenzen.
Das Netz der Zukunft?
Die Glasfaser. Das ist zumindest die halbe Wahrheit. Später dazu mehr.
Die dünnen Fasern aus Glas übertragen die Informationen durch Licht – in Lichtgeschwindigkeit. Dies erlaubt den Transport unvorstellbar grosser Datenmengen in kürzester Zeit. Trotzdem hat sich die Glasfaser in den letzten zehn Jahren noch nicht durchgesetzt.
Rund 30 Prozent der Schweizer Haushalte sind heute mit Glasfaser erschlossen. 2017 liess das Bundesamt für Kommunikation abklären, wieviel der Ausbau eines schweizweiten Glasfasernetzes kosten würde. Auslöser der Studie war eine Standesinitiative des Tessins. Der Südkanton forderte den Bund dazu auf, schweizweit für ein leistungsfähiges Netz zu sorgen. Primär geht es dabei um die Randregionen. Aber nicht nur. Etliche Kleinstädte und Regionalzentren haben noch keinen Glasfaser-Hausanschluss.
In ihrem Bericht schreibt die durch den Bund beauftragte Firma: «Der Glasfaserausbau mit FTTH kommt in der Schweiz derzeit scheinbarnur noch wenig voran […].» FTTH, ausgeschrieben Fiber to the Home, bedeutet, dass die Glasfaser bis in die Wohnung reicht. Die langsamer leitenden Kupferkabel werden dabei gänzlich ersetzt.
Warum es mit dem Glasfaserausbau in der Schweiz nicht mehr so flott vorangeht, werden wir in diesem Beitrag am Beispiel Olten aufzeigen.
Ein Stück der Antwort liegt wohl in der Bequemlichkeit. Auch wenn uns die vielen Videoanrufe während der Coronazeit lehrten, dass unser Netz im Privatgebrauch an Grenzen stossen kann, funktioniert das herkömmliche Netz so weit, so gut und erfüllt die allermeisten Ansprüche im Haushalt.
«Wer an einem Ort mit Glasfaser lebte und dann an einen ohne umzieht, merkt, dass es ein unglaublicher Unterschied ist», sagt Tobias Oetiker. «Es geht nicht nur um die Bandbreite, sondern auch um die Latenz. Das heisst: Wie schnell ist das einzelne Päckchen am Ziel, wenn es durchs Netz auf die Reise geschickt wird? Das kann bei den in Olten verfügbaren Technologien zehn bis zwanzig Mal länger dauern als über Glasfaser.»
Die hartnäckigen Oltner
Seit über vier Jahren kämpft und lobbyiert der Olten-jetzt!-Politiker für einen Glasfaserausbau in der Stadt. Zum einen aus privatem Interesse, wie er offen zugibt. Aber auch im Sinne der Stadt. Er ist Teil eines kleinen Kreises von Gleichgesinnten, der sich in der Facebookgruppe «Offenes Glasfasernetz für Olten» austauscht.
Der IT-Unternehmer machte sich auch im Parlament für den Glasfaser-Hausanschluss stark. Mit einer Motion wollte er zunächst die Stadt dazu bringen, ein städtisches Glasfasernetz zu errichten. Er zog diese aber zurück, als er merkte, dass die Parlamentsdebatte zu entgleisen drohte. Sein Anliegen war auf diesem Weg nicht mehrheitsfähig – die Diskussion driftete ab zur häufig geführten Debatte: Glasfaser braucht es nicht, wo es ja 5G gibt. Darauf kommen wir später zurück. Ausserdem habe die Stadt aktuell schlicht nicht das Geld dazu, so Oetiker. Auf 15 bis 30 Millionen Franken schätzt er die Kosten für den Ausbau.
Tobias Oetiker ist mit seinem Anliegen nun doch noch auf der Zielgeraden eingebogen. Der Stadtrat empfiehlt nämlich dem Parlament, sein Postulat zu überweisen. Mit diesem will Oetiker bezwecken, dass die Stadt den Glasfaserausbau öffentlich ausschreibt. Im März wird das Parlament darüber befinden. Interessenten dafür, diese Infrastruktur auf eigene Kosten zu installieren, stehen vermutlich bereit. «Alle sind momentan auf der Suche nach sicheren Investitionen», sagt Oetiker.
Auch Sunrise und Salt gingen letztes Jahr mit der eigens gegründeten Firma Swiss Open Fiber in die Offensive und kündigten den Glasfaserausbau an. Die unheilige Allianz der beiden Telekomgiganten war eine Ansage gegenüber der Swisscom. Wie schnell sich Gegebenheiten im Telekomgeschäft wandeln, zeigte sich Monate später: Sunrise will mit UPC Cablecom fusionieren und hat es vermutlich deshalb bereits nicht mehr so eilig mit dem Glasfaserausbau. Denn dank UPC wird Sunrise über ein weit ausgebautes Kabelnetz (Koaxialkabel) verfügen. Mit ihrem Netz war die UPC bisher die ärgste Konkurrentin der Swisscom, wenn es um einen schnellen Internetanschluss ging.
Auch am Platz Olten. Tobias Oetiker nutzt mit seinem IT-Unternehmen die Dienste von UPC, weil er dort bis zu 1 Gbit/s downloaden kann. Wie die NZZ in einem Beitrag über die Schweizer Internet-Topographie aufzeigte, gehört Olten dank dieser Konkurrenzsituation zwischen UPC und Swisscom im nationalen Vergleich zur zweiten Klasse. Sie hinkt jenen Gemeinden hinterher, die bereits vollständig bis in die Häuser mit einem Glasfasernetz ausgestattet sind.
Däniken, die Vorreiterin
Ein Vorzeigebeispiel gibt’s ganz in der Nähe: Durch die Fernsehgenossenschaft Yetnet hatte Däniken schon Ende der 90er-Jahre eine Vorreiterrolle innegehabt. Yetnet zog bereits damals Glasfaserkabel in die Strassenzüge. Und 2017 schliesslich baute die Niederämter Gemeinde ein Glasfasernetz aus, das bis zur Steckdose in den Wohnungen reicht. Die einzelnen Glasfasern werden bei diesem Modell öffentlich an die verschiedenen Internetprovider vermietet. Die Kundin ist in ihrer Wahl frei.
Sobald die öffentliche Hand oder private Investoren Glasfasernetze installieren, versucht die teilprivatisierte Swisscom stets eine Beteiligung zu erreichen. Das war in Däniken, aber auch in Zürich so. In Däniken sicherte sich die Swisscom mit einem Beitrag am Ausbau die Nutzungsrechte für dreissig Jahre. In Zürich, wo die Stimmberechtigten einen Kredit über 600 Millionen Franken sprachen, beteiligte sich die Swisscom und umging so die Miete. Sie kam verhältnismässig günstig zu einem Glasfaserausbau und kann nun einen Teil des Netzes nutzen.
Aber zurück zur Frage: Warum fehlt in Olten und an vielen anderen Orten bis heute ein vollständig ausgebautes Glasfasernetz?
Die Swisscom hat zwar in den letzten zwei Jahren in Olten alle Strassen mit der Glasfasertechnologie ausgestattet. Dafür steht der Begriff FTTS, Fibre to the Street. Bis Ende 2021 ist dies schweizweit Standard. Vom Strassenschacht bis in die Wohnung strömen die Daten aber weiterhin auf den alten Kupferkabeln, was die Leistung stark beschränkt (maximal 500 Mbit/s). Aus finanziellen Gründen konzentrierte sich die Swisscom zunächst auf den schweizweiten Glasfaserausbau bis in die Strassen. Aber der öffentliche Druck für ein vollständig ausgebautes Glasfasernetz hat zugenommen. Und so will die Swisscom nun bis 2025 schweizweit 60 Prozent der Liegenschaften mit Glasfasernetz abdecken. Dafür investiert sie jährlich 1,6 Milliarden Franken.
Sollten auf eine allfällige Ausschreibung Oltens private Investorinnen ein Glasfasernetz errichten wollen, würde dies die Swisscom wohl aus der Reserve locken.
Denn eines hat sich auch seit der Teilprivatisierung der Swisscom Ende der 90er-Jahre nicht geändert: Das Unternehmen, das zu 51 Prozent dem Bund gehört, bemühte sich stets um die Vormachtstellung auf dem freien Markt. Erst sperrte es sich gegen einen regulierten Zugang zum Kupfernetz, das noch aus der Monopolzeit stammte. Und zuletzt wurde der Vorwurf laut, die Swisscom versuche auch auf dem Glasfasernetz eine Art Monopolstellung zu erlangen. Einer der «kleinen» Internetanbieter lehnte sich gegen die Gigantin auf und reichte bei der Wettbewerbskommission (Weko) Anzeige ein, worauf diese ein Verfahren eröffnete. Fredy Künzler gehört mit seiner Init7 zu den Pionieren für schnelles Internet. Und als Mitbewerber wirft er der Swisscom vor, so, wie sie den Glasfaser-Milliardenausbau umsetze, behindere sie den Wettbewerb.
Warum sie die Konkurrenz ausbremst?
Achtung, jetzt wird’s technisch.
Bisher wurden die Glasfasernetze als grosse Bündel mit 432 Fasern verlegt. Das erlaubte es, vom Verteiler in jede Wohnung vier Fasern zu ziehen. Internetanbieter können diese analog zu einem Marktplatz mieten, um ihren Service anzubieten. Die Swisscom verlegt aber von der Zentrale zum Verteiler eine viel dünnere Glasfaser mit 24 Fasern und verwendet anschliessend eine spezielle Technologie, um die Daten auf verschiedene Lichtstrahlen zu teilen. Pro Haushalt genügt somit eine Glasfaser. Für die Konkurrenz bedeutet dies: Sie kann sich nicht eine eigene Faser mieten, sondern muss die Internetverbindung der Swisscom nutzen. Sie könne somit die Preise kontrollieren, so der Vorwurf.
Weil die Swisscom als ehemalige PTT-Staatsmonopolistin die alten Kabelschächte und Kupferkabel beherrscht, ist sie der Konkurrenz immer eine Nasenlänge voraus. Sie hatte also – von den finanziellen Möglichkeiten abgesehen – keine Eile, vollständig auf Glasfaser umzusatteln.
Dass die Swisscom immer wieder in der Kritik steht, ist eng an die einstige Monopolstellung gekoppelt. Ihr Vorteil ist nicht von ungefähr. «Die Tätigkeit von staatsnahen Unternehmen auf Wettbewerbsmärkten ist politisch gewollt, kann aber zu Wettbewerbsverzerrungen und potenziell zu Nachteilen für konkurrierende private Unternehmen führen», schreibt der Bundesrat in einem Bericht von 2017. Diese liessen sich beseitigen, indem Staatsunternehmen vollständig privatisiert würden. Dazu schreibt der Bundesrat: «Eine solche Massnahme wäre gegen das Risiko abzuwägen, das der Verlust der direkten Kontrolle der öffentlichen Hand über die Qualität der von diesen Unternehmen betriebenen kritischen Infrastrukturen impliziert.» Mitunter im Sinne ihrer Versorgungsaufgabe hat die Swisscom das Glasfasernetz in den letzten Jahren bis in die Strassen ausgebaut.
Ultrahochband als Grundversorgung, wie der Kanton Tessin dies in seiner Standesinitiative forderte: Gemäss Bund bleibt dies eine Illusion. Ein solches Bestreben sei auch aus raumordnungspolitischer Optik zu hinterfragen, schreibt der Bund und verweist auf das revidierte Raumplanungsgesetz. Ziel dessen sei es, die weitere Zersiedelung möglichst zu verhindern. Flächendeckend schnelles Internet würde hier falsche Anreize setzen. Er schreibt: «Das Raumkonzept Schweiz geht von einer polyzentrischen Entwicklung aus. Entsprechend ist es wichtig, dass in den ländlichen Räumen die regionalen Zentren über eine qualitativ hochstehende Versorgung und Anbindung an die Metropolitanräume verfügen sollten.»
In die Kategorie «regionale Zentren» fällt Olten – ein Glasfasernetz wäre am Eisenbahnknotenpunkt der Schweiz nach dieser Auslegeordnung angezeigt.
Aber warum reden wir überhaupt noch von Glasfaser …
… wenn doch die neue Mobilfunktechnologie 5G so vielversprechend ist und hohe Datenverbindungen ermöglicht?
5G ist mit ein Grund, warum der Glasfaserausbau ins Stocken geraten ist. Vor allem die peripheren Regionen würden schneller und günstiger mit der neuen Mobilfunktechnologie versorgt, so die allgemeine Meinung. Viele glaubten, sie würden daheim kein Internetabo aus der Steckdose mehr benötigen. Wegen dem grossen Widerstand gegen neue 5G-Antennen können die Telekomunternehmen ihr Vorhaben jedoch nicht mehr so rasch umsetzen wie geplant.
Gerade aufgrund des Widerstands ist denkbar, dass sich 5G im urbanen Raum nicht grossflächig etablieren wird. Dies würde eine enorme Zahl an Antennen notwendig machen. Die Kapazität der Antennen ist beschränkt, wie sich etwa an einem Eishockeyspiel erleben lässt: Wollen ein paar Hundert Menschen auf ihrem Handy ins Internet, nimmt die Leistung rapide ab.
«Jeder 5G-Sender muss sowieso mit einer Glasfaser erschlossen sein, weshalb der Antennenausbau im städtischen Raum auch vor diesem Hintergrund keinen Sinn macht», sagt Tobias Oetiker. Bleiben noch die wirtschaftlichen Aspekte: Ein offenes Glasfasernetz dürfte sich für die Einwohnerinnen ausbezahlen, wie der Gemeindevergleich der NZZ aufzeigt. Die Konsumenten zahlen oft für weniger Leistung mehr Geld. Für die Gemeinde würde das Glasfasernetz ausserdem zum Standortfaktor, da viele Firmen ein solches als Standard voraussetzen.
«Aktuell ist die Internetversorgung sowas wie eine mit Klebeband angebrachte Partydekoration. Sie funktioniert zwar, aber immer mal wieder fällt ein Stück zu Boden und muss neu angeklebt werden. Kein angenehmer Zustand für eine Ressource, die immer mehr ins Zentrum des privaten und wirtschaftlichen Lebens rückt», sagt Oetiker.
Wir alle beissen an. Wir alle verfallen mal dem Klickköder. «Schussabgabe am Bahnhof Olten», titelten Blick und 20 Minuten am Donnerstagabend Ende Februar. Klick.
Was hinter der Schlagzeile steckt, ist nichts als heisse Luft. Eigentlich weiss noch niemand Bescheid. Aber irgendwer auf einer Newsredaktion in Zürich schustert einen kurzen Artikel über den Vorfall zusammen. Auf welchen Quellen die Meldung fusst? Der Kantonspolizei, die vor Ort den Vorfall untersucht und bestätigt – aber weiter nichts. Und Lesereportern, die grosses Polizeiaufkommen am Bahnhof und Festnahmen beobachten und davon Videoaufnahmen an die Redaktion schicken. Eine Augenzeugin schilderte im Nachgang auf Facebook, wie sehr sie unter Schock gestanden habe. Um gegenüber 20 Minuten das Gesehene zu schildern, war sie jedoch noch genug bei Sinnen.
So geht heute Newsjournalismus: Boulevardmedien fördern Leserbeiträge dieser Art mit Prämien und kriegen im Gegenzug tausende Klicks.
Dass nur schon die ursprüngliche Schlagzeile eine Falschmeldung beinhaltete, interessiert am Tag darauf niemanden. Zur Schussabgabe kam es nämlich auf der Trottermatte. Ja, das dürfte die Oltner Familien, die sich jeweils zu Dutzenden auf dem beliebten Spielplatz einfinden, nicht unbedingt beruhigen.
Eine Schussabgabe am Oltner Bahnhof, wo täglich über 80’000 Menschen durchfahren? Eine Meldung wie diese verbreitet sich in Windeseile und zählt erfahrungsgemäss zu den meistgeklickten Artikeln auf Onlineportalen. Die Verlage verschaffen sich mit hohen Zugriffszahlen mehr Reichweite und werden attraktiver als Werbeträger.
Aber was haben die voreiligen Medienbeiträge gebracht? Nichts als Aufregung. Sie hatten nicht das Ziel, einen Mehrwert zu bieten und die Hintergründe zu analysieren. Sie haben vielmehr mit unserer Neugier gespielt. Und mit unserer Angst, unsere perfekte Welt könne einen Moment aus dem Gleichgewicht geraten. Sie entstehen nach der Maxime «Only bad news are good news».
Nichts zu schreiben wäre auch nicht die Lösung und würde den Vorfall nicht ungeschehen machen. Aber erst sollte die Polizei ihre Arbeit machen und dann können die Medien Klarheit schaffen.
Von der guten Neuigkeit schrieb am Sonntag danach niemand mehr. Zahlreiche Kinder spielten in der ersten Frühlingssonne auf dem grossen Schiff der Trottermatte, als ob nie was gewesen wäre. Stell dir mal die Blick-Schlagzeile vor: «Bunte Kinderschar auf dem Spielplatz neben dem Oltner Bahnhof». Aber diesen Beitrag würde nun mal niemand anklicken.
Anyone trying to escape the landlord will move out in the middle of the night. But not Boxer. He was not escaping. He was arriving. He moved into the house next to mine in the middle of a warm July night.
A poet’s wife living nearby had had a noisy party, going well past the curfew hour, and I had shut all my windows. That was when Boxer struck, or landed his blow, so to speak.
Around ten the next morning, I was sitting on my front balcony, reading the newspaper and having a coffee, when the balcony door next to mine opened, and Boxer stepped out, smoking a thin cigarette.
“Ah! My neighbour! Good morning to you! I’m Boxer.”
“Oh! Uh – Mr Boxer, my name is — “
“No, no – just Boxer. Let us be informal.”
“Boxer, yes. I’m Charles. Charles Ross.”
“Charles. Let us pretend that this iron fence does not exist between us, shall we? Very sharp, these points. But in an emergency, please, do not hesitate to climb over if you urgently need to seek my help.”
“Thank you! But, well, I doubt I’ll have to. At least I hope not.”
“Could you tell me, Charles, when the post arrives? Or has it already come?”
“Probably in a few minutes. See down there, in that side road? When you see the postman there, it’s exactly another half hour before he reaches us here.”
“He must make a wide arc, then, circling around.”
“No, more like a long coffee break, I think. Ah! Here he comes now. I usually duck inside.”
“And I, at least today, will have to present myself. I have not yet put my name on the letterbox.”
Leaving my new neighbour to his introductions, I went inside and down to the front door. I returned to the balcony just as the postman was escaping Boxer’s friendliness.
“Nothing for you, I guess, eh, Boxer?”
“I expect very little. And you?”
“Bills, it looks like.” I opened the top envelope with a gardening knife that I had stuck in a flowerpot. A small red card fell out and fluttered over to Boxer’s side of the balcony. He picked it up.
” ‘You are warned — ‘ Oh! I say! Sorry, I could not help myself, Charles. Nasty habit I have. Snooping. Is it a prank?”
“Uh – um – yes. A prank, a joke. That’s all.”
“But not the first time, I think. Am I correct?”
“Well, I’ve had a few of these before. How did you guess?”
“The way you reacted. And you opened it first, even though you knew what it was going to be. May I see the envelope, Charles?”
“Here. They’re always the same. Block printing, stamp always crooked, almost — “
“Almost as if signalling someone – somewhere – something. Yes?”
“The postman!”
“Ha ha! No, I think not, Charles. How many of these have you received so far?”
“Seven.”
“Seven! That is quite a lot. And? What do you do?”
“I’ve saved them, but – uh – that’s all. It’s – they’re – uh – just warnings. No threats – yet – no demands — “
“So far. Do they come regularly?”
“I never thought about it. Not on a Saturday, I think, but – hmm. They come with, yes, with the Brückenbauer – that’s Monday.”
“Today is Friday, Charles.”
“So, Mondays and – no, not always or even often on a Friday. I don’t know.”
“B-Post, I see. That allows for a delay to avoid too much regularity. They all go to this postal centre in Härkingen, I think?”
“Where are you from, Boxer? You don’t have a local accent.”
“Not even Bahnhof-tüütsch? No. Of course not. I am from Delémont. That newspaper? Is that the local one? The OT?”
“Yes. Would you like it? I’m through with it.”
“Yes, thank you. We shall speak later, yes, Charles?”
“Of course, Boxer. Of course.”
What was it about Boxer that made me trust him – against all my instincts? I knew nothing at all about him, except that he was from Delémont and that he smoked. He was a thin fellow, about my size, weight, age perhaps, as well. His hair was a brilliant black, though, whereas mine was grey mixed with brown. He was not effete but rather gave the air of amused haughtiness tinged lightly with sympathy.
I had assembled my anonymous letters according to date of postmark as far as possible, since some were smudged. They lay on the dining room table. Boxer came over to see the evidence of my postal harassment a few days after his arrival. He spread them out on the table, turning them this way and that like tarot cards. He studied the envelopes and the red cards which each had contained.
“Charles, these were all prepared at the same time, I am sure of it. And the envelopes, as well.”
“Are you a detective?”
“Hardly. Look – you see how over time the writing gets progressively worse? Less precise, more careless, haphazard. The person was getting tired of writing, the hand muscles were weakening. So, done all at once, envelopes addressed, stamped – the author of these notes needed a way to arrange them after sealing the flap.”
“Aha! That’s the positioning of the stamp!”
“Exactly, Charles! Very good. I am guessing that it also signalled, just to the writer, which postal box to drop them in, a different one each time, most likely, to keep it irregular. Something like north, south, right side or left side of the Aare – that sort of indication.”
“But why?”
“The messages all mention or allude to, if I may be so bold as to conclude, an affair which you had several years ago. More recently? Yes. The writer also claims to be a member of the OT staff with access to the online version.”
“I never look at the online edition.”
“That does not matter, Charles. As you said at first, there are no threats, no demands. Yet here is the intent – the author of these messages will put evidence of your affair, such as there might be, online for as long as possible before it gets taken down.”
“No one cares about my affairs. It wasn’t even a local matter. Someone from Lörrach. No one got hurt.”
“So these letters were mailed just over the border, do you think?”
“What? By whom?”
“By the object of your affection in Lörrach, of course.”
“That’s too far-fetched. That’s silly. It was nothing out of the ordinary, this affair, believe me.”
“I do believe you, Charles. That is why I presented two conflicting possibilities just now. Either these were mailed locally or they were not. Your reaction was that they must have been sent locally. I agree.”
“So, Boxer, what do I do?”
“What do WE do, you mean.”
“You shouldn’t get involved.”
“I already am, Charles. No, what we should do is contact the police and the chief editor of the OT. See if they have a cuckoo in their nest.”
Well, I don’t know what Boxer said to the police, but the very next day, the editor at OT rang me. Boxer had already been in touch with the top staff there and wanted a general meeting. I was to be there, in a separate room connected by video monitoring, to observe. Observe what? Boxer was coy. I boldly suggested that he had been rash by confiding in the top staff. What if it was one of them? Boxer laughed off the possibility.
“No, Charles, I think this is too intricate a plan for a newspaper editor to concoct. They are a stalwart bunch, but they prefer simple solutions to simple problems. No, this anonymous letter intrigue smells more like the work of a sub-editor, even a stringer, a freelancer. Someone hired recently, most likely. Everyone will be there tomorrow. Shall we walk there together?”
I’ll never forget Boxer the next day, excited as a monkey given a live hand grenade. I was put into a side office, and I watched on live streaming as the staff, everyone from chief editor to cleaning personnel, lined up outside a large meeting room, with Boxer standing next to the editor.
“Are they all here?”
“Yes, sir! As far as I can tell.”
“Good. That is about twenty. Let the women go in first and ask them to sit at the tables. I will be in when they are all seated.”
The women went in and sat. In front of each was a ballpoint pen and a writing pad. Then Boxer entered.
“Ladies! Thank you for coming. We are conducting a talent search for beautiful, readable handwriting. We would like to get a few sample sentences from each of you. First put your name and section number at the top of the page, then write as I dictate. You may write script or print, as you wish. Are you ready? Write these words: ‘A woman from Olten is an Oltnerin. A man from Olten is an Oltner. But anyone can work for the Oltner Tagblatt.’ Fine! That is it. Just hand in your paper as you leave.”
The women filed out and were replaced by the men, who wrote the same sentences and left. Boxer eagerly went through the writing samples. Naturally I assumed he was comparing the handwriting with that on the messages I had received.
“Damn! It did not work. Your letter writer might still be around, though. I will have to try a different tactic.”
A woman came up to him, wearing a large rain-hood and a heavy coat. It seemed an odd way to dress for a summer shower, I thought, watching to catch sight of her face under the hood. She coughed. Her voice was husky and rough. “Sorry that I’m late. What am I to do?”
She sat and filled out the paper, writing her sentences as dictated, then gave the sheet to Boxer. He looked at the paper, then at her. She had not removed the hood.
“Ma’am, there is a policewoman waiting outside to speak with you, if you would be so kind. Officer Trent, could you come in here, please?”
The officer entered the room, and, as I watched on the video monitor, the woman took down her hood. Astrid! My little Astrid! How could you?
That evening Boxer came over to see me. He was there to console me, I knew, but no consolation could erase the betrayal I felt at that last glimpse I had of my Liebchen.
“Tell me, Boxer, you identified her from the handwriting, didn’t you?”
“Never noticed the handwriting, no.”
“So, what gave her away?”
“A spelling test. A spelling error. Something I had learnt myself only recently. Something a German probably never learns. Even a few Swiss make this mistake.”
“What? Boxer! Tell me!”
“OT is an easy abbreviation. But someone in the know would never, ever write it out in full as Oltener Tagblatt, eh?”
“Boxer – let’s have a drink at the Chöbu, shall we?”
David Pearce ist ein Schweizer Schriftsteller, wohnt seit 2000 in Olten und hat amerikanische, englische, und französische Wurzeln. Er schreibt auf Englisch Kurzgeschichten, Romane und Theaterstücke.
Jessica Foschini, angekommen aus Bagnacavallo, Italien
Studierte Philosophie und Geschichte in Mailand. Arbeitet Teilzeit als Kantonsschullehrerin. Lebt seit sieben Jahren in der Schweiz.
Nach vier Jahren in Sankt Gallen kam ich 2017 nach Olten und nun werden wir langsam heimisch hier. Meine Wahrnehmung von Olten hat sich innerhalb der letzten drei Jahre stark verändert. Am Anfang fand ich die Stadt überhaupt nicht schön. Sankt Gallen war wie eine Rosine und dann kamen wir hierher und als ich die Aarauerstrasse sah, dachte ich: Das ist der hässlichste Ort der Schweiz.
Ich wusste nicht, wie lange wir hier bleiben. Aber die geografische Lage ist einfach genial. Die Altstadt ist auch sehr schön. Leider sind die Kirchgasse und der Munzingerplatz asphaltiert. Inzwischen habe ich mich an die Ästhetik Oltens gewöhnt und ich sehe das Potenzial dieser Stadt. Verbunden mit der Lage, aber auch mit der optimalen Grösse und dem grossen Angebot. Auch für Kinder. Was mir auch gefällt, sind das Schwimmbad, die Einkaufszentren – wir haben alles in der Nähe. Ich liebe zum Beispiel auch das Kino Lichtspiele. Das Schönste an Olten ist die Aare.
All diese Gründe haben uns dazu gebracht, hier zu bleiben. Klick gemacht hat es in der Coronazeit, als wir nicht mehr so viel weg konnten. Ich musste mich mit Olten abfinden und wir begannen, durch die Stadt zu spazieren, und haben die Stadtviertel und auch den Hardwald oder den Bannwald entdeckt. Das hat meinen Blick auf die Stadt verändert. Am Anfang fehlte uns hier ein wenig der soziale Anschluss. Auch weil es in einer Kleinstadt anders ist als in Zürich oder Sankt Gallen mit grossen Universitäten. Über die International Community Olten bauten wir uns ein Netzwerk auf, wodurch erste Freundschaften entstanden sind. Egal wo ich lebe, Menschen und Beziehungen machen den Unterschied und dafür braucht man Möglichkeiten, um Leute kennenlernen zu können.
Um Olten ästhetisch attraktiver zu machen, müsste Bestehendes aufgewertet werden. Jedes Mal, wenn ich durch die Winkelunterführung gehe, denke ich mir: Ich mag verlassene Gebiete, aber hier passt es mir überhaupt nicht. Ein grosses Thema ist für mich die Verbindung zwischen den zwei Teilen von Olten. Ich würde mir auch wünschen, dass die Hardeggunterführung bis zur Aare reicht und barrierefrei ist. Als junge Mutter habe ich gemerkt, dass die Stadtseitenquerung mit dem Kinderwagen sehr anstrengend ist. Menschen, die im Rollstuhl sind, müssen noch stärker eingeschränkt sein.
Was ich mir als Hausbesitzerin auch wünschen würde, ist ein Glasfasernetz, das momentan in Olten nicht verfügbar ist. Wir hoffen jetzt auf Starlink, das Satelliten-Internet.
Toll fände ich zudem, wenn es in der Kleinstadt einen Austausch zwischen Stadtvierteln gäbe. Für die Kita kann ich meinen Sohn hinbringen, wo ich möchte. Aber für den Kindergarten bin ich an das Stadtviertel, in dem ich lebe, gebunden. Ich denke, die Leute der Strasse lernst du sowieso kennen, aber die Leute in einem anderen Stadtviertel nicht. Es gibt Familien, die extra umziehen, um das Kind in eine bestimmte Schule zu schicken. Wenn es von Beginn weg die Durchmischung gäbe, würden Gesellschaftsschichten und Nationalitäten aufeinandertreffen und vermischt. Das würde helfen, die Integration zu fördern. Ich habe mich vergebens nach einer Montessori- oder einer Rudolf-Steiner-Schule umgeschaut. Olten wäre gross genug, um alternative Schulen anzubieten.
Schade finde ich, dass wir keine Mitbestimmung haben. In meiner Heimatgemeinde in Italien, die ich mit achtzehn Jahren verlassen habe, darf ich wählen. Aber hier, wo ich lebe und mich die Entwicklung interessiert, darf ich nichts sagen. Ich wäre dafür, dass Ausländerinnen bei Gemeindewahlen mitbestimmen dürfen. Du lebst hier, bezahlst Steuern hier und willst auch was mitbewirken. Die politische Beteiligung wäre für mich der Hauptgrund, mich einbürgern zu lassen.
Nasser Suleiman, angekommen aus Aden, Jemen
Studierte Maschinenbau. Arbeitete fünf Jahre in einer grossen Mehlfabrik in Aden. Lebt seit zwei Jahren mit seiner Familie in der Schweiz.
Meine Heimatstadt Aden ist als Tor zum Roten Meer für ihren Hafen bekannt. Ich arbeitete in einer Mehlfabrik, die pro Tag 3000 Tonnen Mehl produzierte. Wir möchten in Aden ein Land wie früher, als Südjemen und Nordjemen geteilt waren. Im Süden gab es weniger Menschen, aber mit dem Meer und dem Hafen viel mehr Möglichkeiten als im Norden. Sie haben uns alles genommen, weil der Präsident aus Nordjemen ist. Nun möchten wir das demokratische Südjemen schaffen. Wegen dem Bürgerkrieg flüchtete ich mit meiner Familie in die Schweiz.
Ich kam zuerst nach Basel und von da schickten sie mich auf den Balmberg* im Kanton Solothurn. Ich wollte nach Olten kommen, das war meine Wunschstadt. Nachdem ich einmal hierhergekommen war, gefiel sie mir sehr. Sie ist in der Mitte von allem. Hier leben auch viele Familien aus Jemen. Die Stadt ist gross und bekannt. Ich liebe es, in der Stadt zu leben. Man kommt ohne Auto aus und kann nach Basel oder Zürich fahren. Es gibt viele Läden: Den Alimamarket, den Sälipark, die Post, das Spital. Alles ist nah und es gibt auch eine Fachhochschule. Ich liebe die Altstadt, weil man daran sieht, wie Olten vor hundert Jahren war, das müssen wir belassen. Auch das Stadthaus von Olten gefällt mir. Die Leute hier sind offen. Wir sind wie ein kleines Genf oder ein kleines Zürich und es gibt viele Firmen.
Dank dem Cultibo war es für mich nicht so schwierig, hier anzukommen. Man kann sich schnell integrieren und Deutsch lernen. Ich könnte mir nicht vorstellen, in eine andere Gemeinde zu ziehen. Wünschen würde ich mir für Olten ein grosses Einkaufszentrum gleich neben dem Bahnhof. Wir müssten nicht nach Egerkingen oder Oftringen fahren. Olten hätte das Potenzial, dass die Leute aus Basel, Bern und Zürich hier anhalten und einkaufen. Auch die Badi ist sehr schön, aber sie könnte noch attraktiver werden, wenn sie noch grösser wäre, und Menschen von überall anlocken.
Für die Integration würde ich mir alle drei oder fünf Jahre ein grosses Kulturfestival wünschen. Hier wohnen viele Menschen mit ausländischen Wurzeln. Wenn alle Kulturen zusammenfinden, ihre traditionelle Kleidung tragen, ihr Essen kochen und tanzen würden, gäbe dies ein grosses Fest. Dann könnte man alle Länder auf einem Platz sehen. In den Zwischenjahren würden alle Leute auf dieses Fest warten. Auch so könnte Olten als Mittelpunkt der Schweiz Menschen von überall anziehen. Was in Olten auch fehlt, ist eine geschlossene Spielhalle für Kinder.
Ich würde gerne in einem Verein Fussball spielen, aber neben dem Deutschlernen, dem Cultibo und der Familie bleibt momentan kaum Zeit. Bei meiner Firma in Jemen konnte ich Feuerwehrkurse besuchen. Mir würde es Freude machen, auch hier in der Feuerwehr mitzuhelfen. Im Herbst kann ich an der Fachhochschule in Windisch ein Maschinenbau-Studium beginnen. Dazu muss ich bis im Sommer mein Deutsch verbessern. Ich liebe Maschinenbau, das ist wie ein viertes Kind für mich. Als alte Wissenschaft ist es auch Grundlage unseres Lebens.
Svitlana Siverina, angekommen aus Dnipro, Ukraine
Ausgebildete Lehrerin und in der Schweiz in Pflegeausbildung beim Schweizerischen Roten Kreuz (SRK), seit rund zwei Jahren in Olten daheim.
Mir gefällt Olten sehr, die Stadt erinnert mich durch den grossen Fluss an meine Heimatstadt. Mit dem GA kannst du von hieraus überall hingelangen. Vor Corona reiste ich, wenn immer ich Zeit hatte, in verschiedene Richtungen, um neue Menschen kennenzulernen. Ich habe hier auch dank meines Schweizer Mannes einen grossen Bekanntenkreis. Die deutsche Sprache hatte ich schon in der Ukraine gelernt. In die Schweiz zu kommen, war keine spontane Entscheidung.
Ich möchte in Zukunft gerne achtzig Prozent arbeiten, um Zeit für meinen Mann und meine Katze zu haben. Hier in Olten spüre ich das kulturelle Leben. Etwa an der Oltner Buchmesse herrschte eine ganz besondere Atmosphäre, die mich ansprach. Auch wenn ich nicht da war, um Bücher zu kaufen, denn wenn ich Deutschbücher kaufe, dann sind es noch immer Wörterbücher. Ich nehme Olten als lebendige Stadt wahr. Die Leute übernachten nicht einfach hier.
Ich ziehe gerne den Vergleich mit meiner Heimat in der Ostukraine. Hier ist die Lebensqualität besser. Aber Schweizer sind oft zu anspruchsvoll und möchten alles perfekt haben. Wer über die Schweizer Grenze kommt, begibt sich in eine Oase. Ich habe erlebt, wie schnell sich das Chaos ereignet. Hier funktionieren die Regeln und Gesetze im Gegensatz zu anderswo.
Es sind nur Kleinigkeiten, die mir an Olten nicht gefallen. Die Winkelunterführung ist schrecklich und leblos. Aber sonst hat Olten so viele schöne Seiten mit dem Engelberg, dem Sälischlössli, dem Aareufer und der Altstadt. Auf meinen Spaziergängen durch die Stadt entdecke ich gerne neue Ecken. Jedes Fenster eröffnet mir Zugang zu einer Lebensgeschichte.
*In einer ersten Version schrieben wir fälschlicherweise, Nasser Suleiman sei in Ballenberg gewesen.
Ein kleiner Kreis beanspruchte in der bisher 204-jährigen Geschichte das Oltner Stadtpräsidium für sich. Du ahnst es: Das Amt war über all die Jahrzehnte in Männerhand. 196 Jahre lang war der Stadtammann – später Stadtpräsident – zudem ein Freisinniger. 2013 wechselte das Präsidium erstmals die Couleur und ging zur CVP über. Martin Wey setzte sich damals gegen die Grüne Iris Schelbert durch und wurde damit der 15. Oltner Stadtpräsident. Und nun? Kriegt Olten fünfzig Jahre nachdem das Frauenstimm- und -wahlrecht eingeführt wurde seine erste Stadtpräsidentin?
Marion Rauber ist die einzige Stadtratskandidatin im neunköpfigen Feld. Die SP-Frau kommentierte auf eine Frage zum Präsidium: «Einen Direktionswechsel will ich nicht ausschliessen, aber um fürs Stadtpräsidium zu kandidieren, muss Frau zuerst als Stadträtin gewählt werden. Darauf liegt aktuell mein Fokus.» An der Ausgangslage habe sich seither nichts geändert, sagt Rauber auf Anfrage. Würden sie und Thomas Marbet die Wiederwahl in den Stadtrat schaffen, so scheint es, liesse Rauber ihrem SP-Parteikollegen den Vortritt. Denn Thomas Marbet kündigte bereits im Juli sein Interesse fürs Präsidium an.
Lange Zeit war der aktuelle Vize-Stadtpräsident mit seinen Ambitionen alleine. Bis Thomas Rauch als unabhängiger Kandidat vorpreschte und sich Anfang Februar als mögliche Alternative selbst ins Rennen schickte. Im Falle einer Wahl in den Stadtrat, wie sich versteht. Rauch kam somit den Bürgerlichen zuvor. Auch vor diesem Hintergrund ist seine Ambition aufs Präsidium wohl ein wahltaktischer Schachzug. Kommts also zum potenziellen Duell Thomas gegen Thomas?
Der Kandidat der Grünen, Raphael Schär-Sommer, ist der einzige im neunköpfigen Feld, der eine Kandidatur fürs Stadtpräsidium ausschliesst. Der neugewordene Vater konzentriert sich aus beruflichen und familiären Gründen auf den Stadtrat, in welchem er die langjährige Stadträtin Iris Schelbert ersetzen möchte. Sollte es mit der Wahl klappen, sagt Raphael Schär-Sommer: «In einer nächsten Legislatur würde ich eine Stadtpräsidiums-Kandidatur nicht ausschliessen.»
Den Frühling abwarten
Alle anderen Kandidaten halten sich vornehm-schweizerisch zurück. Was aber eng mit dem Wahlmodus zusammenhängt: Nur wer zuerst einen der fünf Stadtratssitze ergattert, kann für das Präsidium aspirieren. Und so sagt FDP-Präsident David Plüss, selbst auch Stadtratskandidat: «Schauen wir, was der erste Wahlgang bringt.» Die FDP als historisch stärkste Kraft wird die Situation an der Parteiversammlung am 8. März, also am Tag nach dem ersten Wahlgang, beurteilen. «Wir lassen alle Optionen offen», sagt Plüss. Neben dem bisherigen Benvenuto Savoldelli will er für die Freisinnigen einen zweiten Sitz erobern. Savoldelli lässt vor seiner womöglich dritten Legislatur durchblicken, dass er tendenziell für das Präsidium nicht zur Verfügung steht. «Ich liebe meinen Job», schreibt er auf Anfrage.
Beat Felber will im Stadtrat den CVP-Sitz des amtierenden Stadtpräsidenten Martin Wey verteidigen. Aufs Ganze geht der Exekutive-Unerfahrene Felber aber noch nicht. «Am 7. März erhalten alle Kandidierenden eine erste ‹Hausnummer›. Nach dem zweiten Wahlgang Ende April wissen wir dann mehr», sagt er. Die bürgerliche Seite werde dann festlegen müssen, welche Kandidatur am erfolgversprechendsten ist. «Bis dahin gilt für mich das Motto: Sag niemals nie!»
Einzelkämpfer Rolf Sommer hat mittlerweile wie alle anderen Kandidaten von Mitte-rechts den Rückhalt der städtischen SVP erhalten. Auf die Stadtpräsidiums-Frage schreibt der SVP-Kantonsrat: «Diese Frage ist reine Spekulation und als Realist entscheide ich, wenn ich entscheiden muss.» Will heissen: Auch Sommer wartet den ersten Wahlgang ab.
Olten jetzt!, die jüngste Oltner Partei, fährt nach dem Grosserfolg vor vier Jahren mit vier Parlamentssitzen ihren Angriff auf einen der Stadtratssitze. Präsident von Olten jetzt! und Stadtratskandidat Nils Loeffel sagt, er werde «ziemlich sicher nicht für das Stadtpräsidium kandidieren». Für seinen definitiven Entscheid will er zwei Indikatoren abwarten: Das Resultat bei einer allfälligen Wahl in den Stadtrat und die Konstellation, wer sonst für das Präsidium kandidiert. Loeffel gibt zu bedenken: «Der Zeitpunkt der Stadtpräsidiumswahl Mitte Juni macht eine extreme Flexibilität des aktuellen Arbeitgebers nötig, um überhaupt kandidieren zu können.» Bereits im August wird der künftige Stadtpräsident sein Amt im Vollzeitpensum antreten.
Für Kolt ist dieses Format ein Novum und zugleich ein kleines Experiment. Der lockere Austausch mit Input-Geber Matthias Tschopp ist ein Versuch, den nicht einfach greifbaren Input auszudifferenzieren und uns ihm anzunähern. Wir holen somit die Gedanken der Abonnentinnen direkt ab und übergeben sie der weiteren Diskussion.
Und wenn wir schon beim Thema Transparenz sind: Auch Matthias Tschopp und ich sind per du und kennen uns aus Jugendjahren. Damals kreuzten sich unsere Wege in der Pfadi Froburg. Das liegt bald zwei Jahrzehnte zurück. In der Zwischenzeit hat Matthias Tschopp gemeinsam mit Tobi Vega den Oltner Velo-Lieferdienst Collectors aufgebaut. Der Oltner ist gelernter Forstwart und Baumpfleger und mit seiner Firma Wurzelwärch auch noch auf seinem angestammten Beruf tätig. Wir haben uns in der Collectors-Zentrale zum Gespräch getroffen.
Vor welchem Hintergrund hast du diesen Input gestellt?
Der Gedanke kam daher, dass ich den Eindruck erhielt, dass nicht alle Entscheide vorwiegend demokratisch getroffen werden. Wohlverstanden: Ich glaube, das ist überall so und ein Stück weit normal. Aber offensichtlich gibt’s in Olten Personen und Netzwerke, die verdammt viel in den Händen halten. Ein gewählter Stadtrat hat viel in den Händen, das wissen alle. Andere Figuren im Hintergrund haben viel Macht, aber es liegt nicht offen und sie sind nicht demokratisch gewählt. Gleichzeitig frage ich mich: Ist dieser Filz per se etwas Schlechtes? Das Wort an sich ist ja negativ konnotiert. Aber ich habe für mich realisiert, dass du durch ein Beziehungsnetzwerk viel erreichen kannst und «Vitamin B» dazu gehört.Dies ist mir auch beim Aufbau von Collectors bewusst geworden. Darum bin ich sehr gespalten und frage mich, wo muss man von einem «Filz» sprechen, wo von einem Beziehungsnetzwerk im positiven Sinn?
Du hast die Frage negativ konnotiert gestellt. Was macht den Filz in diesem Sinne aus?
Da geht’s für mich in erster Linie um die fehlende Transparenz. Darum, dass mächtige Personen die Fäden im Hintergrund ziehen. Es gibt viele Menschen, die in unglaublich vielen verschiedenen Gremien sitzen. Sie bringen jeweils Interessenbindungen aus anderen Gremien mit. So wird vieles nicht auf neutralem Boden entschieden.
Wenn’s um Filz geht, spielt das Geld oft auch eine Rolle.
Das kann man nicht ausblenden. Wobei ich mich mehr dafür interessiere, wo in den Lokalstrukturen einer Kleinstadt die Entscheidungen getroffen werden. Passiert dies im Gemeinderatssaal und im Stadtrat, oder auf einer ganz anderen Bühne? Das ist nicht als Suggestivfrage gemeint. Ich habe wirklich keine Antwort darauf und kanns nicht einschätzen.
Wo würdest du konkret mehr Transparenz wünschen und wo bist du misstrauisch?
Beispiele könnte ich nur «off the record» nennen. Ich will nicht verurteilen, dass Menschen in ihrem engeren Umfeld füreinander sorgen, weil ich dies selbst nachfühle. Vielmehr möchte ich verstehen: Wie kann man den Trieb, den der Mensch von Natur aus hat, in Entscheidungsstrukturen einbinden …
… und bändigen?
Nein, viel eher: wie kann man ihn konstruktiv nutzen? Ich denke dabei an das Modell der Soziokratie oder andere Organisationsmodelle mit flachen Hierarchien. Manchmal habe ich das Gefühl, im Stadthaus, wo die Menschen arbeiten, werde fast mehr entschieden als in der Politik.
Du würdest begrüssen, dass die Politik mehr Kontrolle hat?
Ich möchte als Citoyen Transparenz darüber haben, wo was entschieden wird. Vielleicht ist’s ja gut, wie es ist. Aber mir fehlt ein Verständnis dafür, wo die Entscheidungen getroffen werden. Deshalb fand ich es spannend, als die Parlamentssitzungen neuerdings auf Youtube übertragen wurden. Auch wenn sie sonst öffentlich sind, kam es mir vor, als ob sie hinter verschlossenen Türen stattfinden würden. Eine aktive, gelebte Transparenz würde ich mir auch anderswo wünschen.
Wie glaubst du, könnten die städtischen Prozesse transparenter werden?
Durch Collectors habe ich gemerkt, dass runde Tische mit Menschen aus verschiedenen Gremien sehr spannend sind. Vor allem wenn das Gespräch an einem öffentlichen Ort stattfindet. Dies bedingt aber, dass die Menschen am Tisch bereit sind, offen zu sprechen.
Wenn du auf dein Wirken schaust, wo kann es klemmen?
Aus meiner Sicht scheitert es häufig an Berührungsängsten. Entweder man traut sich nicht oder hat Hemmungen, offen zu reden. Für mich wars ein persönlicher Fortschritt, auf Menschen zuzugehen und sie mit einem Gedanken oder einer Idee anzuhauen. Ich komme mit meinem Leben und meinen Visionen so viel besser voran.
Aufeinander zugehen könnte also helfen, die untergründigen Verbandelungen zu entflechten?
Ich glaube ja. Der Filz kann nur dann existieren, wenn abgeschlossene Gruppen existieren. Wenn Netzwerke sich öffnen, wird auch mehr Transparenz eingefordert. Je mehr eine Gruppe unter sich bleibt, desto eher kann sich ein Filz entwickeln, weil niemand mitbekommt, was abgeht, was die Absichten sind.
Warst du persönlich mit Filz konfrontiert?
Es ist mehr ein Grundgefühl, das ich habe. Manchmal weisst du nicht, auf wen du zugehen musst, um etwas zu erreichen. Es ist nicht der Stadtrat und auch nicht das Parlament, sondern in den Zwischenwelten. Darauf fusst mein Gefühl, da werde viel entschieden. Aber wie gesagt, ich finde es selbst extrem schwierig, zwischen positiven und negativen Aspekten von Netzwerken zu differenzieren.
Bei welchem Anliegen bist du im luftleeren Raum hängen geblieben?
Am stärksten erlebe ich dies, wenn es um Immobilien geht. Dadurch, dass ich im Vorstand der LeONa («Lebendige Oltner Nachbarschaft», Verein, der eine Wohnbaugenossenschaft schaffen möchte, Anm. d. Red.) und bei der Rosengasse AG im Verwaltungsrat bin, habe ich in die Immobilienwelt hineingesehen, zu der ich vorher überhaupt keinen Draht hatte.Vorher war mir das nicht bewusst: In dieser Welt geht es um wahnsinnig viel Geld und Macht. Und: Die meisten Menschen teilen sonst demokratische Grundwerte, aber im Immobilienbereich läufts anders. Da reden Menschen hinter verschlossenen Türen und Otto Normalbürger kann nichts tun.
Wo war die LeONa involviert?
Vor rund vier Jahren stellte die Stadt den Masterplan zu Olten Südwest vor. Auch Bachmann junior, der Besitzer des Areals, war anwesend. Wir haben ihn mit den Ideen der LeONa konfrontiert und gefragt, ob er Bereitschaft zeigen würde, einer Wohnbaugenossenschaft Raum zu bieten. Er hat dies relativ vehement abgelehnt. Auch mit Menschen der Stadtverwaltung waren wir in Kontakt. Ich habe da realisiert: Einer Person, die im Zürcher Oberland wohnt, gehört ein Drittel des Oltner Baulands. Da können alle Politiker noch so lange diskutieren und Entscheide treffen. Eine Person, die nichts mit Olten am Hut hat, hat viel mehr Macht als alle Politiker zusammen. Und wenn die Stadt Olten Südwest auf einen konstruktiven Weg bringen will, müssen selbst die Politikerinnen, welche die Demokratie vertreten, sich in diese «Nebelwelt» begeben. Damit meine ich den intransparenten Rahmen. Verhandlungen wie jene zur Unterführung Hammer finden in einer verschlossenen Kammer statt – das Resultat erscheint dann in der Zeitung. Was vorher geschieht, das wird einem deutlich mitgeteilt: «Das geht dich nichts an.» Oder: «Wir müssen aus strategischen Gründen Stillschweigen wahren.»
Wir haben für dich ein umfangreiches Dossier zu den Stadtratswahlen zusammengestellt: Porträt, TV-Gespräch und Kurzinterview. Für unser neustes Format haben alle Kandidierenden drei Fragen aus dem Kolt-Fragetopf gezogen und beantwortet. Auf die mit Punkten gekennzeichneten Fragen haben wir nachgehakt. Dabei sind auch eure Inputs nicht zu kurz gekommen. Von welchen Kandidierenden möchtest du mehr erfahren? Klicke unten auf den Namen und informiere dich. Die Kandidatinnen sind in umgekehrter Reihenfolge zu ihrem Auftritt beim 2. Kolt-Treffen gelistet:
Beat Felber konnte leider aus gesundheitlichen Gründen nicht am TV-Gespräch teilnehmen.
Wie schafft es die Stadt, welche die Fachhochschule (FHNW) beheimatet, ihr Potenzial als Studentenstadt besser auszuschöpfen?
Beat Felber: Indem sie die rechte Aareseite stärker in den Fokus nimmt. Ich habe das Gefühl, die linke Aareseite mit der schönen Altstadt und der Badi wird ein wenig bevorzugt. Die rechte Seite ist ein wenig untergeordnet, man sollte sie aufwerten. Ich denke gerade an den Sälipark 2020. Im Zuge dessen sollten die Aussenräume schön gestaltet und die öffentlichen Plätze allgemein besser genutzt werden.
Was halten Sie vom bestehenden FHNW-Campus?
Städtebaulich ist es ein langer Schlauch, der viel Platz benötigt. Man hätte sich fragen können, ob man etwas höher baut und den Platz besser nutzt. Für eine Aufwertung des Areals gäbe es hinter der Fachhochschule noch Landreserven und beim Sälihof könnte man den Raum besser nutzen.
Wenn wir von der Studentenstadt sprechen: Wie könnte man die Studierenden hierbehalten?
Mit einer Aufwertung der öffentlichen Räume. Und für die Winkelunterführung endlich eine Lösung finden könnte helfen. Die Innenstadt-Anbindung müsste attraktiver werden. Für Studierende ist auch das Nachtleben ein Thema. In diesem Bereich könnte man auf der rechten Aareseite Anreize schaffen. Ich weiss nicht, wie das Angebot heute ist. Aber mit zusätzlicher Unterhaltung könnte man verhindern, dass die Studenten nach Zürich, Bern oder Luzern abhuschen.
Wenn Sie mit einem Fingerschnippen ein grosses Projekt für Olten umsetzen könnten, welches wäre das?
Den Winkel. Eine Lösung, die genial und futuristisch ist – ein für alle Bedürfnisse gelungenes Projekt. Wenn es dann noch bezahlbar wäre, dann wäre ich der Held. (lacht)
Sie als Architekt haben auch mit räumlichen Fragen zu tun: Wie könnte die Lösung aussehen?
Es ist schon sehr komplex. Die Eigentumsverhältnisse sind ein Problem. Im Moment ist ja der Posttunnel fürs Velo ein Thema. Ich finde dies bloss eine «Krücken»-Lösung. Es gäbe einen zweiten Winkel, weil ein Tunnel nicht attraktiv ist. Die Unterführung gehört zudem nicht der Stadt, ist nicht am idealen Ort und es bräuchte riesige Investitionen, dass sie zustande kommt. Wir bräuchten ein visionäres Projekt von Städtebauern, die von aussen eine Sicht reinbringen und das Problem neutral, unbehaftet und unabhängig vom Baurecht betrachten.
Würde dies über den Winkel hinausgehen?
Ich denke, die Aufgabe kann breiter gefasst sein. Das Thema der Stadtseiten-Verbindung besteht nicht nur beim Winkel. Es wird auch in der Rötzmatt ein Thema sein, da besteht ein Knoten zwischen dem Kleinholz und der Altstadt. Ich glaube, Olten hat ein Verbindungsproblem. Die Personenunterführung Hammer ist das, was zurzeit am vielversprechendsten gelöst scheint.
Die Menschen kaufen zunehmend online ein, was sich unter anderem an leerstehenden Verkaufsgeschäften in der Innenstadt zeigt. Wie kann die Stadt die regionale Wirtschaft in dieser unaufhaltsamen Entwicklung unterstützen?
Das eine ist die Visitenkarte Bahnhofsplatz: Dass wir hier einen guten Zugang mit dem Steg für den Langsamverkehr schaffen, ist vielversprechend und könnte die Menschen vermehrt in die Innenstadt einladen. Als zweites würde ich mir einen Ankermieter als «Gamechanger» an der Kirchgasse wünschen, beispielsweise ein H&M oder ein Zara. Ich bin überzeugt, dass ein solches Geschäft mehr Menschen in die Stadt bringen würde. Wenn sie mal hier sind, bieten sich auch für das kleinere Gewerbe Chancen. Mir ist bewusst, die Ankermieter überlegen sich nicht: «wie kann ich der Stadt helfen», auch sie wollen eine gewisse Frequenz haben.
Glauben Sie, nach Corona und dem dadurch beschleunigten Onlineverkauf werden Ankermieterinnen in einer Kleinstadt noch den gleichen Effekt haben?
Da wir als Gesellschaft stark zurückgedrängt wurden, habe ich das Gefühl, dass wir nun in allen Bereichen einen Nachholbedarf verspüren. Ich als Mann kaufe vielleicht zwei Mal im Jahr Kleider. Eben hat meine Frau fünf Schachteln Kleider bestellt, weil die Läden zu sind. Für mich geht dies nicht, ich muss in einen Laden. Viele suchen dieses Erlebnis. Das Gesellschaftliche, in eine Innenstadt zu wollen, wird bestehen bleiben und vielleicht sogar verstärkt zurückkehren.
Was würden Sie sich in der Innenstadt Olten wünschen?
(überlegt lange) Es könnte ein Ausstellungsraum von Tesla oder von Elektrovelos sein. Wichtig wären Läden, in welchen eine fachkundige Beratung und das Zwischenmenschliche wichtig sind.
Die Stadt hat in den letzten Jahren mehrere Liegenschaften veräussert. Würde sie die Gebäude nicht besser im Baurecht abgeben oder behalten, um sich mehr Möglichkeiten offen zu lassen?
Thomas Marbet: Eben erst haben wir eine Liegenschaft an der Baslerstrasse neben dem ehemaligen Grätzer-Areal gekauft. Wir schauen uns immer aktiv um und ich gebe auch Abklärungsaufträge, wenn ein Objekt für die Stadt interessant ist. Wir haben auch Liegenschaften verkauft, allerdings eher in peripheren Lagen. Etwa beim Meierhof haben wir einen ehemaligen Kindergarten veräussert, oder auch ein Stück des Hausmattrains bei einer Bushaltestelle. Wenn eine Liegenschaft eine zentrale Lage hat, für die Stadtentwicklung wichtig ist und wir eine öffentliche Nutzung erkennen, bin ich gegen einen Verkauf. Hier an der Kirchgasse könnte ich mir eine Abgabe im Baurecht vorstellen. Den Verkauf sehe ich nicht.
Die Stadt hat vor einigen Jahren mit der Jugendbibliothek auch ein Altstadt-Haus verkauft.
Man muss schon sehen: Als ich 2013 in den Stadtrat kam, hatten wir 25 Millionen Franken Defizit geschrieben und Schulden über 119 Millionen Franken gebildet. Da spürten wir eine Last und einen gewissen Druck. Wir haben die Jugendbibliothek also sicher auch unter dem Aspekt der Finanzen verkauft. Jedoch hatten wir im Stadthaus ideale Platzverhältnisse für den Standort der Jugendbibliothek und dies hat neues Leben ins Erdgeschoss gebracht.
Der Standort der Pädagogischen Hochschule steht zur Debatte. In Zofingen dürfte die Jugendherberge schliessen. Beide Institutionen könnten der Stadt Olten zusätzlichen Schub verleihen. Was kann die Stadt dafür tun, dass sie möglich werden?
Meinen einzigen Vorstoss im Parlament machte ich damals für eine Jugendherberge: Ich schlug vor, den städtischen Polizeiposten als Jugendherberge umzunutzen. Wegen der Jugis Zofingen und Aarau erhielt ich eine Absage. Seither hat sich das Beherbergungsangebot verändert. Trotzdem wäre eine Jugendherberge wünschenswert. Als Standort sähe ich das Kloster: Es liegt direkt an einer nationalen Veloroute, hat viele freie Zimmer, und die Velos liessen sich im Klostergarten abstellen. Da wäre ich bereit, mit der Kapuziner-Bruderschaft und dem Kanton das Gespräch zu suchen. Ich sehe die Stadt aber nicht als Betreiberin.
Auf der Kirchgasse ist einiges im Wandel. Die Forderungen, den Munzingerplatz zu befreien, werden auf die Wahlen hin wieder laut. Warum nicht hier ein Park mit einer Jugi?
Die Idee eines Stadthotels ist an uns herangetragen worden. Ich verwehre mich überhaupt nicht gegen diese Idee, ein Boutiquehotel zu schaffen. Wir möchten im Erdgeschoss des bisherigen Kunstmuseums eine publikumsintensive Nutzung – oben wären grundsätzlich Wohnnutzungen angedacht. Auch ein Hotel wäre denkbar. Die Investitionen müssten aber Private tragen, die Stadt könnte mit dem Baurechtszins entgegenkommen, und sich als Gegenleistung Nutzungen sichern.
Wie sehen Sie die Chancen einer Pädagogischen Hochschule?
Dies liegt nicht in meiner Zuständigkeit. Eine Erweiterung der Fachhochschule wäre aber sinnvoll. Olten ist verkehrstechnisch super gelegen und südlich der neuen Fachhochschule liegt das Land brach. Vielleicht könnte der Kanton dabei auch eine Turnhalle bauen und so aus dem Mietverhältnis mit der Giroud Olma AG herauskommen.
Trotz elegantem Neubau wirkt der Campus der Fachhochschule heute trist. Die Tannwaldstrasse vom Bahnhof her gleicht im Sommer einer Wüste.
Die Strasse ist beengt, auch wegen der Nähe zu den Gleisen. Ursprünglich waren Bäume vorgesehen, die nicht gepflanzt wurden. Das könnte man meinen Vorgängern vorwerfen. Aber ich bin auch froh, wenn ich den Menschenströmen auf die Strasse ausweichen kann.
Wie stellen Sie sich das Olten von 2030 vor?
Ich möchte eine Stadt, in der mehr Kooperation und Kollaboration stattfindet. Und dass wir im Verbund mit anderen öffentlichen Händen (Gemeinden) aber auch mit Privaten die Aufgaben lösen, die sich stellen. Wir verfolgen diesen Weg bereits: mit einer Schulregion, Sozialregion, Stützpunktfeuerwehr oder dem regionalen Rechenzentrum. Wir müssen die Aufgaben künftig vermehrt miteinander lösen, etwa auch mit Trägerschaften im Sport- und Kulturbereich. Die Soziallast und die gebundenen Ausgaben werden steigen. Der Anteil des Budgets, den wir noch beeinflussen können, wird sinken. Also muss es uns gelingen, kommunale Aufgaben möglichst günstig zu erfüllen. Und unter Kollaboration verstehe ich, dass die Bevölkerung mehr miteinbezogen wird. Für das Projekt «Chance Olten Ost» war die Mitwirkung mustergültig, woraus auch das Cultibo hervorging. Dasselbe haben wir mit der Ortsplanungsrevision vor. Wir müssen mehr mit konsultativen Befragungen der Bevölkerung arbeiten.
Eine solche wäre auch beim Kunstmuseum möglich gewesen.
Architekturwettbewerbe geben eine breite Sicht der Ergebnisse. Darum empfinde ich dies als sinnvolle Investition. Wettbewerbe geben auch immer viele neue Ideen.
Sehen Sie die Kulturförderung als öffentliche Aufgabe, der sich eine Stadt widmen soll?
Benvenuto Savoldelli: Grundsätzlich nicht. Ich bin dafür, dass eine Stadt alles daransetzt, damit Kultur sich entfalten kann. Etwa indem sie Plätze und Räumlichkeiten zur Verfügung stellt oder Gebühren erlässt. Aber jede kulturelle Institution finanziell zu unterstützen, finde ich nicht richtig. Unterstützen soll die Stadt jene Kulturinstitutionen, die nationale oder internationale Ausstrahlung haben.
Ist es richtig, dass die Stadt selbst kulturelle Institutionen führt?
Wir müssen uns die Frage stellen, ob eine Stadt mit 20’000 Einwohnern sich beispielsweise so viele Museen leisten kann. Ich finde das System im Kanton Solothurn ohnehin falsch. Im Aargau machen sie es viel besser: Die Museen sind vom Kanton geführt und haben eine ganz andere Ausstrahlung. In Olten stellt sich auf Dauer die Frage: Können wir uns alle Institutionen leisten? Im Moment haben wir das Geld noch. Niemand traut sich zu sagen: «Wir machen dies, aber dafür jenes nicht.» Ich finde es aber nicht richtig, dass Kultur- gegen Sportinstitutionen ausgespielt werden.
Der Stadtrat hat in den letzten Jahren eine Museumsstrategie ausgearbeitet. Warum sind Sie nicht in eine andere Richtung gesteuert?
Es gab kontroverse Diskussionen. Auch das Parlament hätte Möglichkeiten einzugreifen. Die Vorstösse im Parlament, wie beispielsweise die Forderungen, das Kunstmuseum solle an einen anderen Platz oder der Umbau solle viel weniger kosten, kamen von Leuten, die das Kunstmuseum eigentlich nicht wollen, aber den Mut nicht haben, dies so deutlich zu sagen.
Die Stadt will das Klimaziel netto null CO2-Ausstoss bis 2040 umsetzen. Welche Massnahmen sind davon abgesehen angezeigt, um zu den übergeordneten Klimazielen beizutragen?
Der parlamentarische Vorstoss ist stark eingeschränkt und betrifft ja nur die städtische Verwaltung. Der CO2-Ausstoss der Stadtverwaltung macht gesamtschweizerisch 0,003 Prozent und 0,1 Prozent des Kantons aus. Was ich an dieser in Auftrag gegebenen Studie kritisiere, ist, dass beispielsweise Elektrofahrzeuge als CO2-neutral gelten, weil sie in der Schweiz kein CO2 ausstossen. Man schaut immer aufs Territorium, und wenn ein Fahrzeug aus dem Ausland kommt, ist es klimaneutral – obwohl die Herstellung des Fahrzeugs und der Batterie auch CO2 verursacht. Grundsätzlich finde ich es schade, dass jede Stadt und jedes Land für sich was versucht, statt dass alle am gleichen Strick ziehen. Es wäre schon viel sinnvoller, wenn die Europäer gemeinsam etwas tun würden.
Beim städtischen Klimaziel ist der Vorbildcharakter zentral. Er soll die Menschen sensibilisieren.
Der Vorbildcharakter löst die Probleme nicht. Es haben auch nicht alle genügend Geld für eine energetische Sanierung. Ich selbst habe auch eine Solaranlage und finde es sinnvoll, in vernünftige Lösungen zu investieren. Dass die Stadt unbedingt per 2030 klimaneutral sein soll und dafür Werte vernichtet, indem sie Gebäude vorzeitig saniert und Heizungen oder Fahrzeuge vorzeitig ersetzen muss, finde ich verfehlt.
Die vorzeitigen Investitionen könnten sich lohnen, da die Betriebskosten sinken und etwa Wärmepumpen langfristig kostengünstiger sind als Heizungen mit fossilen Energieträgern.
Das mag sein, ja.
Die Stadt müsse zuerst die städtischen Betriebe (sbo) auf einen klimafreundlicheren Kurs bringen, monieren einige Politikerinnen.
Immerhin ist der Biogas-Anteil bei der sbo in den letzten Jahren gewachsen. Das Problem ist, dass die sbo im Moment wohl gar nicht so viel Biogas beschaffen könnte, um alle nur mit Biogas zu beliefern. Gäbe es mehr Biogas-Anlagen, könnte der Anteil erhöht werden. Einer Firma spielt es keine Rolle, ob sie mit Biogas oder mit normalem Gas Geld verdient. Wärmepumpen sind im Übrigen auch nicht überall möglich. Bei mir zuhause ist der Fels zu dick.
Wie Sie selbst sagen, ist das Biogas beschränkt verfügbar. Warum setzt die sbo nicht stärker auf andere erneuerbare Energien?
Das hat der Stadtrat der sbo nicht vorzuschreiben. Die Firma ist sich bewusst, dass sie in Zukunft andere Möglichkeiten anbieten muss. Eine Firma, die Energie und Wärme zur Verfügung stellt und sich nicht von sich aus den neusten Entwicklungen anpasst, wird nicht bestehen können.
Schöne Visionen für die Stadt gab’s viele, wie etwa «Olten 2020». Aber der Vorwurf wird laut, dass viele Projekte irgendwo in einer Schublade verloren gehen. Eine klare Strategie liess die Stadt vermissen.
Es gab Projekte, die erfolgreich verliefen. Aus «Chance Olten Ost» ging das Cultibo hervor. Was Olten Südwest betrifft, befinden wir uns jetzt auf einem guten Weg. Mit Bachmann junior kann die Stadt viel besser reden. Er ist vom Typ her anders als der Vater, ist viel offener und kommt auf die Stadt zu. Aber ich muss ehrlich sagen, dass ich einige Personen kenne, die in diesem Quartier wohnen. Und sie sind begeistert – es ist es immer eine Frage der Sichtweise. Ich habe Mühe, wenn gewisse Leute die Finanzierung der Personenunterführung Hammer, die fast zu 99 Prozent von Bachmann und vom Bund geleistet wird, anzweifeln. Bachmann zahlt das Geld etliche Jahre früher, als er einen Nutzen davonträgt.
Aber der Beitrag ist nicht geschenkt. Er schuldet ihn der Stadt wegen der Umzonung.
Ja, aber er bezahlt das Geld freiwillig viel früher, als er müsste. Das Geld ist ohnehin zweckgebunden und deshalb für die Unterführung gut investiertes Geld.
Und wenn Sie auf acht Jahre Stadtrat zurückblicken. Was war die positivste Veränderung?
Die Stabilisierung der Finanzen. Wir konnten positive Jahresergebnisse erreichen und fast 50 Millionen an Schulden zurückzahlen. Was die Projekte betrifft, sollte man viel mutiger sein. Man sieht es an der Kirchgasse. Viele sagten, sie würden Konkurs gehen, falls die Strasse autofrei werde. Jetzt ist es die Gasse, die am stärksten lebt. Selbst im Winter waren die Gastrobetriebe draussen voll. Früher war die Strasse immer verstopft, das war grässlich.
Wie gelingt es, die beiden Stadtseiten für den Nahverkehr besser miteinander zu verbinden?
Nils Loeffel: Ich habe ehrlich gesagt keine Patentlösung. Im Umfeld zwischen Aare und Bahnlinie sind verschiedene Player, die mitdiskutieren. Das ist die grosse Herausforderung. Bereits vor zwanzig Jahren diskutierte Olten erstmals über die Winkelunterführung. Passiert ist da aber nur wenig. Ich finde, da dürfte die Stadt forscher auftreten. Eine gute Stadtteilverbindung gehört zu den Kernaufgaben. Ich habe die Idee vom Posttunnel interessant gefunden. In der Theorie wäre die beste Lösung, den motorisierten Individualverkehr unter den Boden zu verlegen und den Langsamverkehr über dem Boden zu führen. Aber das wäre ein Jahrhundertprojekt, welches die Stadt nicht stemmen könnte.
Womit wir wieder beim Winkel angelangt sind?
Genau, wahrscheinlich sind wir am Punkt, an welchem wir uns eingestehen müssen, dass die Winkel-Lösung am bezahlbarsten und in kurzer Zeit am machbarsten ist. Wenn wir den Ländiweg hübscher hinkriegen und in diesem Raum mehr Leben entsteht, könnte nochmal Bewegung reinkommen.
Wie wichtig erachten Sie im Zuge der Digitalisierung den Ausbau der städtischen Infrastruktur in Form eines Glasfasernetzes?
Eine schnelle Internetleitung gehört nach meiner Auffassung zu den Kernaufgaben einer Stadt. Gerade auch die Pandemie hat gezeigt, dass wir alle über eine stabile Internetleitung verfügen müssen. Mit einem flächendeckenden Glasfasernetz wäre das gewährleistet. Ich sehe es nicht mal nur als Aufgabe im Rahmen des Service public, sondern als Chance für die Stadt, mehr Gestaltungs- und Handlungsspielraum zu kriegen, indem sie das Netz über die städtischen Betriebe oder die aen (Aare Energie AG) anbieten würde. In umliegenden Gemeinden gibt es Vorzeigeprojekte.
Müsste die Stadt andere Infrastrukturen bereitstellen?
Die Frage ist jeweils, ob die Stadt die Initiative ergreift oder Privaten das Feld überlässt. Zum Beispiel Trainingsgelegenheiten für Sportvereine gehören für mich zu den städtischen Aufgaben. Im Bereich der Jugendarbeit hat die Stadt mit dem Projekt «Garage 8» ein gutes und wichtiges Angebot. Was dagegen fehlt, sind Freiräume für Jugendkultur. Zur städtischen Infrastrukturstrategie gehört für mich, dass die Stadt nicht alle Gebäude verkauft, sondern sich überlegt, welche alternativen Nutzungsformen möglich sind.
Welches Potenzial sehen Sie in dem über die Wintermonate brachliegenden Badi-Areal?
In einem ersten Schritt müsste die Badi in den Wintermonaten für jene öffnen, die zur Aare hin möchten. Mit dem Raum Badi-Schützenmatte-Kirchgasse hätten wir auf nahem Raum zudem die Möglichkeit, auch im Winter Projekte umzusetzen. Dieses Jahr gab es die Idee, ein Winterdorf auf der Kirchgasse zu machen. Solche Dinge wären auch auf einem Badi-Areal möglich. Ein Kernanliegen von mir ist, dass die Stadt in erster Linie dafür hier ist, Dinge zu ermöglichen. Wenn die Stadt sagen würde, ihr könnt diese Fläche im Winter nutzen, bin ich überzeugt, dass jemand mit guten Ideen an die Stadt herantreten würde.
Besonders zu Stosszeiten sind die Strassen der Stadt vollgestopft mit Autos. Wie machen wir die Bahn frei für alternative Mobilität?
David Plüss: Ich frage mich, ob dieser Kampf wirklich so gross ist, wie immer gesagt wird. Ich mag mich an Zeiten erinnern, als man in Olten am Freitagnachmittag gar nicht erst ins Auto sitzen musste. Für mich ist unbestritten, dass die Umfahrung eine starke Entlastung für Olten brachte. Was auf der rechten Stadtseite mit der Baustelle derzeit Probleme macht, ist kein Normalfall. Im ÖV gibt’s aber auch Verbesserungspotenzial. Seit der Bus aus dem Kleinholz nicht mehr durch die Innenstadt fährt, dauert die Fahrt an den Bahnhof mehrere Minuten länger. Daneben wäre es sinnvoll, im Zentrum vernünftige Parkmöglichkeiten zu haben. Das heisst nicht, dass man vor den Laden fahren muss. Aber eine kluge Lösung wäre gut.
Das Parkleitsystem kommt ja.
Ob dies reicht, bezweifle ich.
Sie vermissen ein innenstädtisches Parkhaus?
Ich gehe selten mit dem Auto in die Stadt. Wenn, dann gehe ich lieber in die Schützi als auf den Munzingerplatz. Für viele Menschen wäre ein Parkhaus beim Coop ein Bedürfnis. Kommen die Autos möglichst reibungslos in die Stadt, schafft man auch Platz für die Velofahrer. Ich bin überzeugt, dass es im Verkehrsbereich nicht ein Entweder-oder ist.
Wäre eine professionalisierte Koordination des kulturellen Angebots durch die Stadt zur Positionierung von Olten als Kulturstadt förderlich?
Die Oltner Kulturszene funktioniert aus meiner Sicht schon sehr gut, wir haben eine sehr lebendige Szene. Ich mag mich gut an die Gemeinderatsdiskussion erinnern, als es um eine städtische Fachstelle ging. Ich würde eine andere Lösung bevorzugen. Beispielweise ist Region Olten Tourismus auch ein Verein, der durch die Stadt unterstützt wird, aber keine städtische Stelle.
Und wenn es darum ginge, die Positionierung zu fördern?
Bei den Städterankings, die gewisse lieben, andere aber nur zum Kopfschütteln bringen, ist Olten im Kulturbereich sehr gut. Wenn mit einer solchen Stelle ein Mehrwert geschaffen würde, wäre es hingegen eine Diskussion wert. Dies aber wie gesagt sicher nicht als Verwaltungsaufgabe.
Wäre es den Versuch wert, mit den grossen Anlässen auf eine noch grössere Bühne zu kommen, indem Olten mit Nachbarstädten kooperiert?
Auch das wäre wünschenswert. Aber ich weiss nicht, wie viel Bereitschaft besteht, Anlässe aus anderen Städten noch mehr zu pushen.
Andere Städte wie Aarau oder Rheinfelden setzen auf sogenannte Citymanagerinnen, die für einen vielfältigen Ladenmix sorgen sollen. Eine Option für Olten?
Wenn es gelingen würde, Mieter und Vermieter zusammenzubringen und aufzuzeigen, wo Potenzial liegt, fände ich dies sinnvoll. Das Problem in Olten ist aber oftmals, dass der Wunsch, wie die Stadt aussehen soll, nicht deckungsgleich ist mit dem Kundenpotenzial, das wir haben. Ich hätte in Olten gerne ein paar Läden für meine Bedürfnisse, befürchte aber, dass diese nicht funktionieren, weil die Kundenfrequenz fehlt.
Von welchen Läden träumen Sie?
Ich koche sehr gerne und wünschte mir einen Laden mit Delikatessen, speziellen Dingen und grosser Auswahl. Im Hammer-Migros hier drüben krieg ich manchmal fast eine Krise (lacht), wenn ich gewisse Produkte suche. Aber man kann’s ihnen nicht verübeln – sie führen halt im Laden, was auch verkauft wird.
Um das Velofahrverbot im Winkel aufheben zu können, müsste die Stadt die Unterführung kaufen. Was halten Sie von dieser Möglichkeit?
Raphael Schär-Sommer: Ich unterstütze sie. Meine Fraktionskollegin Myriam (Frey Schär, Anm. d. Red.) hat einen Auftrag eingereicht, der verlangt, dass die Stadt Verhandlungsgespräche aufnimmt. Entweder kommt es zu einem Kaufangebot, oder die Stadt kann einen Enteignungsprozess in die Gänge leiten. Enteignen tönt immer so, als bekäme der Besitzer nichts. Aber in diesem Verfahren wird entschieden, welchen Wert die Unterführung hat. Der Besitzer kriegt dann die entsprechende Summe – ein Prozess, der zum Beispiel bei Bahnprojekten vorkommt. Wir dürfen nicht vergessen: Es geht nur um einen Teil der Winkelunterführung, welcher noch zu kaufen ist – um jenen unter dem Hotel Olten.
Wo sehen Sie in der Stadt potenzielle Freiräume, die sich fürs Feiern eignen, ohne dass Lärmklagen drohen?
Ich sehe in der Innenstadt viele Freiräume fürs Feiern, die Lärmemissionen sind jedoch ein Thema. Der Konflikt ist aber dann widersprüchlich, wenn die Lärmquelle da war, bevor die Personen hinzogen. Etwa wenn Innenstädte hip und attraktiv werden, Menschen zuziehen und sich dann beklagen, dass in der Stadt viel läuft. Als wir an die Baslerstrasse zogen, war uns klar, dass es da auch mal lärmig sein kann. Abendevents sollten in einer Innenstadt stattfinden können, das macht die Stadt auch attraktiver. Bei Konflikten muss man immer individuell Lösungen finden – zum Beispiel über die Dauer der Veranstaltung und bauliche Massnahmen zur Lärmverminderung. Sonst müssten wir sagen: Wir verlegen das Feiern in die Industrie, da stört man niemanden. Aber ist dies attraktiv? Formate wie die Citylounge gehören für mich klar ins Zentrum.
Was ist los mit Rot-Grün in Olten? Der Stadtrat stützte trotz rot-grüner Mehrheit nicht immer eindeutig linke Anliegen, so die öffentliche Wahrnehmung.
Der Stadtrat war auch nicht immer gleicher Meinung wie das rot-grüne Parlament.
Im Parlament herrscht aber eine Patt-Situation.
Ja, aber links-grün-progressive Anliegen hatten es in den letzten vier Jahren einfacher als vorher. Zurück zu Rot-Grün: Im Laufe der Legislatur hat sich die Situation ein wenig verbessert. Teilweise fehlte dem Stadtrat der Mut. Vielleicht weil das Parlament bis 2017 Mitte-rechts geprägt war. Das hat sich vor vier Jahren verändert. In der einen oder anderen Antwort des Stadtrats hat man dies gespürt. Zum Beispiel, dass er jetzt das Label «Energiestadt Gold» gutheisst (strengere Vorgaben für den Energiehaushalt der Stadt, Anm. der Red.). Wir sind als Parlamentarier noch immer nicht durchgehend einverstanden mit dem Stadtrat. Aber das liegt auch an der unterschiedlichen Auffassung zwischen Legislative und Exekutive.
Wie könnte eine verstärkte Kooperation im kulturellen Bereich mit den Nachbarstädten zwischen Solothurn und Aarau aussehen?
Thomas Rauch: In erster Linie müssten sich die Städte absprechen und den jeweiligen Fokus sowie die Stärken herausfiltern. Die Schweizer Kultur, insbesondere die lokale, ist oft eine Kopie der Nachbarschaft und differenziert sich nicht. Mit definiertem Fokus liessen sich Verdoppelungen eliminieren und neue Akzente setzen.
Fänden Sie dies sinnvoll?
Ja, aber nicht nur mit den Nachbarstädten. Auch die Gemeinden müsste man besser einbinden, damit Olten seine Zentrumsfunktion stärker wahrnehmen kann.
Wieso glauben Sie, spannten die Gemeinden bislang nicht stärker zusammen?
Das ist ein Fehler der Vergangenheit. Man hat sich immer auf Olten fokussiert und nie rausgeschaut und sich nicht abgesprochen. Über die Kantonsgrenzen hinweg schon gar nicht.
Aber das Gartendenken ist bei vielen Städten verankert.
Auf Dauer geht dies nicht mehr, weil es zu teuer wird. Die nach innen gerichtete lokale Kultur erfordert eine Neudefinition. Mit der Generation EasyJet wurde das Guggenheim-Museum in Bilbao und die Tate Gallery in London zum 150-Stutz-Erlebnis. Für die City-Hoppers war Kultur vor Corona keine Kaufkraftfrage mehr, sondern durch Interesse und Inhalte gesteuert.
Das neue Kunstmuseum wird mit einem Architekturwettbewerb lanciert. Wie ist Ihre Haltung zu diesem Projekt?
Wir können nicht über Jahre hinweg immer wieder eine neue Kunstmuseums-Debatte führen. Zuerst müssen wir Einigkeit darüber erzielen, was im Kunstmuseum in Zukunft passieren soll, wie eine nachhaltige Finanzierung dafür aussieht, die auch mehrheitsfähig ist, und wo dazu schlussendlich der ideale Standort vorliegt. Eng mit der Museumsfrage verknüpft ist auch die Liegenschaftsstrategie der Stadt Olten in der Innenstadt. Es braucht dringend eine Gesamtsicht dazu und nicht Debatten über Einzelteile.
Neben anderen Städten hat Winterthur kürzlich beschlossen, vier autofreie Sonntag im Jahr einzuführen. Wie stehen Sie zu dieser Idee?
Die Idee, dass sich Menschen mit anderen Mobilitätsformen auseinandersetzen sollen, ist interessant, jedoch lokal wenig sinnvoll und mehr Symbolik. In Olten erreiche ich ohnehin jeden Punkt mit dem Velo innert kürzester Zeit und meist schneller als mit dem Auto. Zudem ziehen sich durch Olten diverse Kantonsstrassen. Ich fände es viel zielführender, wenn wir auf den Hauptachsen endlich durchgehende und sichere Veloverbindungen markieren würden, statt Strassen komplett zu sperren.
Es kann sein, dass Sie es schön finden, weil Ihre Kinder sonntags über die Bahnhofsbrücke skaten können.
Ich finde solche Übungen im Cityverbund eher schwierig. Ich bin ein grosser Befürworter von SlowUps, wie es zum Beispiel für den Albula-Pass gemacht wird. Das ist keine wichtige Verkehrsachse und niemand wird dadurch behindert. In einer Stadt wie Olten wird so aber der Bahnhof blockiert. CO2-Politik sollte man eher dort machen, wo es massiv einschenkt.
Eine Minderheit begibt sich mit dem Auto an den Bahnhof. Und wir reden von vier Sonntagen pro Jahr.
Wegen der Zentrumsfunktion von Olten ist ein solches Vorhaben für mich dennoch nicht auf der Prioritätenliste. Manche wollen in Citys wie Zürich und Basel eine Lebensqualität einführen, die einem Dorf im Entlebuch entspricht. Irgendwann müssen wir akzeptieren, dass Olten eine Stadt mit einer wichtigen Zentrumsfunktion ist und kein Bergdorf.
Was halten Sie von strengeren Vorgaben beim Heizen und von der Förderung von Photovoltaikanlagen?
Die Menschen müssen meiner Meinung nach selbst die Initiative ergreifen und bei Haussanierungen auf erneuerbare Energie wechseln wollen, wenn dies Sinn macht. Oft führt der Einsatz einer neuen Heizanlage bereits zu einer markanten Verbesserung. Die Liegenschaftsbesitzer setzen bei Sanierungen zudem von sich aus auf effiziente Technologien. Dazu braucht es keine Verbote. Die grösste Hürde liegt eher in der Finanzierung. Die Baudirektion sollte die Liegenschaftsbesitzer vielmehr unterstützen, wenn sie ihre Heizung ersetzen oder Dächer isolieren möchten und die Umbauprojekte nicht mit Formalismen verzögern und unnötig verteuern. Je nach Objekt fallen dabei rasch mehrere 10’000 Franken ohne konkreten Nutzen an. Zudem: Die Stadt Olten, welche die Klimaziele verabschiedete, ist zugleich Hauptaktionärin der Aare Energie AG (sie führt die städtischen Betriebe operativ, Anm. der Red.), die latent Wärmeverbünde bekämpft und Gas als Heizenergie bewirbt. Für mich ein Widerspruch.
Wie kann die Stadt zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen der Anwohner und Kulturveranstalterinnen vermitteln?
Marion Rauber: In einer Stadt zusammenleben heisst für mich, viel Toleranz aufzubringen. Das erwarte ich von beiden Seiten. Anwohnerinnen in der Kernzone müssen damit leben, dass vielleicht um 22 Uhr noch nicht Ruhe ist. Ich erwarte aber auch eine gewisse Rücksichtnahme von Veranstaltern. Aber ich finde das Zusammenspiel funktioniert recht gut in Olten. Wenn die Menschen zusammen an den Tisch sitzen und Probleme ausdiskutieren, dann finden sie Lösungen.
Soll die Stadt sich auf grössere Projekte fokussieren und Leuchtturmprojekte definieren?
Wir müssen die grossen Würfe priorisieren. Aber auch die kleinen Dinge dürfen dabei nicht vergessen gehen. Wichtig ist für mich vor allem, dass wir eine hohe Flughöhe haben, um den Überblick zu behalten. Das machen wir eigentlich mit dem Finanz- und Investitionsplan.
Parlamentarierinnen monieren, der Stadtrat nehme zu viele Projekte im Finanzplan auf, die dann wieder versanden.
Ich finde es ehrlicher, dies transparent zu machen. Ein anderer Vorwurf ist, dass wir zu wenig konkret operieren, was die Kosten betrifft. Aber es ist nun mal so, dass sich diese vom Projektkredit bis zur Realisierung stark verändern können. Das ist nicht immer nur glücklich.
Ein Beispiel ist das Bühnenhaus, das parallel zu den Grossprojekten Bahnhofplatz und Schulhaus saniert werden soll. Können wir uns dies leisten?
Da liegt es an uns, eine Entscheidung zu treffen. Wollen wir ein Stadttheater haben, wollen wir eine Kunsteisbahn? Wenn wir Ja sagen, müssen wir auch in den Werterhalt investieren. Aber ich finde die Diskussion dazu wichtig.
Führt der Stadtrat sie genügend?
Diskussionen kann man nie genug führen, aber es ist nicht alleine in unserer Kompetenz, diese Entscheide zu fällen. Wir lassen bei Grossprojekten das Parlament beziehungsweise das Volk mitbestimmen. Es wäre vermessen, wenn wir fünf darüber im Alleingang befinden würden.
Mit der Unternehmenssteuerreform (STAF) entgehen den Gemeinden – und auch der Stadt Olten – grosse Steuereinnahmen. Es gibt weitere Vorstösse («Jetzt si mir draa»), die den Finanzhaushalt der öffentlichen Hand weiter beschränken würden. Wie kommt Olten künftig zu seinem Geld?
Mir wäre es am liebsten, wir kämen durch Zuzügerinnen zu Mehreinnahmen. Also nicht durch höhere Steuern oder über den Leistungsabbau. Ich möchte Olten gerne so attraktiv haben, dass die Steuereinnahmen von selbst ansteigen, weil Unternehmen wie auch Private hierhin ziehen.
Und wie bringen wir dies hin?
Ich finde, die Wohnstadt Olten wird noch zu wenig vermarktet. Unsere Stadt ist sehr attraktiv für Familien, weil wir gute Angebote haben und schöne Quartiere. Mit den Pendlerströmen haben wir einen Trumpf in der Hand. Leute, die Olten aus verkehrstechnischen Gründen wählen, sind vielmals positiv überrascht und viele bleiben dann für immer.
Olten rechnet in seinem Budget 2021 mit einem Minus von vier Millionen Franken. Ist eine Steuererhöhung angezeigt?
Rolf Sommer: Wir müssen ohne Steuererhöhungen durchkommen. Es gibt nur sparen, sparen, sparen. Die Leute haben kein Geld mehr.
Aber die Steuern treffen proportional die reicheren Menschen stärker.
Das ist eine fertige Illusion. Wer kein Geld hat, zahlt fürs Brot auch zwei Franken. Wenn ich sehe, wie das Geld in den letzten dreissig Jahren verjubelt wurde, kommen mir Tränen.
Die Steuersituation wird durch die Unternehmenssteuerreform verschärft.
Die Zeiten «Mami-Papi-gisch-mir-Geld-für-i-Usgang» sind vorbei. Jetzt müssen wir knallhart sparen. Der Kanton schickt mir jedes Jahr den Voranschlag (Sommer ist SVP-Kantonsrat, Anm. der Red.). Das ist ein dickes Buch. Wie ich mich erkundigte, kostet ein Exemplar 20 Franken. Niemand liest das noch. Da habe ich beim Kanton angerufen und gefragt, ob wir das Buch nicht einstellen könnten. «Ja wegen diesen 2000 Franken», sagte man mir. Wenn wir bei 2000 Franken nicht sparen lernen, müssen wir aufhören. Ich bin ein knallharter Kassier, da können Sie meine Kolleginnen fragen.
Sie würden überall den Rotstift ansetzen.
Ja. Wir haben für fast 100 Millionen Franken Investitionen offen. Schon zu Zeiten der Alpiq-Gelder sagte ich, wir würden das Geld besser zur Seite legen. Oder auch die Verwaltungsratshonorare der städtischen Betriebe (sbo) und der Aare Energie AG (aen) sind eine Katastrophe. Das ist Korruption par excellence.
Der Ruf nach einer Notschlafstelle für Obdachlose wurde in den letzten Jahren immer wieder laut. Wie stehen Sie dazu?
Wir haben bereits ein Sozialzentrum an der Aarburgerstrasse. Ich habe keine Ahnung, was dort drin alles abgeht und wie die Situation tatsächlich ist. Wenn wir aber eine Notschlafstelle schaffen, haben wir alle diese Menschen hier in der Stadt.
Auch sie müssen ihren Platz haben.
Die Frage ist: Wollen sie arbeiten oder nicht? Einfach vom Vater Staat leben und sagen, er muss für mich schauen, ist keine Option. Wenn die Eigeninitiative, etwas zu verdienen, fehlt, habe ich Mühe. Ich musste auch ein Leben lang «chrampfen». An vielen Orten wird’s den Menschen sehr einfach gemacht.
Die Notschlafstelle wäre auch eine Anlaufstelle, um die Menschen auf den richtigen Weg zu bringen.
Wir haben bereits viele Sozialinstitutionen hier in Olten. Sie müssen schauen, wie sie die Menschen betreuen können.
Wie kommt die Stadt von diesem negativen Diskurs weg, der die Entwicklungen zu hemmen scheint?
Was ist neu in der Stadt Olten? Der letzte Neubau, den die Stadt erstellt hat, ist die 1982 erbaute Stadthalle. Die Stadt hat die Eigentümerstrategie verpasst. Mit der Badi hätte man etwas Schönes machen können, stellte sie dann aber unter Ortsbildschutz. Wir haben eine Altstadtkommission, die keine Ahnung hat und die Stadt Olten gehemmt hat. Vor Jahrzehnten sagte ich schon, ein Parkleitsystem sollte man machen. Aber die Stadt Olten war nicht fähig.
Jetzt machen Sie, was die Frage oben impliziert, nämlich negativ diskutieren. Aber wie kommen wir auf den positiven Weg?
Wissen Sie, wenn man einmal einen schlechten Ruf hat, bringt man ihn fast nicht mehr los. Der Schützimattparkplatz hätte man längst mal machen müssen, damit er keine Glunggen mehr hat. Der Eingang in die Stadt muss bequem sein. Da erstaunt es nicht, dass die Geschäfte überall leer sind. Was wollen sie dort reintun? Sie können nicht eine Beiz an der anderen haben.
Es scheint manchmal, als ob die Pandemie alle anderen Sorgen dieser Welt aus unserem Bewusstsein verdrängt hätte. Kein Tag vergeht, ohne dass das dreisilbige Wort auf der Titelseite der Zeitungen gedruckt steht. Gut möglich, dass dies in Thessaloniki vordergründig nicht anders ist.
«Viele Menschen hier haben keine Angst vor Corona, sondern davor, ihren Job zu verlieren und dass die Pandemie Griechenland wirtschaftlich wieder zurückwirft», sagt Jana Schmid in die Videokamera ihres Laptops. Sie sitzt im ausgebauten Lieferwagen, mit dem sie im Dezember gemeinsam mit ihrem Freund Benj nach Griechenland gefahren ist.
Jana wuchs in Aarburg auf, studierte nach der Kanti in Bern Jura. Ein halbes Jahr nach ihrem Masterabschluss zur Juristin zogen sie und ihr Freund los. Trotz Corona. «Wir sagten uns: Abstandhalten geht unterwegs vielleicht sogar besser als zu Hause, Abgelegenheit mögen wir ohnehin, genauso langsames Reisen», schreibt Jana auf ihrer Plattform erzaehlt.com, auf welcher sie und Benj Reportagen und Gedanken teilen.
Seit November geht Griechenland einen repressiven Weg, um das Virus einzudämmen. Ein Lockdown, den die Regierung von Woche zu Woche verlängert. Die Polizeipräsenz sei enorm und die Regeln seien streng, harte Bussen drohen, erzählt die 26-Jährige. Die Art und Weise, wie die Massnahmen durchgesetzt werden, ist für sie ungewohnt. Auf ihrer Plattform schreibt Jana in einem Beitrag:
«Der Lockdown in Griechenland lässt alle ein klein wenig spüren, wie ein Leben ohne Papiere sein könnte – und dann gibt es noch jene, die wirklich ohne Papiere leben.»
In der griechischen Metropolregion mit über einer Million Einwohnerinnen ist Covid für viele Menschen nicht die grösste Sorge. Thessaloniki ist durch seine Nähe zur Türkei ein Tor zum Osten und hier macht sich der Weg der Abschottung spürbar, den Europa nach den grossen Fluchtbewegungen von 2015 eingeschlagen hat. Seit dem EU-Türkei-Abkommen ist die Route über den Balkan weitgehend unterbunden. Im Gegenzug leistet die EU Gelder an die Türkei, damit diese die geflüchteten Menschen versorgen kann. Trotzdem gelangen viele Flüchtlinge von den Inseln und über den Grenzfluss Evros auf das griechische Festland, wo sie ihr Glück versuchen. 2019 stellten gemäss Aida (Asylum Information Database) gut 77’000 Menschen in Griechenland einen Asylantrag. Zum Vergleich: In der Schweiz waren es leicht über 14’000. Viele Menschen finden in den offiziellen Camps keinen Platz und landen auf der Strasse. Recht auf Asyl mögen sie haben oder nicht – ein Menschenrecht, Asyl zu erhalten, gibt es nicht. Aber es gibt das internationale Recht, einen Asylantrag zu stellen und somit ein Verfahren zu kriegen. Staaten sind verpflichtet, dieses Recht allen Menschen zu gewähren, die auf ihrem Staatsgebiet darum ersuchen. Oftmals wird dieses Recht jedoch übergangen und Flüchtlinge werden illegal zurückgeführt.
Flüchtlinge stehen in Thessaloniki Schlange, um Essen zu kriegen.
«Ich hatte schon länger im Kopf, mal in Griechenland Freiwilligenarbeit leisten zu wollen», sagt Jana. Während drei Monaten arbeiten sie und ihr Freund Benj in den beiden NichtregierungsorganisationenWaveThessaloniki und Border Violence Monitoring Network. Die eine Organisation führt eine Art Gassenküche für Menschen, die auf der Strasse leben; die andere dokumentiert illegale Rückführungen der Staaten – sogenannte Pushbacks. Jana hilft mit, die englischsprachigen Berichte zu verfassen. Die Organisation tut dies, indem sie Menschen interviewt und ihre Pushback-Erfahrungen festhält. In Thessaloniki handelt es sich oft um Rückführungen von Nordmazedonien zurück nach Griechenland oder aus Griechenland in die Türkei. Es gäbe aber auch Fälle von Kettenabschiebungen, bei welchen Menschen nacheinander von verschiedenen europäischen Staaten über Grenzen geschoben werden, erzählt Jana. «Als ich in der Schweiz diese Berichte las, war ich etwas kritisch und hatte das Gefühl, sie suchen einfach die hässlichsten Geschichten von Menschen, die brutale Sachen erlebt haben. Jetzt führe ich Interviews mit Menschen, die genau solche Dinge erlebt haben», sagt Jana.
Wie hat sich deine Perspektive auf die Flüchtlingsthematik in Griechenland verändert?
Schon in der Schweiz habe ich mich damit beschäftigt. Im Studium legte ich den Fokus aufs Migrationsrecht und Menschenrechte. Ich nehme die Flüchtlingsthematik als das grösste Problem wahr, das auf Europas Schultern lastet, und glaube, dass wir alle dafür verantwortlich sind. Ganz Europa hat dies verkackt. Verändert hat sich für mich der Blick durch die Polizeigewalt, die ich mitkriege und die mich einfach nur schockiert. Europa schottet sich ab und das ist nicht in Ordnung, aber darüber kann man diskutieren. Die Art und Weise, wie es dies tut, ist einfach nur schockierend. Die Willkür war mir vorher schon bewusst; was dies im Einzelfall für Auswirkungen hat, sehe ich nun. Viele Menschen hätten im rechtlichen Sinn zweifelsfrei einen Flüchtlingsstatus. Nur gibt es keinen Staat, der sich dazu bequemt, ihren Fall anzuschauen. Und das bewirkt, dass sich diese Person illegal irgendwo verstecken muss.
Nach den grossen Migrationsströmen 2015 ist es in der Schweiz rund um die Flüchtlingsthematik weitgehend ruhig geworden. Wie nimmst du es vor Ort wahr?
Das Problem hat sich nicht abgeschwächt. Ganz viele Menschen stecken hier fest. Das griechische Asylsystem ist total überfordert. Bis die Flüchtlinge ein Asylverfahren kriegen, dauert es Monate oder Jahre. Griechenland hat seit dem Rechtsrutsch 2019 ein restriktiveres Asylgesetz. Die Balkanroute ist zu. Die EU hat mit der Türkei einen Deal abgeschlossen und versucht die Menschen fernzuhalten. Sie werden äusserst brutal daran gehindert, weiterzugehen. Ich habe bei der Arbeit vor allem mit Männern zu tun, die alleine unterwegs sind, sich illegal hier aufhalten und keinen Platz in Camps finden.
Europa ist weit davon entfernt, eine Lösung zu finden, die Migrationsströme zu stoppen. Die Abschottung hat die Probleme bloss verlagert. Was wäre für dich ein möglicher Ausweg?
Ich finde es schwierig, mich in diesem Diskurs zu positionieren. Was würde geschehen, wenn man die Grenzen öffnen würde? Wahrscheinlich würden sehr viele Menschen kommen. Daraus ergäbe sich wohl zuerst ein schwieriger Moment, aber dann würde es sich ausbalancieren. Europa wäre dann vielleicht nicht mehr so viel attraktiver. Davor hat man Angst, denn wir leben in einer Blase, in der sehr viel mehr Wohlstand da ist als in der sonstigen Welt. Viele Probleme werden geschaffen, indem Menschen illegalisiert und kriminalisiert werden. Und dann gibt’s noch den menschlichen Aspekt: Vielleicht gibt es einen Grund, Grenzen zu haben. Aber diese auf brutale Art und Weise zu verteidigen, ist nicht okay. Menschen in Länder zurückzuschicken, wo ihnen Folter droht, ebenso wenig.
Bürgerliche stellen sich auf den Standpunkt: Viele Wirtschaftsflüchtlinge würden womöglich weniger Elend erleiden, wenn sie nicht migrieren würden.
Jeder Mensch hat das Recht zu migrieren. Ein gutes Gedankenexperiment finde ich, zu überlegen, was es brauchen würde, dass ich meine Heimat hinter mir lassen und weggehen würde. Dazu würde es viel brauchen. Ich glaube, sowas macht man nicht ohne Leidensdruck. Ich kann mich in meiner idealen Welt fast überallhin bewegen. Nur schon, dass wir jemanden als Wirtschaftsflüchtling und jemand anderen als politischen Flüchtling kategorisieren, impliziert Ungleichheit. Aber ja, derzeit wird dieser Unterschied rechtlich gemacht. Darum mag es sein, dass viele Menschen mit falschen Vorstellungen nach Europa kommen.
Leistest du auch Aufklärungsarbeit und informierst die Menschen, wenn sie schlechte Aussichten auf den Flüchtlingsstatus haben?
Ich mache keine Rechtsberatung, aber im Einzelgespräch mit den Menschen weise ich sie schon darauf hin. Ich weiss von Menschen, die verprügelt und inhaftiert wurden. Sie hatten kein Recht auf einen fairen Dialog und waren von Beginn weg der Gewalt ausgesetzt. Das finde ich schockierend.
Bei eurer Arbeit zeichnet ihr die Geschichten der Menschen auf, die ohne Recht auf einen Asylantrag zurückgeschafft wurden. Wie könnt ihr belegen, dass die Schilderungen «wahr» sind?
Wir versuchen die Berichte so zu formulieren, dass sie möglichst als Beweis verwendet werden können, und befragen die Menschen möglichst detailliert. Wenn vorhanden, dokumentieren wir die Berichte mit Bildern oder anderen Nachweisen wie beispielsweise medizinische Atteste von Verletzungen. Am Ende stützen wir uns immer noch auf Interviews – das ist, was wir machen können.
Welche Wirkung kannst du mit den Berichten erzielen?
Nur schon, dass es einzelnen Personen hilft, wenn sie ihre Erlebnisse erzählen können, empfinde ich als positiv. Wir versuchen mit unseren Berichten politisch etwas zu bewirken. Im europäischen Parlament wurden im Dezember zwei dicke Bücher veröffentlicht, «The Blackbooks of Pushbacks». Momentan passiert auch relativ viel an europäischen Gerichten. Frontex hat sich etwa von der ungarischen Grenze zurückgezogen, weil die Beweislage von illegalen Pushbacks erdrückend wurde. Unsere politische Arbeit ist ein kleines Rad von vielen.
Wie gehst du mit den täglichen Erlebnissen um?
Ich bin viel am Arbeiten und dabei sehr fokussiert. Mein Hirn ist richtig leistungsfähig, weil ich merke, dass meine Arbeit viel Sinn ergibt. Aber ich merke, dass ich kaputt wäre, wenn ich diese Arbeit jahrelang machen würde. Die brutalen Geschichten sind neu für mich und ich muss herausfinden, wie ich damit umgehen kann.
Wenn Solothurner Filmtage sind, dann schält der Küchengehilfe in der Traditionsbeiz «Kreuz» gerne mal 50 Kilogramm Kartoffeln an einem Tag und die Gassen der Barockstadt füllen sich mit Menschen. Dieses Jahr blieb diespezielle Atmosphäre weg. Die Filmtage kamen ins Wohnzimmer. Und vielleicht wirkten sie dieses Jahr noch stärker auf uns als sonst. Sie liessen uns für kurze Zeit der Gegenwart entrücken, indem sie uns Geschichten erzählten.
Die Geschichte kann einfach und trotzdem ergreifend sein. Das beweist Andrea Štaka mit ihrem Film «Mare», der vor einem Jahr an derBerlinalePremiere gefeiert hatte und nun an den Solothurner Filmtagen den Prix de Soleure gewann. Dies, nachdem er im vergangenen Jahr durch Corona bedingt viel zu rasch von der Bildfläche verschwunden war. «Bei jedem Film sage ich, ich mache etwas ganz anderes. Aber eigentlich geht es immer um Identität und die Frage, wer man selbst ist, wo man hin will», sagte Regisseurin Andrea Štaka nach der Premiere in einem Interview gegenüber SRF.
In allen drei Spielfilmen der Schweizer Regisseurin mit kroatischen Wurzeln war die Schauspielerin Marija Škaričić beteiligt. «Ich wollte einen Film für Marija schreiben, weil ich finde, dass sie viel öfters auf die Leinwand gehört», sagte die Regisseurin. Und so dreht sich in ihrem neusten Filmprojekt alles um Mare. Eine Frau, Mitte 40, mit Familie – Mann und Kinder. «Das ist eine Phase, in der die Kinder älter werden, in der man sich fragt, wo man selbst steht», sagt Andrea Štaka. Auch sie kenne diese Situation, so die Regisseurin. Sie selbst und Hauptdarstellerin Marija Škaričić hätten viel Persönliches in den Film mit reingegeben. An der Berlinale war die Schauspielerin nach der Premiere gefragt worden, was sie von Mare verkörpere. Da sagte sie: «Im Moment habe ich das Gefühl: alles!»Für das Publikum bringt dies ein authentisches Filmerlebnis mit hoher Intensität. Der Betrachter kann sich mit der Hauptfigur identifizieren und fühlt Mares Sehnsüchte nach.
Die Jury des Prix de Soleure würdigt Mare als «Spielfilm, der aussieht wie ein Dokumentarfilm oder die Realität selbst, aber überhöht zu einer existentiellen Wahrheit». Der Film tut dies, indem er aus ungewohnter Nähe Mares Gefühlswelt zeigt. Eine Welt, die sich zwischen Familie und dem in ihr wachsenden Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung bewegt.
Am Stadtrand der kroatischen Touristenhochburg Dubrovnik führt die Familie ein einfaches Leben. Die Flugzeuge donnern über das Haus. Der Sohn steckt mitten in der Pubertät. Mare ist jene herzliche Mutter, wie jeder sie sich wünscht. Doch sie hintersinnt ihre Lebensrolle. Auf der Suche nach sich selbst verführt Mare den polnischen Gastarbeiter Piotr (Mateusz Kosciukiewicz). Ein Neuanfang oder zurück ins «alte» Leben? Bald muss auch Mare sich dieser Frage stellen.
Die Jury der Solothurner Filmtage wünscht dem Film in ihrem Communiqué «eine neue Chance auf den grossen Leinwänden», nachdem der Lockdown den Film abrupt stoppte. Kolt schliesst sich diesem Wunsch an. «Mare» ist im Übrigen gleich in drei Sparten für den Schweizer Filmpreis 2021 nominiert («Bester Spielfilm», «Bestes Drehbuch» und «Bester Ton»).
Oft ist er jenen, die hoch oben im Stadthaus die Geschicke der Stadt führen, ein Dorn im Auge. Rolf Sommer gibt nicht nach. Er kippte mit einem Referendum das Budget 2019 der Stadt Olten, was schweizweit für Schlagzeilen sorgte. Er wehrte sich dagegen, dass in der Baudirektion der Stellenetat ausgebaut wird. Und mit seinem neusten Coup will er verhindern, dass die Stadt das eigene Krematorium einstellt. Rolf Sommer ist der Mann der Referenden. Für die Stadtregierung muss er wie ein erratischer Block sein. Ein Fels, der herangetragen wurde und nicht wegzukriegen ist.
Ihm behagt diese Rolle. Sommer hat immer seine eigene Meinung. «Manche schätzen dies vielleicht nicht so, aber das ist mir egal», sagt er auf unserem Spaziergang im Oltner Jahrzehntschnee Mitte Januar. Eine Woche später schreibt Rolf Sommer in einer Mail, er sei eben unabhängig, wie dies Menschen mit dem Sternzeichen Wassermann zu sein pflegen. «Meine Unabhängigkeit war manchmal vielleicht hinderlich, aber ich habe nie jemandem etwas geschuldet.» Diese müsste er ein Stück weit aufgeben, wenn er in die Stadtregierung käme. Dann wäre er nicht mehr der Kritiker von aussen und müsste zum konstruktiven Schaffer reifen.
Ein Uhrenindustriekind
Der Hauseingang zu Rolf Sommers Haus im Bifangquartier ist bereits fein säuberlich vom Schnee befreit, als wir zum Spaziergang aufbrechen. Seit 1982 – bald vierzig Jahre – lebt Rolf Sommer in dieser Gegend der Stadt. Für ihn muss das Quartier wie ein Dorf sein. Hier kennt er jede Ecke. Für seine Referenden sammelt er Unterschriften beim Sälipark oder geht von Tür zu Tür. Er kennt die Mehrzahl der Passantinnen und während er durch den Schnee stapft, referiert er, wie das Quartier durch die Jahrzehnte wuchs und wie sich die sozialen Schichten verschoben.
In der Uhrenstadt Grenchen wuchs Rolf Sommer in bescheidenen Verhältnissen auf. Der Vater war Mechaniker, die Mutter verrichtete Heimarbeit. Die Uhrenindustrie prägte auch ihn. «Es gab nicht viel anderes», sagt er und beginnt die zahllosen Uhrenmarken aufzuzählen. Rolf Sommer orientierte sich aber anderweitig: Mit seiner Arbeit als Vermessungsingenieur in Zürich folgte der Umzug nach Olten, um das Pendeln zu verkürzen. Und hier in der Dreitannenstadt war er fast von Beginn weg eine politische Person. Sollte er in diesem Jahr als Stadtrat den Sprung in die Exekutive schaffen, so würde seine gefühlt vierte Politkarriere eingeläutet.
Die schwierige Beziehung zur SVP
Alles begann bei den Christdemokraten, für welche er 1985 im ersten Anlauf ins Stadtparlament einzog. Nach acht Jahren trat er aus dem Gemeinderat aus und wollte wenig später in die judikative Gewalt wechseln. Gerne hätte er sich 1995 durch die CVP als Amtsrichter aufstellen lassen. Aber Sommer unterlag in der parteiinternen Nomination. Der Frust über die Niederlage mündete im Austritt aus der Partei.
Aber der politische Geist war in ihm bald wieder geweckt. Mit einem Telefonat – oder genauer gesagt mit mehreren – gewann SVP-Haudegen Walter Wobmann den Oltner für das Projekt, die städtische SVP mitzugründen. «Sie haben mich so lange bearbeitet, bis ich zusagte», erinnert sich Sommer. Damals sei in der Volkspartei das Wort «Volk» noch an oberster Stelle gestanden, weshalb er sich mit deren Anliegen identifizierte. Bis heute will er als Politiker «fürs Volk da sein, dessen Anliegen ernst nehmen». Die einfachen Menschen, die kleinen Leute, sind ihm nah. Und sie sind es, die ihm immer wieder anrufen und um Rat und Hilfe fragen, wie er sagt. Sei es wegen der öffentlichen Toiletten in der Stadt, die wegen Corona eine Zeit lang geschlossen waren. Oder sei es eben auch wegen der geplanten Stilllegung des Krematoriums.
Für seine Vorstösse ging der ehemalige Präsident der SVP Olten stets seinen eigenen Weg und liess sich nicht umbiegen, wie er sagt. Dies kam auch im Januar 2007 zum Ausdruck, als Sommer per sofort aus dem SVP-Vorstand und der Fraktion austrat. Die Parteileitung monierte im Oltner Tagblatt die «unloyalen Alleingänge». Sommer nannte derweil «Neid und die ständigen Angriffe gegen meine Person aus den eigenen Parteikreisen» und «ein radikaler Zürcher Stil in der Oltner SVP» als Gründe für seinen Rücktritt. Seither ist er in der Stadt als Einzelkämpfer unterwegs – er selbst sieht sich aber viel mehr als Volkskämpfer, die Menschen gäben ihm Rückhalt. Auf kantonaler Ebene hingegen politisiert er nach wie vor offiziell für die SVP und vertritt diese im Kantonsrat.
Retter des Mühletäli
Rolf Sommer bleibt im Schneegestöber stehen und sagt: «Das ist mein Platz.» Dabei zeigt er sein zufriedenstes Lächeln an diesem Morgen. Er steht auf dem Vorplatz des Wildparks Mühletäli. In den Nullerjahren trat der heute geschiedene Vater mit seiner Tochter dem Verein bei. Damals rutschte die Strasse mitsamt Blocksteinmauer ab – das beliebte Naherholungsgebiet zerfiel zusehends. Der Wildpark musste entweder saniert werden oder er hätte aufgegeben werden müssen. Also übernahm Rolf Sommer mit der ihm eigenen Manier die Verantwortung. «Hört, ich übernehme das Projekt, aber es redet mir niemand drein», habe er damals gesagt. Und er fügt an:
«Es gibt nichts Schlimmeres als solche, die immer dreinreden und nichts verstehen.»
Und lacht dabei im Bariton. Wie viel ihm am Mühletäli liegt, zeigt sich dadurch, dass er damals 30’000 Franken seiner Reserven drangeben wollte. Am Ende kam das Projekt ohne Sommers Geld aus. «Ich kann betteln!», sagt er. Jede Sitzbank, jeder Baum ist von einem privaten Sponsor oder von Nachbargemeinden gestiftet. Auf den angebrachten Schildern sind die Spenderinnen verewigt. Als Vermessungsingenieur mass Rolf Sommer den Platz gleich eigenhändig aus.
Der 68-Jährige identifiziert sich auch nach der Pension noch stark über seinen Beruf. Egal ob er nun Grundstücksgrenzen, Neubauten oder Gebäude, die überwacht sein müssen, absteckte: Rolf Sommer war oft auf sich alleine gestellt. «Jede Situation war anders», sagt er. Er steckte Millionengrundstücke für Reiche, aber auch kleine Grundstücke ärmerer Leute ab. Das habe ihm keine Rolle gespielt. «Alle Leute sind gleich.» Mit eindringlichem Blick sucht er den Augenkontakt und sagt: «Herr Schlegel Yann, ich habe sehr gute Augen. Ich sehe Dinge, die andere nicht sehen.» Ein Satz, den er während unseres Gesprächs bestimmt fünf Mal wiederholt.
Von Berufes wegen ein Realist
Wo ihm die guten Augen in der Politik nützlich sind, frage ich. Wenig überraschend bringt Rolf Sommer Olten Südwest ins Spiel. Schon damals habe er als Vermessungsingenieur im Parlament darauf gepocht: «Dieses Land müssen wir kaufen!» 12 Millionen für Olten Südwest. Peanuts wären das gewesen, sagt er. Sportanlagen für die ganze Schweiz hätten «da unten» auf den 30 Hektaren entstehen können und oben im Kleinholz wäre Platz für Wohnraum an bester Lage entstanden. Bis heute empfindet Rolf Sommer den Nichtkauf als grossen Fehler. Er klingt verbittert, wenn er darüber spricht. Sein Groll richtet sich an den damaligen Stadtpräsidenten Ernst Zingg. «Heute kommen alle zu mir und sagen: ‹Rolf, du hattest recht.›» Im Grunde sei er weder ein Rechter noch ein Linker. «Ich bin ein Realist», sagt Sommer. Im Übrigen ist dies auch sein Wahlslogan. Dieses Attribut verkörpere er nur schon von Berufes wegen:
«Ich kann keinen Fantasieblock abstecken.»
Aber da ist nicht nur Olten Südwest. Während die dicken Schneeflocken sich auf seinem grauen Haar setzen, malt Sommer ein düsteres Bild der letzten dreissig Jahre. «Ich kann Ihnen fast an jeder Ecke sagen, was falsch lief», sagt er. Ein Born-Durchstich wäre in seinen Augen die Lösung für den Oltner Verkehrsknoten gewesen, nicht die heutige Entlastungsstrasse mit dem Tunnel in der Rötzmatt. Im Industrieareal hätte der Kanton die Gösgerstrasse an die Bahnlinie verlegen sollen, damit die Stadt direkten Aareanschluss habe. In der Stationsstrasse beim Hammerbahnhof sieht er ein brachliegendes Gelände mitten in der Stadt, auf welchem nichts geschehe. Und die verkehrsbefreite Kirchgasse? «Sie ist der grösste Blödsinn, den wir gemacht haben», sagt Sommer. Die Planung sei nicht konsistent, enerviert er sich. Für das gesamte Areal Kirchgasse bis Konradstrasse habe die Stadt eine ganzheitliche Planung verpasst. Als neustes Beispiel nennt er den bevorstehenden Architekturwettbewerb zum Kunstmuseum.
«Eine Eigentümerstrategie fehlt in dieser Stadtverwaltung seit Jahrzehnten.»
In die Stadt gehe ja niemand mehr zum Einkaufen. Das zeige sich nur schon an den Kartonbergen im Quartier, erzählt er auf dem Rückweg. «Als ich nach Olten kam, lebte die Stadt noch.» Damals hätten sich die Parteien noch gestritten, wer am oberen und wer am unteren Graben seinen Stand aufstellen darf.
Bald Schachmatt?
«Sind Sie Schachspieler?», fragt Sommer urplötzlich. Ich gestehe ihm, lange kein Schachbrett mehr vor mir gehabt zu haben. Er sei als Junior ein guter Spieler gewesen, erzählt er. «Als Schachspieler können Sie nicht nur einen Zug denken, sonst verlieren Sie.» Was er damit implizieren wolle? Die Stadt habe in der Vergangenheit verloren. Und das Matt sei nah, sagt er. Rolf Sommer spricht, als wolle er die alte Welt retten.
Und beim Blick in die Zukunft? Da macht ihm der Finanzhaushalt Sorgen. Das Geld werde fehlen, denn die Sozialausgaben würden weiter ansteigen. Gegen eine Steuererhöhung aber will er sich stemmen. «Viele Leute wissen nicht mehr, wie sie ihr ‹Brot› bezahlen sollen», sagt er.
Dann reisst ihn ein Babyhandschuh auf dem Trottoir in die Gegenwart zurück. Er hebt ihn auf und stülpt ihn über einen Strassenpfosten. Dann sagt er: «Sehen Sie, das ist der Unterschied zwischen Ihnen und mir. Ich habe den Handschuh gesehen, Sie nicht.»
Kurz vor Weihnachten erhielt ich von meinem ehemaligen Nachbarn David Pearce eine Nachricht. Er sei nominiert für einen US-amerikanischen Literaturpreis. Ein paar Wochen später öffnet er mir am Geissfluhweg die Haustür, noch bevor ich geklingelt habe. David Pearce bittet mich in seine Stube.
Wäre ich nicht Journalist, so wäre der grossgewachsene Mann mit der honigbraun getönten Sonnenbrille für mich wohl für immer der Nachbar geblieben, der mich mit seinem angelsächsischen Akzent auf der Strasse grüsste. Der Nachbar, dem ich hin und wieder begegnete, wenn er den Einkaufswagen die Granittreppe hochzog. Der Nachbar, der mit seinem Lebenspartner Bruno Ritter zwei Häuser neben meinem Elternhaus wohnt. Viel wusste ich nicht über dieses ältere Paar. Ein erstes Mal trat ich in ihre Welt ein, als ich über die sechs Reihenhäuser der ehemaligen Centralbahn schrieb. Bruno Ritter, vor 82 Jahren am Geissfluhweg geboren, kennt die Geschichte der historischen Häuserzeile besser als sonst jemand. Der ehemalige Generalkonsul war nach langen Wanderjahren im Jahr 2000 mit David Pearce ins Elternhaus am Geissfluhweg zurückgekehrt.
Wie ich also zum zweiten Mal den «Zwilling» meines Elternhauses betrete, sind da noch immer all diese Möbel und Souvenirs, die Geschichten aus anderen Ländern erzählen. Von David Pearces fantasiegeladener Innenwelt, die er auf ein Blatt Papier niederschreibt, erfahre ich hingegen zum ersten Mal. Und ich hatte immer gedacht, er sei Engländer, bis das Oltner Tagblatt ihm anfangs Januar begegnete und im Porträt von seiner Herkunft in Pennsylvania und Ohio schrieb. Ob wir eine Kurzgeschichte über Olten publizieren möchten, fragte mich David Pearce eine Woche danach. Wir sagen zu. Und als wir uns daraufhin im Wohnzimmer unterhalten, sagt der 72-Jährige: «Mit dieser Geschichte will ich beweisen, dass ich es ernst meine damit, ein Oltner Schriftsteller zu sein.»
Wann haben Sie damit begonnen, Geschichten zu schreiben?
Für einen Freund in Amerika habe ich aus Spass Geschichten zu seiner Hündin erfunden. Ich habe die Hündin zur Spionin gemacht. Sie war ein intelligentes Wesen, bewegte sich im französischen Untergrund, gewann einen Nobelpreis und war mit Kleopatra verwandt. Sie war Anubis, die Hundegöttin. Aber die Geschichte war nur ein humoristisches Stück, nicht zur Veröffentlichung gedacht. Mittlerweile sind die Hündin und mein Freund beide verstorben. Vor 35 Jahren schon schrieb ich in Berlin eine Kurzgeschichte, die bis heute zu einem Roman herangewachsen ist. Auch die Hündin hat sich in diesen Roman eingeschlichen. Die Geschichten wachsen und wuchern wie Unkraut in meinem Kopf und plötzlich kommt alles aufs Papier.
Sie wollen bald auch einen Roman veröffentlichen?
Irgendwann schon. Aber ich habe wichtigere Projekte und möchte erst ein Theaterstück publizieren. Wegen des Virus wird es nicht für die Bühne, sondern zunächst nur Lektüre sein. Autorinnen und Dramatiker machen keine Pause.
Sie auch nicht.
Einmal in der Woche sage ich: «Jetzt ist Schluss.» Und dann kommen neue Ideen. Die Geschichte über Olten kam aus dem Nichts.
Sie setzen darin einen bekannten Oltner in eine Fantasiewelt, die aus einer – für Oltnerinnen – vertrauten Umgebung besteht.
Ja.Theodor Schweizer, der Hobbyarchäologe und PTT-Mitarbeiter, war ein guter Freund von Brunos Vater. Aber die Geschichte erzählt eben nicht von Theodor, sondern von Theo.
Wie reift eine Geschichte wie jene aus dem «alten» Olten heran?
Ich schreibe von Satz zu Satz. Die Geschichte hab ich nie als Ganzes im Kopf. Wenn ich die erste Seite geschrieben habe, hab ich keine Ahnung, was später passiert. Zum Beispiel was Theo im Dickenbänli machen soll. Aber die Idee kommt von selbst.
Woraus erwächst die Kreativität in Ihnen?
Vielleicht hängt sie mit dem Alter zusammen oder mit … (überlegt lange) so etwas wie mentaler Abnormalität. Das Geschichtenschreiben ist dann die Lösung, meine verschiedenen Probleme in den Griff zu kriegen.
Wie eine Therapie?
Ja. Ich habe so viele Fantasien ausserhalb der Norm. Und ich kann verrückt werden – oder eine Geschichte aufschreiben. Ich ziehe Letzteres vor. Einige Menschen sagen, ich hätte keine Hemmungen davor, etwas auszusagen.
David Pearces erstes Buch wird voraussichtlich Mitte 2021 unter dem Titel «The Writer’s Circle» erscheinen und vom Purple Wall Verlag herausgegeben. Das zweite mit dem Titel «Tales from the Golden Mirror» folgt Ende 2021. Es beinhaltet eine Serie verknüpfter Geschichten, die zwischen dem 12. Jahrhundert in der Bretagne und dem 20. Jahrhundert in Indochina situiert sind.
A New Year’s Tale
by David Pearce
A very groggy Theo Schweizer studied his face in the bathroom mirror. New Year’s Day. He looked a year older, he thought. What year was it now? He’d calculate it later. That Stängeli of beer at the Bahnhöfli after finishing his postal round, delivering all those tiny last-minute New Year’s greeting cards, was the last thing he remembered. How did he get home? He vaguely recalled crossing water, and passing water, as well.
Or was that the remaining image of his recurring nightmare, intensified this time by a Sylvester drink? As always, Maria appeared from behind the curtain covering the window out to the garden. He had followed her, cold and aware of the stillness of the night. She was perched now on the edge of a cliff near the path leading up to Dickenbänli. He knew she was going to jump. She always jumped in his dreams of her. Eleven years ago in March, she had fallen down the granite steps to the cellar with its vaulted ceiling. She had struck her head, killing herself instantly. Those stone steps, piled plinths of granite, row upon row of rocky death – what held them together? What held them up?
When she jumped this time in his dream, she taunted him, proudly showing herself to be heavily pregnant. “You couldn’t manage it, could you? Or is this yours, after all?” Then she sprang, slowly descending into the depthless water below. As she struck the surface, a spark flew out, then followed her deep beneath the water until they both faded into dawn.
Theo needed fresh air – a walk up to his Refugium would help clear his head. There had been no snow, not even a frost yet that winter. Olten was bright and clear – Sun City, it was now called. Those legendary days of fog had been banished at the throw of a switch. The Stadtpresident had claimed credit with his new air filtration system. Hovering invisibly high in the sky above Olten, it pumped the fog into the ground, where it turned to water. True, the River Aare WAS higher since the scheme had started operation. And there were three new streams, Dorfbäche, flowing into the river. Still officially unnamed, they were dubbed Caspar, Melchior, and Balthazar by the locals, and in a few days would be dyed gold for Epiphany.
Being the amateur archaeologist that he was, Theo the Autodidakt always had an eye out for fossils. Sometimes they would be washed out, other times they would be kicked up by horses galloping through Gämpfi. Theo was also attracted to flint. He could recognise it by the merest surface showing through the earth. Flint ‘grew’ in clumps or knobs, but Theo preferred the German word ‘Knollen’ as being much more expressive. Feuerstein. The English also said ‘brimstone’, burning stone. He’d have liked to popularise a word of his own devising – Funkenstein, or spark stone. He always forgot to check if that might already be a word.
He was passing the bakery at the edge of Bannwald and thought he’d buy a piece of St-Honoré Torte on his way back, if they were going to open. And here, he said to himself, I’ll be picking Bärlauch in a few months. Just along the path through to the top, he spied a lump of flint, nearly dug out, perhaps by someone else earlier. Yes! Then another higher up. And another. Almost like following a trail, he thought. But he had forgotten to bring a bag to put them in, and his pockets were already full of holes and other things. He took off his hat, that old-fashioned flat cap, the Schirmmütze, that Maria had hated, and put his cache of stones inside.
One more piece of flint, then he’d go home. He saw the perfect one to dig out (surely someone else had been here digging before him, but had not been patient enough to finish the job), and he bent down. He rocked unsteadily on his feet, then lost his balance. Just like that. He tumbled nearly halfway down the hill, his mind conjuring up all sorts of horrible images of Maria falling down the cellar steps. At some point in his descent, he lost hold of his hat. Then he lost hold of his consciousness, as he banged his head against a particularly unyielding large rock.
When he came to, Theo discovered that he had managed to pick up an extra Knolle – the lump on his head. What had happened? He seemed not to remember falling, and he certainly had no idea where he was. The trees, the hill, the landscape – all was strange. And where was his hat? He looked around him, vaguely aware that he was moaning in gentle, throbbing pain.
The afternoon sun was sinking, as were his hopes of finding his hat. He decided to sit down and have a good talk with himself. Oof! There was his hat. He had sat on it. The lumps of flint that had remained inside were painful enough to make him stand up again. He was getting rather upset now. He took the stones from his hat one by one and threw them into the trees. He heard each of them hitting the ground. When he threw the next one, with two still left in his hand, he waited to hear it land. Nothing. It must have hit something soft. A clump of moss, perhaps? A full Robi-Dog sack? A dead body? He went to look. Nothing to see, nothing at all.
Idly, he struck the two remaining flints together to make a spark. No spark. Must be the damp air. He tried again and managed to rouse just a whiff of sulphur. Another strike brought a puff of smoke. And the spark from the fourth strike ignited the smell and the smoke into a flame. Poof! It went out. Theo struck again. This time the flame stayed lit. In fact, it wouldn’t go out. Instead, it danced in the air in front of him like a candle-less candle. Theo’s hands tightened into fists around the two flints.
The flame, was it blue? It was hard to tell in the setting sun. The flame circled Theo’s head, but he did not turn around to watch it. As it came back in front of his nose, it waggled a bit up and down, then side to side, and finally, with Theo’s full attention now, forward and backward. It moved away from Theo, who followed it as if hypnotised.
Together, they rounded the corner of a small outcrop of rock and approached a narrow cleft in the surface. The stone was moist and clad with moss. The flame disappeared inside the crack. Theo followed, just able to squeeze through. The flame had waited inside for him and now led him through a long tunnel to a cave, the floor solid and smooth. Light came from other flames of flint or from gases arising from holes in the rock. The cabbage-like smell was not unpleasant to Theo’s nose, and his eyes were not bothered by the miasma. A distant sound of dripping water and heavy hammering echoed through the cave.
Theo was no stranger to tunnels or caves. His job at the PTT took him through tunnels that connected the sorting office at the railway station, the Briefex, to the main Post Office. And the tunnel under the Aare, the Düker, was open to him to use as a member of the St-Martin’s Brotherhood. He had also investigated most of the war bunkers and other fortifications in the area.
Theo had the impression that this cave branched out farther back, judging from the echoes. The flame still led him on – on and on. The hammering was getting louder. Then Theo realised that what he had at first thought to be the stone walls of the cave were actually rows upon rows of stone pillars, arranged like pairs of dolmen. Somewhere deeper inside, these were being chiselled out of the rock and shaped.
He looked more closely at the columns. Each pair of pillars held an object hanging from a crossbeam, like a gallows. Gallows! The old Frohheim Galgen, Theo guessed. But these were not bodies dangling – they were just the heads! He backed away in horror and bumped into one from behind. It rang.
Not like a telephone, no. Like a bell. Those weren’t heads, those were bells hanging on the gallows. They reminded Theo of lines from that poem he had memorised in school, ‘Calliope’, by the English poet Fletts. “And the bell that rings its own sad time, the secrets in its dullest chime, the low bell, the slow bell, the bell that sways on gallowed time.” Then another bell rang to Theo’s left, and he turned, and saw – Maria.
“You dropped this, Theo.” She held out the piece of flint that he had not heard landing after he had thrown it. “I caught it.”
“Maria! How – how are you here? What happened? Aren’t you dead?”
“Of course I’m dead. You were with the police when they took out my body. Don’t you realise where we are?”
“In a – in a cave.”
“Under the cemetery. I didn’t have to travel far. Our house is just down that tunnel there.”
Theo stood staring at Maria. Even after eleven years of death, she was still powerfully attractive, seductive as a temptress.
“Our house? OUR house? Maria!”
“Our house, yes. It’s been awhile, but I remember it. I’m not allowed inside.”
“Not – allowed – ?”
“Remember when you bought it just before we were married? Grätzer’s. You could still smell the yeast.”
“Not allowed inside – where?”
“And then those strange anarchists occupied it, remember?”
“Maria – listen to me!”
“What is it, Theo? Don’t you remember all the dampness in the cellar?”
“Who doesn’t allow you inside?”
“The ones here – we’re all dead, you know. We get buried up there – down here – and we can walk around. I was able to find our house because of the water.”
“Maria! What? What water?”
“The artesian well, of course. I still swim in it, but I’m not allowed higher up – into the cellar. The entrance is just under those steps I fell down.”
“Entrance? To what?”
“This cave. You mean you never looked?”
“Maria. Am I dead? I mean, am I dead?”
“You fell rather far and, as I heard someone say, you hit your head quite hard. Shall we take a walk?”
“Can we get out of here?”
“No, I meant just a walk over to Grätzer’s.”
“Fine, but I’m climbing up into the cellar.”
“Without me, Theo?”
“WITH you, of course!”
“It won’t work, Theo. You might just be able to sneak through if you hurry. You might not be completely dead yet.”
“And then what? What then?”
“You see these bells? There’s one for each of us down here. No, don’t look for anyone. I’m the only one you can see. I don’t think they’ve started on your bell yet. But — “
“But what? Tell me! Maria!”
“How many bridges does Olten have?”
“Oh, I don’t know. Why?”
“How many bells does Olten have, then?”
“More bells than bridges.”
“Never mind the bridges. You see that bell, way over there? Here, come. I’ll show you. This is my death bell. If you can escape this cave and make this bell ring, I will return to life.”
“That’s impossible. Maria, darling, I’m – well, almost a scientist. I don’t believe in this sort of magic and spirits.”
“You haven’t found someone else, have you?”
“No. Not yet. I mean – the bell. How could I ring it if I’m above ground? That sounds like magic to me.”
“Now listen carefully, Theo. As I understand the procedure, one of the bells in Olten corresponds to this bell. Something like – resonation?”
“Resonance! Yes! That’s acoustic science! Go on.”
“Well, of course, the bells in Olten get rung all the time. But if the matching bell is rung with – uh, well, with – here! With THIS stone, the one you threw to me. Ring the bell with this stone, and I’ll be back to life.”
“But which bell? I can’t try all the bells in Olten! Some are quite out of reach, as well. Martin’s church spires are way too high. And – NO! I’m not climbing any tower.”
“No, Theo. Just listen. My bell – and I’m glad I was listening when they were telling me. My bell is at the railway station. On the main platform at the north end. It’s not really a bell-shaped bell. I guess I wasn’t buried at the time when those were being allocated. It’s still a bell, though. Just ask for it. I think it’s called the Trimbach Line bell, something like that. Then throw a rock – no! THIS rock – at it to ring the bell! How’s that?”
“You’re sure I’m dead?”
“Theo, why do you keep asking? You’re probably not totally dead yet. We’ll just have to take that chance. Now – let’s pretend we’re just strolling along to Grätzer’s, shall we?”
The pair walked through a side tunnel under the cemetery and crossed under the old electrical tower, then found the artesian well, just as Maria had said. They climbed a slope until they reached an exit tunnel which ended in a tangle of wheels.
“Theo! No wonder you never saw this entrance. You’ve shoved your old bicycles back here. And the old garden chairs. I can’t go any farther with you, but you squeeze yourself through all this jumble and – and ring my bell!”
Away back down the tunnel she sped, leaving Theo wondering why she hadn’t kissed him. Struggling with Motobécanes and Raleighs, Theo finally burst through the barrier and ran up those stone steps, exactly the size and shape of the gallows pillars. As he passed through the hallway toward the front door, he reached out automatically for his hat. NOW where was it? He ran through the back streets to the Rail Station Bridge over the Aare, past the station fountain which never froze over anymore, into the ticket hall, and onto the main platform.
Bell? No one knew anything about a bell. Trimbach bell? Might be up at the Trimbach station, mightn’t it? A lone man, waiting for the train to Basel, entered into Theo’s conversation with the station employees.
“That’d be the bell old Max had taken down. Got it in his garden now. Up by the Waschhüsli.”
Theo was looking worried indeed. Waschhüsli? A wash house?
“I’ll show you. Come on, lad!”
They walked to the edge of the station grounds. “Head up that way, past some vegetable gardens, then cut through the path next to a set of fine old houses, what used to be offices for the railway. There’s the wash house, and right there’s your bell – or now it’s Max’s bell, him who used to be assistant stationmaster here. He was a fine one for — “
Theo broke free from the old man’s chattering and ran up the hill leading to Hardwald. There! There was a small open shed, and next to it the bell. Well, it looked more like a lantern on a post than a bell, but he could already almost hear it ringing Maria back to life.
He stopped in front of it, checked his position, weighed the flint in his throwing hand, turning it over and over, then took careful aim, and flung it with all his strength at the bell. Fortunately, no one was around, for the bell made the loudest clang Theo had ever heard, reverberating for nearly a minute. It made him wonder what time it was. Time seemed to have stood still, or rather, time seemed to have reversed. It had been darkening when he followed the mysterious flint flame into the cave. He realised only now that it was daylight. Had he spent so long in the cave? Was it tomorrow already? Was it St-Berchtold’s Day? How confusing!
Instinctively, Theo retrieved the stone and hurried – where? More confusion! Where was he to go? Maria had not said. He doubted he could find the cave in the woods again, so he hurried back home.
Once inside, he ran to the cellar steps, where Maria had fallen to her death. Had she too been in a hurry, just like Theo was now? Had she lost her balance, just like Theo did now? Had she pitched backward? No, forward, just like Theo did now, striking her head on the bottom stone step, just like Theo is doing now.
Maria sat by her bell hanging on the gallows in the cave, waiting for it to ring. Finally it gave a muffled ‘Cling’ and returned to its silence. She went quickly but carefully to the artesian well just beyond the door to Theo’s cellar and waited. “What on EARTH can be keeping him?” she wondered, fingering the brim of the hat Theo had dropped. She never had cared much for that hat.
Das Mühsamste ist der Kohl. Es gibt schon sehr viel Kohl im Winter… Und die Geschichten von früher, als man im Winter rote Erdbeeren und Wassermelonen in jedem Supermarkt kaufen konnte, wirken auf meine Enkel fast wie Märchen aus dem Schlaraffenland. Aber auch ein bisschen befremdlich.
Damals hätte ich nicht geahnt, wie viele Rezepte es mit Kohl gibt. Wie fantasievoll man ein einziges Gemüse kombinieren kann. Und dann die Desserts mit eingemachten oder gefrorenen Früchten, die einem den Duft der Sonne zurückbringen… Damit kann man gut leben. Sowieso ist Essen interessanterweise anders geworden, seit weniger Zucker in den Nahrungsmitteln ist. Der Geschmackssinn der meisten Leute hat sich verändert. Ein Apfel frisch vom Baum genügt meinem Körper, um das Gefühl zu haben, ich hätte mir eine Delikatesse gegönnt. Das werdet ihr mir wahrscheinlich nicht glauben, aber gut, ich hätte es auch nicht geglaubt, wenn man es mir als Kind erzählt hätte.
Wir müssen nicht auf Luxusprodukte verzichten. Es gibt alles, woran ich mich erinnern kann, noch immer. Der Unterschied ist, dass vielleicht nicht mehr alles jederzeit verfügbar ist, oder zumindest nicht in zehnfacher Ausführung verschiedenster Marken. Ich kann weiterhin Lippenstifte kaufen, einfach nur noch jene der einen Kosmetikfirma in der Zentralschweiz. Für grössere Investitionen muss man manchmal länger sparen als früher, weil die Preise gestiegen sind. Das ärgerte anfangs einige ältere Semester, andere fühlten sich an die Jugendzeit zurückerinnert, als sie für das erste Skateboard ein paar Monate sparen, und dann auch noch auf die Lieferung warten mussten. Die neue Generation kennt sowieso nichts anderes.
Das heisst nicht, dass wir ausschliesslich regional einkaufen. Etwa 70 Prozent unserer Lebensmittel und Güter werden im nächsten Umkreis produziert, für das Übrige gibt es eine sehr gute Zusammenarbeit mit kleinen und mittleren Firmen auf der ganzen Welt. Es wird Wert gelegt auf ganzheitlichen Austausch zu den Produktionsmethoden und Arbeitskulturen. Viele Transporte laufen über Zug und Schiff und es kann immer mal wieder zu unvorhergesehenen Wartezeiten kommen.
Ein Trend ist, dass viele Menschen sich eine längere Auszeit nehmen, und einen Gütertransport mitmachen. Zum Beispiel mit dem Segelschiff zur Kakaoplantage in Costa Rica. Das hat meine jüngste Nichte neulich gemacht, und dort auch 2 Monate mitgearbeitet. In ihrer Freizeit konnte sie surfen gehen.
Reisen braucht einfach mehr Zeit als früher. Bereits der Weg gehört mit zur Reise, das ist heute selbstverständlich. Die Züge haben sich unglaublich verändert, es gibt jetzt Konzerte, Fitnessräume, Cafés und Luxussuiten im Zug. Klar, den Atlantik überquert man nicht mehr mal eben am Wochenende. Aber ans Meer kann man immer noch, und man kommt bereits entspannt dort an.
Der Arbeitsmarkt ist sehr viel flexibler geworden, sodass man sich immer wieder längere Auszeiten, Teilzeitarbeit oder auch Wechsel in ganz neue Branchen ermöglichen. Bereits in der Schule wird man darauf vorbereitet, und auch die obligatorischen Einsätze für Gemeinschaft und Umwelt geben den Jugendlichen früh Einblick in verschiedene Bereiche unseres Systems. Viele neue Arbeitsplätze wurden im Bereich Gesundheit, Betreuung, Zivilschutz und Ausbildung geschaffen. So können wir schneller auf neue Krankheiten, Überschwemmungen und andere Folgen der Klimaerwärmung reagieren. Ich glaube, das Bewusstsein für die Gemeinschaft ist gewachsen, es gilt als erstrebenswert und reif, einen Mittelweg zwischen Individualismus und Gemeinschaft zu finden.
So sind auch der Eigentum und das Teilen in der Gesellschaft auf gleicher Ebene verankert. Es gibt viele Räume, die geteilt genutzt werden; in den Quartieren gibt es gemeinsame Gärten, Werkstätten, Sportplätze und vieles mehr. Auch ist es normal, Kleider, Möbel, Spiele und alles andere, was man nicht mehr möchte, weiterzugeben. Dank zahlreichen Informatikspezialisten wird hier die sinnvolle Organisation über Apps fortwährend weiterentwickelt. Ebenso ist es aber in Ordnung, gewisse Räume und Güter bewusst für sich und die Liebsten allein zu haben. Privatsphäre und Rückzug sind wichtig und respektiert.
Wohnungen sehen allerdings etwas anders aus als früher; der Trend ist: Platz sparen und möglichst beweglich leben. Cool ist, dass man den Tisch in zwei Handgriffen auch zum Bett und in einer Drehung zur Leiter umfunktionieren kann. Die Architektinnen sind bestrebt, dass die Räume trotzdem gross und hell wirken. Eine Herausforderung, der sich viele Unternehmer gerne annehmen. Man kann nach wie vor reich werden mit guten Ideen und Geschäften. Es gibt etwas weniger Produktionsfirmen und einen grösseren Dienstleistungssektor als früher. Der Begriff Luxus bedeutet heute weniger, sich viele materielle Dinge leisten zu können, sondern sich schöne Erlebnisse zu ermöglichen und freie Zeit zu haben, um sich den eigenen Bedürfnissen und den geliebten Menschen zu widmen.
Als ich Fredrik Söderström Mitte Dezember treffe, weiss er nicht, ob er im neuen Jahr noch Oltens Trainer sein wird. Er nippt in der Oltner Innenstadt an seinem Kaffee mit jener Besonnenheit, die man einem Schweden stereotypisch attestieren würde. Söderström wirkt entspannt und lächelt, als hätte die Mannschaft eben sieben Spiele in Serie gewonnen. Dabei hat sie unlängst in Kloten eine 0:6-Schlappe eingesteckt. Die höchste Niederlage seit zehn Jahren, wie das Oltner Tagblatt am Tag darauf schreibt. «Wenn du verlierst, möchten die Leute diesen blonden Schweden am liebsten nur heimschicken», sagt Söderström im Café Gryffe. Auch seine Familie in Schweden verfolgt, wie es der Oltner Eishockeymannschaft läuft. An jenem Sonntag nach der Schlappe in Kloten fragt die Mutter ihren Sohn:
«Bist du in Schwierigkeiten?»
«Ich weiss es nicht», antwortet er.
Im Netz findet derweil statt, was Söderström sich ausmalt.
Wie vital die Oltner Fanszene ist, zeigt sich in den sozialen Medien. Daran haben auch die leeren Stadien nichts geändert. Die Stunde der Kritiker schlägt. Sie beginnen, in den Foren den schwedischen Trainer anzuzweifeln. Er erreiche die Mannschaft nicht mehr. Die Oltner Mannschaft brauche einen harten Trainer aus Nordamerika, der die Zügel straff in den Händen hält. Die Argumente sind seit Jahren die gleichen, der Ton ist destruktiv. Der Oltner Fan scheint manchmal in seinem Naturell der denkbar grösste Pessimist zu sein. Gebrannt von der Erfolgslosigkeit.
Bald dreissig Jahre lang ist der Oltner Eishockeyklub titellos geblieben. Kein Meistertitel in der zweithöchsten Liga. Kein Aufstieg ins Oberhaus. Auf eine Enttäuschung folgte die nächste. Doch immer lebte die Hoffnung: Jetzt muss es klappen. Die Region ist eishockeyverrückt geblieben. Der Klub zog in den letzten Jahren die Menschenmassen ins Stadion und ist wirtschaftlich erfolgreich. Oltens Anhänger toben nach Niederlagen. Innerlich tut dies auch Fredrik Söderström, nach aussen bleibt er der ruhige Schwede. «Eine Kultur und Mentalität zu verändern, bedarf es mehr als eines wütenden Coachs. Wir brauchen Zeit», sagt er und fügt an:
«Wir sind im nebligen November hängen geblieben, aber ich hab auch schon Sturm und Wellen erlebt.»
Zeit hat sich Fredrik Söderström in seiner bisherigen Karriere immer genommen und auch erhalten. «Ich bin nicht nur hier, um zu gewinnen. Wir wollen an dieser Mannschaft arbeiten und besser werden», sagt er. 23 Jahre jung war er, als er nach einem Traineeprogramm in einer Consultingfirma eine Festanstellung ausschlug und den Weg als Eishockeytrainer wählte. Noch nie wurde der 43-Jährige in diesem schnelllebigen Geschäft entlassen. «Er nahm immer den langen Weg. Das hat sich in den letzten 25 Jahren bewährt», sagt Johan Söderström, Fredriks Bruder am Telefon. Bereits als junger Trainer hätte Söderström die Karriereleiter hochklettern und grössere Aufgaben annehmen können. Aber er schlug diese immer aus. «Nicht jetzt», sagte er jeweils. Warum verfällt er nicht der Verlockung nach mehr Prestige auf höherer Stufe? «Meist versuche ich, alles aus mir herauszupressen, bevor ich den nächsten Schritt nehme», sagt Söderström.
Seine Rolle verstand er immer als Teil eines grossen Gefüges. Das tat Söderström auch, als er nach einigen Jahren als Juniorentrainer seine Heimatstadt Leksand verliess, in Schwedens unteren Ligen Erfahrungen sammelte und dann während sechs Jahren in der zweithöchsten Liga im südschwedischen Städtchen Oskarshamn als Profitrainer Fuss fasste. In Norwegen schliesslich machte er sich auf europäischem Parkett einen Namen. Nach dem Meistertitel sorgte er mit Storhamar in der Champions Hockey League für Furore und bestand mit seiner Mannschaftgegen europäische Topmannschaften. Im Frühling 2018 erhielt er die Auszeichnung als Europas Trainer des Jahres. «Wenn ich diesen Titel erhielt, dann nur, weil ich Teil eines Klubs war, der seine Denkart veränderte», sagt Söderström.
Und dann kam er ins unscheinbare Olten.
Den Wunsch, mal in der Schweiz zu arbeiten, hegte er schon als Teenager. Da war jenes Abendessen bei Bengt Ohlson, einem der vielen schwedischen Eishockeylegenden aus Leksand, den alle den «Fisch» nennen, weil er einst mit Schweden die WM-Silbermedaille fischte. Söderström war mit der Tochter des ehemaligen Trainers der Schweizer Nationalmannschaft liiert und bekam im Hause Ohlson Raclette serviert. Sein Interesse an der Schweiz war geweckt.
Rund zweieinhalb Jahrzehnte später steht er im Eisstadion Kleinholz hoch über dem Eisfeld auf der Längsgeraden. Die eingebauten Sitzplätze sind mit riesigen, in den grün-weissen Klubfarben gehaltenen Plastikblachen überzogen. «Oute läbt – Hopp Oute» steht auf einem Banner. Auf dem Eis dreht ein EHCO-Nachwuchsspieler einsam seine Kreise. Als er Söderström erkennt, beginnt er, seine besten Tricks zu zeigen. «Er ist sehr talentiert», sagt der Trainer und schaut freudig hinunter.
So oft die Schweiz und Schweden auf der Welt verwechselt werden mögen, so verschieden nimmt Söderström die Kulturen wahr. Mit den Unterschieden musste er in seiner ersten Saison lernen umzugehen. «Hier spielen die Menschen mit ihrem Herzen offensives Hockey», sagt er. Als sein Bruder vor einem Jahr an Weihnachten zu Besuch war und sich ein Spiel anschaute, sagte er hinterher, das sei das lustigste Hockeyspiel seines Lebens gewesen. Söderström erinnert sich an seinen Start in Olten, er sei völlig erschöpft gewesen, weil im Spiel so viel Unberechenbares geschah. «In Schweden haben wir eine fast sozialistische Struktur, mit hohen Steuern. Wir vertrauen auf das System», sagt er. «Hier sind die Menschen viel mehr auf sich allein gestellt.» Auf das Eishockey übertragen heisst dies: In Schweden erfüllt jeder seine Aufgabe, für die er von klein auf taktisch geschult wird. In der Schweiz verläuft das Spiel weniger in geordneten Bahnen. Söderström sagt:
«Wenn ich versuche, dies zu verändern, dann scheitere ich.»
Dies musste er vor einem Jahr realisieren, als seine Mannschaft zu Saisonbeginn von seinen Ideen überfordert war. In den Dezembertagen, als wir uns zum ersten Mal treffen, scheinen sich die Ereignisse aus dem Vorjahr zu wiederholen. Die Oltner haben bis dahin auf dem Eis oft verunsichert gewirkt. Warum nur? Vielleicht, weil Söderström eben doch nicht ganz lockergelassen hat. Ein Sprichwort besagt: Wenn du einen Fehler zweimal machst, dann ist es eine Entscheidung. Getreu dessen hat er versucht, die schwedische Mentalität reinzubringen, aber dennoch die Schweizer Freiheiten zu berücksichtigen.
Das Vertrauen kehrt zurück.
Wenige Tage nach unserem ersten Treffen spielt Olten daheim gegen den HC Ajoie. Die Jurassier sind die derzeit stärkste Mannschaft der zweithöchsten Liga. Im leeren Stadion bilden die Oltner Spieler auf dem Eis erstmals in dieser Saison eine Einheit, wie sich Söderström dies wohl vorstellt. Wer genau hinschaut, mag ein Stück der schwedischen Denkart erkennen. Da beschränkt sich jeder auf seine Aufgabe, die Räder beginnen, ineinander zu greifen. «Wahrscheinlich habe ich die interessanteste Woche hinter mir, seit ich beim EHC Olten bin», sagt Söderström nach dem Spiel, das Olten in der Verlängerung verliert. «Die feuchten Augen in der Garderobe geben mir Zuversicht, dass die Spieler an unseren Weg glauben.»
Jubel auf der Oltner Bank nach dem Führungstreffer gegen die Jurassier aus der Ajoie, die oft kaum zu bändigen sind.
Weihnachten steht vor der Tür. Normalerweise würden sich über diese Tage die Stadien füllen. Fredrik Söderströms Familie wäre zu Besuch gekommen. Wegen des Virus bleibt er aber für sich. Sein vierjähriger Neffe habe ihm am Telefon gesagt, er sei etwas traurig für ihn, weil er allein sei. Dann habe er angefügt: «Wobei, du hast viele Spieler, mit denen du spielen kannst.» Auf sich allein gestellt zu sein, ist Söderströms Wahl. Er sagt: «Allein bin ich nicht. Das ist ein kleiner, aber entscheidender Unterschied.» Neulich zeigte er dem Sohn von Sportchef und Assistenztrainer Marc Grieder etwas auf seinem Handy. Als dieser sah, dass der Schwede auf Facebook 5000 Freunde hat, war er beeindruckt. «Wie ist das möglich?», fragte er. «Das sind keine Freunde. Das sind Menschen, die mich kennen», erklärte ihm Söderström.
«Ich mag auf den sozialen Medien persönlich sein, aber ich bin nie privat.»
Wenn Söderström in seine Heimatstadt zurückkehrt, fragen ihn die Menschen bis heute im Scherz: «Bist du noch immer so sauber?» Die Geschichte dahinter ist folgende: Während sein Vater Dan Söderström früher auf dem Eis trainierte, ging Fredrik unter die Dusche und genoss 45 Minuten unter dem Wasserstrahl. «Daheim hatten wir nur ein Bad für sechs Personen. Da war immer eine Schwester, die ihre Haare machen musste», sagt Söderström und lacht. Keines der Geschwister verbrachte so viele Stunden in der Garderobe wie Fredrik. In der Strasse, in der er aufwuchs, wohnten die schwedischen Nationalspieler Tür an Tür. Auf den offenen Eisfeldern, die es in Leksand an allen Ecken gibt, lernten Fredrik und auch sein Bruder Johan das Eishockeyspiel und eiferten ihrem Vater nach. Der vier Jahre jüngere Bruder brachte es weiter als Fredrik und feierte mit der Nachwuchsauswahl Erfolge, spielte ein Jahr als Profi in Japan. Er hätte den Durchbruch schaffen können. «Ich liebte das Spiel auf dem Eis, hatte aber nicht die mentale Stärke», sagt Johan Söderström. Und sein Bruder?
«Fredrik liebte das Eishockey, war jedoch zu faul. Aber er spielte sehr klug.»
Das Palmarès ihres Vaters blieb für beide unerreicht.
Vier Mal gewann Dan Söderström mit Leksands IF die schwedische Meisterschaft, drei Mal holte er mit Schweden eine Silbermedaille an den Weltmeisterschaften. Heute hängt sein Trikot unter dem Stadiondach. In normalen Jahren füllt sich das Eisstadion in Leksand mit durchschnittlich 6500 Zuschauerinnen. Und dies in einem Städtchen, das rund 6000 Einwohner hat. Zahlen, die viel über die Strahlkraft der Eishockeyhochburg aussagen. Der Sport gehört hier zum Alltag wie an kaum einem Ort dieser Erde. Leksand ist von Seen umgeben, die im Winter (noch) gefrieren. Das Eis ist ein Spielplatz. Dass der Sohn einer Leksander Eishockeylegende in der Schweiz Trainer ist, interessiert hier jedoch niemanden. «Wir machen kein Drama daraus», sagt Söderström.
Wer weiss, woher Fredrik Söderström kommt, versteht, wenn er heute sagt: «Eishockey ist nicht ein Interesse von mir, es ist ein grösserer Teil meines Lebens.» Als Nerd will er sich nicht verstehen. So schaut er etwa auch nicht mitten in der Nacht Eishockeyspiele der nordamerikanischen NHL, der besten Liga der Welt. Eine Dokumentarsendung über eine Eishockeymannschaft aus Kirkenes am obersten Zipfel Norwegens nahe zur russischen Grenze berührt ihn mehr. Hoch im Norden lässt sich die Mannschaft die Freude am Eishockey nicht nehmen, auch wenn sie «schrecklich schlecht spielt». «Da werde ich emotional. Am Ende geht’s doch immer um die Liebe zum Eishockey.» Ja, Söderström bekennt sich als Eishockeyromantiker. «Zu einem gewissen Grad ist dieser Sport für mich Kunst.»
Fredrik Söderström auf der alten Holzbrücke. Sich mit seiner Umgebung auseinanderzusetzen, ist dem Schweden wichtig.
Aber er darf nicht in einer rosafarbenen Blase hängenbleiben.
«Wir wissen alle, was irgendwann mal die logische Folge ist», sagt Marc Grieder im Dezember, als die Oltner Eishockeyaner mit sich hadern. Das ungeschriebene Gesetz gilt auch hier: Zwischen Sieg und Niederlage gibt es kaum Grauzonen. Stellt sich der Erfolg nicht ein, muss am Ende meist der Trainer dran glauben. Jedoch würde Grieder – in Olten Sportchef und zugleich Assistenztrainer in Personalunion – gerne längerfristig mit dem Schweden zusammenarbeiten. Vor zwei Jahren wurde er auf Fredrik Söderström aufmerksam und reiste nach Norwegen, um ihn kennenzulernen. Olten brach damals aus dem «Rösslispiel» aus, wie Grieder sagt: Statt einen der immer wieder herumgereichten Namen aus der Schweizer Trainerszene zu verpflichten, vertraute er auf den unbekannten Skandinavier. «Er hat eine Empathie gegenüber dem Menschen, wie sie nicht viele haben», sagt Grieder.
Auch Pierre Hagmann war beeindruckt, wie sich Fredrik Söderström vom «gewöhnlichen» Trainer unterscheidet. Der vormalige EHCO-Medienchef lernte Söderström während dessen ersten Monate in Olten kennen. «Fredrik ist, gerade im Vergleich zu anderen Coaches, die ich erlebte, in starkem Mass fähig zur Selbstreflexion.» Söderström ist aber nicht einfach der «nette Schwede». Er selbst sagt zu seiner Rolle: «Ich bin kein Trainer der alten Schule, welcher den ganzen Tag herumschreit und die Spieler wie Tiere behandelt. Das heisst aber nicht, dass ich weich bin.» In seinem Umfeld bestätigen alle, dass er als Trainer vor schonungsloser Kritik nicht zurückscheut. EHCO-Medienchef Stephan Felder sagt:
«Wenn du einen Spieler fragen würdest, ob Fredrik zu hart oder zu weich ist, würde er bestimmt sagen, er sei eher zu hart.»
Trotz aller Hockeyromantik, die er verkörpert, gilt Söderström in seinem Schaffen nämlich als ungemein ambitioniert. «Ich bin ein furchtbarer Verlierer», sagt er. Und sein Bruder Johan pflichtet bei: «Er hasst die Niederlage mehr, als dass er den Gewinn geniesst.» Den Ehrgeiz hat er wohl in den Genen. Papa Dan Söderström entgeht in Leksand kein Resultat Oltens. Am Fernsehen kann er die Spiele seines Sohnes nicht mitverfolgen, weil er zu nervös ist. (Gleiches gilt übrigens für die Spiele von Leksands IF.) Liegt Olten kurz vor Schluss deutlich vorne, ruft Söderströms Mutter ihren Mann herbei. Nach Niederlagen schreibt der Vater gelegentlich eine Nachricht: «Was hast du heute wieder gemacht?» Der Sohn mag dies schlecht leiden. Meist ruft er am Tag darauf zurück, um ihm die Meinung zu sagen. «Dann sagt er mir vielleicht: ‹Machs so und so. Damals gegen die Russen hat dies auch geklappt.›» Und der Sohn pflegt zu erwidern: «Das hilft mir nichts. Der Sport war in den 70er-Jahren ein anderer.» Gewinnt Olten, ist der Vater sein grösster Fan, erzählt Fredrik Söderström und lächelt.
Wenn der Schwede nach einer Niederlage innerlich kocht, nervt er sich ob dem Gefühl des Wahns, der ihn bisweilen ohnmächtig machen kann. Dann stellt er sich die grossen Sinnfragen des Lebens, um die Relationen für sich wieder zurechtzurücken. «Als junger Mann hatte ich viel stärker mit diesem Gefühl zu kämpfen», sagt Söderström.
Die hässliche Fratze des Sports lernte er schon als Bub kennen.
Geld spielte in der Eishockeywelt noch keine Rolle. Dan Söderström ging einer normalen Arbeit nach und vollbrachte daneben auf dem Eis kleine Wunder. «Als ich ein Kind war, klingelte bei uns immer wieder das Telefon. Da war immer derselbe Mann am anderen Ende der Leitung, der anrief und sagte, er werde meinen Vater erschiessen», erinnert sich Fredrik an die 80er-Jahre. Um die Anrufe zurückzuverfolgen, installierte die Polizei im Haus ein Gerät, das doppelt so gross war wie ein einfacher Drucker von heute. Und als Fredrik fünfzehn Jahre alt war, erhielt sein Vater einen Drohbrief. Eine Zeit lang begleitete ein ziviler Polizeiwagen ihn als Vorsichtsmassnahme zur Schule.
Söderström geht heute mit Kritikern auch mal unkonventionell um. Einmal lud er einen Fan auf die Eisbahn in Oskarshamn ein, drückte ihm im Trainerbüro eine Taktiktafel in die Hand und sagte ihm: «Zeig mir, was du machen würdest.» Sein Gegenüber stutzte und verstummte. Das dunkelste Kapitel in Olten erlebte er vor einem Jahr im Playoff-Viertelfinal gegen Langenthal. Nach einer Auswärtsniederlage wartete ein Dutzend Anhänger und drohte der Mannschaft bei ihrer Ankunft. «Denkt ihr, das hilft?», fragte Söderström.
«Eishockey ist eine Meinung, keine Wissenschaft», sagt er. Niemand wird also exakt erklären können, warum Olten auf den Jahreswechsel hin Fahrt aufnimmt und acht Siege aneinanderreiht. Fredrik Söderström findet auch in diesen Momenten Worte. Im Erfolg sei der Trainer vielmals nur noch der Schaffner, der das Ticket prüft. «Wir waren in den letzten Wochen sehr ehrlich miteinander», blickt er zurück. Vieles spiele sich eben doch auf der mentalen Ebene ab. Söderström findet als Meister der bildhaften Sprache auch jetzt eine Metapher: «Wir haben unser hübsches Kostüm abgestreift und die Arbeitskleider angezogen. Wir finden zusehends unsere Identität.»
Irgendwann wird ein neuer Negativstrudel kommen. Und dann fragt die Mutter ihren Sohn am Telefon womöglich wieder einmal:
«Solltest du nicht einen richtigen Job haben?»
Sie weiss sehr wohl, worum es beim Eishockey geht. Und Fredrik Söderström hat sich als junger Mann mit offenen Augen für diesen Beruf entschieden. Er könnte sich vorstellen, eines Tages eine komplett andere Aufgabe wahrzunehmen. Ein Lebensziel hat er: «Wenn ich alt bin, will ich ein herausragender Geschichtenerzähler sein.»
Normalerweise bringt er Menschen zusammen. Wo Mike Zettel ist, ist Popkultur garantiert. Er ist Kopf der Oltner Messe (MIO), brachte das Streetfoodfestival in die Kleinstadt und dieses Jahr wollte er Olten mit einem Adventsdorf weihnächtliche Stimmung einhauchen. In den letzten Jahren verbuchte der in Trimbach aufgewachsene Zettel mit seinen Ideen einen Erfolg nach dem anderen. Auch in der Nachbarschaft machte er auf sich aufmerksam und so berief auch Aarau ihn zum Chef der Messe.
Das Virus bremste den Aufschwung seiner Firma Kein Ding GmbH abrupt. Wenige Tage vor dem Jahreswechsel erreichen wir Mike Zettel per Videoanruf in der Quarantäne. Das Krisenjahr ging nicht spurlos an ihm vorbei. Er, der sonst kaum zu bremsen ist, erzählt: «Einmal sass ich am Abend draussen im Garten und rauchte eine Zigarette, als mir plötzlich und unerwartet die Tränen kamen.» Immerhin einen Freudenmoment erfuhr er auch im 2020. Mike Zettel konnte seine eigene Hochzeit im September feiern. «Es war das einzige Fest und das einzig Gute in diesem Jahr», sagt er lachend. Trotz Existenzängsten liess sich Zettel nicht in die Ecke treiben und nahm sich vor: «Jetzt ist der Zeitpunkt, um vorauszuschauen.»
Kein Ding rüstet sich mit einer neuen Lagerhalle in Rickenbach für die Zeit nach Corona.
Mit Ihrer Firma stehen Sie für die Devise «Wir kommen mit allem klar». Wie sind Sie mit dem vergangenen Jahr umgegangen?
(lacht) Alles war angerichtet. Wir hatten in den letzten Jahren ein kontinuierliches Wachstum. Fürs Jahr 2020 waren die Auftragsbücher voll. Es wäre das Jahr geworden. Ab März wäre es losgegangen. Aber im Februar wurde aus einem vollen ein leerer Kalender. Über das ganze Jahr hinweg konnten wir ungefähr fünf kleine Aufträge erfüllen. Jetzt müssen wir schauen, wie es weitergeht. Die Unsicherheit ist noch gross und fürs 2021 haben wir bisher erst ein paar kleine Anfragen erhalten.
Was bedeutete dieser Einbruch finanziell für Sie?
Wir erzielten einen Jahresumsatz von 13 Prozent gegenüber 2019.Sogar im Gründungsjahr machten wir mehr Umsatz. Wir haben Weihnachtsbeleuchtungen hochhängen können, fürs Gewerbe Olten die grossen Tannenbäume installiert und im Sommer noch zwei kleinere Firmenprojekte sowie ein Sampling durchführen dürfen.
Fühlten Sie sich in den Maschen der Staatshilfe aufgefangen?
Nicht wirklich. Wir haben von unserer Reserve, meinem privaten Geld und einem Überbrückungskredit gelebt. Eine meiner Angestellten arbeitet mittlerweile auch nicht mehr bei uns, weil sie nicht das ganze Jahr hinweg auf Kurzarbeit sein wollte.
«Wir sind eine Dienstleistungsagentur. Ich wollte nicht plötzlich Porzellangeschirr verkaufen.»
Was konnten Sie als Eventveranstalter vom Corona-Jahr lernen?
Nicht viel. Die Lage ist derart unsicher, dass es nichts bringt, vorauszuplanen. Du kannst einen Kundenanlass mit üblicherweise 1000 nicht einfach plötzlich mit 20 Personen durchführen. Zudem lässt sich das Liveerlebnis nicht digital ersetzen. Corona zeigte höchstens, dass man nicht wegen jedem Meeting nach Zürich fahren muss. Auch die vielen Schutzkonzepte, die ich geschrieben habe, waren lehrreich. Eines war über 48 Seiten lang. Umsatteln kam für mich hingegen nicht infrage. Wir sind eine Dienstleistungsagentur. Ich wollte nicht plötzlich Porzellangeschirr verkaufen. Also haben wir die Zeit genutzt, um die Zukunft zu planen. Wenn es wieder losgeht, wollen wir noch effizienter sein. In unserer Branche kommt meist alles zur gleichen Zeit.
Dieses spezielle Jahr stand für Sie auch im Zeichen des Umzugs aus dem zu klein gewordenen Lager in Dulliken nach Rickenbach.
Der Umzug war seit eineinhalb Jahren in Planung und die Umstände boten die Chance, uns am neuen Standort einzurichten und neue Büroräume zu bauen. Nachdem wir anfangs Februar noch sehr viel neues Material gekauft hatten, war der Zeitpunkt ideal, um das Lager neu zu strukturieren. Ich entschied mich auch dazu, in dieser unsicheren Zeit weiter zu investieren. In der schlechtesten Zeit solltest du vorausschauen und Gas geben, obwohl dies es ein grosses Risiko ist. Mit einem Investor habe ich zudem zwei Firmen aufgekauft und eine neue geschaffen.
Eine neue Firma?
Mit Furrer Gerüstbau haben wir die Event Ding AG gegründet. Wir bieten künftig auch Zelte und Festmobiliar an. Das Unternehmen ging aus zwei Lieferanten von mir hervor (Atrio Zeltvermietungen und Clarissa Festmaterial, Anm. d. Red.), die altershalber aufhören wollten. In dieser Situation hätte ich dies ohne einen Partner nicht geschafft.
Sie wären nicht Mike Zettel, wenn Sie nicht trotz Corona bereits neue Visionen hätten. Ihnen schwebte eine Eventhalle vor?
Zunächst hoffe ich, dass im Verlauf von 2021 wieder grössere Anlässe möglich werden. Die Eventhalle ist auf Eis gelegt, auch wenn Olten als Standort dafür ideal wäre. Das Projekt bleibt meine Vision. Olten hat sehr viel Nischenkultur – hier kannst du alles erleben. Popkultur wie ein Streetfoodfestival gibt’s nicht so viel. Hier will ich meinen Beitrag leisten, Olten attraktiver zu machen. Ich habe für die Zukunft zwei weitere Messen und zwei grössere Feste im Kopf…
Was sind Ihre Wünsche für die Zukunft?
Wenn Simonetta Sommaruga im Frühling sagte, «wir lassen Sie nicht im Stich», so stimmt dies für unsere Branche nur bedingt. Zwar erhielten wir ein wenig Unterstützung, aber wir sind jene Branche, die seit Ende Februar stillsteht. Die Kulturbranche nimmt man nicht ernst, weil sie politisch nicht breit abgestützt ist. Ich und alle in dieser Branche hoffen nun auf die Härtefallklausel. Für die Zukunft stelle ich mir schon die Frage, wie wir damit umgehen, wenn eine neue Pandemie kommt. Abgesehen davon erhoffe ich mir, dass wir uns durch das Virus auf die Region zurückbesinnen, das lokale Gewerbe unterstützen und nicht alles online kaufen. Am Ende hilft dies uns allen. Bis die Angst weggeht, wird die Kultur nur langsam wieder Fahrt aufnehmen, aber irgendwann wird’s «chüble».
Noch stehen die Stühle im weiten Saal. Wir treffen die Stadttheater-Direktorin am Freitagmorgen. Mitten in der Adventszeit – auf halbem Weg zu Weihnachten. Gestern waren noch 30 Sitzplätze erlaubt. Heute dürfen es noch 15 sein. «Ich bin ein wenig auf Nadeln», sagt Edith Scott im verlassenen Stadttheater. Wenige Stunden danach wird die Anspannung weg sein. Der Bundesrat verbietet Veranstaltungen. Auch die «Kulturtupfer», welche die Stadttheater-Direktorin ins Leben rief, verblassen wieder. Die Kultur gehört zu jenen Branchen, die sich monatlich, wenn nicht gar wöchentlich einer neuen Ordnung anpassen mussten. «Wir haben dieses Jahr gemerkt, dass wir keine Lobby haben», sagt Edith Scott und beginnt für die Fotokulisse die Zahl der Stühle zu halbieren. Das triste Bild entspricht nicht ihrem Seelenzustand. Sie sei «Optimistin», sagt die 32-Jährige im Gespräch immer wieder. Daran wird auch der neuerliche Lockdown für die Kultur nichts ändern.
Was bleibt, wenn Sie auf das bald vergangene Jahr zurückblicken?
Zum einen eine gewisse Sicherheit. Ich weiss, wie es um unser Haus steht. Auch wenn es keine einfache Zeit war, haben wir stark gespürt, dass wir vom Kanton, von der Stadt, von unserem Publikum und unseren Sponsorinnen getragen werden. Ich erfuhr ein sehr grosses Verständnis für die Situation und das gab mir Rückenwind. Zum anderen ist da eine andere Gefühlslage, die ich nicht auf das ganze Jahr pauschalisieren will: Langsam ist die Luft draussen. Mir kommt dabei ein Softball in den Sinn, den du zusammendrücken kannst. Bis jetzt hat er sich immer wieder mit Luft aufgesogen. Aber langsam spüre ich, wie er flach bleibt.
«Wir politisieren nicht, sondern ermöglichen Kultur. Manchmal mussten natürlich auch wir auf die Zähne beissen.»
Was war für Sie die schönste Rückmeldung in diesem Jahr?
Wir hören immer wieder von den Kunden, dass sie es nicht erwarten können, ins Stadttheater zurückzukehren. Dies haben wir mit den Kulturtupfern erfahren dürfen. Wir haben bei Null angefangen und es tat gut, zu sehen, wie schnell die Abende ausverkauft waren. Wir spürten, dass ein Drang existiert, Kultur zu erleben.
Die Positionen zwischen den Corona-«Alarmisten» und den «Verharmloserinnen» sind vielfältig. Wie gehen Sie als Vorsteherin des Stadttheaters mit diesem Spannungsfeld um?
Wir sind von der Stadt unterstützt und treten als eine der grösseren Kulturinstitutionen der Region auf, was mit einer Verantwortung gegen aussen einhergeht. Mir ist wichtig, dass wir nicht auf den Tisch klopfen. Meine Verantwortung sehe ich darin, dass wir agieren, solange es geht, und Kultur im erlaubten Rahmen bieten. Egal, ob für 30 oder für 400 Personen. Wir politisieren nicht, sondern ermöglichen Kultur. Manchmal mussten natürlich auch wir auf die Zähne beissen. Es gab viele Widersprüchlichkeiten in den Verordnungen. Sobald die Politik neue Massnahmen kommuniziert, protestieren etliche Verbände. Ich finde aber, nun müssen alle die Entscheide mittragen.
Das Stadttheater ist dank Leistungsvereinbarung mit der Stadt halb institutionell. Trotzdem: Wünschten Sie sich für die Kultur eine stärkere Lobby?
Das Problem der Kulturszene ist ihre Heterogenität. Sie reicht vom malenden Künstler, über den Sänger, die Orchestermusikerin hin zum Veranstaltungstechniker. Jede Kunstform hat wieder eigene Bedürfnisse und diese müssten alle darin abgebildet sein. Das ist unmöglich. Als Institution hatten wir im Coronajahr das Glück, unterstützt zu werden. Jedoch gelangen die Gelder kaum bis zur einzelnen freischaffenden Künstlerin.
Was bedeutet die unsichere Zukunft für das Stadttheater?
Uns bleibt nichts anderes übrig, als auf die jeweils geltenden Bestimmungen zu reagieren. Wir wollen bereit sein, um möglichst schnell wieder Kultur anzubieten, wie uns dies mit den Kulturtupfern gelang. Es geht um unsere Kunden, um unser Haus, aber auch um die Künstlerinnen. Schauspielerinnen und Musiker brauchen die Plattformen. Auch wenn es an die Substanz geht. Jedes Mal, wenn wir was Neues versuchen, dauerts einen Monat an. Kurz darauf folgt der Dämpfer.
Die bedrückte Lage bleibt wohl. Die Säle im Stadttheater dürften sich auch im Jahr 2021 nicht füllen.
Ich bin generell Optimistin und hoffe schon, dass wir ab Frühling wieder unser Programm zeigen können. Dies bedingt, dass wir gegen 200 Personen einlassen können. Das gäbe uns eine Perspektive.
Welche Erkenntnisse hat Ihnen Corona gebracht?
Wir sind ein Gastspielhaus ohne festangestellte Künstlerinnen, was Fluch und Segen ist. Wir müssen keine Festangestellten durch diese Zeit tragen. Aber die Identifikation mit unserem Haus geschieht über die Institution. Wenn unser Publikum den Künstler dahinter sieht, setzt es sich viel intensiver mit dem Stadttheater auseinander. Zudem könnten wir mit festem Ensemble viel schneller Dinge aufziehen und kreativer sein. Wenn bei uns die Türen zubleiben müssen, kann ich dem Publikum nichts bieten. In Zukunft lässt sich dies nicht ändern.
Wäre dies eine Wunschvision von Ihnen?
Nein, dafür wären wir der falsche Ort und das falsche Haus. Wir sind nicht hierfür ausgestattet. Ich habe immer bei bestehenden Formationen gearbeitet und hatte wohl darum dieses proaktive Denken verinnerlicht. Nun muss ich mir Gedanken machen, was wir während der Schliessung dennoch tun können, damit uns das Publikum nicht vergisst.
Wo zeigt sich aus Ihrer Perspektive als Stadttheater-Direktorin die Relevanz der Kultur?
Die Kultur formt unsere Gesellschaft und die Kunst ist ein Teil davon. Ohne Kultur gingen viele Werte unserer Gesellschaft verloren. Die digitalen Alternativen sind nicht zukunftsfähig. Niemand sitzt zwei Mal pro Woche für eine Oper zweieinhalb Stunden vor den Fernseher. Auch das Cüpli vor dem Liveerlebnis mit der Nachbarin oder dem Jugendfreund ist wichtig. Der gesellschaftliche Aspekt, den kulturelle Erlebnisse mit sich bringen, kann man nicht negieren.
Ihr erstes Jahr stand unter schweren Vorzeichen. Wie gingen Sie emotional damit um?
Nicht schlecht, im Wissen, dass die Situation nicht mir geschuldet ist. Das Haus hat gelitten. Meine Arbeitswelt ist davon tangiert. Natürlich schmerzt es, kaum Kultur erleben zu dürfen. Aber der selbstständige Kulturschaffende ist viel stärker betroffen als ich. Corona hat für mich zu sowas wie einer Tabula rasa geführt. Ich kann bei der zukünftigen Planung und Realisierung von Ideen unmittelbar beurteilen, was mein Agieren innerhalb der Institution bewirkt. Dies sehe ich auch als Chance, um das Haus ans Ziel zu führen.
Was wäre Ihr Ziel?
Es sind kleine Schritte. Dinge, die ich ausprobieren will. Sei es die Aufführung von gewagten Werken wie die Uraufführung einer Oper, die wir für das nächste Jahr angedacht haben – oder vielleicht die Einführung von kleineren Formaten, angeknüpft an die Kulturtupfer.
Die Kleinstadt ist sein Ding. Hier behält er die Übersicht. Hier kann er die urbane Entwicklung direkt beeinflussen. Als Stadtbaumeister steht Kurt Schneider selten im Rampenlicht und doch ist er einer der gefragtesten Köpfe im Stadthaus. Gerade in diesen Zeiten, in welchen der Bau trotz Virus ungebremst boomt und auch die Stadt selbst viele Projekte vorantreibt, die das Stadtbild nachhaltig verändern werden. Auch darum spricht Schneider von einer «intensiven Zeit», wenn er auf seine drei ersten Amtsjahre zurückblickt.
Was in Zürich, Basel oder Bern bewegt, bewegt auch in Olten. «Uns beschäftigen hier die gleichen Themen – vielleicht kommen die Herausforderungen etwas später», sagt Kurt Schneider. Vom siebten Stock im Stadthaus aus lenkt der Aargauer die Oltner Bauverwaltung. «Ich kann nicht verstehen, warum das Stadthaus manchmal als Schandfleck gilt», sagt Schneider und schaut von der Stadthausterrasse dem charakterlich einzigartigen Bau aus der Nachkriegszeit hoch. Der Stadtbaumeister hat eine klare Haltung, wie sich Olten zu einem noch lebenswerteren Ort entwickeln soll. Und er scheut auch nicht davor zurück, seine Sichtweise preiszugeben.
Vor zweieinhalb Jahren kamen Sie aus Aarau nach Olten. Was würden Sie sich für die Stadt Olten wünschen?
Kurt Schneider: Mehr Selbstverständnis und Konsequenz. Wem bewusst ist, dass unsere Lebensumgebung etwas Wertvolles ist, der geht mit einer gewissen Sorgfalt vor. Dann erkennt man, dass eine Projektentwicklung nicht möglichst schnell und möglichst billig sein muss, sondern einen möglichst hohen Nutzen stiften muss. Wir haben eine grosse Vielfalt an städtischen Projekten. Ich würde mir manchmal wünschen, dass die Stadt sich etwas mehr fokussiert. Wer viel Energie in ein Projekt steckt, will dieses auch mit einer gewissen Ernsthaftigkeit bis zum Ende durchziehen.
Ob es den Fokus gibt, entscheidet die Politik.
Wir stecken ein wenig in diesem Dilemma: Vielfalt der Menschen heisst auch eine Vielfalt an Bedürfnissen. Das ist aber schwierig, da wir eine beschränkte Anzahl an Ressourcen haben. Darum würde ich mir mehr Konsens, Klarheit und direktere Wege wünschen.
«Wer etwas verändern will, muss das Ziel vor Augen haben und konsequent sein.»
Sie kamen in eine gemachte Stadt mit ihrer Vorgeschichte. Wie gingen Sie damit um?
Für mich ist eine Stadt nie fertig. Als Stadtbaumeister begleitest du immer nur einen zeitlichen Abschnitt. Es ist ein Job, den du nicht mit einer Perspektive von drei bis fünf Jahren machen solltest. Sonst siehst du nicht, was dabei rauskommt. Nun beginnen wir mit der Ortsplanung der Stadt und dabei steht die Frage im Raum: Wohin soll die Stadt? Um eine Antwort zu finden, müssen wir die Stadtnutzerinnen zuerst abholen. Wir müssen entscheiden, welche Qualitäten wir behalten wollen. Also Orte, die wir lassen, wie sie sind. Und wir müssen herausfinden, wo die dynamischen Orte für neue Nutzungen und neue Infrastrukturen sind. Wer etwas verändern will, muss das Ziel vor Augen haben, die Stakeholder miteinbeziehen und konsequent sein. Schwenken die Beteiligten ein, entsteht etwas Neues. Das ist der magische Moment.
Ihre eigenen Projekte steuert die Stadt. Wie kann die Stadt aber private Projekte nach ihren Vorstellungen beeinflussen?
Private Investitionen beeinflussen immer den öffentlichen Raum und damit das Lebensumfeld. Das Areal Bahnhof Nord ist ein gutes Beispiel: Die Überbauung ist nicht bloss ein privates Projekt. Grossflächig entsteht ein neuer öffentlicher Raum, den wir mitgestalten sollten. Der Blick der Investoren ist selten auf das Gemeinwohl fokussiert. Im Kolt wurde die Frage zum Kunstmuseum neu aufgeworfen, wobei die Diskussion in meiner Wahrnehmung bereits lange geführt wurde. Dies zeigt sich auch im heutigen Kunstmuseum, das durch das Warten auf einen Konsens beinahe am Zerfallen ist. Die Stadt muss, wie private Eigentümerinnen auch, ihre Liegenschaften unterhalten, um nicht plötzlich vor der Situation zu stehen, dass der eigentliche Nutzen verloren geht. Das ist wieder eine Frage der Konsequenz. Wenn ich ein Kunstmuseum will, stelle ich auch die angemessene Infrastruktur zur Verfügung.
Unsere Debatte wollte primär die Frage aufwerfen: Welche Art von Kunstvermittlung macht in Olten Sinn?
Bei einem Museum kann die Architektur unterstützend wirken: Für mich muss ein Museum grosszügige und neutrale Räume mit guten Proportionen bieten, die eine grosse Flexibilität erlauben. Die Basis scheint mir an der Kirchgasse 10 gegeben. Als ehemaliges Schulhaus hat der Bau viele Qualitäten. Der Umbau zur Zwischennutzung für das Fotofestival (IFPO) zeigt, dass sich das Haus als Ausstellungsraum vorzüglich eignet. Im Eingangsbereich steht ein freigelegter Eichenbalken. Der Bau steht auf gutem Fundament.
Sie bringen eine Aussensicht mit. Was braucht Olten projektspezifisch aus Ihrer Sicht?
Wenn ich meinen Blick auf das nächste Jahr fokussiere, erhoffe ich mir einen guten Entscheidungsprozess für das neue Schulhaus im Kleinholz. Ich wünsche mir eine inhaltliche Diskussion. Wir haben mit den Projektpartnern ein sorgfältiges Projekt ausgearbeitet und befinden uns in einem vorbildlichen Prozess mit den Nutzerinnen. Ein weiterer Wunsch betrifft den Umgang mit den Mitarbeitern in der Stadtverwaltung. Sie hätten mehr Wertschätzung verdient. Unter den gegebenen Bedingungen erreichen wir sehr gute Resultate.
Sie kamen aus Aarau, waren dort Leiter einer Stadtentwicklungsabteilung, wie sie sich Olten nur träumen kann. Wie macht sich dieser Ressourcenunterschied auf der Oltner Bauverwaltung bemerkbar?
Heute konzentriert sich eine sehr grosse Verantwortung auf ganz wenig Köpfe. So haben wir zum Beispiel 130 Liegenschaften mit einem Wert von ungefähr 330 Millionen Franken. Für deren Unterhalt und Entwicklung setzen wir zwei Personen ein. In Aarau sind für ein vergleichbares Portfolio sieben Personen beschäftigt. Das gleiche Schema zieht sich auch bei den Baubewilligungen durch. Da verfügt die Stadt über 150 Stellenprozente – ein Bruchteil von Aarau oder Solothurn. Dabei ist bei der Baugesetzgebung die Autonomie der Gemeinden im Kanton Solothurn grösser als im Aargau. In diesem Jahr stellen wir ein Viertel mehr Baubewilligungen als üblich aus und bearbeiten über 200 Baugesuche. Darunter sind auch komplexe wie die beiden Hochhäuser am Bahnhof Nord mit Investitionsvolumen zwischen 60 und 80 Millionen Franken. Da stellen sich Fragen zum öffentlichen Raum, zur Energieerzeugung oder gar zu neuen Erschliessungen. Da besteht eigentlich ein Interesse der Bevölkerung, dass die Stadt mit einer gewissen Sorgfalt vorgeht.
Haben Sie kein Signal an den Stadtrat gesandt, dass die Bauverwaltung mehr Stellen bräuchte?
Sowohl Stadtrat wie auch Gemeindeparlament hatten die Situation erkannt und einer zusätzlichen Stelle für das Hochbauamt zugestimmt. Diese wurde dann aber durch ein Referendum erfolgreich bekämpft (durch Rolf Sommer, Anm. der Red.).
«Wir als Stadt sind auch Investorin, aber wir behalten unseren Bau bis ans Ende des Lebenszyklus.»
Wäre auch denkbar, für spezifische Projekte wie einen Bahnhofsplatz externe Fachpersonen beizuziehen?
Das machen wir bereits. Alleine die Betreuung vom Schulhaus Kleinholz absorbiert eine Stelle. Externe Anbieter sind jedoch teurer. Zudem kann nur ein Stadtangestellter die spezifischen Anliegen der Stadt hineinbringen, da sein Job davon abhängt und er mit den Konsequenzen von Fehlentscheiden leben muss. Externe Fachpersonen sind nach beendetem Auftrag wieder weg.
Kann denn eine Kleinstadt wie Olten begehrte Fachleute anlocken?
Eben haben wir für eine Vakanz in der Bauleitung eine ausgewiesene Fachperson aus Olten finden können. Aber es hat viel Aufwand gekostet. Die Baubranche boomt und zahlt gute Löhne. Entsprechend sind Fachleute gesucht.
Laufen wir im anhaltenden Bauboom Gefahr, in einen Rausch zu kommen und Bauprojekte nicht mehr richtig zu hinterfragen?
Die Situation ist höchst komplex: Der Immobilienmarkt ist übersteuert, weil viel zu viel billiges Geld vorhanden ist. Die Lage wird sich erst wieder normalisieren, wenn die Notenbankpresse wieder ein paar Gänge zurückschaltet. Vorher wird dies nicht der Fall sein, da Immobilien einen sicheren Wert darstellen. Es gibt Investitionsmodelle, bei welchen es für institutionelle Investoren keine Rolle spielt, wenn eine Immobilie mal drei Jahre leer steht. Hauptsache, sie haben das Geld versorgt und müssen keine Negativzinsen bezahlen. Aber es gibt nicht den Investor. Wir als Stadt sind auch Investorin, aber wir behalten unseren Bau bis ans Ende des Lebenszyklus. Als solche haben wir ein ganz anderes Interesse in die Sorgfalt und die entsprechenden Materialien.
«Im Bahnhof Nord muss uns bewusst sein: Dies wird die Eingangstüre in ein Areal, in welchem früher produziert wurde.»
Wie ist im schnelllebigen Umfeld das Verhältnis mit den privaten Investorinnen?
Selbstverständlich pflegen wir eine Zusammenarbeit und einen Austausch. Aber es gibt widersprüchliche Interessen. Ein Investor hat in der Regel ein Interesse daran, etwas möglichst schnell zu realisieren und den erlaubten Rahmen etwas auszudehnen. Eine Stadt muss daher auch manchmal Stopp sagen. Wir fordern gewisse Qualitäten ein.
Wie findet die Stadt heraus, ob ein Projekt die gewünschte Qualität aufweist und wann noch Entwicklungsbedarf besteht?
Grössere Objekte, die städtebaulich relevant sind, versuchen wir einem Prozess zu unterwerfen. Sei es ein Architekturwettbewerb oder ein Studienauftrag. Das war beim Schulhaus im Kleinholz und auch den Arealen Bahnhof Nord und Turuvani so. Dies mit Privaten zu erreichen, ist oft schwierig. Investoren argumentieren: «Ich habe meinen Architekten, alles andere kostet mich Geld und Aufwand.» Im Bahnhof Nord muss uns bewusst sein: Dies wird die Eingangstüre in ein Areal, in welchem früher produziert wurde. Wir müssen eine Aufenthaltsqualität für die neue Nutzung erzeugen.
Nein, in diesem Fall nicht. Für einen Gestaltungsplan ändern wir die Grundordnung. Wir geben dem Investor mehr Ausnützung der Fläche, wollen aber einen Gegenwert für die Stadt. Meist geht es um die Erscheinung des Aussenraums, ein effizientes Energiekonzept oder um eine bessere Erschliessung für den Langsamverkehr. Dabei müssen wir betroffene Parteien einbeziehen. Partizipative Prozesse bedingen viel Zeit. Beim Turuvani-Areal war die Anzahl der Parkplätze ein Thema, da die Quartierbewohner eine deutliche Verkehrszunahme befürchteten. Wir fanden eine gute Lösung mit dem Investor (Bernasconi, Anm. der Red.). Er reduzierte wegen der Bahnhofsnähe die Zahl der Parkplätze deutlich. Trotzdem benötigt es ein Mobilitätskonzept. An dieser zentralen Lage eignen sich beispielsweise gut zugängliche Veloabstellplätze und ein Car-Sharing-Modell. Ein solcher Austausch bringt immer einen Mehrwert, er bedingt einen beidseitigen Willen.
Die Mitbestimmung ist für Investoren ein weiterer Bremsklotz: Der Aarauer Architekt Peter Frei forderte, die Politik müsse die Einsprachemechanismen überdenken. Der Beschwerdeweg werte Projekte qualitativ meist nicht auf. Wie stehen Sie zu dieser Aussage?
Das Baurecht wahrt bewusst Eigeninteressen. Manchmal sind Investoren auch plötzlich einsprachefreudige Nachbarn. Die Situation hat sich in den letzten Jahren durch die gesellschaftliche Entwicklung mit ihrer Individualisierung verschärft. Einsprache ist immer Eigennutz. Da will ich was für mich erreichen, auch wenn manchmal vorgeschoben eine allgemeine Thematik ausgegeben wird. Das muss aber auch so sein. Schön wäre, wenn daraus am Tisch eine konstruktive Diskussion entstünde und sich schnellere Lösungen ohne Einbezug der Justiz ergäben.
Besteht Gefahr, dass die «Kleinen» im Schatten der grossen Projekte zu kurz kommen? Bei Oltner Architekten ist bisweilen ein Unmut gegenüber der Bauverwaltung zu spüren.
Den Austausch mit Architekten war ich mir in Aarau anders gewohnt. Wir trafen uns regelmässig zum fachlichen Austausch und schauten, wo die Probleme liegen und wie wir sie lösen können. In Olten spür ich ein gewisses Misstrauen. Ein Architekt ist eine Fachperson und Berater des Bauherrn. In dieser Rolle muss er auch transparent über Rahmenbedingungen informieren, die unbeliebt sein können. Es gilt noch zu oft: «Wir geben die Pläne einfach mal ein, soll das Bauinspektorat sagen, dass es nicht geht.» Manchmal habe ich das Gefühl, wir werden auch nicht ganz ernst genommen.
Hier sind wir beim Ressourcenproblem. Wer mit wenigen Menschen so viele Dinge bewältigt, muss Abkürzungen nehmen und effiziente Prozesse gestalten. Darunter leidet die Kundenbetreuung. Bei so vielen Baugesuchen müssen wir auch die Prozesse so weit automatisieren, dass dies gegen aussen sicher formalistisch wirkt.
«Heute hat man das Gefühl, ein Ufo ist in einer Kiesgrube gelandet und kann jederzeit davonfliegen.»
Nochmal zum Fokus, den Sie sich für die Stadtentwicklung wünschen würden. Hatte die Stadt die Kontrolle über das Stadtbild ein Stück weit verloren?
Wir können nur die zukünftige Stadt gestalten. Hier ist von zentraler Bedeutung, was man bereit ist zu investieren. Damit ist nicht nur Geld gemeint, sondern auch Zeit, Gedanken und Engagement. In Olten Südwest müssen wir mit einem Gebiet umgehen lernen, das bebaut wurde, ohne wirklich Bestandteil der Stadt zu sein. Das ist eine schwierige Situation für die Menschen vor Ort und auch für das Investment. Mit dem Zementi-Projekt hat die Stadt nun zumindest einen kleinen Farbtupfer gesetzt. Das ist viel mehr als ein Schulhausprovisorium. Es zeigt: hier ist ein Quartier von Olten. Mit der Stadtteilverbindung sind wir auf gutem Weg. 22 Hektaren lassen sich erst entwickeln, wenn sieangemessen an die Stadt angebunden sind. Wir haben eine Möglichkeit geschaffen, die Hammer-Unterführung stadtverträglich zu finanzieren. Es war ein unkonventioneller Weg, aber er ist eine grosse Chance.
Sie sprechen die Umzonung der Industrie- in die Bauzone an. Die Stadt erhält vom Investor für den geschaffenen Mehrwert rund 16 Millionen. Hinzu kommen 3 Millionen aus dem Agglomerationsprogramm. Hätte die Stadt nicht auch ohne Umzonung mehr rausholen können beim Investor?
Die Stadt hat im vorhandenen Zustand das Maximum herausgeholt. Wir haben ein Interesse, die Einwohnerinnen von Olten Südwest an die Stadt Olten einzubinden. Heute hat man das Gefühl, ein Ufo ist in einer Kiesgrube gelandet und kann jederzeit davonfliegen. Bereits jetzt haben wir in Olten Südwest 400 Wohnungen, in welchen theoretisch 800 Menschen leben würden. Sie würden der Stadt auch Energie bringen, die wir nutzen sollten. Der Mehrnutzen für Olten ist, dass der Investor den Mehrwert der Umzonung bereits heute bezahlt, wo die Stadt den Betrag auch sinnvoll einsetzen kann. Rechtlich müsste er diesen erst bezahlen, wenn er auf dem westlichen Arealteil baut. Das kann noch gut zwanzig bis dreissig Jahre dauern.
«Wir haben mit der Badi eine einmalige Oase mitten in der Stadt. Nicht viele Städte haben diese Qualität.»
Fachhochschulstudenten aus Rapperswil kamen in ihren Abschlussarbeiten zum Ergebnis, dass man dieses Areal womöglich gar nie gänzlich nutzen wird. Drohen Rückzonungen?
Olten Südwest ist eine langfristige Reserve für die Stadtentwicklung. Eine Auszonung wäre eine teure Option für die Stadt. Die Arbeiten der Hochschule Rapperswil beinhalten sehr gute Anstösse für die räumliche Entwicklung von Olten, sie bilden aber nicht den Kontext ab, der für solche Entscheide erforderlich ist.
Ist die Reserve mit weitem Zeithorizont zulässig? Nach neuem Raumplanungsgesetz dürfen Bauzonen nur den Bedarf für fünfzehn Jahre decken.
Es geht beim Areal Olten Südwest nicht um eine Einzonung, sondern eine Umzonung von der Industrie- in die Wohnzone. Die Stadt hat kein Interesse, an diesem Standort Industrie anzusiedeln. Der Kanton hat die rechtliche Zulässigkeit der Umzonung in der Vorprüfung festgestellt.
Abgesehen von Olten Südwest, fehlte in unserer Kleinstadt eine übergeordnete Stadtplanung?
Olten bietet noch immer viele Chancen. Auch das Areal Olten Südwest kann eine bessere Zukunft erhalten. Dazu braucht Olten in erster Linie eine Stadtteilverbindung beim Bahnhof Hammer. Wenn ich mir die Schützi anschaue, sehe ich ein gewaltiges Potenzial. Für die Naherholung, aber auch für zeitgemässen Wohnraum und stadtnahe Arbeitsplätze. Weil das Areal der Stadt gehört, haben wir grossen Einfluss. Aber das bedeutet zunächst mal, ein wenig Grips und Zeit zu investieren, einen klaren Willen haben und diesen konsequent umzusetzen. Wir haben mit der Badi eine einmalige Oase mitten in der Stadt. Nicht viele Städte haben diese Qualität.
Die hohen Stangen sind der unüberschaubare Indikator für den Zustand der Baubranche. In Olten gingen die Bauprofile in den letzten Jahren in der Tendenz immer höher hinaus. Oft biegen sich die Stangen im Wind, während die Winter- und auch die Sommermonate vorbeiziehen, und stehen im Folgejahr noch immer da.
Auf der Stadtachse von West bis Ost sind erste grosse Projekte entstanden, andere befinden sich im Planungsprozess. Investoren sehen den Gang durch die behördlichen Instanzen vielmals für zermürbend an. Vom Zonen- über den Gestaltungsplan hin zum Baugesuch ist der Weg ein langer. Dazu kommt, dass die Beschwerden und Einsprachen zum treuen Begleiter der Verfahren geworden sind. Der Druck auf die Bauverwaltung steigt und sie gerät in Stadtgesprächen gerne ins Visier der Kritik. Hemmt sie die Entwicklung der Stadt, indem sie Investoren zu hohe Hürden legt? Eine Tour d’Horizon in sechs Kapiteln.
Blick aus Olten Südwest. Die Bauprofile zum neuen Gestaltungsplan im Sonnenuntergang an einem kalten Novemberabend.
I. Das kleinstädtische Umfeld
Architektinnen, Bauherren und Baukommission fliessen in einer Stadt wie Olten zusammen, tauschen sich beim Kaffee aus. Viele sind miteinander per Du. Einer, der hinter die Kulissen blickt, ist Rolf Furrer. «Bauen ist eine Beziehungsbranche», sagt er.
Dies liest sich auch an seiner Vita ab, die jahrzehntelang von mehreren Rollen geprägt war. Vom Lehrling stieg Rolf Furrer in einer langjährigen Karriere zum Geschäftsführer der Meier AG auf, war Chef von 150 Mitarbeiterinnen. Daneben engagierte er sich in städtischen Institutionen: Erst sass der «Baufritz», wie er sich selbst ironisch nannte, für die Freisinnigen im Gemeinderat. Nach gut eineinhalb Jahrzehnten Parlament begann Furrers Laufbahn in der Baukommission. Er präsidierte die Instanz, die sämtliche Baugesuche über ihren Tisch sehen geht, fünfzehn Jahre lang. Auch wenn Furrer nun einen Schritt zurück gemacht hat, hat der Bau ihn selbst im Pensionsalter nicht losgelassen. Er ist noch immer nah dran, hat alle grossen Entwicklungen im Blick.
Olten als Standort werde künftig an Wert gewinnen, ist Furrer überzeugt. Die horrenden Immobilienpreise werden Firmen aus den Deutschschweizer Grossstädten künftig verstärkt in die gut erschlossenen Agglomerationsstädte wie Olten drängen, glaubt er. Vieles befindet sich in den Startlöchern. «Olten Südwest, Bahnhof Nord, Sälipark, Bornfeld und Kleinholz», zählt Furrer die für ihn zentralen fünf Projekte auf. In Kombination mit dem geplanten Fuss- und Velosteg, direkt vom Bahnhof nahe an die Innenstadt ran, werde sich die Wahrnehmung Oltens verändern. «Die Achse vom Bahnhof über die Innenstadt zum Hammer kann so neu wachsen.»
«Die Achse vom Bahnhof über die Innenstadt zum Hammer kann so neu wachsen.»
Rolf Furrer
Furrers Leben spielt im Oltner Bau-Kuchen. Die heisse Frage drängt sich auf: «Wie lässt sich die Integrität sicherstellen, wenn jeder jeden kennt?» Seine Antwort: «Es braucht ausgeprägte Disziplin. Als ich Baupräsident war, bekam ich aber eher weniger Aufträge von der Stadt.» Die Interessenskonflikte will er nicht wegdiskutieren. Als Baukommissionspräsident habe er sich daher immer um rechtsgleiche Behandlung aller bemüht.
Heute ist Rolf Furrer als selbstständiger Bauherrenberater tätig. Mit Maske sitzt er in seinem Büro in einem Glasgebäude ausgangs Olten. Das Tor zur Entlastungsstrasse am Rand zu Wangen ist eines der grossen Entwicklungsgebiete der Stadt.
Ein innovatives Projekt, das dem Zeitgeist entspricht: Der Gewerbebau im Altmattpark wird energieautark betrieben.
II. Die Grossen mit Oltner Wurzeln
Südlich der neuen Strasse und der Eisenbahn türmen sich auf einem Areal, mindestens so gross wie ein Fussballfeld, Kranelemente und andere Baumaschinen der Stirnimann AG. Das Oltner Unternehmen mit über hundertjähriger Geschichte hat vor neun Jahren den Bereich der Baumaschinen und die Immobiliensparte in separate Aktiengesellschaften aufgeteilt und ist gleichwohl seinen Wurzeln treu geblieben. Direkt nördlich des Baumaschinenareals investiert die Schwesterfirma der Stirnimann kräftig in den Altmattpark. Ein Projekt, das für modernen, urbanen Bau steht: Wohnen und Gewerbe sollten sich in den sechsstöckigen Gebäuden auf engem Raum mischen.
Zunächst bleibt der Altmattpark aber ein Gewerbezentrum, in welchem verschiedenste Firmen aufeinandertreffen. «Ursprünglich wollten wir den Wohnbauvorziehen», sagt Stefan Holschbach, Geschäftsführer der Stirag Immobilien AG. Weil der Wohnungsmarkt in Olten ein wenig überhitzt sei, änderte die Investorin ihre Pläne. «Wir haben nicht den Luxus zu sagen, wir bauen auch, wenn zwanzig Prozent der Wohnungen leer stehen», sagt Holschbach. Also begann die Stirag mit dem Gewerbekomplex und sanierte das ehemalige Bürogebäude der Stirnimann. Nachhaltig sollte der Neubau sein. Entstanden ist ein Holzhybridbau aus Fichten- und Buchenholz. Erdsonden und Solarzellen statt fossiler Brennstoffe sichern die Energieversorgung. «Wir wollen mit den Solarzellen auf dem Südareal und dem Altmattpark energieautark werden», erzählt der Geschäftsführer am Telefon.
«Die Stadt hat uns bei vielem unterstützt, aber bei einigen Dingen dauerts etwas länger.»
Stefan Holschbach, Stirag Immobilien AG
Der Geschäftsmann kam vor neun Jahren aus Berlin in die Schweiz und wohnt im Luzernischen. Mit unverbrauchtem Blick beobachtet Stefan Holschbach, wie sich die Stadt entwickelt. Fasziniert ist er von der gastronomischen Szene und auch das Fotofestival (IPFO) findet er bemerkenswert. Nur: «Olten wird nicht wirklich wahrgenommen. Auch von den Studenten nicht», bedauert Holschbach. Obwohl Olten sich Bildungsstadt nennt, finde das studentische Leben nicht statt.
Auch er nutzt das Wort «Potenzial». Ein Prädikat, das immer wieder mit Olten verbunden wird. Nicht nur historisch bedingt vertraue die Stirag Immobilien AG auf den Oltner Standort, meint Holschbach. Gar weiter expandieren ist denkbar: «Wir gucken immer mit offenem Auge, ob es in der Umgebung was zu erwerben gibt.» Vorstellbar sei für die Immobilienfirma, das energieautarke Quartier rund um den Altmattpark auszudehnen. «Wir fühlen uns hier wesentlich wohler als beispielsweise in Zürich.»
Ein Wandel kündigt sich auch in unmittelbarer Nachbarschaft an: Die Swiss Prime Site Immobilien AG plant um das denkmalgeschützte Gebäude auf dem Usego-Areal eine grossangelegte Überbauung. Der schweizweit tätige Immobiliengigant mit Hauptsitz in Olten stiess mit seinem Projekt auf Widerstand und sah sich im Gestaltungsplanverfahren mit Beschwerden konfrontiert.
Die bei Investoren unbeliebte Mitbestimmung gehört zum demokratischen Grundgedanken der Schweiz und führt oftmals dazu, dass sich Planungsprozesse hinziehen. Dabei müssen sich Bauherrinnen sonst schon in Geduld üben: Bis ein Gestaltungsplan steht, verstreichen oft ein bis zwei Jahre. Viele Augen überprüfen auf Gemeinde- und Kantonsebene, ob alles rechtens ist.
Für den Altmattpark-Gestaltungsplan zogen von der ersten Skizze bis zur Umsetzung sogar elf Jahre ins Land, rekapituliert Stefan Holschbach. «Das ist eine lange, lange Zeit», sagt er. «Die Stadt hat uns bei vielem unterstützt, aber bei einigen Dingen dauerts etwas länger.» Nach einem langwierigen Gestaltungsplanprozess ging es bis zur Baubewilligung schneller.
III. Eine Frage der Ressourcen?
Rolf Furrer ist nicht nur Bindeglied zu den Investoren, er kennt auch die Verhältnisse im Oltner Bauwesen. Er muss es also wissen: Macht Olten den Investoren mit langwierigen Prozessen das Leben schwer? «Ich bin nicht dieser Meinung», sagt er. Seine Antwort kommt nicht unerwartet, hat er doch ein Interesse daran, dass Investoren in Olten bauen. Seine Begründung ist eine andere: «Die Stadt ist kritisch und das muss sie auch sein», sagt Furrer. Das Stadtbauamt sei fachlich gut aufgestellt und leiste gute Arbeit. «Aber die Bauverwaltung hat zu wenig Leute: Nicht bloss, um Baugesuche zu prüfen, sondern auch für die Kontrolle der Baustellen.»
«Die Baugesetzgebung beinhaltet kaum Instrumente, um vertieft Einfluss zu nehmen. Dies gilt auch für die Ästhetik.»
Rolf Furrer
Während Rolf Furrer über das Oltner Bauwesen sinniert, klingelt immer wieder das Telefon. Es gibt Probleme mit der Sanierung im Haus. Bauleute haben mit ihren Fräsarbeiten das gesamte Untergeschoss in eine Staubwolke gehüllt. Rolf Furrer eilt als Bauherrenberater der Stirag gleich selbst runter. Die Konfrontation mit den Arbeiterinnen zeigt auf, warum er gemeinhin auch als «Polteri» gilt. Mit krudem Baustellenvokabular macht er unmissverständlich klar, dass sie auf der Stelle die Arbeiten einstellen müssen. Der Staub hat sich auf den Lagerbestand einer eingemieteten Firma gelegt. Minuten später ist Furrer wieder der umtriebige Geschäftsmann, entschuldigt sich für den kurzen Vorfall.
Das Zusammenspiel zwischen Baukommission und Bauverwaltung erachtet er als essenziell. «Eine falsche Harmonie ist schlimmer als eine gründliche Auseinandersetzung», sagt Rolf Furrer. Ein Satz, der viel über seine Haltung sagt. Entscheidend sei, wie sich aus der Streitkultur ein Konsens ergebe. Unweigerlich fällt in diesem Kontext das Stichwort Olten Südwest. Obwohl alle hinschauten, gings vergleichbar schnell, ehe die Gebäudekuben aus dem ehemaligen Industriegebiet hervorwuchsen. Waren hier Gremien wie die Baukommission nicht nachlässig? Alles sei rechtskonform gewesen, verteidigt Furrer. Die Stadt habe die verfügbaren Mittel im Bewilligungsverfahren ausgenutzt, indem sie etwa zusätzliche Architekten beizog. «Die Baugesetzgebung beinhaltet jedoch kaum Instrumente, um vertieft Einfluss zu nehmen», sagt er. «Dies gilt auch für die Ästhetik.»
IV. In den Fängen der Mitwirkung
Andernorts sehen die Bauprofile gleich mehrere Winter und Sommer vorbeiziehen, bevor sich etwas tut. Alle grösseren Projekte, die einem Gestaltungsplan unterliegen, müssen mittlerweile fast schon routinemässig nach dem Weg über die Behörden mit Beschwerden rechnen. So, wie dies die Swiss Prime Site Immobilien AG beim Usego-Areal erfuhr, stecken die Frei-Architekten aus Aarau seit geraumer Zeit in diesem Mitbestimmungsprozess. Das Projekt steht seit drei Jahren: Wo heute noch verlassene Reihenhäuschen an der Ziegelfeldstrasse stehen, wollen die Aarauer Architekten, die gleich selbst als Investoren auftreten, eine urbane Überbauung realisieren. Auch dieses Projekt folgt dem Zeitgeist. Das Credo des verdichteten Bauens lautet hier: Aus acht Reihenhäuschen mach sechzig Wohnungen.
«Die Verfahren dauern generell viel zu lange, das ist ein gesamtschweizerisches Phänomen.»
Peter Frei
Nur, wann dürfen die Frei-Architekten loslegen? Eine Beschwerde zum Gestaltungsplan liegt derzeit beim Kanton. Im Extremfall könnten zwei weitere Instanzen – das Verwaltungs- und das Bundesverwaltungsgericht – folgen. Das lange Warten habe in diesem Fall weder mit der Oltner Bauverwaltung noch mit den Verhältnissen in Olten zu tun, sagt Geschäftsführer Peter Frei am Telefon. «Die Verfahren dauern generell viel zu lange, das ist ein gesamtschweizerisches Phänomen.»
Ein zunehmender Einspracheeifer, auf den letztmöglichen Zeitpunkt angesetzte Termine, Stapel an Projekten, ehe Instanzen diese bearbeiten. Viele Gründe macht Peter Frei für die langsam mahlenden Mühlen aus. «Die Politik wäre gefordert», findet der Architekt. Ein Gestaltungsplan durchläuft mehrere Gremien, bis er grünes Licht kriegt. «Dann kommen die Privaten und haben das Gefühl, sie wissen alles besser», sagt er. Peter Frei glaubt nicht, dieser Prozess verbessere die Substanz eines Projekts. «Meistens sind die Beschwerden von Eigeninteressen getrieben, die man mit übergeordneten Argumenten zu verknüpfen versucht.»
Der Sälipark ist schon heute ein Publikumsmagnet der Stadt, soll aber in Zukunft ein neues Gesicht erhalten.
V. Die Lehren der Giroud Olma
Gleich wie den Frei-Architekten ergeht es der Giroud Olma. Der Sälipark 2020 hätte, wie der Name es verrät, in diesem Jahr vollendet sein sollen. Eine gefühlte Ewigkeit schon, seit 1866, ist das Unternehmen in der Stadt verankert. Vor rund vierzig Jahren emanzipierte sich Giroud Olma vom Industriebetrieb zum Dienstleitungspark. Und die Geschicke führt Investor Thomas W. Jung aus dem grossen Zürich. Er habe sich hinterfragt. Ob seine Visionen für eine Kleinstadt wie Olten ein zu grosser Wurf sind? «Wahrscheinlich ist Olten im Geist kleiner als in der Einwohnerzahl», sagt er. Aber er glaubt noch immer an «seinen» Sälipark 2020 – wenn auch ein paar Jahre obendrauf kommen.
«Hartnäckigkeit ist wirklich wichtig, und auch ein wenig Demut.»
Thomas W. Jung
Noch immer spricht er gerne über das 100 Millionen schwere Projekt, das den Sälipark nicht mehr bloss zu einem Einkaufszentrum, sondern gleichzeitig zu einem Wohnort und Begegnungsplatz machen soll. «Ich will auf keinen Fall verbittert rüberkommen», sagt Thomas W. Jung an einem Novemberabend über die Freisprechanlage seines Autos. Tut er nicht, er klingt relativ entspannt.
Auch dann, als er erzählt, dass er bereits sechs Millionen Franken investiert hat, aber noch nichts in den Händen hält. Selbst bei Regierungsrat Roland Fürst sprach Thomas W. Jung vor, um zu erfragen, wann der Kanton zu einem Urteil komme. Dem Zürcher Investor bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten. Obwohl das vorgestellte Projekt in der Mitwirkung viel positive Resonanz erfuhr, geriet der Motor bald ins Stottern. Das Warum lässt sich in diesem Fall einfacher ergründen. Im dynamischen Raum um den Sälipark ergeben sich viele Abhängigkeiten und wohl entsprechend auch Partikularinteressen. Das Beschwerdeverfahren sieht Investor Jung als Tour de Suisse. Noch immer befindet er sich im Aufstieg zum zweiten Pass. Die Beschwerdeführer könnten ihn nach dem Kanton über zwei weitere Pässe zwingen. Seine Lehren: «Hartnäckigkeit ist wirklich wichtig, und auch ein wenig Demut.»
VI. Wo es rund läuft
Himmelwärts geht die Richtung auch im Bahnhof Nord. Anders als im Säli-Quartier, auf dem Usego-Areal oder an der innerstädtischen Ziegelfeldstrasse ging auf der SBB-Brache vieles wie am Schnürchen. Kaum Opposition machte sich breit, als im Jahr 2014 der Gestaltungsplan durch die Instanzen ging. Dies, obwohl an die fünfzig Meter hohe Bauten entstehen, die an die eben fertiggestellte Zürcher Europaallee erinnern.
Keine Nachbarschaftskonflikte, starker Miteinbezug von Stadt und SBB und ein umfangreicher Jury-Wettbewerb: Die möglichen Gründe für einen unaufgeregten Gestaltungsprozess sind divers. Gut sechs Jahre nach dem Gestaltungsplan dürften im Frühjahr die Bauprofile weichen. In drei Jahren werden auf einer Grossbaustelle zwölf Stockwerke heranwachsen. Der Bau der Credit Suisse Anlagestiftung umfasst 155 Wohnungen. Er ist der Startschuss zum grossen Umbruch, welcher dem Bahnhofgebiet in den nächsten zehn Jahren ein anderes Gesicht geben wird.
Der Bauboom ist allgegenwärtig. Auch wenn die Bauprofile mancherorts länger stehen, als es den Investoren lieb ist.
Wem es gut geht, dem nimmt der Staat Geld. Das Prinzip der Steuern ist altbewährt. Auch Firmen leisten einen grossen Teil an den Kuchen, der den Wohlfahrtsstaat ausmacht. Er ist unsere Basis und erlaubt es einer Kleinstadt wie Olten, ihr Erscheinungsbild zu wahren und die guten Dienste zu leisten. Als öffentliche Hand unterhält die Stadt eine Badi. Gestaltet ihren Bahnhofsplatz um. Baut ein neues Schulhaus.
Mit der Steuerreform erfährt das System dieses Jahr einen grösseren Umbruch. Die Schweiz hatte überwiegend international tätigen Unternehmen bis hierhin privilegierte Steuerbedingungen gewährt. Holdings oder gemischte Gesellschaften – wie beispielsweise eine Uhrenfirma, die in der Schweiz produziert, aber ihre Ware mehrheitlich im Ausland absetzt – bezahlten ausschliesslich auf Bundesebene eine Gewinnsteuer von rund 8 Prozent. Dieses Modell war international zunehmend verpönt. Der Druck nach angepassten Bedingungen nahm unter Federführung der OECD zu. Die Schweiz musste infolgedessen die sogenannt «mobilen Gesellschaften» mit privilegierter Besteuerung gleich behandeln wie die ordentlich besteuerten Unternehmen. Bundesrat und Parlament packten einen Zustupf von zwei Milliarden an die Altersvorsorge in die Vorlage, den Arbeitgeberinnen, Arbeitnehmer und Bund leisten.
Der Kanton im Schweizer Mittel
Wie der Föderalismus es will, kennt jeder Kanton seine eigenen Steuermechanismen. Und mit dem Steuerwettbewerb zwischen den Kantonen verhält es sich wie mit dem Feilschen um den besten Bauplatz: Alle wollen den Südhang an der Sonne bieten – am besten mit Seesicht. Aber einige müssen mit dem Schattenhang vorliebnehmen.
Auch der Kanton Solothurn versuchte, möglichst konkurrenzfähig zu sein, und sah eine drastische Steuersenkung vor. Eine erste Vorlage scheiterte: Sie hätte die Gewinnsteuer für Firmen auf rund 14 Prozent senken wollen, um wettbewerbsfähig zu sein. Unternehmen mit über 100’000 Franken Gewinn hatten vor der Reform rund 21 Prozent ihrer Gewinne abgetreten. Erst im vergangenen Februar nahm der Kanton ein gemässigteres Gesetz deutlich an. Die Konsequenz: Innerhalb der nächsten drei Jahre sinkt der Steuersatz im Kanton Solothurn schrittweise – von vormals 8,5 auf 4,4 Prozent. Somit gehen in der Summe (siehe Tabelle) künftig noch rund 15 Prozent der Unternehmensgewinne an Bund, Kanton und Gemeinde, wobei dies jeweils vom Gemeinde-Steuerfuss abhängt. Däniken weist mit 60 Prozent den kantonsweit tiefsten Steuerfuss für Firmen aus: Juristische Personen bezahlen in der Niederämter Gemeinde ab 2022 noch 13,78 Prozent Gewinnsteuern.
Steuersätze für juristische Personen mit Sitz in Olten
Gewinnsteuer (aktueller Steuerfuss der Gemeinde 108%)
2019
2020
2021
2022
unter 100’000 Franken (Steuersatz)
16.25%
16.25%
15.79%
15.32%
über 100’000 Franken (Steuersatz)
21.28%
16.25%
15.79%
15.32%
Gewinnsteuer (hypothetischer Steuerfuss der Gemeinde 138%)
unter 100’000 Franken (Steuersatz)
17.29%
17.29%
16.77%
16.26%
über 100’000 Franken (Steuersatz)
22.83%
17.29%
16.77%
16.26%
Während der Steuersatz auf Bundesebene unverändert bleibt, sinkt er auf Kantonsebene bis 2022 um fast die Hälfte. Für Kanton und Gemeinden fallen dadurch grosse Erträge weg. Einen Grossteil deckt der Kanton bis 2027 mit einem Finanzausgleich.
Die Rechnung geht (noch) nicht auf
Was schon bei der Reform bekannt war: Die abgeschafften Privilegien der überwiegend international tätigen Firmen kompensieren die Steuersenkungen der Firmen mit Gewinnen von über 100’000 Franken nicht. Aus einem einfachen Grund: Holdings und gemischte Gesellschaften sind im Kanton Solothurn vergleichsweise spärlich angesiedelt. Die Folgen der Steuerreform für Firmen machen sich 2021 – im zweiten Jahr nach der Einführung – erst richtig bemerkbar. Gemeinden, die sich schon bisher mehrheitlich durch Steuern der Privathaushalte alimentierten, kommen glimpflich davon. Olten zählt nicht dazu: Gemäss Budgetplanung wird sich der Steuerertrag durch Firmen innerhalb von drei Jahren auf 2021 hin ungefähr halbieren – von rund 20 Millionen auf knapp 11 Millionen Franken.
«Wir hoffen, dass die Firmen sich durch die tieferen Steuern erholen und eine grössere Wertschöpfung erreichen, womit sich die Steuerabgaben erhöhen dürften.»
Thomas Steiner, Spezialist für Gemeindefinanzen beim Kanton
Um die Gemeinden zu entlasten, leistet der Kanton bis 2027 jährliche Ausgleichszahlungen von rund 25 Millionen Franken oder 200 Millionen in acht Jahren. Im Fall von Olten rechnet der Kanton mit Einbussen der Steuererträge von rund 6,8 Millionen Franken. Der Kanton deckt die Lücke mit einem Beitrag von 4,1 Millionen Franken nicht vollständig. Wie also soll die Rechnung für Gemeinden langfristig aufgehen? «Es liegt nicht am Kanton, eine Volldeckung sicherzustellen. Die Gemeinden haben sowohl bei den Einnahmen wie auch bei den Ausgaben Kompensationen zu suchen», sagt Thomas Steiner, Leiter für Gemeindefinanzen beim Kanton. Er gibt zu bedenken: «Auf mittlere Sicht dürften sich dank höherer Wertschöpfung bei den Firmen die Steuerabgaben erhöhen.» Ob die Gemeinden den Steuerfuss erhöhen, um die tieferen Erträge abzufedern, entscheiden sie autonom.
«Wir sind für den Finanzhaushalt unserer Stadt zuständig. Wir haben ein Einnahmenproblem», hatte der Grüne-Stadtratskandidat Raphael Sommer-Schär in der Parlamentsdebatte gewarnt. Für die Zukunft stellen sich Grundsatzfragen, da die Firmensteuern durch die Steuerreform im Verhältnis zu den Beiträgen der Privathaushalte an Bedeutung verlieren. Vertraut die Stadt darauf, künftig neue Unternehmen anzulocken und so die Steuererträge steigern zu können? Der Grüne Nationalrat Felix Wettstein verweist jeweils auf die Vergangenheit. Sie lehre, dass ein tieferer Steuerfuss nicht zu mehr Zuzügen führe.
«Firmen und ihre Inhaber sind nicht immer gewillt, Auskunft zu geben. Vor allem wenn es steuerliche Gründe sind.»
Daniel Probst, Direktor der Handelskammer
Daniel Probst ist als Direktor der Solothurner Handelskammer am Puls der Unternehmen. Die Steuern seien zwar selten alleinige Treiber, aber durchaus relevant, beteuert er. «Steuererhöhungen führen langfristig nicht nur zu Wegzügen, sondern kurz- und mittelfristig zu weniger Investitionen, was in Krisenzeiten Gift für die Konjunktur ist», schrieb Probst neulich in einer Debatte auf den sozialen Medien.
Die Übersicht fehlt
Was im Kanton Solothurn bisher fehlt, sind aussagekräftige Statistiken. Die kantonale Wirtschaftsförderung erhebt zwar seit 2014 die Zu- und Wegzüge von Unternehmen. Die Rücklaufquote der Fragebogen war letztes Jahr mit 18 Prozent bescheiden. Zudem sagt die Umfrage nichts über die Steuerkraft einer Firma aus.
Die weggezogenen Unternehmen beschäftigten gemäss der nicht repräsentativen Statistik auf tiefem Niveau mehr Mitarbeitende als die zugezogenen Firmen. Und zwischen 2014 und 2019 werden die «steuerliche Gründe» am dritthäufigsten als Wegzugsgrund genannt. «Grundsätzlich ist es für den Kanton schwierig, eine zuverlässige Statistik zu führen», gibt Daniel Probst auf Anfrage zu. «Firmen und ihre Inhaber sind nicht immer gewillt, Auskunft zu geben. Vor allem wenn es steuerliche Gründe sind. Die weggezogenen Firmen haben meist wenig Motivation, dem verlassenen Kanton Ratschläge zu geben.»
«Die drei besten Steuerzahler sind höchst mobil.»
Benvenuto Savoldelli, Finanzdirektor Olten
Was den Zustand der Firmen betrifft, befinden sich die Gemeinden gleichwohl nicht im Blindflug: Ablesen lässt sich die Steuerkraft der Unternehmen in der Rechnung. Für Olten zeigt sich hier das vielzitierte «Klumpenrisiko». Zehn Unternehmentragen rund 75 Prozent des Steuerertrags juristischer Personen bei. Einer der drei besten Steuerzahler entrichtet ausschliesslich Kapitalsteuern, wie Finanzdirektor Benvenuto Savoldelli dem Parlament letzte Woche schilderte. Mit insgesamt 2,23 Millionen Franken machen die Kapitalsteuern einen wesentlichen Betrag im Oltner Budget aus. Bei einem um 30 Prozentpunkte höheren Steuerfuss würden die Kapitalsteuern auf 2,85 Millionen Franken ansteigen. Dies könnte zu Wegzügen führen, hatte Savoldelli gewarnt. «Die drei besten Steuerzahler sind höchst mobil.»
Soll Olten der Wirtschaft vertrauen?
Daniel Kissling von Olten jetzt! äusserte sich in der Budgetdebatte dahingehend, die Stadt müsse ihre Interessen wahren und auf jene Unternehmen setzen, die sich auch bei höherem Steuerfuss zu Olten bekennen. «Es kommt mir wie auf dem Pausenplatz vor. Als würde immer jener gewinnen, der Tomaten verteilt, weil er halt der Stärkste ist. Wollen wir uns von den grossen Unternehmen herumschieben lassen?»
Stadt-Bierbrauer Luc Nünlist (SP) plädierte für den Solidaritätsgedanken, auf welchem die Steuern basieren: «Wenn ich zu den Unternehmern zählen würde, die 100’000 Franken oder mehr Gewinn machen, dann wäre ich stolz darauf, meinen Beitrag zum Staatswesen zu leisten und meine schwächeren Zulieferer und Abnehmer zu stützen.»
Grenchen als Vorreiterin
Wie also soll der Fiskus mit der Steuerreform umgehen: Den Steuerfuss erhöhen und auf ortsverbundene Unternehmen hoffen? Oder in den Standortwettbewerb einsteigen und den Steuerfuss senken? Auf das aktuelle Jahr hin reduzierten tatsächlich mehrere Solothurner Gemeinden ihren Steuerfuss. Prominentes Beispiel ist die Stadt Grenchen. Die Uhrenstadt ging mit den Firmensteuern auf einen Schlag um 30 Prozentpunkte runter. «Da die Stadt Grenchen in den letzten Jahren bei den juristischen Personen eher tiefe Steuererträge verbuchte, ist der Effekt wenig dramatisch», sagte Stadtpräsident François Scheidegger Ende 2019 gegenüber dem Grenchner Tagblatt. «Insbesondere auch deshalb, weil der Kanton die nächsten acht Jahre einen Teil der Steuerausfälle ausgleichen wird.» Er bezeichnete den Schritt als «Investition in die Zukunft».
Dulliken als Gegenbeispiel
Den entgegengesetzten Weg wählte Dulliken. Als eine der wenigen Gemeinden erhöhte sie den Steuerfuss – gleich um 30 Prozentpunkte auf 119 Prozent. «Das hat eine Geschichte», sagt Verwaltungsleiter Andreas Gervasoni am Telefon. «Wir befanden uns als Nachbargemeinde von Däniken in einer misslichen Lage.» Nachdem Dullikens Zwillingsschwester ihren Steuerfuss für Firmen gleich auf 50 Prozent senkte, war die Gemeinde als grösste Industrieland-Besitzerin Dullikens für Investoren plötzlich nicht mehr interessant. «Wir machten uns damals Gedanken, wie wir hier ein Gegengewicht schaffen und an Attraktivität gewinnen können», erzählt Gervasoni. Als logische Strategie senkte Dulliken vor ein paar Jahren die Firmensteuern markant: um 30 Steuerpunkte. So sei es gelungen, das Steuersubstrat so zu erhöhen, dass Steueraufkommen der Gemeinde auf gleichem Niveau blieb.
«Bei geringen Gewinnen fallen die Steuerdifferenzen fast nicht ins Gewicht.»
Andreas Gervasoni, Finanzverwalter Dulliken
«Mit der Steuerreform ist die grosse Differenz zu den natürlichen Personen nicht mehr gerechtfertigt», sagt Gervasoni zur neuerlichen Kehrtwende. Weil Unternehmen mit einem Gewinn von unter 100’000 Franken bereits vor der Steuerreform von einem vergünstigten Tarif profitierten, bedeutet der neue Steuerfuss (119 Prozent) eine leichte Steuererhöhung für die «Kleinen». «Bei geringen Gewinnen fallen die Steuerdifferenzen fast nicht ins Gewicht», sagt Gervasoni. Bisher habe die Gemeinde keine negativen Reaktionen erhalten. Die Unternehmen erhielten die Steuerrechnung jedoch erst im kommenden Jahr, gibt der Verwaltungsleiter zu bedenken.
Der abwartende Mittelweg
Auch Oensingen spürt die durch die Steuerreform verursachten Mindererträge und muss nach Abzug des kantonalen Ausgleichs mit einem Loch von rund 350’000 Franken rechnen. «Die Steuerreform ist eine Investition in den Wirtschaftsstandort Kanton Solothurn», schreibt Gemeindepräsident und Kantonsrat Fabian Gloor. «Es versteht sich daher von selbst, dass diese Ausfälle nicht vollumfänglich kompensiert werden sollen.» Langfristig werde dies dem Kanton mehr Arbeitsplätze und Steuererträge einbringen. Dennoch prüft auch Oensingen ab 2022 eine Steuerfusserhöhung für Firmen. Die grösste Gäuer Gemeinde hat wie Olten zunächst den abwartenden Mittelweg gewählt.
Beginnen tut die Debatte am Mittwochabend mit einem Vorgeschmack auf das, was kommen wird. Nämlich mit dem Hinterfragen von Investitionen. Sind die neuen Elektroinstallationen und die Beleuchtung im Säli-Schulhaus gut 2,2 Millionen wert? Die Rechte zweifelt. Die Linke beklagt die ohnehin schon hinterherhinkenden Investitionen. Am Ende gibt das Parlament grünes Licht.
Dann geht’s um Edelstahl und Salamitaktik. Mit Edelstahl will die Stadt das algenbefallene Sprungbecken der Oltner Badi auskleiden. Der Vorwurf der SVP und FDP an die Adresse der Stadtregierung: Sie portioniert die einzelnen Sanierungsschritte des Strandbads auf Projekte von unter 4 Millionen Franken und umgeht so eine obligatorische Volksabstimmung – Salamitaktik eben. «Macht doch mal ein Gesamtkonzept», fordert SVP-Vertreter Matthias Borner. Als Beispiele zieht er Aarau und Solothurn heran, die beide einem grossen Badiprojekt zustimmten. «Habt keine Angst.»
In einer Frage besteht Einigkeit: «Was wollen wir überhaupt für eine Badi?», fragt Daniel Kissling von Olten jetzt! Auch die Grünen wünschen sich beim Blick auf die Badi-Zukunft eine «höhere Flughöhe». Heinz Eng stimmt in den Chor ein. Schon als 4-Jähriger habe er in diesen Becken gebadet. Mit einem auf Olten gemünzten Zitat von Antoine de Saint-Exupéry fordert er mehr Innovation: «Willst du eine schöne Badi in Olten umbauen, wecke in den Menschen die Sehnsucht nach dem Wasser und der Aare.» Warum nicht Wellenbad und Sandstrand? Dafür erntet er Lacher im Plenum. Vorerst bleibt alles wie geplant. Aus Beton wird Edelstahl.
Apropos Salamitaktik: FDP-Fraktionschef Urs Knapp schaut in der Pause genau hin und schreibt später in seinem Bericht: «Zufall oder nicht: Baudirektor Thomas Marbet stärkte sich in der Sitzungspause mit einem Salamibrot …»
Hier streichen, dort investieren
Vorbei ist’s mit der Aufwärmübung. Ran geht’s an die dicken Bücher, die alle Parlamentarierinnen auf ihrem Pult gestapelt haben. Das Budget 2021. Seite um Seite führt Parlamentspräsident Philippe Ruf durch den Zahlendschungel. In diesem Moment ist Politik ein kleines Wunschkonzert. Hier die Rechten, die Ausgaben streichen wollen. Da die Linken, die Investitionen steigern möchten. Die Stadt schiebe die geplanten Projekte wie ein Schneepflug vor sich hin, argumentieren die Grünen. Die SVP will das Budget durchwinken, wenn das Parlament Sparanträge gutheisst. Die SP warnt vor Streichungen – die CVP vor einer «fatalen Steuererhöhung». Die FDP bezeichnet eben diese als «selbstzerstörerisch».
Werden nun die grossen Weichen für Oltens Zukunft gelegt? Nicht wirklich. Den ersten Streichungsantrag stellt die SVP: Parlamentspräsident Philippe Ruf möchte auf sein Abschiedsgeschenk verzichten und auch das Abschlussessen zur Legislatur streichen. «Man muss den Wald sehen und nicht die Bäumlein», nervt sich Heinz Eng (FDP) über die vernachlässigbaren Streichungsanträge und gewinnt damit abermals Lacher für sich. Die Episode gibt auch tags darauf auf Facebook noch zu reden. Die Parlamentarier führen ihre Debatte weiter:
Der Rest des ersten Abends ist rasch erzählt: Das Parlament zeigt sich vor dem bevorstehenden Wahljahr spendabel. Und macht gar Sparbemühungen des Stadtrats wieder wett. Die Oltner Stadtmusik erhält nächstes Jahr wie bisher 19’000 Franken. Offenbar ohne den Verein zu informieren, wollte der Stadtrat den Beitrag um fast die Hälfte kürzen. Dies rief die Stadtmusik auf den Plan. Vor dem Konferenzhotel Arte, dem Ort der Parlamentssitzung, lobbyierten sie für ihre Musik. Gleich verhält es sich mit vom Stadtrat gestrichenen Geldern an Kulturbetriebe: Florian Eberhard (Junge SP) überzeugt das Parlament mit dem Antrag, die 17’500 Franken wieder ins Budget aufzunehmen. Und so dreht sich das Karussell im Kreis.
Eine Budgetdebatte bietet aber auch die Chance, Mankos der Stadt zu besprechen. CVP-Parlamentarier Thomas Kellerhals etwa «erschrak», als er realisierte, dass die Stadt für ihre rund 200 Mitarbeitenden bisher keine Personalabteilung hatte. Künftig erhält die Stadt zu einem 40-Prozent-Pensum einen Personalassistenten. Dies, obwohl die Finanzkommission die zusätzliche Stelle hätte streichen wollen. «Leute zufrieden zu stellen, ist eine Führungsaufgabe», philosophiert Urs Knapp zur Arbeitsethik. Eine Mehrheit widerspricht seiner Weltansicht.
Nur Zirkuspferdchen?
Zwanzig zusätzliche Stellenprozente, um Oltens Geschichte im Stadtarchiv aufzuarbeiten: Dies fordert Luc Nünlist zu fortgeschrittener Stunde vergebens. Das Parlament ist in dieser Frage in einer Pattsituation – Parlamentspräsident Philippe Ruf gibt den Stichentscheid. Tobias Oetiker von Olten jetzt! reflektiert am Tag nach dem Budgetabend über eine Äusserung des Stadtpräsidenten und ist irritiert:
Tag zwei beginnt mit dem bewährten Salamitaktik-Vorwurf, nur diesmal in anderem Kontext. Zusätzlich zum eben installierten mobilen Sozial- und Sicherheitsdienst will sich der Stadtrat ein Budget offenhalten, um die Securitas in Parkanlagen einsetzen zu können. Nur für den Konfliktfall versichert Thomas Marbet. Das sei eine «Salamitaktik des Verdrängens», kritisiert Simon Muster. Die Stadt habe die Menschen vom Ländiweg in den Stadtpark vertrieben. Das Parlament folgt dem Streichungsantrag knapp. Für die Litteringproblematik haben die Gemeinderäte mehr Gehör. Auf Luc Nünlists Initiative stockt das Parlament die Stellenprozente für die Abfallentsorgung auf. Der Werkhof erhält somit mehr Luft.
Eine weitere frohe Botschaft für die Digital Natives: Das Stadthaus erreicht im Jahr 2021 das moderne Internetzeitalter und erhält ein WLAN-Netzwerk. Der IT-Unternehmer Tobias Oetiker macht grosse Augen, als er erfährt, dass die Verwaltung bisher noch ohne kabelloses Internet und weitgehend ohne Laptops auskam. Was für den einen nicht wegzudenken ist, würde die Finanzkommission gerne aus dem Budget streichen. Zu teuer sind ihr die 115’000 Franken. Es sei nun mal aufwendig, in einem 11-stöckigen Betonhochhaus kabelloses Internet einzurichten, erwidert Stadtrat Marbet. Das Argument überzeugt.
Die vielen Hüftschüsse
Um den «Investitionsschneepflug» zu vermeiden, will der Grüne Felix Wettstein eine ganze Reihe für 2022 geplante Projekte vorziehen. Bloss ein Teil erweist sich als praktikabel. Immerhin spricht das Parlament Geld für Schulmobiliar und Bushaltestellen-Wartekabinen.
Im Gegenzug überrascht Matthias Borner (SVP) mit einem Antrag, die Mittel für das bereits beschlossene und aufgegleiste Parkleitsystem auf eine halbe Million Franken zu halbieren. Die SVP sei irritiert, da nicht alle Parkanbieter mitmachen, begründet er. Sein Antrag aus dem Nichts löst einen mittelgrossen Sturm aus. «Für diesen Hüftschuss habe ich null Verständnis», sagt Myriam Frey (Grüne). Borner zieht den Antrag wenig später zurück.
Ihren emotionalen Höhepunkt erreicht eine Budgetdebatte für gewöhnlich, wenn der Steuerfuss zum Thema wird. Das ist in diesem Jahr nicht anders. Die vier Parlamentarier Tobias Oetiker, Daniel Kissling und Laura Schöni von Olten jetzt! sowie der Grüne Raphael Schär wollen die Gewinnsteuern für Firmen um 30 Prozentpunkte auf 138 Prozent erhöhen.
Ein Hüftschuss? Als solchen empfindet Muriel Jeisy (CVP) die Forderung. Zuvor hatte Finanzdirektor Benvenuto Savoldelli mit einer flammenden Rede vor einem «falschen Signal» und einem «Rohrkrepierer» gewarnt. Ins Konzert der alarmierenden Stimmen reiht sich auch Stadtpräsident Martin Wey ein: «Ihr glaubt nicht, wie viele Telefone ich von Unternehmern erhalten habe.»
Die abschreckende Zahl 30
30 Prozentpunkte – was krass klingen mag, relativiert sich durch die Unternehmenssteuerreform: Aufgrund dieser beläuft sich der Steuersatz auf Gemeindeebene für Firmen mit einem Gewinn von über 100’000 Franken im kommenden Jahr noch auf 4,7 Prozent – notabene gegenüber 8,5 Prozent 2019. Bei gleichbleibendem Steuerfuss bezahlen Unternehmen künftig gut 44 Prozent (!) weniger Steuern. Nur: Firmen mit einem Gewinn von unter 100’000 profitierten bereits vor der Steuerreform von einem tieferen Steuersatz (5 Prozent). Mit einer Steuererhöhung um 30 Prozentpunkte müssten somit 85 Prozent der Oltner Firmen – die «Kleinen» – bis zu 1000 Franken mehr Steuern berappen.
Nicht ausschliesslich die Bürgerlichen, sondern auch SP-Vertreter schrecken vor diesem Szenario zurück. Daran ändert auch Florian Eberhards (Junge SP) «wohlüberlegter Hüftschuss» nichts. Er schlägt eine moderate Erhöhung der Firmensteuern auf 123 Prozent vor. Heinz Eng ist es der Polemik zu viel. Aber er nimmt es in seiner gewohnten Art mit Humor: «Als Schützenpräsident fühle ich mich wie im Schiessstand, wenn ihr von Rohrkrepierer und Hüftschüssen sprecht.» Das Parlament versenkt die Steuererhöhung.
Auch das letzte Budgetgeschäft hält etwas Komik bereit: Felix Wettstein (Grüne) hätte gerne die Personalsteuer von 50 Franken abgeschafft. «Wollen wir weiterhin die unsoziale Art, eine Gebühr einzuziehen, aufrechthalten?», fragt er rhetorisch ins Rund. Nach mehrminütiger Debatte meldet sich Benvenuto Savoldelli: Finanzverwalter Urs Tanner hat ihn eben darauf hingewiesen, dass die Personalsteuer im Steuerreglement festgehalten ist. Wettsteins Antrag ist nicht zulässig.
Ein paar Minuten vor der Sperrstunde um 23 Uhr ist Oltens Budget besiegelt.
Die Oltner Sternschnuppen sind längst zum Fixstern am Oltner Kulturhimmel herangewachsen. Bis zu 450 Menschen strömten letztes Jahr an Spitzenabenden in die Stadtkirche und in die Schützi, um sich von einer Kulturdarbietung überraschen zu lassen. Die Adventszeit und die Sternschnuppen gehören für viele Oltnerinnen zusammen. Fernab der Weihnachtshektik öffnet der Kulturadventskalender an 23 Abenden ein halbstündiges Fenster. Und die Sternschnuppen sollen den Menschen auch in diesem Jahr Lichtblicke bringen. Auch wenn alles anders ist und die Kulturbranche von den Pandemiemassnahmen arg gebeutelt ist. Kein anderer Anlass eint die Oltner Kulturszene, wie es die Sternschnuppen tun: 23 Kulturveranstalter bilden gemeinsam einen grossen Verein. Eine grosse Mehrheit des Plenums entschied, die Sternschnuppen trotz aller Widrigkeiten durchzuführen.
Die Sternschnuppen sorgten in den letzten Jahren immer wieder für magische Momente in der vollen Stadtkirche. Foto: Benjamin Widmer
Im neunten Sternschnuppen-Jahr hat der Verein einen Umbruch hinter sich. Daniela Hurni gab das Präsidium an Matthias Kunz und Stefan von Burg ab. Um die beiden Präsidenten hat sich eine junge Kerngruppe gebildet, welche die Organisation stemmt. Wer sind die Sternschnuppen-Macherinnen?
Viele Menschen stünden hinter dem Projekt, betonen sie alle. «Einzigartig an den Oltner Sternschnuppen ist, dass sie von so vielen Kulturveranstaltern getragen werden», sagt Matthias Kunz am Telefon. Der Berner ist ein «Kultur-Oltner» und in der Region bekannt als die eine Hälfte des Theater-Kabarett-Duos Strohmann-Kauz. Als selbstständig tätiger Schauspieler sei das Jahr für ihn gelaufen, sagt Kunz. «Seit März habe ich gewissermassen ein Berufsverbot.»
Also bleibt mehr Zeit für den Kulturadventskalender. Er sei gerade daran, den Adventskalender zum dritten Mal neu zu organisieren. Die steten Massnahmenänderungen sind für die Kulturschaffenden nervenaufreibend: Vor eineinhalb Monaten gingen die Veranstalter noch davon aus, die Sternschnuppen würden mit Schutzkonzept und grossem Publikum stattfinden können. Mittlerweile zittern sie, zählen die Tage und hoffen, Anfang Dezember überhaupt loslegen zu dürfen. Nach den aktuellen Pandemiebestimmungen dürfen pro Abend dreissig Zuschauer den Sternschnuppen in der Schützi beiwohnen. «Ich hoffe noch darauf, dass der Kanton auf die Bundesvorgabe zurückkommt und fünfzig Personen erlaubt», sagt Kunz.
Muss wegen Quarantäne die Fäden vorübergehend von zu Hause aus ziehen: Stefan von Burg in seinem Garten in Olten
Unabhängig davon, wie viele Menschen die Sternschnuppen in der Schützi besuchen dürfen, werden die Kulturmomente dank Videoübertragung gleichwohl einem breiten Publikum geboten. Coq d’Or-Barbesitzer Daniel Kissling sagte früh schon, er glaube nicht, dass die Sternschnuppen mit Publikum stattfinden könnten. «Im schlimmsten Fall streamen wir einfach», hatte Co-Präsident Stefan von Burg damals erwidert. Nur noch zweieinhalb Wochen bleiben, noch immer rechnen die Organisatoren mit jedem Szenario. «Wir sitzen die ganze Zeit über auf glühenden Kohlen», sagt von Burg.
Als Veranstaltungstechniker ist er seit März in der Kurzarbeit. Das Sternschnuppen-Projekt habe ihm in diesem schwierigen Jahr Energie gegeben. Und weil sein Arbeitgeber Event-One mit den Absagen von Anlässen zu kämpfen hatte, begann sich das Kleinunternehmen im Frühling mit der Kameratechnik auseinanderzusetzen. Vom neu erworbenen Wissen des gelernten Tontechnikers mit Übernamen «Tech-Stef» profitieren nun auch die Sternschnuppen. Mit dem sechsköpfigen Technikerteam liefert von Burg die 23 Advents-Kulturmomente übers Internet in die Stuben all jener, die keinen Platz in der Schützi finden. Die Übertragung wird jeden Abend live und exklusiv um 18.15 Uhr übertragen. So bleiben die Kulturmomente vergänglich, wie Sternschnuppen es sind.
Ein Gemeinschaftswerk
Für Cécile Steck hat die Videoübertragung der Sternschnuppen nach Corona keine Zukunft. «Kultur muss unmittelbar stattfinden», sagt die Starrkirch-Wilerin am Telefon ein wenig ausser Atem. Normalerweise würde Cécile Steck dieser Tage bei «Monti’s Varieté» in Wohlen Regie führen und die Aufführungen vorbereiten. Stattdessen forstet sie nun eine überalterte «Hoschtert» mit jungen Hochstamm-Obstbäumen auf, wie sie erzählt. Daneben ist ihr Sternschnuppen-Ämtli dieses Jahr besonders anspruchsvoll. Mit einem siebenköpfigen Team ist sie für das Herzstück des Kulturadventskalenders zuständig: das Programm.
Um dieses auf die Beine zu stellen, können die Sternschnuppen auf die zahlreichen Vorschläge der 23 Kulturveranstalter zurückgreifen. «Wir versuchen alle Kulturgenres zu berücksichtigen und so ein abwechslungsreiches Programm zu bieten», sagt sie. Flexibilität ist gefragt: Mit den neuen Bestimmungen darf etwa ein Laienchor nicht mehr auftreten. Und bei unerwarteten Absagen müsste das Programmteam kurzfristig Ersatz aufbieten. Trotz unsicherer Situation: Für viele Kulturschaffende sind die Sternschnuppen ein Lichtblick. «Die Dankbarkeit ist enorm», sagt Cécile Steck.
Ein Defizit als Zeichen der Stärke
Der Verein nimmt für die diesjährigen Sternschnuppen bewusst einen Verlust hin. Selbst bei einer Absage wäre der Verlust beträchtlich gewesen. Die Kulturschaffenden hätten in diesem Fall 30 Prozent der Gage als Ausfallentschädigung erhalten, wie Oli Krieg, Hüter der Sternschnuppen-Finanzen, berichtet. Auch nach seiner Pensionierung engagiert sich der vormalige Schützi-Geschäftsführer für die Kultur. Jetzt, wo die Sternschnuppen stattfinden sollen, rechnet der Verein mit einem höheren Verlust. Mit kleinem Publikum wird die Kollekte als wichtigste Einnahmequelle viel tiefer ausfallen. Der Kulturadventskalender hofft darum zudem auf Kollekten, die auch über den Videostream möglich sein werden. «Wir können uns die Durchführung nur leisten, weil die Sternschnuppen in den letzten beiden Jahren so erfolgreich waren», sagt Oli Krieg.
TeKiTeKua bei einer Tanzshow an den Oltner Sternschnuppen. Foto: André Albrecht
Der Kulturadventskalender erhält Beiträge von Kanton und Stadt – kann aber auch auf treue Sponsoren zählen. «Sie garantierten uns alle trotz reduziertem Publikum ihr Engagement», sagt Finja Basan, «einige sprachen uns sogar mehr Geld zu». Die Partner erhalten als Abendsponsoren eine der 23 Sternschnuppen als Plattform. Gemeinsam mit Tabea Glinz gehört Finja Basan zu den Neulingen im Sternschnuppen-Kernteam und verantwortet die Öffentlichkeitsarbeit und das Sponsoring.
Auch Lucian Kagerer ist neu in der Kerngruppe dabei und für die Infrastruktur zuständig. Er fand über den Kulturverein Mission8 zu den Sternschnuppen. Wegen der Pandemie verzichtet der Kulturadventskalender in diesem Jahr auf einen Standortwechsel und bleibt in der Schützi stationiert. «Logistisch ist dies ein Vorteil», sagt der Student. Jedoch gehören die diversen Spielorte zu den Sternschnuppen dazu. Dies soll auch so bleiben, wenn die «Normalität» zurückkehrt.
Transparenz-Hinweis: Ihr kennt Finja Basan als unsere Concierge – bei den Sternschnuppen ist sie für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Kolt ist Sponsor der 23 Sternschnuppen.
Alle Infos zu den Sternschnuppen: https://www.23sternschnuppen.ch/ Da nur 30 Plätze pro Abend verfügbar sind, besteht eine Reservationspflicht. Tickets sind online, in der Buchhandlung Klosterplatz und bei Olten Tourismus erhältlich. Das Kino Koni und Kino Capitol übertragen die Sternschnuppen jeweils live: Reservationen über youcinema.
Im Oltner Parlament gehören sie zu den grauen Männern. Wer sie im Gemeinderat in der Konfrontation erlebt, könnte meinen, dass die beiden nicht viel mehr als das fortgeschrittene Alter und die Liebe zu Olten eint. Felix Wettstein (Grüne) und Urs Knapp (FDP) sind auf der Oltner Politbühne die weisen Dinosaurier. Sie kämpfen im Parlament für ihre Anliegen, die scheinbar diametral verschieden sind. Wir haben die beiden Vollblutpolitiker zusammengebracht. Auch um zurückzuschauen, aber hauptsächlich, um in die Zukunft zu blicken, welche vor allem die ihnen nachkommenden Politikerinnen gestalten werden. Und siehe da: Urs Knapp und Felix Wettstein haben doch mehr gemeinsame Nenner als gedacht.
Wer von den Finanzen einer Stadt spricht, spricht über die künftige Entwicklung. Was braucht Olten, um lebenswert zu sein?
Urs Knapp: Eine Stadt ist dann lebenswert, wenn sie nachhaltig ist. Es kann nicht sein, dass die heutige Generation der künftigen Generation eine Stadt hinterlässt, die schiefe Finanzen hat.
Und wenn ich Sie nach konkreten Bauprojekten frage?
Knapp: Wir müssen uns zuerst überlegen, was diese Stadt sein soll. Soll es eine Stadt sein, die wächst? Eine Stadt, die bestimmte Gruppen anzieht? Das sind Fragen, die wir nun endlich in der Ortsplanungsrevision diskutieren. Meiner Meinung nach ist der ganze Bahnhofsplatz – als Visitenkarte der Stadt – ein zentraler Punkt. Aber auch das Schulhaus im Kleinholz benötigen wir dringend.
Was sind Ihre Vorstellungen, Herr Wettstein?
Felix Wettstein: Ich kenne niemanden, der gegen das Prädikat «nachhaltig» ist. Man kann nachhaltig so definieren, wie Urs es tut. Ich möchte es ergänzen. Wer die Definition von Urs als die einzig mögliche sieht, hinterlässt vielleicht keine Schulden in Geldform, aber schlechte Substanz. Das ist meine Hauptkritik an der Finanzpolitik der letzten Jahre, die Gegenwart eingeschlossen. Wir vernachlässigen die Substanz, weil wir ständig das Geld nicht ausgeben wollen.
Präzisieren Sie. Wo hat die Stadt zu viel gespart?
Wettstein: Zum Beispiel bei der Umgebungsgestaltung von öffentlichen Bauten, aber auch bei Fussgänger- und Velopassagen, welche die Stadtteile verbinden und den Aarezugang erschliessen sollten.
Knapp: Wer durch die Stadt läuft, sieht nicht vernachlässigte Strassenzüge. Die Stadt hat selbst in den sehr schwierigen Jahren 2013-2016 hohe Investitionen getätigt. Olten hat momentan mit rund 16 Millionen Franken eine mittlere Investitionstätigkeit und liegt somit höher als der Durchschnitt der Schweizer Städte mit bis zu 30’000 Einwohnern. Wir können darüber diskutieren, ob man am richtigen Ort investiert hat.
«Aber mal etwas Besonderes machen, was wagen und eins aufs Dach kriegen, das mögen wir nicht.»
Urs Knapp
Pflichten Sie bei, Herr Wettstein?
Wettstein: Wenn ich in anderen Kleinstädten des Mittellands zu Besuch bin, aus dem Bahnhof komme und durchs Zentrum gehe, merke ich, dass in den letzten Jahren – gesteuert durch die öffentliche Hand – mehr geschehen ist als bei uns. Wir haben im Vergleich zu anderen Städten eine schlechtere Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum. Wir sind in dieser Hinsicht stehen geblieben.
Im Nachhinein weiss man vieles besser. Wo hätte denn die Stadt investieren müssen?
Knapp: Ich habe manchmal den Eindruck, dass man es in dieser Stadt immer allen recht machen will. Niemand will sich wirklich exponieren. Bei der Debatte zum Bahnhofsplatz hatte ich auch wieder das Gefühl: Wir versuchen das Projekt auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen. Dabei ist er eine wichtige Visitenkarte. Wenn wir schon umbauen, müssten wir uns auch fragen: Wie machen wir eine Veloverbindung? Ob es der Posttunnel ist, weiss ich nicht. Oder statt eines Dächleins könnten wir was architektonisch Ausgefallenes machen. Wir haben manchmal einen Minderwertigkeitskomplex in dieser Stadt. Natürlich ist sie nicht «schön». Der Jura ist nah und das ist gut. Aber mal etwas Besonderes machen, was wagen und eins aufs Dach kriegen, das mögen wir nicht. Das bildet sich wohl auch in den politischen Strukturen ab.
Dann liegts ja an Ihnen.
Knapp: Natürlich. Wir engagieren uns beide mit sehr viel Herzblut für diese Stadt – Felix noch weiter oben. Ich hab mich schon oft gefragt: Was hätten wir anders machen können? Haben wir genug miteinander geredet? Olten Südwest ist so ein Beispiel. Das hätte anders laufen müssen. Wir haben alles abgesegnet.
Wettstein: Die Stadt hätte das Areal übernehmen müssen.
Knapp: Wir hatten den Mut nicht.
Wettstein: Wir Parlamentarier hatten keinen Einfluss. Die Regierung schon.
Knapp: Für 50 Franken pro Quadratmeter hätte die Stadt das Land gekriegt.
Wettstein: Da möchte ich anknüpfen: 23 Hektaren wären sehr günstig zu haben gewesen. Das Areal hätte nicht immer bei der Stadt bleiben müssen. Sie hätte das Land beispielsweise im Baurecht weitergeben können. Mit ein Grund, warum die Stadt die Verantwortung nicht übernahm, war die Angst vor dem Verwaltungsaufwand. Da hiess es: «Wir haben das Personal gar nicht.» Und das ist verkehrt. Es stimmt: Wir haben zu wenig Personal im Planungs- und Baubereich. Darum hinken wir auch mit den spruchreifen Bauprojekten um Jahre hinterher.
Sehen auch Sie dieses Manko?
Knapp: Werden mit dem bestehenden Personal die richtigen Prioritäten gesetzt? Das frage ich mich, wenn ich höre, wie von links bis rechts Investoren – auch kleine – über die Baudirektion klönen, deren Hauptaufgabe es scheinbar ist, zu verhindern. Für Grossprojekte wie den Bahnhofplatz, der alleine für die Planung 9 Millionen Franken benötigt, muss das Personal beantragt werden. Aber dieses muss nicht im Stadthaus angestellt sein. Das sind so spezifische Aufgaben, da können wir nie alle Fachleute hier anstellen. Die zentrale Frage: Was benötige ich für ein Leuchtturmprojekt?
Wettstein: Urs Knapp ist Weltmeister darin, Fragen zu stellen und zu mahnen, die richtigen Fragen zu stellen. Er gibt aber nie die Antwort darauf.
Knapp: Das stimmt nicht. Eben gab ich eine klare Antwort: Die Stadt muss Externe verpflichten.
Wettstein: Nur schon dafür, dass die Stadt gegenüber den externen Fachkräften ihre Interessen vertreten kann, benötigt es mehr Angestellte. Beispiele gibt’s viele: Das Schulhaus im Kleinholz müsste längst stehen. Die Kinder sind da und im Schulalter.
Knapp: Aber es wurde nie gesagt, das Schulhaus stehe wegen zu wenig Angestellten nicht.
Wettstein: Ich kann auch ein anderes Beispiel anführen: Die Dünnernbrücke bei der Mühlegasse haben wir mit sechs Jahren Verzögerung saniert.
Jedes Jahr präsentiert die Stadtregierung im Finanzplan ein 7-jähriges Programm. Ein bunter Strauss an Projekten. Sie wünschen sich jeweils einen klareren Fokus, Herr Knapp.
Knapp: Ich rege mich jedes Jahr darüber auf. Es ist eine Auflistung davon, was man machen könnte. Der Finanzplan ist ein Quell von Ärger, weil er Hoffnungen schürt. Man schaut nicht, ob wir uns dies leisten können. Als Beispiel: Dieses Jahr ist ein neues Bühnenhaus fürs Stadttheater aufgeführt. Nach der Abklärung geschieht dann vier Jahre nichts. Es kann nicht sein, dass Olten in den nächsten sieben Jahren 116 Millionen Franken investiert. Das können wir uns nicht leisten. Wir müssten uns fragen, was in unseren Möglichkeiten ist und auf gewisse Projekte verzichten. Das ist schmerzhaft und vor den Wahlen noch viel schwieriger.
Wettstein: 116 Millionen reichen nicht! Eben weil Olten in der Vergangenheit Investitionen verpasst hat. Dazu gehört die Werterhaltung. Sie machte in den letzten Jahren weit mehr als die Hälfte der Investitionen aus. Und trotzdem leistete die Stadt zu wenig für den Werterhalt. Im Übrigen ist der Finanzplan nach hinten ungenauer. Das ist völlig normal. Das Jahr mit dem höchsten Investitionsvolumen muss immer dasjenige sein, das demnächst anbricht. Im Wissen darum, dass in den folgenden Jahren weitere noch nicht bezifferbare Dinge anstehen. Ein Beispiel sind die Sportanlagen. Was uns in den letzten Jahren faktisch Millionen kostete, erschien nie mehr als zwei Jahre vorher im Finanzplan.
Würden auch Sie sich mehr Leuchtturmprojekte wünschen?
Wettstein: Den fehlenden Mut, den Urs ansprach, teile ich. Ich wünsche mir, dass die Stadt entscheidet, was sie zur Reife bringen will. Aber es ist nicht so, dass wir mit 116 Millionen innert sieben Jahren übermütig wären. Mit 140 Millionen sind wir noch immer bei einer mittleren Investitionstätigkeit. Selbst wenn eine Grossstadt ein Schulhaus baut, liegt sie in dieser Zeit üblicherweise im Bereich «hohe Investitionstätigkeit». Oder wenn sie einen Bahnhofsplatz realisiert. Neben anstehenden Grossprojekten können wir den Werterhalt nicht schleifen lassen.
Knapp: Die Stadt kommt mit 116 Millionen Franken auf einen Nettoverschuldungsquotienten von 135 Prozent (der Quotient gibt an, welcher Anteil der Steuern notwendig wäre, um die Nettoschuld zu tilgen, Anm. d. Red.). Wenn du über 150 Prozent bist und noch mehr investieren willst, müssen die neuen Investitionen mindestens zu 80 Prozent selbstfinanziert sein. Im neuen Finanzplan sind wir bei rund 40 Prozent. Was wir entscheiden können, ist, wie wir das Geld einsetzen wollen. Wenn ich durch Olten laufe, habe ich nicht das Gefühl, ich sei in einer Drittweltstadt. Mir fallen keine Ziegel auf den Kopf.
Wettstein: Im Moment sind wir froh, dass der Ländiweg abgesperrt ist. Du gehst wohl nie dort durch.
Knapp: Das ist mir zu gefährlich. Ich will doch nicht in der Aare landen (lacht).
«Wenn es in nächster Zeit schwieriger wird, hat dies mit der kantonalen Steuerpolitik zu tun.»
Felix Wettstein
Zurück zum Finanzplan. Was die Steuereinnahmen betrifft, skizziert die Verwaltung ein düsteres Zukunftsbild.
Wettstein: Die düsteren Aussagen gründen auf jenen Faktoren, die von uns nicht beeinflussbar sind. Wenn es in nächster Zeit schwieriger wird, hat dies mit der kantonalen Steuerpolitik zu tun. Im Bereich der juristischen Personen erwartet uns im übernächsten Jahr die Hälfte der jetzigen Einnahmen (aufgrund der Unternehmenssteuerreform, Anm. d. Red.). Und für die Steuern der natürlichen Personen gibt es Bestrebungen, die etwas Ähnliches wollen (Die Volksinitiative: «Jetz si mir draa», Anm. d. Red.).
Wettstein: Den finanziellen Spielraum auf der Einnahmenseite durch Unternehmenssteuern bestimmen andere. Darum ist entscheidend, was wir daraus machen. Im ersten Finanzgrundsatz in unserem Buch zum Budget, das wir jedes Jahr erhalten, steht sinngemäss:Die Stadt Olten muss sich jene Einnahmen sichern, die es für die Bedürfnisse der Bewohnerinnen benötigt. Damit ist der Steuerfuss gemeint.
Darüber müssen wir sprechen.
Wettstein: Der Steuerfuss ist mit 108 Prozent viel zu tief. Weit tiefer als dies für eine Stadt mit Zentrumsfunktion wie Olten angemessen ist. Wir haben keine reiche soziale Schicht, aber sie liessen sich auch in jener Zeit der tiefen Steuern nicht anlocken. Die Menschen ziehen aus praktischen Gründen nach Olten. Wir tun immer, als ob wir mit dem Steuerfuss bewirken könnten, plötzlich gleich reich zu sein wie Gemeinden am Zugersee oder an der Goldküste. Aber wir haben kein Seeufer.
Herr Knapp, Sie verfechten alle Jahre wieder den tiefen Steuersatz.
Knapp: Wir müssen schauen, wo wir im Umfeld stehen. Das ist nicht Zug oder Nidwalden. Unsere Konkurrenzstädte sind andere: Sissach, Liestal, Aarau, Baden, Zofingen, Sursee, Langenthal, Burgdorf und Solothurn. Neulich hat eine Immobilienberatungsfirma ein Ranking erstellt, in welchem Olten im Vergleich mit den Konkurrenzstädten vor Langenthal auf dem vorletzten Platz landete. Ein Grund dafür: Die Steuerbelastung. Vor allem Ein- und Zwei-Personen-Haushalte bezahlen in Olten Steuern. Zum einen Menschen, die lange hier wohnen. Mehrheitlich aber Menschen, die hinziehen. Und wir schaffen es nicht, sie hier zu behalten. Das erlebe ich immer wieder bei Arbeitskollegen.
Wettstein: Das hat sich geändert. Meine Frau und ich halten Olten seit 25 Jahren die Stange. Gutverdienende Menschen bleiben vermehrt. Den Traum vom freistehenden Einfamilienhaus im Grünen träumen heute nicht mehr so viele.
Knapp: Man träumt vielleicht von Aarau, von Baden oder Sursee. Dann nämlich, wenn eine Familie merkt, dass sie dort 5000 Franken weniger Steuern bezahlt.
Wettstein: Das sind eben nur jene, die wie Urs denken. Sie überlegen nicht, dass sie in Aarau 8000 Franken mehr fürs Wohnen bezahlen müssen. Oltens positive Entwicklung der letzten Jahre zeigt sich übrigens daran, dass der Stadtrat in seinen Prognosen die Steuereinnahmen der natürlichen Personen immer unterschätzte. Bei gleichbleibendem Steuerfuss stiegen die Einnahmen der natürlichen Personen etwas stärker als das Bruttoinlandprodukt.
Knapp: Aber wir müssen die Steuerstruktur anschauen. 25 Prozent der natürlichen Personen zahlen nur die Kopfsteuer. 15 Prozent der Steuerpflichtigen kommen für die Hälfte der Steuereinnahmen auf. Bei den juristischen ist’s noch extremer. In Olten zählen wir 1600 juristische Personen. Drei Unternehmen bezahlen 40 Prozent der Steuern. Zu diesen müssen wir Sorge tragen: Wenn ein Unternehmen geht, dann müssen wir unglaublich viele andere anziehen, um dies zu kompensieren.
Wettstein: Das ist nichts Neues. Bis 2012 hatten wir ein viel extremeres Klumpenrisiko. Ein Unternehmen (die Alpiq, Anm. d. Red.) machte fast ein Drittel der Steuereinnahmen aus. Schlagartig gingen 2013 die Einnahmen von 40 Millionen auf nur noch 12 Millionen Franken zurück. Und zur Kopfsteuer: Im Kanton Solothurn verlangt eine Handvoll Gemeinden 50 Franken, Olten gehört dazu. In den meisten beträgt die Kopfsteuer 20 Franken – 39 Gemeinden verzichten ganz auf diese unsoziale Steuer. Als Oltner schäme ich mich.
Knapp: Warum denn? Jede Person, die 50 Franken bezahlt, bezieht ein Mehrfaches an städtischen Leistungen.
Wettstein: Für eine vierköpfige Familie nahe am Existenzminimum schenken 200 Franken ein. Steuern haben eine Solidarfunktion. Das ist politisch gewollt und das sollten wir verteidigen.
Knapp: Für mich ist die Kopfsteuer der Betrag, den man bezahlt, wenn man in Olten wohnt.
Wettstein: Dann sollte er sich bitte nicht nur auf das Wohnen in Olten beziehen, sondern auch auf den Tagin Olten. Wer hier arbeitet, bezieht auch eine Leistung der Stadt, bezahlt aber hier keine Steuern.
Knapp: Indirekt schon. Die Swisscom bezahlt hier nach Anzahl Angestellten einen Steuerbetrag.
Wettstein: Den Gedanken finde ich spannend: Wer profitiert von den städtischen Leistungen und wer trägt dazu bei? Eine Kleinstadt mit einer Lage wie Olten erbringt Leistungen, die etlichen Zugpendlerinnen zugutekommt. Meine persönliche Vorstellung wäre: Ich schulde meine kommunalen Steuern zu zwei Drittel dem Wohnort, zu einem Drittel dem Arbeitsort.
Knapp: Das wäre Bundesrecht. Der Hauptgraben ist zwischen Stadt und der Agglomeration beziehungsweise dem Land.
Wettstein: Es ist immer so: Wer einen bisherigen Zustand durch einen gerechteren auflösen will, stösst auf Widerstand bei jenen, die mehr bezahlen müssten.
Eine Möglichkeit, um städtische Infrastruktur zu stemmen, wäre die Fremdfinanzierung: Wäre für Sie denkbar, dass die Stadt etwa eine Dreifachturnhalle mit Unterstützung von Privaten erbaut?
Knapp: Wenn sich eine Möglichkeit ergibt, warum nicht? Manchmal sollten wir ein wenig spinnen: Man könnte den Munzingerplatz fünf- oder sechsstöckig überbauen. Die unteren beiden Stockwerke fürs Kunstmuseum, oben ein privater Investor, der Geld verdienen kann. So kommen wir gratis zu einem Museum und gleichzeitig können wir vorne den Platz vergrössern. Unten machen wir eine Garage rein.
Wettstein: Wenn jemand mitfinanziert, ist dies zu begrüssen. Das Dümmste, was eine Stadt machen kann, ist aber, den Besitz aus der Hand zu geben. Das gilt nicht nur für Gebäude an zentraler Lage, sondern auch für innerstädtische Verbindungen – siehe Winkelunterführung. Wir könnten sagen: «Das ist doch egal, wenn ein Privater die Dreifachturnhalle baut.» Als Beispiel haben wir die Giroud-Olma-Halle: Wenn wir hochrechnen, was der Kanton jährlich bezahlt, um dort das Lehrlingsturnen stattfinden zu lassen, haben die Eigentümer die Halle wahnsinnig schnell amortisiert. Darum: Städtische Infrastruktur gehört in den Besitz der Allgemeinheit.
Knapp: Das würde heissen: Du wärst für den Verkauf der Kirchgasse 8. Wenn dort kein Museum mehr drin ist, hat es keine öffentliche Nutzung mehr.
Wettstein: Wir haben ganz bestimmt künftige öffentliche Nutzungen dort zu realisieren. Nebst der Frage, ob man das Gebäude selbst nutzt, spielt auch die städtebauliche Situation eine wichtige Rolle. Grund und Boden lässt sich nicht vermehren, daher soll er in der öffentlichen Kontrolle bleiben.
Knapp: Mit dieser Maxime ist eine Public-Private Partnership (Fremdfinanzierung durch Dritte, Anm. d. Red.) unmöglich. Das widerspiegelt eine Weltanschauung, die ich falsch finde: Die Stadt weiss es angeblich immer besser. Ein Privater will immer nur Profit machen.
Wettstein: Es gibt auch andere Beispiele. Aber Immobilien leben oft länger als die aktuelle Nutzung. Daher macht es an strategisch wichtiger Lage Sinn, dass die Stadt die Nutzung steuert.
«Warum stehen wir beim Kanton nicht hin und sagen, was wir wollen?»
Urs Knapp
Zum angesprochenen Kunstmuseum: Sie fordern einen klareren Plan, wohin die Stadt will. Das Parlament hat eine halbe Million für den Architekturwettbewerb gesprochen. Rund 14 Millionen Franken wird das neue Kunstmuseum die Stadt kosten. Ist dies einer Ihrer geforderten Leuchttürme?
Wettstein: Ja. Das Museum gehört zu jenen Projekten, bei welchen nicht viel Zeit verstreichen darf.
Knapp: Was macht ein Kunstmuseum in Olten? Und ist ein Kunstmuseum wertvoller als ein Bühnenhaus im Stadttheater? Das wären Fragen, die wir uns stellen müssten. Wir haben einfach nicht die Finanzen für alles. Wenn wir ein Kunstmuseum wollen, warum dort? Könnte dieser Ort nicht ein Entwicklungsnukleus für mehr sein? Jede öffentliche Einrichtung in Olten muss eine Strahlkraft haben, die etwas bewegt. Dazu vermisse ich bis jetzt das Konzept.
Wettstein: Du sprichst dich gegen ein Kunstmuseum in Olten aus. Sag es doch einfach.
Knapp: An diesem Standort ist es weder Fisch noch Vogel. Was soll das Kunstmuseum in Olten speziell bewirken?
Wettstein: Und ich sage einmal mehr: Du stellst nur Fragen. Sag doch du, was du willst.
Knapp: Wenn wir ein Kunstmuseum machen, muss es über die ganze Deutschschweiz leuchten. Bringen wir dies nicht fertig, brauchen wir kein Kunstmuseum.
Wettstein: Das sehe ich nicht gleich. Ich wünsch mir auch, dass es leuchtet. Teilweise hat das Museum dies auch geschafft. Aber ein Kunstmuseum besteht nicht bloss aus aktuellen Ausstellungen. Es hat eine wichtige Funktion zum Erhalt des kulturellen Erbes. Das ist viel Arbeit und benötigt Platz.
«Es stimmt nicht, dass wir eine arme Stadt sind.»
Felix Wettstein
Einige argumentieren salopp und sagen: «In Olten steht ohnehin vieles leer, also haben wir lieber ein Kunstmuseum.»
Knapp: Dies lässt sich auch umdrehen. Was das Kunstmuseum an kulturell-historischer Arbeit macht, muss nicht an bester Lage geschehen. Wir könnten Pop-up-Ausstellungen machen, die nach allen Kulturexperten deutlich mehr Erfolg haben. Eine Sonderausstellung im ehemaligen Globus, dann wieder eine an einem anderen Standort.
Wettstein: Auf meinen Ferienreisen schätze ich den Wert von Multisparten-Museen, die nebeneinander stehen. Ich kann entscheiden: heute gehe ich ins Historische, morgen ins Kunstmuseum. Das treffe ich etwa in Schaffhausen an. Überdies hat die politische Debatte stattgefunden. Wir wollen die drei kommunalen Museen in unmittelbarer Nachbarschaft, weil sie voneinander profitieren.
Wenn wir zur Finanzstrategie zurückkehren. Wie könnten wir auf eine klarere Vision kommen?
Wettstein: Mit einem anderen Reden über unsere eigene Stadt. Es stimmt nicht, dass wir eine arme Stadt sind. Wir sind zwar keine hyperreiche Stadt. Inzwischen sind wir aber finanziell gut aufgestellt, können uns etwas leisten. Das dürfen wir laut und deutlich sagen. In den Jahren 2013-14 hatten wir einen absoluten Taucher, aber jetzt müssen wir uns von diesem Bild lösen, das da herumgeboten wird. Wir können uns jetzt auf den Weg machen, um die Stadt auf Vordermann zu bringen.
Was haben Sie diesem Optimismus zu entgegnen?
Knapp: (lacht) Ich wünsche mir auch mehr Selbstbewusstsein. Dann würde sich eine Stadt nicht so aufregen, wenn Deville eine komische Sendung macht. Wir werden nie New York und auch nicht das Seefeld-Quartier in Zürich sein.
Wettstein: Und auch kein Montreux.
Knapp: Wenn schon, dann eher das Lavaux nebenan. Das wär doch was (lacht). Wir sollten mal ausserhalb der Box denken. Ich habe das Gefühl, wir sind noch immer das Land-Städtlein vor 600 bis 700 Jahren, das von der Ambassadorenstadt geprügelt wurde. Warum stehen wir beim Kanton nicht hin und sagen, was wir wollen?
Erst diente die Langenthaler Institution ToKJO als Vorbild für Olten: 2018 führte sie für die Stadt eine Sozioanalyse durch. Nun erhält sie ab 2021 den Auftrag für die SIP (Sicherheit-Intervention-Prävention). Ab nächstem Jahr hat Olten somit eine mobile Organisation, die sich im öffentlichen Raum für das Miteinander einsetzt. Will heissen: Sie hilft Konflikte zwischen unterschiedlichen Interessensgruppen zu lösen, unterstützt drogen- und alkoholsuchtkranke Menschen und erfüllt ordnungsdienstliche Aufgaben, worunter beispielsweise Littering-Probleme fallen. In der Schweiz setzen bereits 38 Städte auf einen Sozial- und Ordnungsdienst dieser Art. ToKJO erhält den Auftrag über die kommenden drei Jahre, die Dienstleistung kostet die Stadt jährlich 150’000 Franken.
Auf öffentlichen Druck installierte der Stadtrat im Sommer kurzfristig eine Sicherheitsfirma. Die Rückmeldungen waren überaus positiv. Wäre eine weitere Zusammenarbeit nicht denkbar gewesen?
Marion Rauber: Eine SIP und ein «einfacher» Ordnungsdienst sind einfach zwei verschiedene paar Schuhe – obwohl auch ich von der Arbeit der Sicherheitsfirma positiv überrascht war. Der Ordnungsdienst über die Sommermonate hat uns gezeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Mit ihrer Ausrichtung stiess die Sicherheitsfirma aber an ihre Grenzen. Gerade im sozialen Bereich, wäre es ihr nicht möglich, Hilfestellung zu bieten und etwa suchtkranke Menschen mit den Fachstellen zu vernetzen.
Mit der LU-Sicherheitsdienst AG weiterzumachen, war also zu keiner Zeit eine Option?
Das hätte nur geschehen können, wenn die Stadt eine ergänzende Sozialhilfe einrichtet. Entweder hätten wir eine eigene Sozialhilfe aufbauen oder die Dienstleistung extern einkaufen müssen. Das war für mich keine Option und hätte zu Irritationen geführt. Dann würde der Ordnungsdienst sagen, die Suchtproblematik gehe ihn nichts an, und demgegenüber die Sozialhilfe sich nicht um das Littering kümmern. Das endet im Chaos.
«Bei diesen Patrouillen-Teams ist immer eine ausgebildete Sozialarbeiterin dabei. Das ist mir extrem wichtig.»
Den Rollenkonflikt, dass eine Sozialhilfe bei den Klienten das Vertrauen verliert, wenn sie zugleich für Ordnung sorgen muss und im Extremfall die Polizei beizieht, sehen Sie nicht als Problem?
Nein, auch aufgrund der Rückmeldungen von anderen SIP-Organisationen. Wir sind eine zu kleine Stadt, um mehrere Organisationen loszuschicken, die sich hier um den öffentlichen Raum kümmern. In Zürich oder Luzern mag dies funktionieren. Ich vertraue auf die Professionalität der SIP. Die Polizei würde nur beigezogen, wenn es beispielsweise um Gewalt geht.
Was zeichnet die Organisation gegenüber einer Sicherheitsfirma aus?
Bei diesen Patrouillen-Teams ist immer eine ausgebildete Sozialarbeiterin dabei. Das ist mir extrem wichtig. Wir haben in Olten nicht viele Menschen, die Hilfe benötigen. Aber für diejenigen, die sie annehmen möchten, will ich Profis haben. Das Team von ToKJO ist zudem mit der Region vertraut, einige Angestellte sind auch hier wohnhaft.
Aus der Zusammenarbeit mit der Sicherheitsfirma schliesst Franco Giori, Verwaltungsleiter Sicherheit und Ordnung, dass in der Stadt eine Einrichtung wie ein «Fixerstübli» fehlt. Ein Ort, wo die suchtkranken Menschen sauber Drogen konsumieren können.
Mit der Institution Herol haben wir eine offizielle Abgabestelle in der Stadt. Dort können Schwerstsüchtige ihren Stoff beziehen. Das Programm läuft gut und gibt diesen Menschen eine Struktur, die vielen auch den Wiedereinstieg ins alltägliche Leben erleichtert.
Aber das scheint die Problematik vom Drogenkonsum auf den öffentlichen Toiletten nicht zu lösen.
Für diesen Fall könnte womöglich die Suchthilfe Ost künftig als Anlaufstelle dienen. Vor dem SIP-Projekt dachten wir für eine mobile Sozialhilfe an die Suchthilfe Ost. Jedoch signalisierte sie immer die Haltung, dass sie nicht aufsuchend wirken möchte. Hinzu kommt, dass die Suchthilfe Ost einen Leistungsauftrag für etliche Gemeinden zu erfüllen hat. Wir können auch als Zentrumsstadt nicht beliebig Ansprüche stellen.
Die Erfahrungen mit dem Ordnungsdienst im Sommer zeigten, dass eine enge Zusammenarbeit mit der Stadt förderlich ist. Wem rapportiert die SIP?
Die Verwaltung der Stadt wird gefordert sein, da das SIP-Projekt direktionsübergreifend Einfluss hat. Die SIP wird an die Sozialdirektion rapportieren. Wir wollen wissen, was uns ihre Arbeit bringt. Ich erwarte schnelle und effiziente Lösungen. Auch die Arbeitsgruppe «Sicherheit im öffentlichen Raum» wird dabei mithelfen. Darin sind alle wichtigen Organe vertreten: Polizei, Suchthilfe, Werkhof, Sozialamt und die Stadt.
Beyto wirft sich aufs Mofa und umklammert Mike mit beiden Händen. An seiner Linken leuchtet der Ehering. Mike drückt aufs Gas und fährt davon, zurück bleiben Beytos Eltern und die frisch vermählte Seher. Nach der erzwungenen Hochzeit in der Türkei enteilt Beyto mit seinem Geliebten dem Leben, das er nicht gewählt hat.
Die Szene steht sinnbildlich für die Zerreissprobe, die Gitta Gsells neuen Film «Beyto» zu einem gefühlsstarken Drama macht: Schwul sein zwischen zwei Welten. Die Schweizer Filmregisseurin hat den Roman «Hochzeitsflug» des türkischstämmigen Schweizers Yusuf Yesilöz verfilmt. Es ist eine Geschichte über den gesellschaftlichen Druck, sich nicht in einen Mann verlieben zu dürfen.
Die Mofaszene mit den beiden Hauptdarstellern ziert das Filmcover, das derzeit an vielen Schweizer Kinos prangt. Auch von der Anzeigetafel des Kino Koni leuchtet das Poster auf den Bifangplatz hinunter. Eines der beiden Gesichter auf dem Mofa ist an diesem Abend unter dem Vordach des Kinoeingangs wiederzuerkennen. Dimitri Stapfer dreht sich eine Zigarette. Das breite Lachen ist das gleiche wie jenes von Mike, dem Schwimmtrainer, der seinen Schützling Beyto verführt. Den stählernen Oberkörper hat er gut ein Jahr nach den Dreharbeiten verloren. «Das 30er-Bäuchlein ist wieder da», sagt Dimitri Stapfer beim Gespräch im grün gepolsterten Kinosessel und lacht dabei herzhaft.
Bilder von damals
Als der 32-Jährige das Kino betritt, löst dies bei ihm Kindheitserinnerungen aus. «Ah, hier kam ich immer hin, um DVDs auszuleihen», ruft er. Damals hiess das Kino noch Tiffany und der in Wangen bei Olten aufgewachsene Teenager träumte von einer Schauspielkarriere. Dimitri Stapfer hat es geschafft. Im extravaganten Anzug ging er dieses Jahr über den Teppich am Zürcher Filmfestival. «Beyto» ist eben lanciert und ab Sonntag ist Stapfer in der neuen SRF-Serie «Frieden» als Nazijäger der Bundesanwaltschaft in einer Hauptrolle zu sehen. Zudem steht er auf den Theaterbühnen in Winterthur und Solothurn. Auch wenn ihm derzeit alles zufliegt und er zuletzt als neuer Star betitelt wurde, berührt dies Dimitri Stapfer nicht gross. «Die Niederlage gehört zum Schauspielberuf», sagt er nüchtern.
Momentan scheint es, als könnte nur das Virus seinen Höhenflug etwas ausbremsen. Noch ist ungewiss, ob die Theater diesen Winter öffnen können. Und ins Kino Koni dürfen an diesem Abend bloss dreissig Menschen zur Filmvorführung. Dimitri Stapfer hätte den Saal wohl mit den Freunden aus seiner Jugendzeit alleine füllen können.
Was löst «Beyto» bei dir aus, wenn du ihn dir anschaust?
Ich merke bei Gesprächen nach dem Film, dass er sehr berührt. Die Menschen bedanken sich oft und ich hörte Reaktionen wie «Du erzählst gerade eine Geschichte von einem Freund». Dieser Film ist ein politisches und gesellschaftliches Statement. Das war eine Grundmotivation, um mitzumachen. Homophobie ist nach wie vor in jeglichen Gesellschaftsschichten und Kulturkreisen ein krasses Thema.
Auch in der Schauspielbranche?
Schwule Schauspielkollegen sind froh, wenn sie Heterorollen spielen können, weil dann nicht die Frage aufkommt: Bist du schwul? Mich hat noch nie jemand gefragt, ob ich heterosexuell bin. Wenn ich einen Homosexuellen spiele, höre ich sogleich: Wie war das für dich? Man vergisst schnell, dass in unserer Branche viele homosexuell sind. Und sie werden noch immer stigmatisiert.
Wie hochaktuell das Thema ist, zeigte sich beim Casting: Wie ich gelesen habe, hattet ihr Mühe, die Rolle von Beyto zu besetzen.
Dadurch, dass wir wenig türkischstämmige Schauspieler haben, fehlt die Diversität. Wir mussten daher auf Laienschauspieler setzen und hatten die Rolle entsprechend ausgeschrieben. Viele sagten ab, als sie merkten, dass es um Homosexualität geht. Nicht nur wegen der Familie in der Schweiz, sondern auch wegen den Angehörigen im Ausland. Ich hatte einen Anwärter gecastet. Nach fünf Tagen sagte er ab, weil die Familie in der Türkei davon Wind gekriegt hatte. Seine Eltern hätten kein Problem damit gehabt. Mit Burak Ates hat es dann wunderbar funktioniert. Er liess sich nicht einschüchtern und ergriff die Chance, auch weil er Schauspieler werden will.
Wie fandest du in deine Rolle als Mike?
Ich habe mich nicht auf einen schwulen Mann vorbereitet, sondern auf einen liebenden Menschen. Auf jemanden, der sich verliebt, aber durch äussere Umstände daran gehindert wird. Dabei versuchte ich die Rolle extrem nah bei mir zu lassen: Die Körperlichkeit, Impulsivität und Sprechweise. Ich wollte die Situationen so nehmen, wie ich sie in dem Moment sehe und spüre.
Wieso wähltest du diesen Weg?
Weil ich gemerkt habe, dass Mike einen Charakter hat, der mir sehr ähnlich ist. Und ich fand es eine einfache Form, mit der Liebe zu hadern. Auch mit dieser Kompromisslosigkeit, die Mike prägt. Erst im Verlauf der Geschichte beginnt er, sich zu hinterfragen. Ich wollte keinem Klischee Platz machen, frei von irgendwelchen Stereotypen sein.
Apropos Klischees. Zu Beginn des Films wird die türkische Community stereotypisiert: Kebabbude, Machogesellschaft und heulende Autos.
Natürlich gibt’s ein Spiel mit Klischees. Aber auch visionäre Gedanken und Figuren. Jede Einzelne beginnt sich einmal zu hinterfragen. Die Mutter und der Vater merken: wenn wir den Sohn in die Enge treiben, ist er nicht glücklich. Die Gefahr der Klischees ist vorhanden, aber die Rückmeldungen der türkischen Community zeigen, dass wir den Nagel auf den Kopf getroffen haben. Dass nicht alle Türken so leben und Homophobie nicht überall verbreitet ist, ist den Menschen hoffentlich bewusst. Wir geben gezielt eine bestimmte Sichtweise auf dieses Thema.
Als Profi trafst du auf Laienschauspieler Burak Ates. Wie hat das funktioniert?
Wir haben sehr viel geprobt. Burak musste man ins Spiel einleiten, aber er hat ein grosses schauspielerisches Talent. Gewisse Hemmschwellen wie die Intimszenen gab es, wobei diese für einen Laiendarsteller ohnehin ungewohnt sind. Um das Vertrauen zu gewinnen, gingen wir diese Szenen bewusst als Choreographie an: Wo können wir uns berühren, dass wir uns gehen lassen können? Dies zu entdecken, war eine schöne Arbeit.
Du warst also ein wenig wie sein Mentor. Er hat dich als Bruder bezeichnet.
Das ist herzig (lacht). Film und Theater funktionieren immer nur mit dem Gegenüber.
Du bist im Moment sehr präsent in der Schweizer Filmlandschaft. Ein Zufall?
Nach der Schauspielschule fokussierte ich mich aufs Theater, konnte dann aber einen ersten Film machen (mit «Left Foot, Right Foot» gewann Dimitri Stapfer den Schweizer Filmpreis für die beste Nebenrolle, Anm. d. Red.). So kam ich immer mehr in die Filmbranche. Es fühlt sich sehr gut an. Vor der Kamera kann ich meine Erfahrungen vom Theater nutzen und vom Film fürs Theater lernen – das ergibt eine spannende Symbiose.
Was macht die gesteigerte Aufmerksamkeit um deine Person mit dir?
Dass ich eine stolze Mami und einen stolzen Papi habe. (lacht)
Sonst nichts? Keine stolze Freundin?
Das auch (lacht). Es ist ein Beruf, der von der Aufmerksamkeit lebt.
Auch wenn es für dich rund läuft: Die Kunst- und Kulturszene leidet unter den Einschränkungen. Was macht die Situation mit dir?
In den letzten sieben Jahren war ich fest angestellt, weshalb ich Anrecht auf Arbeitslosengelder und Kurzarbeit hatte. Das hat mir geholfen. Im März hatte ich gewissermassen ein Berufsverbot. Mir machen vor allem die nächsten fünf Jahre Sorgen. Wie ich die Politik kenne, wird sie in erster Linie bei Bildung und Kultur sparen. Vor diesen Auswirkungen habe ich brutal Schiss. Man vergisst immer wieder, dass die Kulturbranche ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist: Grafiker, Fotografinnen, Gastronomen und auch die Tourismusbranche hängen beispielsweise dran. Wir alle machen die Schweiz zu einem attraktiven Arbeits- und Wohnort. Die Situation ist teilweise krass absurd. Für die Swiss gibt’s keine Beschränkung auf fünfzig Passagiere. Dann kriegen sie noch immens hohe Corona-Kredite, erhalten Kurzarbeit und zahlen sich obendrauf riesige Boni aus. Sind wir im falschen Film?
Zur Person In Olten wurde Dimitri Stapfer geboren, seine Kindheit und Jugendjahre verbrachte er in Wangen bei Olten. Mit dreizehn Jahren meldete er sich zum Casting beim Zirkus Chnopf. Und so wurde die Bühne schon als Bub zu seinem Daheim. Während zwei Sommerhalbjahren tourte Dimitri Stapfer mit dem Zirkus Chnopf durch die Schweiz. Heimweh hatte er nicht, im dynamischen Umfeld blühte er auf. «Ich hatte eine unglaublich freie Jugendzeit. Das ist immer noch in mir drin und niemand kann mir das nehmen», sagt er heute. Die Familie zog nach Solothurn, wo Dimitri Stapfer eine Buchhändlerlehre machte. Am Tag der Lehrabschlussprüfung erfuhr er von seiner Aufnahme an der Zürcher Hochschule der Künste. Seit elf Jahren lebt Dimitri Stapfer in Zürich und arbeitet von dort aus in alle Himmelsrichtungen, wie er sagt. Die Geleise führen ihn immer wieder an den Ort seiner Kindheit: «Olten kreuzt meinen Weg immer wieder.»
Auch in Olten wurden verschiedentlich Rufe laut, die Stadt müsse auf den öffentlichen Plätzen für mehr Ordnung sorgen. Im Fokus stehen meist stigmatisierte Menschengruppen. Jugendliche und suchtkranke Menschen, die Alkohol oder härtere Drogen konsumieren. Die SVP lancierte in den letzten Jahren verschiedene Vorstösse. Sie forderte mehr Sicherheit am Ländiweg, regte ein Alkoholverbot in der Innenstadt an. Auch die Oltner Geschäfte schalteten sich ein. Im vergangenen Mai richtete sich der Gewerbeverband mit einem Brief an die Stadt. Die Wortwahl war harsch:
«Es darf nicht sein, dass sich auf den öffentlichen und schönsten Plätzen der Stadt Randständige immer breiter machen und sich an keine Verhaltensregeln halten.»
Der Druck auf den Stadtrat nahm zu. Im vergangenen Frühling legte er dem Gemeindeparlament einen Nachtragskredit für eine SIP (Sicherheit, Intervention, Prävention) vor. Für eine Organisation also, die sich im städtischen Raum bewegt und sich dort für ein friedliches Zusammenleben einsetzt. Sie übernimmt zugleich ordnungspolitische Aufgaben und leistet mobile Sozialhilfe. Nicht nur Grossstädte wie Zürich oder Luzern vertrauen seit Jahren auf eine Interventionsgruppe dieser Art. Auch Langenthal, das im Fall Oltens als konkretes Beispiel diente, verfügt über eine SIP. Es war der Langenthaler Trägerverein ToKJO, der 2018 nach Olten kam und eine Sozioanalyse durchführte. Diese bildete die Grundlage für die dreijährige SIP-Pilotphase im Umfang von 450’000 Franken, wie sie der Gemeinderat im vergangenen Mai guthiess.
Noch im gleichen Jahr wollte der Stadtrat das Projekt lancieren. Jedoch verlief die öffentliche Ausschreibung erfolglos. Er habe kein Unternehmen finden können, das sowohl die ordnungspolitische Aufgabe als auch die mobile Sozialhilfe wahrnimmt, begründete der Stadtrat. In diesem Sommer reagierte er dennoch und installierte eine Sicherheitsfirma als temporären Ordnungsdienst.
Lob von vielen Seiten
Mit orangefarbenen Leuchtwesten zog seit August eine luzernische Sicherheitsfirma durch Oltens Strassen, dies in Rücksprache mit der Kantonspolizei. Olten jetzt! äusserte im Sommer Bedenken. Ein privates Unternehmen, das die Hausordnung durchsetzt? Eine Softpolizei im Auftrag des Gewerbes? «Da ist die Repression dann doch nicht mehr allzu weit weg», schrieb Olten jetzt! Anfang August. Im Spätherbst ist die Skepsis verflogen. Die Stadt hatte mit dem Auftrag an die LU-Sicherheitsdienst AG offensichtlich ein gutes Händchen bewiesen.
Franco Giori, Leiter der Direktion Ordnung und Sicherheit in Olten, war es, der an einer guten Adresse anklopfte. Im Frühsommer hatte er vergebens versucht, aus den nahen Ballungszentren Menschen aus dem Sozialbereich zu engagieren, wie dies Städte in solchen Fällen hin und wieder praktizieren. Die Stadt Luzern, die im Übrigen eine eigene SIP führt, verwies jedoch auf die LU-Sicherheitsdienst AG. Seit Jahren ist sie im Auftrag der Stadt in ordnungspolitische Aufgaben eingebunden. Olten und das Luzerner Unternehmen einigten sich für die Übergangsphase auf einen dreimonatigen Vertrag. Fünfzehn Tage pro Monat war ein fünfköpfiges Kernteam auf Oltens Strassen unterwegs. «Sie durften keine Kontrollen durchführen und niemanden wegweisen», stellt Giori klar.
«Wir haben keine Institution wie ein Fixerstübli, wo die Suchtkranken sauber ihre Drogen konsumieren können.»
Franco Giori, Leiter Direktion Ordnung und Sicherheit
Einer der viel diskutierten Brennpunkte ist der Sockel der Stadtkirche, wo sich alkohol- und drogensuchtkranke Menschen treffen. «Diese Menschen gehören zu uns. Wir wollten ihnen aufzeigen, dass sie jederzeit hier sein dürfen, aber auf andere Rücksicht nehmen müssen», sagt Giori. Nach jedem Besuch rapportierte der Sicherheitsdienst an den Abteilungsleiter.
Ihm sei das Projekt ein wenig ans Herz gewachsen, sagt er. Das Zusammenleben habe sich in diesen drei Monaten merklich verbessert. Rückmeldungen der katholischen Kirchgemeinde, vom Gewerbe und von der Polizei belegen dies gegenüber der Stadt. Giori gelangte selbst zu mehreren Erkenntnissen: Die Wahrnehmung der suchtkranken Menschen werde von der Gesellschaft überzeichnet. Der Ordnungsdienst beschränkte sich derweil nicht auf die vermittelnde Aufgabe. Er meldete auch Littering-Missstände. Beispielsweise wies er auf fehlende Abfalleimer im Bereich des Pontonierhauses hin. Darin sieht Giori ein willkommener Nebeneffekt dieses Engagements.
Eine zweigeteilte SIP?
«Wir haben keine Institution wie ein Fixerstübli, wo die Suchtkranken sauber ihre Drogen konsumieren können», nennt Franco Giori ein weiteres Problem, das zutage kam. Mit der Suchthilfe Ost verfügt die Stadt zwar über eine Institution mit Konsumationsräumen, allerdings stehen diese aufgrund begrenzter Ressourcen nur zu beschränkten Uhrzeiten offen. Für Giori ist nach der Testphase klar: «Die Stadt benötigt zum einen den Ordnungsdienst, zum anderen eine mobil-aufsuchende Sozialarbeit.»
«Wer beide Aufgaben wahrnimmt, ist stetig in einem Rollenkonflikt und Interessenskonflikt.»
Martin Heller, Geschäftsführer LU-Sicherheitsdienst AG
Martin Heller ist Geschäftsleiter der LU-Sicherheitsdienst AG und gehörte selbst dem Kernteam an, das sich mit der Stadt Olten auseinandersetzte. Am Telefon berichtet er uns über die Arbeit seiner Firma. Heller geht mit Giori einig, dass ordnungspolitische Aufgaben und die mobile Sozialhilfe getrennt werden sollten. «Wer beide Aufgaben wahrnimmt, ist stetig in einem Rollen- und Interessenskonflikt», sagt er. Wenn auch die Tätigkeit der LU-Sicherheitsdienst AG sich nahezu mit jener einer SIP deckt, wie Heller mit einem Beispiel aufzeigt: «Wenn jemand auf dem WC am Klosterplatz Drogen konsumiert, warten wir vor der Tür und weisen die Person darauf hin, dass dies nicht der richtige Ort ist und sie doch alles aufräumen soll. Meistens kommen wir mit drogenabhängigen Menschen ins Gespräch und können somit präventiv Verbesserungen für alle herbeiführen. Würden wir aber die Polizei beiziehen, wäre das Vertrauensverhältnis gebrochen.»
Zusätzlich zum Ordnungsdienst sähe Heller den Miteinbezug einer auf Schadensminderung spezialisierten Institution als sinnvoll, die sich mit den Drogenkonsumenten beschäftigt. Er denkt dabei an die bereits verschiedentlich ins Spiel gebrachte Suchthilfe Ost – die Oltner Organisation wird bereits mit anderen Aufgaben durch die Stadt beauftragt. «Sie könnte den suchtkranken Menschen die Möglichkeit anbieten, mit der Krankheit umzugehen. Insbesondere wenn es um Schadensminderung geht», sagt Heller.
Stadtrat hat andere Pläne
Innerhalb kurzer Zeit lernte das Kernteam der LU-Sicherheitsdienst AG ihr Klientel mit Namen kennen. «Seit ihr hier seid, haben wir viel weniger Krach untereinander», hätten sie als Rückmeldung erhalten. Die Stadt baute das Mandat nach erfolgreichem Start geringfügig aus und weitete den ordnungspolitischen Auftrag auf die Schulhausplätze Bifang und Säli aus. «Hier waren wir eher repressiv unterwegs und arbeiteten enger mit der Polizei zusammen», berichtet Heller. Bis Ende Jahr arbeiten seine Leute noch reduziert für die Stadt Olten.
Der Geschäftsleiter der Sicherheitsfirma verbirgt nicht: Gerne würde sie den ordnungspolitischen Auftrag weiterführen. Er lässt aber durchblicken: Die Stadt habe signalisiert, dass sie nach dieser Übergangsphase andere Pläne hat. In den nächsten Wochen will der Stadtrat den Auftrag für eine SIP an eine Organisation vergeben. Diese wird nicht mehr durch Franco Giori, sondern durch die Sozialdirektion der Stadt begleitet. Es sei wichtig, dass die Stadt das Projekt auch künftig eng begleite, führt und lenkt, findet Giori. «Nur so haben wir für dieses Geld einen Mehrwert und Nutzen.»
«Zwei Anbieter stehen bereit; was fehlt, ist ein mutiger Stadtratsentscheid – und schon hätten wir eine SIP, ganz auf Olten zugeschnitten.»
Tobias Oetiker, Olten jetzt!
Der Stadtrat möchte den Oltner SIP-Auftrag an ein Unternehmen vergeben und ordnungspolitische sowie soziale Aufgaben bündeln, wie Tobias Oetiker in einem Meinungsbeitrag für die NOZ schreibt. Der Parlamentarier von Olten jetzt! stört sich daran. Wie Giori und Heller befürwortet Oetiker eine Trennung von ordnungspolitischen Aufgaben und mobiler Sozialhilfe. Er stützt sich dabei auch auf ein Positionspapier von Avenir Social, das zu dieser Empfehlung kommt. «Zwei Anbieter stehen bereit; was fehlt, ist ein mutiger Stadtratsentscheid – und schon hätten wir eine SIP, ganz auf Olten zugeschnitten», schreibt Oetiker.
Vorzeigemodell Langenthal: Sparbemühungen münden in einem Scherbenhaufen Das Modell der Oberaargauer Kleinstadt diente Olten als Vorzeigebeispiel. Seit Jahren schon leistete die Institution ToKJO den mobilen Sozial- und Ordnungsdienst für Langenthal. Ohne Zwang schrieb der Stadtrat in diesem Jahr den Auftrag öffentlich aus, da der vierjährige Vertrag mit der ortsansässigen Organisation auslief. Und so wäre der Zuschlag plötzlich an eine Ostschweizer Firma gegangen, die ein wesentlich günstigeres Angebot machte. Doch das Parlament erteilte den Sparplänen der Stadtregierung eine Absage und lehnte den Kredit ab. Somit hat Langenthal vorläufig keine SIP mehr.
Zwischen 1985 und 2009 hat die Siedlungsfläche der Schweiz um einen Viertel zugenommen. Das entspricht der Fläche des Genfersees. Eine Mehrheit der Schweizer Stimmbevölkerung wollte diese Entwicklung stoppen und nahm 2013 die Revision des Raumplanungsgesetzes (RPG 1) an. Nach neuem Gesetz findet die Siedlungsentwicklung künftig nach innen statt: Verdichtetes Bauen ist das Zauberwort der Stunde. Die Gemeinden dürfen nicht mehr Bauland auf Vorrat halten. Profitieren soll davon die Landschaft und damit auch die bedrohte Artenvielfalt.
2012 hat der Bund im Kampf gegen den Verlust der Artenvielfalt die Strategie Biodiversität Schweiz lanciert. Auch Städte und Agglomerationen spielen in dieser eine Rolle. Das Ziel: Die Natur soll im bebauten Raum ihren Platz haben. Der Bundesrat gab dem Bundesamt für Umwelt 2017 den «Aktionsplan Biodiversität» in Auftrag. Seit bald vier Jahren beschäftigt sich Claudia Moll mit der Frage, mit welchen Instrumenten die Artenvielfalt im Siedlungsraum gefördert werden kann. Wir erreichen die ausgebildete Landschaftsarchitektin per Telefon im Homeoffice in Zürich.
Claudia Moll, Bundesamt für Umwelt
Frau Moll, was für ein Bild kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an Olten denken?
Claudia Moll: Ich muss gestehen, dass ich Olten als Pendlerin zwischen Zürich und Bern vor allem aus dem Zugfenster kenne. Dabei fällt mir die neuere Entwicklung im Bereich der Fachhochschule auf und ich frage mich, wieso alles asphaltiert sein muss. Als ich im letzten Sommer für ein Seminar in der Gegend war, haben wir festgestellt, dass der Asphalt viel Hitze speichert. Eine grünere Freiraumgestaltung mit Bäumen und Flächen, in denen Regenwasser versickern und Pflanzen wachsen können, würden hier zur Verbesserung des Stadtklimas beitragen und gleichzeitig die Biodiversität fördern. Solche Überlegungen muss eine Stadt ganz zu Beginn der Entwicklung dieser Areale machen.
Einfach gefragt: Warum brauchen wir Biodiversität auch im Siedlungsraum?
Es sind verschiedene Aspekte: Wir wollen lebenswerte Städte haben, mit Freiräumen, in denen wir uns erholen können und die Identität schaffen. Sie verhelfen zu einer höheren Standortattraktivität und tragen zur Wertschöpfung bei. Artenvielfalt ist aber auch die Grundlage unseres Lebens. Sterben noch mehr Arten aus, funktionieren die Ökosysteme nicht mehr. Dass unsere Ressourcen endlich sind und wir handeln müssen, wissen wir schon lange. Noch fehlt aber das Wissen darüber, wie der Einzelne dies beeinflussen kann. Wenn ich einen Schottergarten vor dem Haus mache, schaffe ich einen monotonen Lebensraum, von dem sehr wenige Arten profitieren können. Und nicht zuletzt geht es auch sehr stark um einen emotionalen Zugang. Mit Covid-19 haben wir erfahren, dass attraktive Freiräume in Fussnähe ein Vorteil sind. Artenvielfalt heisst auch, sich in einem angenehmen Umfeld zu bewegen.
Stichwort Schottergärten. In Olten lancierten die Grünen zweimal einen Vorstoss mit dem Ziel, die sterile Gartenform zu verbieten.
Andere Gemeinden praktizieren dies bereits. Ein Verbot ist das eine, die Menschen zu sensibilisieren das andere. Viele Hausbesitzer sind mit der Pflege ihrer Gärten überfordert und wollen möglichst wenig Aufwand damit haben. Es ist ihr Recht, dies so zu entscheiden. Es gibt aber Gestaltungsarten, die einfach zu pflegen sind und trotzdem die Biodiversität fördern. Gemeinden können dies regulieren, indem sie ein Verbot von Schottergärten aussprechen. Bauvorschriften stellt niemand in Frage. Einzelne Städte schreiben etwa die Begrünung von Flachdächern vor. Es kann aber auch über eine Sensibilisierung der Bevölkerung gehen.
Wessen Aufgabe ist es, dies zu tun?
Die Gemeinden an und für sich sind der Dreh- und Angelpunkt, indem sie die Bevölkerung dafür begeistern können. Biodiversität erfährt zunächst oft Widerstand, was wohl mit unserem Ordnungsbedürfnis einhergeht. Mit Anlässen, beispielsweise Spaziergängen, auf welchen die Stadt Beispiele für alternative Gartenformen zeigt, kann Verständnis geschafft werden. Oder die Gemeinden gehen auf ihren eigenen Flächen mit gutem Beispiel voran. Auch Privatgartenbesitzerinnen können einen grossen Beitrag leisten, dass die Biodiversität zunimmt. Grössere Immobilienverwaltungen lehnen vielmals naturnahe Gärten ab, weil sie davon ausgehen, dass der Unterhalt viel teurer ist. Pilotstudien zeigen aber, dass dieser nicht wesentlich aufwendiger ist. Hierzu laufen zurzeit interessante Projekte wie die Plattform «Siedlungsnatur gemeinsam gestalten».
Lässt der Bund die Gemeinden mit dieser Aufgabe nicht zu sehr allein?
Die Umsetzung der Landschaftspolitik liegt nun mal bei den Kantonen und Gemeinden. Der Bund legt die Gesetze fest, erarbeitet übergeordnete Strategien und unterstützt die Gemeinden mit Sensibilisierungsmassnahmen. Je kleiner eine Gemeinde ist, umso schwieriger ist die Umsetzung von «grünen» Projekten. Oft fehlt hier eine spezialisierte Fachstelle. Anders in grossen Städten wie Zürich, wo es sehr gut ausgestattete Verwaltungen mit allen möglichen Abteilungen zu diesem Thema gibt. Olten befindet sich als Kleinstadt auf dieser Skala wohl irgendwo dazwischen.
Der Entscheid ist bedauerlich. Eine Stadt gewinnt an Nachhaltigkeitsthemen, wenn sie hier investiert.
Was sind die grossen Hürden, wenn es darum geht, Artenvielfalt im Siedlungsraum zu fördern?
Die Umsetzung des Raumplanungsgesetzes ist eine grosse Aufgabe, die Kantone und Gemeinden zu lösen haben. Was die Biodiversität angeht, sollte dieses Thema gerade bei der baulichen Entwicklung nach innen von Anfang an mitgedacht werden. Wenn eine neue Überbauung entsteht, sollte die Frage, wie Freiräume lebenswert sein können, von Beginn weg mitgenommen werden.
Viel Grün an der Ecke Florastrasse-Rosengasse: Garten für Alle lässt auf dieser Brache einen naturnahen Garten heranwachsen.
Klima und Artenvielfalt: Wie greifen sie ineinander, wenn es darum geht, in der Stadt Plätze zum Verweilen zu schaffen?
Es sind zwei Themenbereiche, die man unbedingt zusammen denken muss. Manchmal widersprechen sie sich jedoch: Einheimische Gehölze sind zwar aus Biodiversitätsaspekten vorzuziehen. Dem durch den Klimawandel erzeugten Hitzedruck können sie aber oftmals nicht standhalten. Es gilt also, situativ die beste Lösung für Klima und Biodiversität zu finden.
Im Fachjargon spricht man von «ökologischer Infrastruktur». Was heisst das?
Damit ist ein landesweites Netz aus ökologisch wertvollen Lebensräumen gemeint, es besteht aus Lebensräumen von hoher ökologischer Qualität und Vernetzungskorridoren. Im städtischen Gebiet können naturnah bepflanzte Grünstreifen entlang der Strassen Teil davon sein. Diese könnten im Fall von Olten zum Beispiel Waldflächen mit der Aare verbinden.
Die Genfer Agglomerationsgemeinde Meyrin gilt mit ihren Grünräumen als beispielhaft. Olivier Chatelain vom Umweltamt Meyrin sagt im Bafu-Magazin «die umwelt»: «In der Stadt haben sich viele Pflanzen- und Tierarten angesiedelt, die im umliegenden Landwirtschaftsgebiet kaum noch Lebensräume finden.»Sind wir an diesem Punkt angelangt?
Mittlerweile ist die Artenvielfalt in intensiv genutzten Bereichen tatsächlich oft höher als im angrenzenden Landwirtschaftsland. Das Siedlungsgebiet übernimmt eine wichtige Rolle bei der Förderung der Artenvielfalt.
Plötzlich standen Übersee-Schiffscontainer auf dem Feld in Starrkirch-Wil. Die für diese Umgebung fremden Körper bildeten im Sommer 2009 zwischen dem Oltner Siedlungsrand und der Gemeindeverwaltung eine Kunsthalle auf Zeit. «Das gibt Aufregung, das führt zu Dorfgesprächen – ich finde das wichtig», sagt Joe Birchmeier.
Mit buntem Foulard schreitet der Präsident der Starrkirch-Wiler Kulturstiftung am lauen Oktobernachmittag durch die Ortschaft mit der Postleitzahl 4656. Die Kulturstiftung Starrkirch-Will hat die identitätsstiftende Zahl als Wiedererkennungsmerkmal für ihr Wirken gewählt. Sie prangt auf ihrem Logo und stand in den letzten zwanzig Jahren auch für die kulturelle Eigenständigkeit der Kleingemeinde. Joe Birchmeier setzt sich seit Jahrzehnten dafür ein, dass sein Wohnort Kultur initiiert und ihr Freiräume gibt. Er erzählt dies, während er dem «grünen Gürtel» entlang schreitet. Der Hügelzug trennt den Vorort und die nahe Stadt. Das Herbstlicht verleiht Olten von hier aus betrachtet ein charmantes Gesicht. Nach Osten gibt das Weideland den Blick zum Niederamt frei. «Dies soll auch so bleiben», sagt Birchmeier. Durch die Zäsur behält Starrkirch-Wil auch räumlich noch ein klein wenig seinen Dorfcharakter.
Das kulturelle Wirken in der Gemeinde sieht Birchmeier aber bedroht. Das Stiftungskapital neigt sich dem Ende zu. Fürs nächste Jahr plant die örtliche Kulturstiftung mit einer Serie von Kurzfilmen ihr elftes Projekt, das zugleich das letzte sein wird. Seit 2001 leistete die Stiftung alle zwei Jahre einen Beitrag ans kulturelle Leben. Sie verstand ihre Aufgabe darin, Impulse zu setzen und die Dorfbevölkerung, aber auch viele Menschen aus Nachbargemeinden zu überraschen und anzulocken. «Es war immer unser Anspruch, alle Kunstrichtungen anzusprechen. Den Schwerpunkt setzten wir auf vergängliche Kunst», erzählt Birchmeier auf dem Weg zum Restaurant Wilerhof. Vor der Traditionsbeiz steht eine Skulptur des Künstlers Fridolin Huber. Die in Kalkstein geformte Figur erinnert als eines der wenigen Objekte an die Projekte der Stiftung. Sie gehörte dem ersten Skulpturenweg kurz nach der Stiftungsgründung an.
Der wohlwollende Mäzen
Hier in der Traditionsbeiz erhielt die Stiftung 2003 vorzeitig zusätzlichen finanziellen Schub. Bei einem Helferessen der Kulturstiftung war auch der Stifter Fritz Rentsch anwesend. Birchmeier erinnert sich, wie begeistert er sich ob den ersten Projekten zeigte. Der betagte Fritz Rentsch habe das Wort verlangt, sei aufgestanden und habe angekündigt: «Ich überweise der Stiftung nochmals 100’000 Franken.» Ob dies bloss eine der Euphorie geschuldete Ansage war, hatte sich Birchmeier damals gefragt. Wenige Tage später war das Geld auf dem Konto der Stiftung.
«Ich sagte ihm: Solche Gaben gefallen meist nicht allen. Gründen Sie doch eine Stiftung mit dem Geld.»
Joe Birchmeier
Die Entstehungsgeschichte der Starrkirch-Wiler Kulturstiftung ist beispielhaft dafür, wie in einer Gemeinde Kultur aufblühen kann. Drei Jahre vor der geschilderten Episode im Wilerhof war Fritz Rentsch an den damaligen Gemeinderat Joe Birchmeier gelangt. Der Industrielle wollte der Gemeinde ein Kunstwerk im Wert von 50’000 Franken spenden. Birchmeier erinnert sich: «Ich sagte ihm: Solche Gaben gefallen meist nicht allen. Gründen Sie doch eine Stiftung mit dem Geld.» Als dann die Statuten niedergeschrieben waren, wollte der einstige Lektor Fritz Rentsch diese nach seinem Gusto korrigieren. Dabei strich er die festgelegte Beitragssumme durch, schrieb stattdessen 200’000 Franken hin und unterzeichnete. In über zwanzig Jahren hat die Kulturstiftung mit zusätzlichen Sponsorengeldern und Beiträgen aus dem Lotteriefonds rund 650’000 Franken umgesetzt.
Das Vakuum danach
«So einen wie Fritz Rentsch suchen wir», sagt Joe Birchmeier und lächelt. Früher hatte die Gemeinde noch eine Kulturkommission. «Dann kam wie fast überall der Rotstift.» Die Kulturbeiträge fielen weitgehend weg. Die Kulturstiftung füllte zwei Jahrzehnte lang die Lücke. Und nun, wo ihr das Geld ausgeht? «Wenn wir nicht weiterbestehen, dann gibt es ein Vakuum», sagt Birchmeier. Was dann dem Dorf noch bliebe, fragt er sich. Ein Freibad, das ein wenig wie der Dorfbrunnen ist. Ein paar Dorfvereine, die wegen des Mitgliederschwunds auch zusehends mit Nachbargemeinden arbeiten.
Wenn Gemeinden nicht Geld aufwenden, würden Kulturveranstaltungen in der Agglomeration nur noch auf private Initiative entstehen, findet Birchmeier. Kultur sei eine Zentrumsaufgabe, hört der 64-Jährige oft im Dorf. «Die Agglomerationsgemeinden engagieren sich dann aber herzlich wenig, wenn es darum geht, einen Beitrag an städtische Kulturinstitutionen zu leisten», sagt Birchmeier. Er weiss dies aus seiner Perspektive als Verwaltungsratspräsident des Oltner Stadttheaters. Auch zu den Freunden des Oltner Kunstmuseums zählt er. In der Agglomeration fordert er ein stärkeres Engagement der Gemeinden. «Wenn sich in einem Gemeinderat niemand für Kultur interessiert, geht nichts», sagt Birchmeier.
Thomas Schaubs Skulptur «Gefaltet» im Zusammenspiel mit der Jurakette im Hintergrund.
Die Kirche als Wiege für Kultur?
Nach dem Rundgang um den grünen Gürtel steht der pensionierte Unternehmer vor der Gemeindeverwaltung. Auch hier hat die Kulturstiftung mit ihrem Wirken Spuren hinterlassen. Eine Skulptur von Thomas Schaub prägt das Bild vor der Gemeindeverwaltung. Der moderne Bau an exzellenter Lage verrät, dass Starrkirch-Wil finanziell gute Jahre hinter sich hat. Ist das Dorf bereit, künftig Kultur mitzufinanzieren?
«Die Agglomerationsgemeinden engagieren sich dann aber herzlich wenig, wenn es darum geht, einen Beitrag an städtische Kulturinstitutionen zu leisten.»
Joe Birchmeier
Einen Ort für Kultur will die Gemeinde zumindest schaffen. Die christkatholische Kirchgemeinde der Region Olten nutzt die historische Dorfkirche St. Peter und Paul kaum noch und will sie deshalb der Gemeinde verkaufen. Im vergangenen Jahr stimmte die Gemeindeversammlung dem Kaufvorhaben zu. Im geschichtsträchtigen Raum will der Gemeinderat der Kultur Platz geben. Für Joe Birchmeier ein positives Signal. Mit den durch die Kulturstiftung ermöglichten Filmen wird die Kirche in einem Jahr ihre Taufe als Kulturzentrum erfahren. Woher danach die kulturellen Impulse in Starrkirch-Will kommen, bleibt offen.
Wohin bestellt uns der Architekt zum Gespräch? Ins Arcafé. «Architektonisch ist dieser Ort doch ein kleines Ausrufezeichen für diese Stadtseite», sagt Beat Felber vor seinem Kaffee. «Und ich mag diesen Ort, weil Menschen, die ein wenig anders sind, hier eine Aufgabe erhalten.» Die Stiftung Arkadis führt das Café seit bald zwei Jahren. Beat Felber zählt zu den Stammgästen. Den Raum nimmt er nicht nur mit seiner Statur ein, auch mit seiner lockeren Art gewinnt er die Menschen für sich. Beat Felber weiss dies im Leben zu nutzen. «Menschen zu überzeugen, ist meine Stärke», sagt er. Als selbständiger Architekt ist dies ein zentrales Element seines Wirkens. Mit Behörden, Bauunternehmen und Bauherrinnen verhandeln, bis ein Objekt entsteht.
«Ich bin kein Mensch, der Szenarien hunderttausend Mal umdreht.»
Beat Felber
Warum also nicht an der Zukunft Oltens mitbauen, wird sich der 40-Jährige gefragt haben. Mit dem bevorstehenden Abgang von Stadtpräsident Martin Wey wird der CVP-Sitz vakant. Und so sitzt Beat Felber uns als Stadtratskandidat im Arcafé gegenüber. «Du kannst deinen Ort direkt beeinflussen», sagt Felber zu seiner Motivation als Stadtratskandidat. In den kommenden Jahren wird in Olten die Ortsplanungsrevision eines der zentralen Themen sein. «Da könnte ich mich mit meinen Erfahrungen einbringen.» Schafft Felber im kommenden Frühling die Wahl, würde ihm auf der lokalen Politbühne ein steiler Aufstieg gelingen. Erst bei den letzten Parlamentswahlen schaffte er die Wahl in den Gemeinderat. «Ich bin kein Mensch, der Szenarien hunderttausend Mal umdreht», sagt Felber. Oft verlässt er sich auf seine Intuition.
Diese hat ihn auch nach Olten gebracht. Einen weiten Weg musste er damals, nach der Lehre als Hochbauzeichner, nicht gehen. In Egerkingen wuchs er mit zwei Geschwistern auf. Ein Agglo-Kind mit dem Autobahnrauschen im Ohr? Nicht in seinem Fall, widerspricht Felber dem klischierten Bild. Er wohnte nicht am Hang, wo das Rauschen der Autos alltäglich ist, sondern unten in der Fläche. «Die Wohnqualität ist hier einiges höher», gibt er zu. In Olten geniesst der dreifache Familienvater in seinem Daheim oben im Säliquartier Aussicht und Ruhe in einem. «Wenn du abends von Solothurn nach Olten fährst, haben wir hier noch Abendsonne.»
Nach Olten gekommen, um zu bleiben
Beat Felber braucht die grossen Sprünge nicht. Im Dorf aufgewachsen, verspürte er den Drang, wenigstens dort rauszukommen. «Olten ist zwar auch ein kleines Dorf, wenn wir ehrlich sind», sagt er und lacht. Hier in der Kleinstadt schätzt er das Direkte, das Einfache. Dies merkte er, als er während des Architekturstudiums drei Jahre in Luzern wohnte. Und so zog es ihn wieder zurück: «Ich will nicht sagen, ich sei hier hängen geblieben, weil dies so negativ klingt.»
«Die Aussensicht des Pendlers, der als erstes den Ländiweg in seiner heutigen Form antrifft, ist verfälscht.»
Beat Felber
Seit er nach Olten kam, blieb sein Lebensraum stets die rechte Aareseite. Das sei eher zufällig so, erzählt er. In einer Wohngemeinschaft an der unteren Hardegg lebte er seine Jugendjahre. Damals schätzte er das Nachtleben in Kino, Vario, Hammer, Metro oder Terminus. Als Familienvater hat sich seine Perspektive auf die Stadt komplett verändert. Heute schätzt er die nahen Jurahügel mit ihren Wäldern und kennt die Spielplätze. «Die Aussensicht des Pendlers, der als erstes den Ländiweg in seiner heutigen Form antrifft, ist verfälscht», sagt Felber.
Das «C» ist nicht bloss Fassade
Den Bezug zu Olten erhielt Beat Felber früh durch seinen Vater, der als Amtsschreiber in Olten bekannt war. Auch das Gedankengut der CVP bekam er von zuhause aus mit. Die C-Frage stellt sich unweigerlich. «Jetzt wird’s heikel», sagt Felber und lacht. Ja, die christlichen Werte trage er in sich. Der Grossvater war Sakristan, als Bub war Beat Felber Ministrant. Heute besucht er die Kirche vorwiegend im feierlichen Rahmen. Der christliche Hintergrund habe ihn in gewissen Zügen geprägt: «Ich trage ein Urvertrauen in mir und gehe vom Guten im Menschen aus.» Diese Haltung prägt auch seine Politik – und so verortet er sich auch in der klassischen Mitte. «Die Pole zusammenhalten», wolle er, «auch wenn dies in der Aussenwahrnehmung eher unattraktiv erscheinen mag». Spektakel braucht er nicht.
Beat Felber ging stets seinen eigenen Weg und verliess sich immer wieder auf sein Bauchgefühl. So auch nach der Lehre als Hochbauzeichner. Damals, mitten in der Immobilienkrise, waren die Konjunkturprognosen schlecht. Felber war drauf und dran, sich fürs Studium als Wirtschaftsingenieur einzuschreiben. Aus dem Affekt entschied er sich doch für die Architektur, mit der er geliebäugelt hatte. «Willst du das wirklich machen?», habe ihn sein Umfeld gefragt. Ähnlich verhielt es sich, als er den Weg in die Selbstständigkeit wählte. «Was machst du, wenn …?», habe sein Umfeld gefragt. Er aber liess sich nicht beirren.
Zu jener Zeit hatte seine Frau Svetlana Felber das erste Kind geboren. Zehn Jahre später sind der Beruf und die Familie die beiden dominierenden Bausteine in seinem Leben. Nun will er der Politik mehr Raum geben. Das Wesen des Architekten trägt er in sich, wenn er den Blick auf die Stadt richtet. «Wenn du Richtung Aarau und Zürich fährst, fällt auf, dass wir städtebaulich nicht gleich weit sind.» Einige strukturelle Probleme bestünden in Olten, sagt er. «Die Zeichen stehen nicht schlecht. Es ist nichts Irreparables.» Beat Felber sieht Potenzial. Und er möchte gerne mit daran bauen.
Die Tage der grossen Fussball-Spielwiese im stark wachsenden Kleinholz-Quartier sind gezählt. Wo heute noch der FC Olten trainingshalber kickt, wird ein neues Schulhaus entstehen. Und auch gleich eine neue Dreifachturnhalle? Teil 2 unserer Serie zur Hallensituation in der Region.
Bevor Olten neben die Stadthalle eine zusätzliche Dreifachhalle baut, mag die Frage aufkommen: Könnten die Oltner Vereine nicht einfach vermehrt auf Nachbargemeinden ausweichen und deren Infrastruktur nutzen? «Wir haben etliche Male andere Gemeinden angefragt: Trimbach, Däniken, Lostorfund auch Wangen. Aber wir haben nichts gekriegt», sagte Kerem Yildirim, als wir den Handball-Verein Olten vor zwei Wochen im Training besuchten.
«Wir haben etliche Male andere Gemeinden angefragt: Trimbach, Däniken, Lostorf und auch Wangen. Aber wir haben nichts gekriegt.»
Bereits heute weichen die Handballer mit ihren insgesamt siebzehn Teams oft auf Hallen ihrer Partnerklubs in Suhr/Aarau und Buchs aus. Damit ist der HVO nicht allein. Auch Unihockey Mittelland kann den Hallenbedarf mit seinen insgesamt 200 Mitgliedern nur stillen, indem der Klub auf andere Gemeinden ausweicht. Der Unihockeyverein bewegt sich nach einer Fusion der vormaligen UHC StaWi Olten und UHC Zofingen in einem grösseren Ballungsraum. Dies nahm der Klub auch im Vereinsnamen auf, der dadurch etwas umständlich ist: Unihockey Mittelland – Region Olten Zofingen. «Die Hallensituation ist grundsätzlich angespannt, vor allem wenn es um Grossfeldtrainings geht», sagt Markus Meier, Präsident von Unihockey Mittelland. Für die Kleinfeld-Spielform, die nur eine Einfachhalle benötigt, gebe es genügend Angebot. Allerdings: Unihockey Mittelland trainiert zusätzlich in Wangen und Strengelbach, um den Bedarf zu decken.
«Die Hallensituation ist grundsätzlich angespannt, vor allem wenn es um Grossfeldtrainings geht.»
Markus Meier, Präsident Unihockey Mittelland
Nicht bloss in den Agglomerationsgemeinden sind die grossen Sporthallen im Winterhalbjahr voll ausgelastet. Auch in den Nachbarstädten Aarau und Zofingen stösst die Infrastruktur abends an ihre Grenzen, besonders Dreifachhallen sind begehrt. Die Nachfrage nimmt in Aarau zu, wie Marylène Bellmann, Leiterin der Sektion Sport feststellt. Dies sei vor allem auf die gute Nachwuchsarbeit und die Erfolge des NLA-Handballvereins und des Unihockeyklubs zurückzuführen. In Zofingen gab es derweil in den letzten Jahren keine markanten Veränderungen. «Es besteht konstant eine relativ hohe Nachfrage», schreibt Sportkoordinatorin Patrizia Fussen. Das Vereinsangebot wuchs tendenziell – die einzelnen Vereine seien jedoch eher kleiner geworden.
In beiden Städten stehen neue Turnhallenprojekte an. In Zofingen werden zwei Einfach-Turnhallen zurückgebaut und durch eine Dreifachhalle ersetzt, welche die Stadt 2025 in Betrieb nehmen will. Aarau hat in seinem Politikplan 2020 zwei Turnhallenprojekte aufgenommen.
Olten
Aarau*
Zofingen*
Einfach
9
14
8
Doppel
0
2
0
Dreifach
2*
1
1
*Bemerkungen: In Olten ist die Stadt Untermieterin des Kantons der Giroud Olma (ausschliesslich Vereinssport). Aarau verfügt über zusätzliche Sporthallen auf dem Stadtgebiet, die der Kanton und Bund betreiben. In Zofingen sind vier Hallen im Miteigentum mit dem Kanton
Volley Schönenwerd: Der Alleingang
Nur wenige Kilometer von Aarau entfernt, steht eine der modernsten Turnhallen der Region. Die Betoncoupearena ist die Heimstätte von Volley Schönenwerd und wird durch eine eigens geschaffene Aktiengesellschaft geführt. Wie der Name verrät, ist das Projekt aus privater Hand finanziert. Ein Namenssponsor für ein Hallenprojekt in der Provinz? Was Privatpersonen aus dem Umfeld von Volley Schönenwerd initiierten, vollendete die BaS Immobilien AG. Nicht nur deswegen hat die Arena Leuchtturmcharakter.
Beno Meier auf der Tribüne der Betoncoupearena in Schönenwerd.
«Schöni», wie der Volleyball-Spitzenklub in der Region genannt wird, ist vor bald drei Jahren in die eigene Halle eingezogen. Sie ist zugleich auch das Leistungszentrum des schweizerischen Volleyballverbandes. Zuvor musste der örtliche Verein samt seinem Aushängeschild – der NLA-Mannschaft – für Trainings und Meisterschaftsspiele zwischen mehreren Turnhallen im Raum Olten/Aarau pendeln.
«Wir hören immer die Frage: Wie konntet ihr so günstig bauen?»
Beno Meier, Geschäftsführer Betoncoupearena
«Wenn ein grosser Verein Hallenkapazität benötigt, schauen die anderen Vereine schnell in die Röhre», sagt Beno Meier. Er hat das Schönenwerder Projekt von der Geburtsstunde an begleitet und vermarktet die Halle heute als Geschäftsführer. Was die Hallenbelegung in Schönenwerd betrifft, ist die Geschichte schnell erzählt: Der Volleyballverein beansprucht die Betoncoupearena über die gesamte Woche hinweg mit seinen zahlreichen Mannschaften hauptsächlich selbst. Jedoch kriegt auch Volley Schönenwerd die Halle nicht umsonst: Pro Einfachhalle bezahlen Sportvereine für eine halbstündige Einheit 24 Franken Miete. Über Mieteinnahmen und Sponsoring kann die Aktiengesellschaft die Betriebskosten decken, wie Beno Meier sagt.
Das Rezept für den tiefen Preis
Rund fünf Millionen Franken kostete die moderne Anlage. «Wir hören immer die Frage: Wie konntet ihr so günstig bauen?» Meier liefert die Antwort gleich selbst: «Wir haben keine Mehrzweckhalle gebaut, sondern eine Industriehalle mit Sportboden und Zusatzelementen», sagt der Geschäftsführer. Nur Volleyballfeld-Linien, kein Reck an den Wänden und auch keine Fenster, die bei Sonnenschein verdunkelt werden müssen – dafür Platz für bis zu 2000 Menschen und extra hoch angebrachte Duschbrausen für die Volleyball-Hünen.
«Bei uns redete niemand drein», sagt Beno Meier. Kein anderer Verein, keine Musikgesellschaft oder die Gemeinde. Letztere ist nur mit einem kleinen Aktienpaket beteiligt und stellt das Land im Baurecht zur Verfügung. Abends voll ausgelastet, verfügt die Halle tagsüber noch über Kapazitäten. Bloss die NLA-Mannschaft und eine Privatschule belegen sie regelmässig. Für längere Perioden ist jeweils Swiss Volley zu Gast.
Hägendorf: Hallennamen war Politikum
Bereits 2015 weihte die Gemeinde Hägendorf eine neue Mehrzweckhalle ein. Auch diese trägt den Namen einer Firma: Das Logo der Raiffeisenbank prangt an der Arena. Während dem Bau entwickelte sich dies im Dorf zum Politikum. Und zwar weil die Gemeindebehörden über die Details des Vertrags mit der Raiffeisenbank Untergäu schwiegen. Im Gegensatz zum Schönenwerder Modell finanzierte die Bank als private Geldgeberin nicht den Hallenbau. Bekannt ist, dass die Raiffeisenbank 150 000 Franken an das Mobiliar bezahlte. Zudem leistet sie während den ersten zehn Jahren einen Beitrag an die Gemeinde.
«Der Beitrag liegt keinesfalls in Millionenhöhe.»
Walter Müller, Bauverwalter Hägendorf
Das Stillschweigen währt noch heute. «Der Beitrag liegt keinesfalls in Millionenhöhe», sagt Bauverwalter Walter Müller. Den Grossteil der 13,25 Millionen Franken teuren Mehrzweckhalle stemmte also die Gemeinde selbst. 65 Prozent der Stimmberechtigten hatten 2012 dem Kredit zugestimmt. Bald fünf Jahre ist die Halle nun in Betrieb. «Wir sind zu hundert Prozent ausgelastet und können nicht einmal alle Anfragen stemmen», sagt Walter Müller.
Eine geschlagene halbe Stunde Satire im Schweizer Fernsehen nur über Olten. Wird das nicht etwas gar langatmig? «Die Sendung wird von sich zu reden geben. Vor allem im Mittelland», versprach Dominic Deville. Eine kleine Wiedergutmachung sollte der Besuch des Comedians sein. Denn eines hat sich seit Giacobbo & Müller nicht geändert: Auch Deville zieht in seiner Late-Night-Sendung gerne immer wieder über Olten her.
Eigentlich haben wir uns daran gewöhnt. Ja, wir freuen uns fast schon ein wenig darüber. Die Aufmerksamkeit aus Zürich ehrt uns. Denn eines können die meisten Oltnerinnen: über sich selbst lachen.
Aus unerklärlichen Gründen befassen sich Schweizer Medien unglaublich gerne mit Olten. Schon die NZZ oder der Tagesanzeiger haben in den letzten Jahren die lobenden Töne für Olten bemüht und uns zu schmeicheln versucht. «Olten ist mehr als Umsteigen» – oder: «Olten: Lektionen in Demut». Darum: Muss es also sein, dass Deville in den Wiedergutmachungs-Chor einstimmt? Die Antwort, kurz und bündig: Nein. Seine Liebeserklärung hätte nicht sein müssen. (Obwohl dann unser geschätzter Kolumnist Kilian Ziegler nicht zu sehen gewesen wäre.)
Die versuchte Wiedergutmachung hat unsere Lachmuskeln nicht strapaziert. Wir hörten Sprüche über die Masse von Pedro Lenz («dem grössten Schriftsteller der Schweiz»), über den Schokoregen in der Oltner Industrie («die kaputte Lüftung hatte ein ‹Sprüngli›») und natürlich über den nackten Mann, der am Hotelfenster tanzt und die Boulevardmedien begeisterte. Das alles war ein wenig gar platt oder passte zu den üblichen Klischees zum schlechten Image Oltens. Auch das Stadtentwicklungsgebiet Olten Südwest – «es sieht aus wie ein Parkhaus» – fehlt in der Tirade über unsere Kleinstadt nicht.
Stapi Wey macht den besten Part
Der frischeste Moment der Sendung? Als Deville unseren bald scheidenden Stadtpräsidenten zu einem Spaziergang trifft. Hoch oben auf dem Stadthaus liefert Martin Wey die erste Steilvorlage: «Ich gehe nicht zu nah ans Geländer, weil’s mir sonst schlecht wird.» Deville erwidert: «Das kann ich gut verstehen. Aber nicht wegen der Höhenangst, sondern weil ich auf Olten runterschaue.»
«Jo höret uf.»
Martin Wey, Stadtpräsident von Olten
Durch die Innenstadt gibt sich Stapi Wey dann unverblümt, wie er es gegenüber den hiesigen Journalisten selten ist. Ja, Olten habe schon ein wenig italienisches Flair, denn auch in Italien gäbe es auf den Strassen nicht besonders viele Bäume. Und dann rühmt er vor den leerstehenden Ladenflächen an bester Lage den Mut der Oltner Liegenschaftsbesitzer, hier zu investieren.
Die Eingangsfrage, warum Olten einen schlechten Ruf hat, beantwortet die Satiresendung nicht. Wir nehmen’s Deville nicht übel. Das muss sie auch nicht. Auf der Suche nach einer Antwort findet Deville im «Blick»-Reporter Ralph Donghi einen Sündenbock. Möglich zwar, dass dieser mit seinen boulevardesken Beiträgen über Tötungsdelikte oder Unglücksfälle zum düsteren Bild des Mittellands beiträgt. Doch der satirische Angriff auf den Journalisten ist gar lang geraten.
Der Tanz durch die Stadt
Deville bilanziert: «Von aussen bist du dreckig und wüst, aber innendrin doch einfach schmuddelig.» Zum versöhnlichen Abschluss kommt mit dem «Olten-Song» Devilles persönliche Liebeserklärung an die Stadt. Für diese tanzt sich Deville unter anderem durch die schmuddeligsten Unterführungen der Stadt. Zugegeben, davon abgesehen ist der Song ganz ordentlich produziert.
Ein Ziel hat Deville mit seinem Besuch in Olten erreicht. Zu reden gab die Sendung wie von ihm prognostiziert. Zuverlässig bot die Facebook-Gruppe Olten das Gefäss dazu. Das sei schlechte Satire gewesen, so der Tenor. Ein Nutzer schreibt aber:
«Mich musste man quasi nach Olten zwingen … Wer kennt den Film ‹Willkommen bei den Sch’tis›? Etwa so ging es mir. Oltens herber Charme mag sich dem Auge des hastigen Betrachters nicht erschliessen, aber wer Olten erleben will, muss die Augen schliessen und auf sein Herz hören. Satire über Olten ist ein Geschenk. Zum Trost: Es gibt Orte, die so hässlich sind, dass nicht mal das SRF darüber berichtet. Danke fürs Asyl!» Das ist mal eine wahre Liebeserklärung.
Melonengrosse Bälle fliegen durch die Giroud-Olma-Halle und bleiben scheinbar an den Händen der Spielerinnen kleben. In der anderen Hallenhälfte wärmt sich zur gleichen Zeit die erste Männermannschaft vom Handball-Verein Olten auf. Ein gewöhnlicher Montagabend, an dem die beiden Aushängeschilder des örtlichen Grossklubs gemeinsam in der Dreifachturnhalle Spitzenhandball betreiben.
Hier das 1. Liga-Team der Männer, das zum Sprungbrett für die NLA-Spitzenmannschaft vom HSC Suhr Aarau gewachsen ist und letztes Jahr beinahe in die zweithöchste Liga aufgestiegen wäre. Dort die Frauen-NLB-Mannschaft. Auch sie befand sich im Frühling bei Saisonabbruch auf Aufstiegskurs in die höchste Schweizer Liga. «Wir wollen zum grössten und besten Frauenverein im Mittelland werden», sagt Sandro Romeo. Worte, die vom neuen Selbstverständnis des Handball-Vereins zeugen. Gemeinsam mit Kerem Yildirim beobachtet er seine Schützlinge an der Hallentür. Sie führen den Grossklub mit Elena Schibli und Martin Hasenfratz im Co-Präsidium.
Sandro Romeo und Kerem Yildirim in der Giroud Olma.
Die Halle zu teilen, ist beim HVO zur Normalität geworden. Zum einen ist dies dem Erfolg des Vereins geschuldet, zum anderen der knappen Infrastruktur der Stadt. Die Oltner Regierung hat den Turnhallenmangel erkannt und möchte gemeinsam mit dem neuen Schulhaus im Kleinholz eine neue Dreifachturnhalle bauen. Aber kann sie sich dies leisten? Ist die Infrastruktur wirklich vollends ausgelastet? Fragen wie diese haben Gemeindeparlamentarier in den letzten Jahren wiederholt aufgeworfen. Zumal neben dem künftigen Schulhaus, über das die Bevölkerung im kommenden Jahr befinden wird, bereits die Stadthalle steht.
«Wir müssen zunächst wissen, was die künftige Nutzung sein wird.»
Kurt Schneider, Leiter der Oltner Baudirektion
Der grüne Koloss im Oltner Kleinholz gehört mit Baujahr 1979 längst zum Inventar der Stadt. Neben der Giroud Olma ist die Stadthalle die einzige Dreifachturnhalle in Olten geblieben. Mit ihrem Alter von über vierzig Jahren besteht verschiedentlich Sanierungsbedarf. Bereits für dieses Jahr war im Stadtbudget ein neuer Boden vorgesehen. Die Baudirektion stoppte das Vorhaben aber. «Wir müssen zunächst wissen, was die künftige Nutzung sein wird», sagt Leiter Kurt Schneider. Derzeit gibt’s zwei mögliche Szenarien: Sagt die Bevölkerung Ja zur Dreifachturnhalle, bleibt die Stadthalle unter anderem eine Halle für Veranstaltungen und Ausstellungen. Andernfalls muss die Stadt sie zur Turnhalle für den Schulsportunterricht umrüsten und einen geeigneteren Boden einbauen.
Hinter den Bäumen verborgen ragen die knallgelben Lüftungsrohre wie Kamine eines Dampfers in die Höhe. Auf der Wiese neben der Stadthalle sind das Schulhaus und die neue Dreifachturnhalle geplant.
Über die Wintermonate herrscht in der Stadthalle auch abends Hochbetrieb. Jeweils am Donnerstagabend trainiert der Handball-Verein Olten zur gleichen Zeit bis zu siebzig Kinder. In den letzten Jahren ist der Klub vor allem im Nachwuchsbereich rapide gewachsen. In den siebzehn Teams des Vereins spielen insgesamt 300 Mitglieder Handball. «Für Trainings ist die Stadthalle ideal, wir können dank ihrer Grösse bis zu sechs Gruppen bilden», sagt Kerem Yildirim. Er trainiert mit seinem vierköpfigen Trainerteam einmal pro Woche rund 30 Kinder unter neun Jahren. «Nur noch», sagt er und lacht, «weil ich letztes Jahr 25 Kinder weitergegeben habe.»
Für den Spielbetrieb ist die Giroud Olma die Lieblingshalle des HVO, wie Yildirim erzählt. «Hier haben wir schon mit 200 Zuschauerinnen eine gute Stimmung.» In der Stadthalle verpufft die Stimmung bei gleich viel Publikum in der schieren Grösse der Halle. Die über dem Sälipark liegende Giroud Olma ist tagsüber durch die Berufsschule belegt. Seit 26 Jahren schon und somit seit deren Bestehen beansprucht die Stadt die Halle als Untermieterin des Kantons am Abend und an den Wochenenden. Neben den beiden Dreifachhallen verfügt die Stadt über neun Einfachturnhallen.
Nachwuchsbereich boomt in vielen Klubs
Im Winterhalbjahr sind die Oltner Turnhallen zu hundert Prozent ausgelastet, wie die Direktion für Bildung und Sport auf Anfrage schreibt. Nicht bloss der Handball-Verein ist in den letzten Jahren gewachsen. Auch der Unihockey Mittellandund der Oltner Landhockey-Verein melden zunehmenden Bedarf an Hallenkapazitäten. Ihre Nachwuchsabteilungen boomen. Dies lässt sich auch an den Beiträgen ablesen, welche die Stadt für jedes Oltner Kind an die Vereine leistet. Im letzten Jahr belief er sich mit 33’440 Franken (836 Kinder) auf einen neuen Höchststand.
«Sagen wir es so: wir stopfen die Hallen voll, die wir kriegen.»
Sandro Romeo, Co-Präsident Handball-Verein Olten
«Wir rudern erst seit rund sechs Jahren», sagt Co-Präsident Sandro Romeo im Foyer der Giroud-Olma-Halle. Verbittert sind die Oltner Handballer ob der Hallensituation nicht. Innovation sei gefragt gewesen. Der Verein schuf Trainingsgefässe, um mit mehreren Teams gleichzeitig eine Halle zu nutzen, und startet schon am frühen Abend mit den Trainings. Trotzdem müssen viele Mannschaftstrainings bei den Partnervereinen in Buchs oder Suhr/Aarau stattfinden. Einige Juniorenteams trainieren ausschliesslich in kleineren Einfachhallen und können unter der Woche keine Wettkampfsituationen simulieren. «Sagen wir es so: wir stopfen die Hallen voll, die wir kriegen», meint Romeo.
Die zweite Frauenmannschaft bereitet sich im Foyer der Giroud Olma auf ihr Training vor.
Für den HVO ist die aktuelle Situation jedoch keine Lösung auf Dauer. Mehr Trainingseinheiten in grösseren Hallen würde sich der Klub wünschen – im Moment sei der Trainingsbetrieb nur eingeschränkt möglich. «Am liebsten hätten wir eine eigene Halle», sagt Romeo und lehnt sich mit verschränkten Armen in den Stuhl. «Nur wo, und wer bezahlt?» Der Verein diskutierte ein mögliches Projekt intern und tauschte sich mit dem Volleyballklub Schönenwerd aus, der seine eigene Halle vor bald drei Jahren verwirklichte. Weiter gereift sei das HVO-Projekt nicht. Auch weil es für einen Verein mit einem Budget zwischen 200’000 und 300’000 Franken mit Risiko verbunden wäre. «Vor Jahren wäre eine eigene Halle nie ein Thema gewesen», gesteht Romeo. Daher hofft der Handball-Verein auf die bestehenden Ideen und ein neues Schulhaus inklusive Dreifachturnhalle. Zusätzliche Kapazitäten würden entstehen, wodurch sich der HVO mehr Hallenzeiten in Olten erhofft.
Zweifler von links bis rechts
Rund 11,4 Millionen Franken würde die neue Dreifachhalle im Kleinholz kosten. Ein (zu) grosser Batzen, finden einzelne Stadtpolitiker von links bis rechts. Mit einer Interpellation hinterfragten Urs Knapp (FDP) und Philippe Ruf (SVP) im Frühling, ob der Schulbetrieb auf eine zusätzliche Dreifachhalle angewiesen ist. «Mit einer Dreifachturnhalle sind genügend Kapazitäten vorhanden, um den Betrieb des Schulsports für das Schulhaus Kleinholz zu sichern. Entsprechend könnten die quantitativen Bedürfnisse des Schulsports (ohne Vereinssport) auch in einer sanierten Stadthalle abgedeckt werden», schreibt Stadträtin Iris Schelbert. Sie gibt aber zu bedenken, dass die Stadthalle eine der grössten Eventhallen im Kanton ist. Im Jahr 2019 fanden in der Stadthalle 16 Anlässe mit über 500 Besucherinnen statt (insgesamt 94 Mal gebucht). Durch den Auf- und Abbau sei der Schulunterricht jeweils tangiert.
«Wie viel kostet die Halle und wie viel bringt der Sport der Gesellschaft? Diese Frage sollen die Politik und das Volk beantworten.»
«Wie viel kostet die Halle und wie viel bringen der Sport und die Vereine der Gesellschaft? Diese Frage sollen die Politik und das Volk beantworten», sagt Co-Präsident Kerem Yildirim. Für den HVO sei jedes Szenario denkbar. Die Dreifachhalle soll nicht auf der Strecke bleiben. Auch eine Beteiligung an der Halle sei denkbar, sagt Romeo. «Wir wären selbst bei höheren Mietkosten kompromissbereit.» Im Foyer der Giroud-Olma-Halle wird derweil das Luxusproblem des Handball-Vereins sichtbar. Die zweite Frauenmannschaft des HVO ist eingetroffen und macht sich im Foyer warm, während die Fanionteams sich drinnen noch immer die melonengrossen Bälle zuwerfen.
Geschichten haben die Stadtratswahlen schon viele geschrieben. Zwei werden im Frühling enden. Jene von Martin Wey, der nach acht Jahren als Stadtpräsident die Politbühne verlässt. Dreissig Jahre lang ging er im Oltner Betonhochhaus ein und aus. Erst als Rechtskonsulent, danach als Stadtschreiber und mittlerweile während bald zwanzig Jahren als Politiker. Wie kurz die Wege in Olten sind, veranschaulicht eine kleine Geschichte: Als Wey 2001 für den Stadtrat kandidierte und den direkten Wechsel von der Verwaltung zu den Behörden vollzog, da interviewte ihn zwei Monate vor seiner Wahl Markus Dietler. Als Wey gemachter Stadtrat war, übernahm der damalige OT-Redaktor Dietler die Stelle als Stadtschreiber. In dieser Funktion ist Dietler bis heute an der Seite von Wey geblieben.
Die Übriggebliebenen vom «farbigen Olten»
Als Stadtratskollegin ist auch Iris Schelbert eine langjährige Weggefährtin von Martin Wey. Nach drei Legislaturperioden tritt sie im Frühling zurück. Schelbert hatte 2009 als erste Grüne überhaupt die Wahl in die Stadtregierung geschafft. Für Aufruhr sorgte in jenem Jahr eine durch FDP-Exponenten lancierte «Aktion für ein farbiges Olten». Ohne Schelberts und Peter Schafers Einwilligung hatte die Aktion aus dem Hinterhalt sich für fünf Köpfe eingesetzt. Dieses Quintett schaffte letztlich die Wahl und sorgte für ein «farbiges Olten». Von Gelb (für Ernst Zingg) über Hellgelb (Mario Clematide) und Schwarz (Martin Wey) bis hin zu Rot (Peter Schafer) und Grün (Iris Schelbert). Die Aktion hatte das Dreierticket der SP gesprengt; Doris Rauber war abgewählt.
«Es gibt in SP-Kreisen Stimmen, die sich wünschen, dass der Stadtrat links-grüner wird.»
Ruedi Moor, Co-Präsident der SP und Gemeinderat
Längst hat sich das Gesicht des Stadtrats verändert. Einzig Wey und Schelbert blieben übrig. Mit ihrem Rücktritt endet eine über zwei Jahrzehnte währende Ära, die von den beiden Stadtpräsidenten Zingg und eben Wey geprägt war. Seit 2013 und der Abwahl von Mario Clematide hat in Oltens Exekutive Links-Grün die Überhand. Zwischen 2005 und 2009, als der Stadtrat sich nicht mehr aus sieben, sondern bloss fünf Mitgliedern zusammensetzte, besetzte die SP gar drei Sitze. Nur: Das Stadtpräsidium blieb stets dem Freisinn vorbehalten. Und danach stand CVP-Mann Martin Wey der Stadt vor. Holen sich die Sozialdemokraten im kommenden Jahr nun erstmals überhaupt das Stadtpräsidium?
SP liebäugelt mit Dreierticket
«Wir haben zwei Ziele», sagt Ruedi Moor, Co-Präsident der SP. «Wir möchten die linke Mehrheit im Stadtrat behalten. Und wir möchten das Stadtpräsidium besetzen.» Mit welcher Konstellation die SP dies anstrebt, ist derzeit noch offen. Klar ist, dass beide Bisherigen – Marion Rauber und Thomas Marbet – sich wieder zur Wahl stellen wollen. Der 53-jährige Marbet bewarb sich zudem Ende Juni parteiintern für das Stadtpräsidium. In welcher Konstellation die SP antritt, wird sich an der Parteiversammlung anfangs November weisen. «Es gibt in SP-Kreisen Stimmen, die sich wünschen, dass der Stadtrat links-grüner wird», sagt Moor.
Hinter vorgehaltener Hand ist ab und wann zu hören, von der gegenwärtigen Mehrheit sei im Stadtrat wenig zu spüren. Es ist nicht das erste Mal, dass die Sozialdemokraten den eigenen Leuten kritisch gegenüberstehen. 2017 hatten sie den amtierenden Stadtrat Peter Schafer aus dem Rennen genommen. Diesmal scheint dieses Szenario weniger wahrscheinlich – ein Dreierticket und somit Konkurrenz für die eigenen Bisherigen jedoch schon. «Eine Liste mit zwei Frauen und einem Mann wäre für mich persönlich unter den aktuellen Randbedingungen eine gute Variante», sagt Co-Präsident Moor. Noch sei man aber völlig im Unklaren darüber, wie die Bürgerlichen oder auch Olten jetzt! taktieren werden.
Erinnerungen an die Wahlen 2001
Erst Mitte Oktober gab der FDP-Vorstand bekannt, mit einem Zweierticket antreten zu wollen. Neben dem aktuellen Stadtrat Benvenuto Savoldelli wollen die Freisinnigen mit ihrem Präsidenten David Plüss einen zweiten Sitz in der Exekutive gewinnen. Wie die SP überlegte sich die FDP zunächst, gar ein Dreierticket zu stellen. Mit diesem hätte die Partei nicht den Anspruch an die Mehrheit gehabt, sondern eine breite Auswahl präsentiert, sagt David Plüss. Dazu kommt es nun nicht – eine freisinnige Frau wird nicht zur Wahl stehen. «Wir sehen uns nicht stärker in der Pflicht als die anderen Parteien, eine Frau zu bringen», sagt Plüss mit Blick auf die bisherigen Nominationen. SP-Stadträtin Marion Rauber bleibt die einzige Frau im bisher bekannten Kandidatenkreis.
«Wir sehen uns nicht stärker in der Pflicht als die anderen Parteien, eine Frau zu bringen.»
David Plüss, FDP-Präsident
Mit Gemeinderat und FDP-Präsident Plüss reiht sich ein weiterer junger Mann ins Feld der Anwärter für den Stadtrat ein. Der 35-Jährige wuchs in Olten in einer freisinnigen Familie auf. Plüss ist verheiratet und als promovierter Chemiker ist er Leiter Kommunikation beim Verband der Schweizerischen Zementindustrie. Seine Nomination dürfte Ende Oktober Formsache sein. Letztmals hatte die FDP bei den Wahlen 2001 – als der Stadtrat noch ein 7-köpfiges Gremium war – mit drei Sitzen mehr als bloss einen Vertreter gestellt (2009 war Mario Clematide als wilder FDP-Kandidat gewählt).
Offen für alles: die SVP
Abwarten ist bei der SVP die Devise. Ihre Ausgangsposition ist historisch bedingt anders. Während die FDP seit jeher zu den Wortführern im Rat zählte, scheiterte die SVP mit ihren Kandidatinnen bei den Stadtratswahlen stets. Entsprechend macht sich die Partei keinen grossen Druck.
«Es müssen die richtigen Menschen in diesen Stadtrat. Welche Farben sie tragen, ist für uns sekundär.»
Philippe Ruf, SVP-Präsident und Gemeinderat
«Für uns ist es wichtig, die Wahlen ganzheitlich zu betrachten», sagt Philippe Ruf auf Anfrage. Er hofft für die Parlamentswahlen auf die von den bürgerlichen Parteien angestrebte Listenverbindung. Kommt der bürgerliche Schulterschluss – der bis zu den Grünliberalen reichen soll – zustande, würde die SVP wahrscheinlich auch bei den Stadtratswahlen auf eine Kooperation setzen. Auf lokaler Ebene funktioniere dies gut, so Ruf. «Es müssen die richtigen Menschen in diesen Stadtrat. Welche Farben sie tragen, ist für uns sekundär.» Womöglich erst im Dezember wird die SVP endgültig festlegen, wie sie auf die Wahlen im Frühjahr zugeht.
Die Exekutive aufmischen
Für zusätzlichen Pfeffer im Stadtratswahlkampf will Olten jetzt! sorgen. «Wir haben in den letzten vier Jahren gelernt: Wer in der Stadt etwas gestalten will, muss auch in der Exekutive vertreten sein», sagt Parteipräsident Nils Loeffel. Neuen Schwung und neue Lösungen hatte Olten jetzt! bei den Wahlen 2017 versprochen. Dass dies mit vier Sitzen im Parlament nicht einfach ist, bekam Olten jetzt! bald zu spüren.
In vielen Fragen öffnet sich eine Kluft zwischen bürgerlich und links – eine Pattsituation ist Tatsache. Die bürgerliche Mehrheit ist im Parlament seit dem Erfolg von Olten jetzt! passé. Mit der Blockadesituation kam vonrechts bald der Vorwurf, Olten jetzt! habe eine klare politische Linie. SVP-Fraktionspräsident Matthias Borner sagte im Kolt vom Mai 2019: «Olten jetzt! hat sich nach den Wahlen als eine weitere linke Bewegung entpuppt – ja, mit Olten jetzt! sitzt eigentlich eine zweite SP im Parlament.»
«Wer in der Stadt etwas gestalten will, muss auch in der Exekutive vertreten sein.»
Nils Loeffel, Präsident von Olten jetzt!
Ob Olten jetzt! bei den zweiten Wahlen den grossen Coup der Parlamentswahlen vor vier Jahren bestätigen kann und in den Stadtrat einzieht? «Wir wollen Verantwortung übernehmen», sagt Nils Loeffel.
Wer die städtischen Volksabstimmungen als Gradmesser nimmt, könnte erwarten, dass die Bürgerlichen wiedererstarkt sind: Mit ihren drei Referenden waren sie erfolgreich und verhinderten so etwa das Budget 2019. Ein progressiveres Gesicht hatte das politische Olten in den letzten Jahren bei nationalen Wahlen und Abstimmungen. Im Sog der Klimadebatte avancierten die Grünen in Olten bei den Parlamentswahlen 2019 hinter der SP zur zweitstärksten Kraft. Profitieren könnte davon auch Olten jetzt!, das daran beteiligt war, als das Oltner Parlament den Klimanotstand ausrief. Voraussichtlich bis Ende Oktober will Olten jetzt! seine Kandidatinnen präsentieren. Denkbar sei etwa auch ein Zweierticket, um eine Auswahl zu bieten, sagt Nils Loeffel.
CVP und Grüne legen die Karten auf den Tisch
Im Hinblick auf die Stadtratswahlen vom 7. März haben somit erst zwei Parteien Klarheit geschaffen. Mit der CVP und den Grünen sind es jene, die ihre bisherigen Kräfte ersetzen müssen. Beide setzen dabei auf junge Politiker, die zurzeit dem Gemeindeparlament angehören. Für die CVP geht der 40-jährige Architekt Beat Felber ins Rennen. Die Grünen schenken Raphael Schär-Sommer das Vertrauen. Der 33-jährige Maschinenbauingenieur machte sich in der Stadt unter anderem als Mitgründer von «Olten im Wandel» einen Namen.
Viele Karten bleiben sechs Monate vor den Wahlen noch verdeckt. Eines zeichnet sich aber ab: Die Oltner Stimmberechtigten werden wie schon in den letzten Jahren eine breite Auswahl haben. Die Zukunft der Stadt liegt in ihren Händen.
Zuerst will sie uns zeigen, wie sie ihren Garten nie haben möchte. Doris Känzig geht über den tief geschnittenen Rasen auf dem Nachbargrundstück. «Wir dürfen das, ich hab vorgängig gefragt», sagt sie. Ein Holzgehege markiert eine klare Grenze zu ihrem Grundstück. Dahinter gedeiht ihr Naturgarten.
Äste, die über den Hag wuchsen, sind gestutzt. Ein Holzelement fehlt seit Kurzem, lässt eine Lücke im Gehege offen. «Mein Nachbar sagt, unser Garten entspreche nicht seiner Vorstellung», erzählt die zierliche Pensionärin. «Ich soll den Hag schnellstmöglich wieder schliessen.» Die Diskussionen mit der Nachbarschaft, wie der Garten zu bewirtschaften sei, halten seit Jahren an. Episoden kann sie viele erzählen.«Gället Sie, es wächst, wie es will», haben ihr die Vorfahren des Nachbarn einmal gesagt. «Wie Gott es will», erwiderte Känzig und provozierte, im Wissen um deren religiösen Hintergrund. Darüber hinaus verstünde sie sich gut mit den Nachbarn, versichert sie. Wenn es darum geht, sterile Gärten zu bekämpfen, scheut sie den Konflikt jedoch nicht.
«Warum braucht eine Stadt wie Olten mehr Naturgärten?» «Ein Argument ist die Klimaerwärmung. Unser Naturgarten macht das Leben viel angenehmer, hier kannst du dich auch bei Sommerhitze aufhalten. Abgesehen davon geht es darum, die Biodiversität zu steigern. Das macht mein Leben interessant. Bei uns läuft etwas.»
«Und wieso denken Sie, mögen manche Menschen lieber Rasen oder gar Schotter?» «Sie wollen wohl wie drinnen in der Wohnung alles schön aufgeräumt haben.»
An diesem sonnigen Oktobermorgen tragen die Eiben in Känzigs Garten Früchte.
Vor 36 Jahren kaufte das Ehepaar Känzig das im Bauhausstil errichtete Haus im Säliquartier, das die Stadt in einer Broschüre aus dem Jahr 1991 als avantgardistisches Haus anpreist. Im Garten gabs nur Rasen und Rosen. «Am Anfang haben wir auch Thuja und Sommerflieder gepflanzt», erzählt sie. «Weil wir uns nicht gut auskannten.» Dann aber wichen die Känzigs von exotischen und im Fachjargon als invasive Neophyten bekannten Pflanzen ab und gaben einheimischen Arten den Raum.
Eiben und Efeu
Heute verschluckt der Garten das Haus. Die Känzigs überlassen vieles der Natur. Würden sie nichts zurückschneiden, übernähmen einzelne Pflanzen das Diktat. Eine Oase ist der Naturgarten nicht nur für das kinderlose Ehepaar und die vielen Wildtiere, sondern auch für ihre Katze Sina. Beim Rundgang durch den Garten weicht sie nicht von der Seite ihrer Herrin. Vor vierzehn Jahren nahm Doris Känzig das verwaiste Tier bei minus zehn Grad auf, wie sie erzählt.
Doris Känzig am Holztisch, der mehr Lebensraum als Tisch ist.
Die Morgensonne durchbricht das Geäst des Pfaffenhuts und erleuchtet das nach den Niederschlägen triefende Moos. Dersaftig grüneFlaum hat den massiven Holztisch im Garten für sich gewonnen. Auch er ist ein Lebensraum. «Wir haben ihn vor über dreissig Jahren gekauft und lassen ihn nun verenden», sagt die 68-Jährige und blickt zu den Bienen hoch, die an den verwelkten Efeublüten wimmeln. Ungefähr dreissig Bergmolche und Libellenlarven haben in den drei kleinen Weihern ein intaktes Biotop gefunden. Mehrere Igel schauen täglich vorbei. Doris Känzig beobachtet und dokumentiert. Vor dem Gespräch hat sie auf einer Liste feinsäuberlich alle Tier- und Pflanzenarten festgehalten, die sie in ihrem Garten regelmässig sichtet.
Der Empathie und Einfühlsamkeit für Tiere sei ihre Naturverbundenheit geschuldet, berichtet sie. Eingebrannt hat sich in ihre Erinnerung eine Reportage aus dem Fernseher. Menschen, die Robben zu Tode schlugen. Siebzehn Jahre alt war Doris Känzig. Heute ernährt sie sich fast ausschliesslich biologisch, seit fünfzehn Jahren ist sie Vegetarierin. Den Bauern steht sie kritisch gegenüber, weil sie mit den Pestiziden unser Trinkwasser belasten würden. Känzig trinkt darum auch kein Hahnenwasser mehr.
«Wer naturverbunden ist, wird gleich in die linke Ecke gestellt», sagt Känzig. Dies erfuhr sie während ihren acht Jahren im Oltner Gemeindeparlament. «Der Grüne Ast der SVP Olten», titelte der Stadtanzeiger 2013 in einem Porträt. An den starren politischen Parteilinien und dem strikten Themenkorsett stört sie sich bis heute. Wenn die damalige Grüne-Parlamentarierin Beate Hasspacher einen Vorstoss für mehr Bäume in der Stadt einreichte, war Känzig im Clinch. «Bei Naturthemen war immer gleich klar, dass die SVP-Fraktion dagegen ist.» Also enthielt sie sich der Stimme. Heute sagt Känzig: «Es könnten doch alle Menschen zur Einsicht kommen, dass wir die Natur brauchen. Die Umweltbedingungen haben sich so verändert, dass man das Spektrum erweitern muss.»
An ihrer bürgerlichen Attitüde ändere dies nichts.
«Sie befürworten also im Sinne der SVP, dass die Schweiz die Zuwanderung begrenzen sollte?» «Total. Aber im Sinne der Natur, weil der Platz knapp wird.»
Mit dem Kescher fischt Doris Känzig eine Libellenlarve aus dem Weiher hinter dem Haus.
Eingepackt in ihr Outdoorgilet lächelt die ehemalige Kindergarten-Lehrerin in ihrem Gartenstuhl. Die Vogelbeeren der Eberesche säumen einen roten Teppich. «Jetzt ist der Garten im Ruhezustand», sagt Känzig. Die Bergmolche haben sich für den Winter ins «Gnusch» verzogen. Sie wisse um das Privileg, über ein Haus mit Umschwung zu verfügen. Känzig sieht jene, die einen Garten haben, in der Pflicht, etwas zur Vielfalt beizutragen. «Man kann nicht ins Eigentum eingreifen, aber man kann die Menschen sensibilisieren.» Dies erachtet sie auch als eine Aufgabe der Behörden. «Die Stadt müsste etwa auf Verkehrsinseln Naturwiesen pflanzen», fordert sie. Die Menschen wollten farbige Blümchen sehen, erhalte sie jeweils als Antwort. Bäume auf der Kirchgasse wären ihr Wunsch. «Auf Dauer kommen wir nicht darum herum, Städte mit Bäumen zu bepflanzen. Sonst halten wir die Hitze nicht mehr aus.»
Dann zeigt Doris Känzig wieder rüber zum Nachbarsgarten. In den 36 Jahren, in denen sie hier wohne, habe sie noch kaum je jemanden auf dem Rasen gesehen. «In deinem Garten kann sich im Sommer kein Mensch aufhalten», habe sie ihrem Nachbarn gesagt. Er habe erwidert: «Du hast recht. Ich glaube im nächsten Frühling pflanze ich Bäume.»
Wer mit dem Zug vom Bahnhof Olten dem Jurafuss entlang Richtung Solothurn fährt, erblickt kurz nach der Überquerung der Aare, links vom Bahnhof Hammer, eine biedere Landschaft. Da wurden eierschalenfarbene Wohnkästen in den Raum gedrückt wie Bauklötze in einen Sandkasten – oder genauer: in die alte Kiesgrube, die von der stillgelegten Oltner Zementindustrie übriggeblieben ist. Die fünfstöckigen Gebäude, die dort nun stehen, sehen aus wie schlecht ausgelastete Gewerbeliegenschaften am Stadtrand. Doch hinter den Fassaden arbeiten nicht etwa VermittlerInnen von Temporärjobs, da wohnen Menschen.
Hunderte sind seit der Aufrichte vor gut vier Jahren nach Olten Südwest gezogen. Tausende sollen es laut dem Investor werden. Von der übrigen Stadt abgetrennt durch den Bahndamm und eine relativ neue, aber bereits jetzt stark ausgelastete Strasse, gleicht die Neubausiedlung einer Insel, die nur erreicht, wer ein Auto besitzt. Zwar gibt es einen Bus, doch der fährt nur alle halbe Stunde und kurz nach 20 Uhr überhaupt nicht mehr. FussgängerInnen und VelofahrerInnen schauen beim Rötzmatttunnel in die Röhre, wo es für sie eng wird. Trottoirs und Fussgängerstreifen wurden teilweise einfach vergessen. Eine Verkehrspolitik, die tief aus dem letzten Jahrhundert stammt.
Dieser Beitrag stammt aus der Kolt-Ausgabe 108, Sommer 2020
Zwar bemühen sich die Behörden seit vielen Jahren um einen direkten und sicheren Weg für jene, die in Olten ohne Motor unterwegs sind. 2006 taucht „die Schaffung einer städtebaulich bedeutsamen Verbindung für den Langsamverkehr von der Hammerallee in das Entwicklungsgebiet Olten SüdWest“ in den Protokollen der Stadtregierung auf. 2011 machte die Immobilienfirma, die das Areal überbaute, den geplanten „direkten Zugang zum Bahnhof Olten-Hammer“ für künftige Bewohnende schmackhaft. Dass von der sogenannten Stadtteilverbindung kein Meter gebaut ist und noch immer nicht klar ist, wer diese bezahlen soll, wirft auf beiden Seiten der Geleise Fragen auf.
Es ist Mittwoch, kurz nach Mittag. Vor dem Eingang der Erfinderstrasse 3 wischt Jasmina Milutinovic mit dem Besen. Ein Paketbote fragt nach einer Adresse, sie zeigt ihm diese, hebt einen Papierfetzen vom Boden auf und stopft ihn zum Wegwerfen in die Jackentasche, grüsst einen vorbeieilenden Bewohner mit Namen. Wohl niemand kennt sich in Olten SüdWest besser aus als die Hauswartin. Sie weiss: „Alle hier im Quartier wünschen sich diese Unterführung. Damit wäre man zum Beispiel schneller in der Hammer-Migros oder in der Altstadt.“ Zwar gebe es Richtung Norden an der Solothurnerstrasse einen Aldi, doch der sei schwer zu erreichen. Immerhin: Werde die nächste Bauetappe realisiert, könnte es einen Kiosk oder einen Einkaufsladen geben. In anderen Siedlungen des Investors gebe es zum Beispiel Filialen des Grossverteilers Spar, weiss sie. Grosse Überbauungen gehören diesem Immobilienbesitzer etwa in Winterthur, Zürich-Affoltern oder Zürich-Seebach.
Ob es an der ungenügenden Erschliessung, der spärlichen öffentlichen Nutzung oder an der günstigen Bauweise liegt, Fakt ist: In Olten SüdWest standen Ende Januar 2020 gemäss Internetseite 168 von 420 Wohnungen leer. Zwar relativiert die Bauherrin Terrana AG diese Zahl auf Anfrage: Aufgeführt seien auch Wohnungen, die derzeit noch vermietet seien und auf ein späteres Datum hin frei würden. In Wahrheit seien aktuell 310 Wohnungen vermietet. Doch die Zahl bleibt unbefriedigend. „In Zürich würde das nicht passieren“, sagte Sigmund Bachmann, Geschäftsführer der Terrana AG 2018 im „Tages-Anzeiger“. „Dort hätten wir eine solche Siedlung schon vor der Fertigstellung komplett vermietet.“ Bachmanns Vater Leopold hatte das Areal in Olten SüdWest vor über zehn Jahren von der Aktiengesellschaft Hunziker & Cie., einer Tochter des Zementherstellers Holcim, gekauft. Als der Spatenstich erfolgt war, wurden die Bauten im Eiltempo hochgezogen.
Entsprechend ist die Ausführung: Statt Balkonen gibts ein so genanntes Jahreszeitenzimmer, statt ökologischer Energieversorgung wird Erdöl verheizt (dies in einer Stadt, die bis 2030 unter dem Strich keine Treibhausgase mehr in die Luft blasen will), statt attraktiven Aussenräumen bieten sich dem Auge gerade Formen und wenig Abwechslung. Immerhin sind die Mietzinsen moderat: dreieinhalb Zimmer gibt es ab 1570 Franken, inklusive Nebenkosten. Ein Blick in eine Wohnung zeigt: Der Standard entspricht dem Durchschnitt. Der Eingangsbereich ist geräumig, Zimmer und Küche bieten angemessenen Platz, im Badezimmer hat es Waschmaschine und Trockner. Studenten haben den Wintergarten zur Schlafstätte umfunktioniert. Fast sämtliche Parterrewohnungen sind vermietet, hauptsächlich sind Singles oder junge Paare eingezogen. Familien mit mehr als zwei Kindern, weiss die Abwartin, sind an einer Hand abzuzählen.
Leben in die Siedlung bringt immerhin eine Kindertagesstätte, die vor zweieinhalb Jahren eröffnet wurde. Und auch im Café Bloomell geht es aktiv zu und her. Kleinkinder wirbeln in Socken über den Boden, zwei Frauen trinken Espresso und beraten über ein Geschäft, drei Mütter mit Babytragen und Kinderwagen treten ein. Auch für sie wäre eine Verbindung ins Hammerquartier ein Vorteil. Damit sprechen sie Sigmund Bachmann aus dem Herzen: „Eine einladende FussgängerInnen- und Veloverbindung zur Altstadt würde die Siedlung, die heute etwas abgeschnitten ist, aufwerten. Die MieterInnen müssten dann nicht mehr für jede Besorgung ins Auto steigen.“
Doch bereits zweimal hat das Stadtparlament den Projektierungskredit für ein Verbindungsprojekt abgelehnt. Zu teuer, zu früh. Nun nimmt die Exekutive nochmals einen Anlauf: Via Brücke über die Gäustrasse und anschliessend per Passage unter den Gleisen soll es für den Langsamverkehr ins Hammerquartier gehen. Kostenpunkt: rund 20 Millionen Franken. Ob das Vorhaben diesmal gelingt, ist unsicher: Viele in der Stadt finden, es sei schlecht verhandelt und der Investor zu wenig in die Pflicht genommen worden. Für andere ist die Verbindung noch nicht oder überhaupt nicht nötig. Und schliesslich verwirrte in jüngster Zeit die Finanzierungsfrage, wie Diskussionen auf Facebook zeigen.
Stadtpräsident Martin Wey, der bereits als früherer Vorsteher der Oltner Baudirektion in das Projekt involviert war, weiss um die Brisanz des Geschäfts. Dass Olten SüdWest in den Augen mancher Alteingesessener aufgrund des Investors ein „Zürcher Gesicht“ habe, helfe nicht gerade weiter. Doch für die Entwicklung des Quartiers sei die Verbindung essenziell. „Dafür kämpfen wir.“ Zum Zeitpunkt der Recherchen für diesen Artikel steckte die Stadt mit der Terrana AG in intensiven Verhandlungen. Ursprünglich hatte Bachmann 2,5 Millionen Franken als freiwilligen Beitrag zugesichert. Doch bevor die Stadt das Geld in Anspruch nahm, setzte der Kanton Solothurn 2019 ein neues Gesetz in Kraft: Wird Industrieland zur Wohnzone, müssen jene, die von der Wertsteigerung profitieren, zum Zeitpunkt des Baus einen guten Teil davon abgeben.
Auch in Olten Südwest werden künftig noch mehrere Hektaren zur Wohnzone, was für den Eigentümer äusserst lukrativ ist. Ob dieser, wie das „Oltner Tagblatt“ schrieb, tatsächlich 16 Millionen Franken abgeben wird, steht laut Wey noch nicht fest: „Es ist Verhandlungssache.“ Tatsache ist: Bachmann wird der Gemeinde Geld abtreten müssen, das sie in der Stadtteilverbindung verbauen will. Für die Exekutive eine konsequente Investition: Das Geld würde bezahlt, bevor es fällig ist und flösse in die Erschliessung jenes Gebietes, aus dem die Mittel aufgrund der Umzonung stammen. Überdies könnte die Stadt auf 3 Millionen Franken Bundesgelder aus dem Agglomerationsprogramm zurückgreifen.
Etwas anders sieht es Urs Knapp, der seit 2003 für die FDP im Oltner Parlament sitzt. In der Stadt gebe es wichtigere Projekte als die Stadtteilverbindung. Ausserdem sei der Eindruck erweckt worden, Olten könne diese fast gratis haben. „Das ist nicht korrekt.“ Das Geld aus der Mehrwertabschöpfung könnte für andere Zwecke eingesetzt werden. Knapp ist der Meinung, Olten SüdWest sei erschlossen. Dass Bachmann nun Gelder beitragen soll, die er sowieso bezahlen muss, stösst manchen im Gemeindeparlament sauer auf, so zum Beispiel Christian Ginsig (GLP). Auch er kritisiert, dass das Geschäft im Stadtrat jüngst so verkauft worden sei, dass die SteuerzahlerInnen nur eine Million an die Verbindung zahlen müssen.
„Diese Rechnung stimmt aber nicht. Sie zahlen heute die Zeche dafür, dass ursprünglich schlecht verhandelt wurde. Man hätte den Investor von Anfang an dazu verpflichten müssen, die Erschliessung selber zu berappen“, sagt Ginsig. Nun finanzierten die Oltnerinnen und Oltner mittels Gebühren eine Unterführung, statt die Millionen anderweitig in die Arealentwicklung von Olten SüdWest zu investieren. „Diese Kröte müssen wir jetzt schlucken.“ Viel lieber würde er das Geld dort einsetzen, wo es der ganzen Oltner Bevölkerung den grössten Nutzen bringe. Zum Beispiel in den Bildungsbereich. Ausserdem hätte, im Sinne eines früheren Vorstosses eines damaligen SVP-Parlamentariers, schon längst der Rötzmattunnel als günstigere Sofortmassnahme ausgebaut und das Trottoir auf die andere Seite verschoben werden sollen, findet der Kommunalpolitiker, der sich auch auf seinem privaten Blog Olteneinfach.ch mehrfach mit dem Thema beschäftigte.
Verkompliziert wird die Ausgangslage durch einen weiteren Akteur: Auch die SBB sind in das Projekt einbezogen, wie Mediensprecher Martin Meier sagt. Von der Unterführung seien Aufgänge auf das Perron des Bahnhofs Hammer vorgesehen. „Die Gleiszugänge müssten entsprechend angepasst werden.“ Stadt und SBB hätten die Machbarkeit bereits überprüft, doch für eine abschliessende Beurteilung müsse der Personenfluss langfristig analysiert werden. Verglichen mit dem Bahnhof Olten sind die Frequenzen der Bahnpassagiere verschwindend klein: Während ennet der Aare jeden Tag 83000 Personen ein- und aussteigen, sind es beim Bahnhof Hammer nur gerade 530. Hinzu kommt, dass der Bahnhof nicht behindertengerecht ist. Zwar können handicapierte Personen teilweise selber ein- und aussteigen, doch im Gleisbereich seien Anpassungen nötig, die laut Meier bis voraussichtlich 2026 vorgenommen werden. Ob dieser Ausbau des Bahnhofs Hammer angesichts der Passagierzahlen verhältnismässig ist, wird im Gemeindeparlament bestritten, zumindest hinter vorgehaltener Hand.
Doch bevor es soweit sein dürfte, möchte Sigmund Bachmann längst weitere Parzellen überbaut haben. Sein Vater habe das Land nicht gekauft, um es brachliegen zu lassen. „Wir wollen vorwärts machen.“ Er hofft, dass die bestehenden Wohnungen dann nicht mehr so allein auf weiter Flur stehen. Zudem könnten etwa ein Coiffeursalon, eine Bäckerei oder eine Zahnarztpraxis als Parterrenutzungen helfen, das Quartier attraktiver zu machen. Die Stadt, findet der Terrana-Chef, sei mit dem nahen Jura und der Aare nämlich sehr schön gelegen und für den Verkehr ausgezeichnet erschlossen. „Viele Menschen haben dies nur noch nicht erkannt“, sagt Bachmann.
„Und mehr Nebel als in Zürich gibt es in Olten auch nicht.“
Er hofft zudem, dass sich das Altersheim Haus zur Heimat, das neue Pflegeplätze braucht, in Olten SüdWest ansiedelt. „Dies würde das Quartier durchmischen und beleben.“ Dass der Kanton Solothurn gemäss Bundesamt für Statistik den höchsten Leerwohnungsbestand im ganzen Land aufweist und auch in Olten das Angebot die Nachfrage deutlich übersteigt, scheint die Expansionspläne des Investors nicht zu bremsen. Bis zu 4000 Menschen, so sagt er, könnten einst auf seinem Land in Olten SüdWest leben. Dass das Neubaugebiet attraktiver werden müsse, fordert auch Martin Wey. Deshalb pocht er darauf, dass bei einem Weiterbau öffentliche Bauten entstehen. So könnte in Olten SüdWest unter anderem eine neue Schule gebaut werden.
Als Übergangslösung saniert die Stadt ein ehemaliges Bürogebäude am Rand der Siedlung, wo die Kinder ab nächstem Sommer zur Schule gehen. Ein neuer Gestaltungsplan, der derzeit ausgearbeitet wird, soll der anonymen Überbauung also ein „Oltner Gesicht“ verleihen. Ziel ist laut dem Stadtpräsidenten auch, dass Bachmann Teile seiner Parzellen an lokale Investorinnen und Investoren verkauft. Das soll mithelfen, nicht bloss die räumliche, sondern auch die emotionale Distanz zwischen den BewohnerInnen hüben wie drüben des Bahndamms zu verkleinern. Mit 20 Millionen Franken geht die Stadt eine teure Wette auf die Zukunft ein. Nämlich darauf, dass Olten SüdWest, wo heute auf jedem dritten Klingelschild eine Wohnungsnummer statt ein Name steht, einst zu einem Stadtteil wird, der diesen Namen auch verdient.
Die Abdankungshalle im Oltner Waldfriedhof Meisenhard ist menschenleer, der kahle Raum in Dämmerlicht getaucht. 320 Stühle stehen hier, säuberlich zu Reihen angeordnet, ein Rednerpult mit Mikrofon, ein Trauerkranz aus weissen Rosen. Sonst keine Bezugspunkte, nichts, woran der Blick hängen bleibt. Schnell schweift er über die karge Szenerie hinweg und fällt unwillkürlich durch die offene Verbindungstür in den angrenzenden Raum, auf den schwarzen Schlund des deckenhohen Verbrennungsofens.
Dieser Beitrag stammt aus der Kolt-Ausgabe Januar 2018
Es ist Donnerstagmorgen, halb zehn Uhr. Jetzt, im Winter, ist der Ofenraum angenehm warm. Im Sommer jedoch herrschen hier schweisstreibende 40 Grad. Die Temperatur des Ofens, der etwa drei Meter in der Länge und zwei in der Breite misst, fällt das ganze Jahr nie unter 650 Grad.
Peter Kempf macht das nichts aus. Der 56-Jährige, schlank, verheiratet, zwei Kinder, wohnhaft in Neuendorf, Wanderer, Skifahrer, Mitglied im Kirchenchor Neuendorf und im Jodlerklub Wolfwil, Vize-Präsident des Natur- und Vogelschutzvereins Neuendorf und Trainer der Korbballerinnen Neuendorf, ist seit sieben Jahren Feuerbestatter im Krematorium Meisenhard. Mit seiner unaufgeregten Art kann er es gut mit den Leuten, den toten wie den lebenden.
Auf einem Wägelchen hat er einen schlichten, unveredelten Holzsarg aus dem zwei Etagen tiefer liegenden Kühlraum geholt. Kempf platziert den Sarg auf der hochgefahrenen Einführschiene vor dem Ofen. Es wird heute Morgen die dritte Kremation sein. In der Steuerung gibt er die erforderlichen Daten ein: Name, Jahrgang und Wohnort der verstorbenen Person; war sie männlich oder weiblich, das Körpergewicht leicht, mittel oder schwer, der Sarg Standard oder lackiert? Oder handelt es sich um die monatliche Spitalkiste voller Körperteile?
Dem ausgedruckten Auftragsblatt entnimmt er, dass der Leichnam ein Mann war, Jahrgang 1937, aus einem Nachbarsdorf, normale Körpermasse. Kempf stösst das Wägelchen unter dem Sarg weg, fährt die Schiene auf Einfahrtshöhe herunter und drückt auf der Steuerung die Start-Taste. Das schwarze Ofentor fährt hoch. Hinter jedem Toten steht ein Termin.
Kempf und sein 27-jähriger Kollege Beda Wernli teilen sich die Arbeit im Krematorium. In der Regel beginnen sie ihre Arbeit um halb acht Uhr morgens. Bei maximal fünf Kremationen am Tag sind sie damit spätestens um halb drei Uhr nachmittags fertig. Jede Einäscherung wird vorgängig vom Bestatter im Oltner Bestattungsamt angemeldet und landet so direkt in ihrer digitalen Agenda. Denn ohne offiziellen Auftrag geht gar nichts. Nachdem der Bestatter den Sarg im Kühlraum deponiert hat, darf die verstorbene Person erst 48 Stunden nach ihrem Ableben kremiert oder erdbestattet werden. Die Angehörigen könnten eine Obduktion verlangen.
Die Einführschiene befördert den Sarg auf den dunkelorange glühenden Schamotterost im Ofeninnern. Er ist 700 Grad heiss, von den Seiten her wird Luft eingeblasen. Als sich das Ofentor schliesst, entzündet sich der Sarg sofort. Nach rund acht Minuten ist er zu Holzkohle zerfallen, der tote Körper trocknet nun aus und verbrennt. Die weisse Asche, die gar keine Asche ist, sondern Kalk und Knochenreste, fällt durch den Steinrost auf den Ofenboden.
Peter Kempf und Beda Wernli wechseln sich in ihren Aufgaben monateweise ab. Während einer drinnen den Ofen bedient, hat der andere im Büro oder draussen zu tun, bereitet Gräber für Beisetzungen vor, putzt Urnennischen heraus, schmückt die Abdankungshalle, geht nach der Abdankung mit der Urne voraus zum Ort der Beisetzung. Immer sind Angehörige in der Nähe. Hektik ist da fehl am Platz. Manchmal möchte die Familie der Kremation beiwohnen, dann arbeiten Kempf und Wernli zu zweit.
Man muss mit allem rechnen. Bei hinduistischen Kremationen drängten sich schon zwanzig Leute im Ofenraum: zu gefährlich. Heute dürfen höchstens vier Angehörige zugegen sein. Denn wenn das Tor offen steht, kann eine Hose in Ofennähe schnell Feuer fangen. Vom Feuerlöscher musste Kempf aber noch nie Gebrauch machen.
Die Einäscherung dauert eine Stunde. Durch das Guckloch hinten am Ofen ist wenig auszumachen. Ab und zu erhascht man einen flüchtigen Blick auf den geschwärzten Leib, aber meistens versperren die Flammen die Sicht. Hätte der Körper Übermass, 150 Kilo und mehr, würde er rund anderthalb Stunden brennen. Heutzutage sei das zunehmend der Fall, sagt Kempf. Die jeweilige Todesursache erfahren er und Kollege Wernli meist vom Bestatter. Viele Unglücksfälle haben sie, Personen, die vor den Zug oder in die Aare gesprungen sind. Die Kantonspolizei hat im Krematorium einen behelfsmässig eingerichteten Raum, wo sie die Toten identifiziert und dann an die Gerichtsmedizin weiterschickt.
Die meisten der Toten aber starben an Krebs, durchschnittliches Todesalter: zwischen 50 und 65 Jahren. «Das fällt beim Brennen auf», sagt Kempf. Bis zu zwei Stunden kann die Kremation eines Krebstoten dauern. Der Körper ist im Ofen dann gut erkennbar. Die vielen Medikamente, sie brennen schlecht.
Dass Peter Kempf heute Feuerbestatter ist, hat sich so ergeben. Eine eigentliche Ausbildung zum Feuerbestatter gibt es nicht, der Schweizerische Verband für Feuerbestattung gibt jedoch Regeln vor. Bis vor sieben Jahren leitete Kempf die SBB-Schreinerei in Olten. Er habe sich nicht mal viel dabei gedacht, als er sich auf die ausgeschriebene Stelle beim Oltner Werkhof meldete, sagt er. Mit dem Alter wollte er es beruflich etwas ruhiger angehen. Dass er den Tod nicht fürchtet, weiss er seit der Schreinerlehre. 1978 streifte er einem Verstorbenen im Spital Niederbipp zum ersten Mal das zu der Zeit übliche Totenhemd über. Damals erledigte das Einsargen noch der Schreiner.
Kempf betätigt in der Steuerung die «Reinigen»-Taste. Die Ofentüre schiebt sich nach oben, die Schamottesteine werden durch einen Luftstrom abgesaugt. Ein Hüftknochen ist auf dem Steinrost liegengeblieben. Kempf wischt ihn mit einem langstieligen Besen hinab. Dann begibt er sich einen Stock in die Tiefe, zum unteren Boden des Ofens. Darin glimmt im hinteren Teil die frische Asche. Vorne, unter dem Dach, liegt die ausgeglühte Asche von der vorherigen Kremation. Kempf kehrt sie in den Auskühleimer. Knochenstücke, Sargnägel, eine Hüftprothese aus Titan. Die Asche aus dem hinteren Ofenende fegt er nun nach vorne, unter das Dach.
«Wenn du nichts sehen willst, dann siehst du auch nichts», hatte Peter Kempf gesagt. Der Tod ist im Krematorium unsichtbar, geräusch- und geruchlos. Zwar ist es Kempf schon passiert, dass er die Asche zu früh herausholte. Er hatte den schwelenden Klumpen darin übersehen, wohl eine Leber oder eine Niere. Der Gestank von verbranntem Fleisch stach ihm in die Nase. «Äusserst unangenehm», sagt Kempf. «Aber das passiert dir nur einmal.»
Tatsächlich trifft man im Krematorium nicht den Tod an, sondern, was vom Leben übriggeblieben ist. Wenn die Asche nach einer Stunde ausgekühlt ist, werden die Knochenteile in der schrankgrossen Knochenmühle zu feinem Staub zermahlen und danach in eine Urne geschüttet. Das Metall wandert in zwei grüne Plastiktonnen. Die eine quillt vor Sargnägeln über, die andere ist mit Implantaten gefüllt. Heute, sagt Kempf, sterbe fast keiner mehr ohne. Er greift in die Tonne und hält eine künstliches Kniegelenk in die Luft: «Alte Machart, das ist noch ganz aus Titan», sagt er mit Kennerblick. Er lässt es wieder in den Kübel fallen und fischt eine moderne Hüftprothese mit Keramikkopf heraus. Eine Recyclingfirma holt das Material regelmässig ab.
Das Krematorium auf dem Friedhof Meisenhard ist seit 1918 in Betrieb. Die erste Kremation fand am 1. August statt, aber es blieb die einzige in jenem Jahr. Wer eingeäschert werden wollte, musste Mitglied des Feuerbestattervereins sein. Als 1963 die katholische Kirche das Feuerbestattungsverbot aufhob, nahm die Zahl der Kremationen rasch zu. Peter Kempf und Beda Wernli führen heute rund tausend Kremationen im Jahr durch. Bestatter bringen Leichname aus den Gebieten Olten, Niedergösgen, Oensingen, Attisholz, Sissach, Egerkingen, Safenwil und sogar Basel Stadt zu ihnen. Denn die Bevölkerungszahl steigt, jene der Krematorien aber nicht. Die Dreitannenstadt verzeichnet pro Jahr durchschnittlich 150 Todesfälle und lediglich vierzehn Erdbestattungen.
Interessant zu wissen: Der Friedhof Meisenhard verfügt über ein Grabfeld für muslimische Gläubige da diese ihre Verstorbenen nicht kremieren. Bei hinduistischen Ritualen entfacht oft das jüngste Familienmitglied des Verstorbenen das Feuer. Entsprechend drückt es im Krematorium am Ofen die StartTaste. Das Verstreuen der Asche in der Natur ist in der Schweiz erlaubt, in zahlreichen anderen Ländern aber untersagt. Und: Von einer einzigen Feuerbestattung bleibt in der Filteranlage ein Einmachglas voll mit dunklem, giftigen Feinstaub hängen. Sondermüll.
In einem Nebenraum reihen sich an der Wand sechs Kübel mit Asche, jeder fasst schätzungsweise zwanzig Liter. Sind zehn dieser Kübel voll, wird der gesammelte Knochenstaub im Gemeinschaftsgrab beigesetzt. Er verschwindet dann in einem grossen Tank im Boden, abgedeckt durch eine Steinplatte. Das Gemeinschaftsgrab ist die günstigste Art der Bestattung und wird häufig für Verstorbene gewählt, die über wenig Geld und keine Angehörigen verfügten. Die Gemeinde zahlt.
Auf Regalen stapeln sich in Kartonschachteln die offiziellen Urnen der Stadt Olten. Sie sind aus Stahl, Farbe altkupfer patiniert, Höhe 45 Zentimeter, Volumen vier Liter, Preis 32 Franken. Auch eine biologisch abbaubare Bio-Urne ist erhältlich. Edlere und individuellere Modelle hat der Bestatter im Sortiment. Kempf holt aus einem Schrank ein wuchtiges grünes Tongefäss hervor. Die alte Oltner Stadturne mit Drei-Tannen-Relief ist voluminöser als der heutige Standard – die Asche wurde früher nicht gemahlen. Dann packt Kempf eine winzige, 12 Zentimeter hohe Stahlurne aus. «Wir haben ziemlich viele Totgeburten», bemerkt er. Eine etwas grössere Urne, für Kinder im Alter von etwa 12 Jahren, habe er zum Glück erst einmal gebraucht.
Wenn man den ganzen Tag lang von Toten umgeben ist, dann macht das etwas mit einem. «Der Tod gehört halt zum Leben», sagt Kempf. Früher, da habe er sich jeweils viel schneller aufgeregt. Heute könne er auch mal fünf gerade sein lassen. Die Trauernden sind ihm dankbar für die Ruhe und Gelassenheit, die er ausstrahlt. Ältere Leute kommen manchmal extra für einen Schwatz auf den Friedhof. Für Peter Kempf ist das selbstverständlich, das gehört zum Beruf dazu. Regelmässig finden deshalb Dankeskärtchen und Selbstgebackenes den Weg in das Büro der Feuerbestatter.
Wenn Kempf Verwandte oder einen Jahrgänger kremiert, lüpft er kurz den Sargdeckel und verabschiedet sich. «Dass du das kannst», meinte sein Umfeld bewundernd, als er seine eigene Mutter den Flammen übergab. Aber in seinen Augen war es das Letzte, was er für sie tun konnte. Wenn Leute die Vermutung äussern, dass er einen traurigen Beruf habe, lädt er sie ein, einmal im Krematorium vorbeizuschauen. Er liebt seine Arbeit, beruflich möchte er nichts anderes mehr machen. Aber abends, wenn er nach Hause fährt, lässt er das Geschehen des Tages im Krematorium zurück. «Das ist wichtig», sagt er mit Nachdruck. Weil er weiss, wie er mit dem Tod umgehen muss. Und – nicht unwesentlich – wie mit dem Leben.
«Bastle eine Christian Schenker Figur!» Diese simple Aufforderung findet man, wenn man sich auf seiner Webpage durchklickt. Christian Schenker, den Superstar der Kinderherzen, gibt es also auch aus Karton im Miniformat. Die Haare rot, die Zunge rausgestreckt.
Die Reaktionen, die er unter seinen Fans auslöst, sind ganz unterschiedlicher Natur. In den gesammelten Fankommentaren auf seiner Webpage eröffnete das Mädchen Alisha ihrer Mutter mit ernster Miene, sie müsse ganz dringend zum Coiffeur um sich die Haare rot färben zu lassen. Ein anderes Kind änderte wegen Christian Schenker glatt das Lieblingsgericht und der vierjährige Julian verkündete in überzeugtem Tonfall, er werde einmal «Feuerwehrmann, Töff-Fahrer und Christian Schenker». Dieser freut sich sehr über die Reaktionen seiner Fangemeinde: «Kinder sind ein sehr ehrliches Publikum. Sie sind Fans meiner Musik und nicht meines Erfolges.»
Dieser Beitrag stammt aus der Kolt-Ausgabe vom November 2014.
In den Kantonen Aargau, Solothurn, Zürich und Basel-Land kennt man ihn bereits bestens. In anderen Kantonen wie aktuell gerade in St.Gallen und Thurgau wachse sein Bekanntheitsgrad noch. In dem Dorf, in dem er jeweils spiele, werde er quasi über Nacht berühmt – während man zehn Kilometer weiter noch nie etwas von ihm gehört habe. Auf seiner diesjährigen Tournee reist er quer durch die Deutschschweiz und tingelt zwischen Open-Airs, Schulen und Dorffesten hin und her. Auch in Theatern ist er schon aufgetreten.
Dieses Jahr gab er das erste Konzert im «Kulturforum» in Laufen, das letzte, ein Weihnachtskonzert, wird im Kulturzentrum Schützi in Olten stattfinden. Dieses Konzert gab er erstmals vor zwölf Jahren. Doch wer eine Eintrittskarte haben wollte, musste sich sputen: Das Konzert war gleich zweimal ausverkauft. Mittlerweile steht Schenker fast jedes Wochenende auf der Bühne. Ein erwachsener Fan sagte ihm einst nach einer Vorstellung: «Wenn die Lieder auf Englisch wären, hätte ich die CD für mich selbst gekauft.» Das, so sagt Christian Schenker, sei ein sehr schönes Kompliment. Er wolle, dass man die CD durchhören könne, ohne dass man nach zwei Liedern bereits genug davon habe, weil alles gleich klinge.
Mama, warum singt der nicht?
Um diesem Anspruch nach Abwechslung gerecht zu werden, nahm er 2002 das Album «Dr Kickboard-Kuno chunnt!» auf. Zum ersten Mal wurde er dabei von der Band «Grüüveli-Tüüfeli» , bestehend aus Rolf Mosele (Gitarre), Markus Fischer (Kontrabass), Beat Escher (Geige) und Andreas Schnyder (Schlagzeug) begleitet: «Ihnen kann ich sagen, ich hätte zu dem Lied gerne Rockmusik. Oder wie würde der Song als Reggae klingen, oder als Country? Kurz darauf kann ich auswählen, welcher Stil dem Stück am besten dient.»
Obschon die Band ihn perfekt ergänzt, bestreitet er etwas mehr als die Hälfte seiner jährlich rund 80 Konzerte im Alleingang. Ein Blick-Redaktor bezeichnet Christian Schenker auf dessen Webpage gar als «modernen Mani Matter». Auf dieses Zitat angesprochen, erwidert Schenker bloss: «Mani Matter ist Gott!» Mit wenigen Worten habe dieser ernste Sachen auf den Punkt gebracht, ohne dabei den Unterhaltungswert zu verlieren. In derselben Liga wie Mani Matter sieht er sich aber nicht. Ob Christian je wieder Musik für Erwachsene machen wird, steht derzeit in den Sternen. Er sei derzeit vom Erfolg, den er mit der Kindermusik habe verwöhnt und merke auch den grossen Unterschied zwischen «kleinen und grossen» Fans. Bei Erwachsenen müsse man sich anfangs so richtig ins Zeug legen, damit sie zuhören oder gar aktiv werden. Meist stünden sie am Anfang des Konzertes irgendwo im hinteren Teil des Raumes, manchmal sogar noch an der Bar. Kinder hingegen versammelten sich direkt vor der Bühne und warteten ungeduldig darauf, dass man auftrete: «Kinder sind vom ersten Ton an voll dabei.»
Dass seine Musik sowohl Kinder als auch deren Eltern anspricht, sieht man an den Verkaufszahlen. 2006 verkaufte sich der Sampler «Stars for Kids» rund 20’000 Mal. Auf jener CD ist auch «Kickboard-Kuno» enthalten, welcher ihm zu seiner ersten goldenen Schallplatte verhalf. 2013 erschien sein achtes Studio-Album «Unschuldslämmli». Im Juni dieses Jahres durfte er zudem den Kinderchor zusammenstellen, der gemeinsam mit Robbie Williams auf der Bühne stand. Dass er nebst seinem Leben als Musiker noch ein privates hat, ist für einige seiner Fans schwer zu glauben. So fragte ein kleiner Bub, als sie im Warteraum der Postfiliale auf Christian Schenker trafen seine Mutter, warum dieser denn nicht singe.
Die Zeit bei «Up with People» war die wichtigste Schule seines Lebens
Dass es einmal soweit kommen würde, hätte sich Christian Schenker als junger Musiker nicht träumen lassen. Bisher hatte er vier verschiedene Berufe: Kindergärtner, Musiklehrer, Ukulele-Lehrer und Musiker. Schon in der Kantonsschule spielte er in Bands und komponierte Lieder: «Von den fünfzehn Fächern, die unterrichtet wurden, gefiel mir eines: Deutsch.» In der Zeit, in der er mit Lernen hätte beschäftigt sein sollen, dachte er über neue Strophen für seine Lieder nach. Auch wenn bald klar wurde, dass er an der Kantonsschule Olten am falschen Ort war, hatte diese den Weg für seine spätere Berufswahl geebnet. Hier erfuhr er durch Mitschülerinnen von der Ausbildung zum Kindergärtner und davon, dass die musischen Fächer dort einen hohen Stellenwert einnehmen.
Dass er einen guten Draht zu den «kleinen, fertigen Menschen» hat, stand spätestens nach dem Praxistest im Rahmen des Kindergartenseminars fest: «Ich lief aus dem Raum, aus meinen Kopfhörern tönte ‹Livin’ On A Prayer› von Bon Jovi und ich wusste: Ich habe bestanden!» Nach der Ausbildung zum Kindergärtner zog es ihn in die Welt hinaus. Da alleine zu reisen für ihn nicht zur Debatte stand, kam ihm die um die Welt reisende Gruppe «Up with People» wie gerufen. Bei «Up with People» reisen 130 junge Erwachsene rund um den Globus und führen Musicals auf. Die Vorstellungen sind dabei nur ein kleiner Teil des Abenteuers. Und sie waren auch das, was Christian Schenker zu Beginn am wenigsten interessierte. Rückblickend bezeichnet er die Zeit mit der MusicalTruppe als die wichtigste Schule seines Lebens. Während der Tournee mit dieser Gruppe sei ihm bewusst geworden, wie gerne er auf der Bühne stehe.
Kindermusik ist, wenn man in keine Schublade passt
Nach der Reise rund um die Welt arbeitete er die folgenden acht Jahre Vollzeit als Kindergärtner. Um den Schulstoff spannender zu verpacken, begann er, Lieder zu schreiben, die er in den Unterricht einbinden konnte. Da er sich vermehrt dem Komponieren von neuen Liedern widmen wollte und vermehrt für Konzerte gebucht wurde, hängte er seinen Job als Kindergärtner 2003 an den Nagel: «Als Kindergärtner ist es schwierig, jährlich das Pensum zu ändern. Das war als Musiklehrer einfacher.»
Zu der Zeit war er bereits fünf Jahre mit seiner Frau zusammen. Geheiratet wurde nach dem «verflixten siebten Jahr». 2008 wurde die Familie mit Tochter Malou um ein Mitglied reicher. Zwei Jahre später kam die zweite Tochter Yaël zur Welt. Heute verdient er hundert Prozent seines Einkommens mit seiner Musik und übernimmt zusätzlich die Hälfte der Kinderbetreuung, da seine Frau fünfzig Prozent als Lehrerin arbeitet. Manchmal sei dies schon eine logistische Herausforderung, doch sie erhielten Unterstützung von den Grosseltern der Kinder. Ausserdem könne er während der Betreuung der Kinder auch arbeiten, obschon dies nicht immer gelinge: «Wenn ich während der Autofahrt eine neue CD durchhören möchte, um zu sehen, welche Reihenfolge am besten passt, kommt es schon vor, dass meine Töchter dasselbe Lied wieder und wieder hören wollen.»
Lieder komponiert er nicht nur für sich und seine Fans, sondern auch in Auftrag. Ein solches ist auf dem Biberweg vom WWF zu hören. Ein anderes, «Fisch ufem Tisch», wurde erst kürzlich beim Stationenweg am Bielersee zum Thema Fisch weiterverwendet. Und zwar bilingue. Die französische Sprache hatte es auch auf die CD «SÄX!» geschafft. Eine CD, die er für Erwachsene produziert hatte. Dass man seine Musik nicht eindeutig einer Sparte zuordnen konnte, war den Radiostationen und Musikläden jedoch ein Dorn im Auge: «Sie sagten mir, sie müssten mich in eine Schublade stecken können, um zu wissen, welches Zielpublikum sie mit meiner Musik berieseln sollen.» Mit der Bezeichnung «Kindermusik» hätten diese nun ihre Schublade. Und das Schöne daran sei, dass innerhalb dieser Schublade so ziemlich alles erlaubt sei.